47 HANS TIETZE ZWECKKUNST UND VOLKSTUM Unsere bewußten Bemühungen um Typisierung aller Gebrauchsform bilden emen Teil der Rationalisierung unseres Daseins. Durch Unter ordnung der hormgebung unter die Zweckbestimmung soll nicht nur die Produktion vereinfacht und der Konsum erleichtert, sondern auch eine Annäherung an eine Ijebensform erzielt werden, die uns als die schlechtweg natürliche erscheint. Die rationalisierte Form ist in dem Sinn natürlich, daß sie den wirtschaftlichen und geistigen Tendenzen unserer Zeit gemäß ist; sie ist es nicht in dem anderen Sinn, daß sie einem dem Menschen von Natur aus innewohnenden Trieb entspräche. Denn alle ursprüngliche Formengebung ist nicht einfach, sondern kom pliziert; nicht einem rationellen Gebrauchszweck angepaßt, sondern irrationelleii Bedürfnissen Rechnmig tragend. Allo Wildenkunst und alle Volkskunst hat diesen ,.horror vaciii“; auch wo sie der Nützliclikeit dient, bleibt die gefundene Form symbolbeladen; nicht in der Verwendung der Dinge allein, schon in ihrer Herstellung sind Werte enthalten, deren Abstreifung verarmt. Dieser Hang zu naturhafter Fülle bleibt auch der Produktion historischer Hochkulturen eingebunden. Das schwer Herzu- stcllende und dem Zweck nicht immer gemäße ist nicht nur wegen seiner Seltenheit und Kostspieligkeit das sozial Auszeichnende und höher Geschätzte, sondern zieht auch aus ihm einverleibten heimlichen Assozi ationen Gewinn. Das geschriebene Buch hat sich neben dem gedruckten noch lange gehalten, nicht nur, w'eil cs in seiner Einmaligkeit das voi- nehmere war; für Albrecht Dürer, der aus der rationalen Seite seines Doppelwesens selbst ein überzeugter .inhünger des neuen Stils war, steht theoretisch doch das Wildwuchernde spätgotischer Formengebung vornehmer über der von Vernunft beherrschten der Renaissance. Im Unnützlichen liegen für den in der Tradition Gebundenen Werte, die dem von ihr Losgerissenen zu Unwerten wurden. Diese Situation wiederholt sich immer wdeder; jeder Ausdrucksform wachsen durch ihr Dasein - ihr dauerndes Da-sein — Spannungen zu, die ihrer Lebendigkeit zugutekommen und für die mangelnde Rationalität mehr als entschädigen. Tradition macht den komplizierten Handgriff zum „natürlichen“, das überladenste Ornament zur Selbstverständlich keit; aus dieser Lcbonsfülle heraus wird eine .Arbeit, die von außen gesehen schwierig und undankbar schien, für den in ihrer Praxis Stehen den zu einer mühelosen Mechanik. Lokale Traditionen verdanken diesem