212 Gruppe 111. Chemische Industrie. Die Ansichten, welche Liebig zirerst in einem in Poggendorff’s Annalen der Chemie und Physik „lieber die Erscheinungen der Gährung, Fäulniss und Verwesung und ihre Ursachen“ ent haltenen Aufsätze 1839, sodann in den zahlreichen Auflagen seiner „Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie (I. Auflage, 1840)“, sowie an anderen Stellen mehrfach ausgesprochen hat, gipfeln ungefähr in folgenden Sätzen: Unter dem Einflüsse des Sauerstoffs der Luft und bei Gegenwart ausreichender Mengen von Feuchtigkeit ist die grosse Gruppe der Pro teinstoffe befähigt, Zersetzungen zu erleiden, welche mit Fäulniss be zeichnet werden. Der Sauerstoff ist die Hauptursaehe des Eintretens der Fäulnisserseheinungen, indem die Molecule des fäulnissfähigen Körpers in eine Bewegung versetzt werden, durch welche der Zerfall des betreffenden Körpers eingeleitet wird; diese Bewegung der Mole cule dauert fort, auch wenn der zur Einleitung der Bewegung noth- wendige Sauerstoff im Verlaufe der Erscheinung ausgeschlossen wird. Kommen die in Bewegung begriffenen Molecule eines solchen Körpers, welcher Ferment genannt wird, mit den augenblicklich ruhenden, aber zur Bewegung und zum Zerfall leicht disponirten Moleculen eines anderen Körpers zusammen, so wird letzterer durch Uebertragung der Bewegung zur Zersetzung gebracht. Ein Ferment ist nun nach Liebig die Hefe; dieselbe beginnt unter dem Zutritt von Sauerstoff eine lebhafte Zersetzung und über trägt sie auf den Zucker, dessen Molecule hierdurch zu Alkohol und Kohlensäure umgelagert werden. Da zum weiteren Verlauf der Be wegung des Fermentes Sauerstoff nicht mehr erforderlich ist, so verläuft auch die Gährung bei späterem Sauerstoffausschluss vollständig, wenn nur zur Einleitung der Bewegung anfänglich genügend Sauerstoff vor handen war; die Gährung stellt sich demnach als ein mechanischer Vorgang, als die Uebertragung einer Bewegung, wie man solche Vor gänge vielfach in der Chemie kennt, dar. Der wundeste Punkt der Liebig’sehen Gährungstheorie war der Umstand, das dieselbe nicht in Einklang zu bringen war mit den Be obachtungen Schwann’s und Caginard de Latour’s, dass die Hefe organisirter Natur sei und dass demnach die Gährung nicht durch den Zerfall und die Auflösung der Hefe, wie Liebig ausschliesslich behauptete, sondern durch die Organisation und das Wachsthum der selben verursacht werde. Liebig leugnete anfangs vollständig die organisirte Natur der Hefe ab (Pogg. Ann. 1. c.) und als er die selbe in Folge späterer Untersuchungen von Mitscherlich und An deren zugeben musste, hielt er an der Behauptung fest, dass auch andere, zweifellos unorganisirte Stoffe, wie Pflanzenleim, Eiweiss, Blut etc., die Alkoholgährung erregen könnten, welche nur durch den Zerfall dieser Körper eingeleitet werde, ebenso wie es auch der Zerfall