L.: HOLLÄNDISCHE REISESKIZZEN XL DAS VOLK BÖRSENLEUTE I ch folge einer würdigen Erfcbeinung, die im fcbwarzen Gehrock in der Nähe der Fhnfterdamer Börfe bedächtigen Schrittes wandelt. Ich fehe fie wieder im Innern des Börfengebäudes. Der alte Herr ift umringt von einer Schar aufgeregter Menfcben. Sie rufen, fchreien, überbieten fich. Der würdige Herr, den etwas mövenartigen Gteifenkopf leicht gelenkt, fteht unbewegt in diefer Brandung. Hb und zu läßt er die kalten, blauen Rügen lauernd über die ftauende Menge gleiten, ein flüchtiges Lächeln ftiehlt fich über fein ernftes Geficht, die Hand macht Notizen in ein kleines Buch, das er vor fich hält. Aber er fteht regungslos wie ein Halkyonier. Leute kommen und gehen, feine Vertrauten. Sie neigen fich dicht an fein Ohr und flüftern einige Worte. Er gibt Hufträge, macht Mitteilungen, indem er fich dicht an das Ohr feines Vertrauten neigt. Es können nur wenige Worte fein. Hn der gefchäftigen Eile und Wichtigtuerei feiner Leute ift zu er kennen, daß es für fie viel zu bedeuten bat. Da fteht er wieder bewegungslos da, kein Wort der drängenden, lärmenden Menfch- heit vor ihm ift ihm entgangen. Seine Ruhe ift die Ruhe eines Raubvogels. Er gewinnt immer mehr Hbnticbkeit mit einem würdevollen alten Geier. □ Jemand fagte mir, es habe fich in diefen Hugenblicken um Hunderttaufende gebandelt. Der würdige Herr ift einer der reicbften Hmfterdamer Kaufherren. Ein Börfentyp. □ Mir fällt Liebermann ein, der folcbe Erfcheinungen gemalt bat. SEELEUTE Die alten Seeleute, die das Meer nicht Verfehlungen bat, finden in der Prinz Hendriksftiftung in Egmond aan Zee, N.-H., eine Hlterszuflucbt. Hier drücken fich die invaliden Seelöwen ans Gartengitter, der Kinnbart behängt das übrigens glattgefcborene, breite Geficht franfenartig; die Hautfarbe ift braune Bronze. Die Farbe der Seefahrer und der Leberleidenden. Oder fie fi^en auf den Bänken des nahen Dünenhotels und feben aufs Meer hinaus. Stundenlang. □ Mit felbftzufriedenem Lächeln und freundlichem Kopfnicken zappelt der vierfchrötige Jaepi-Jaepi durch die Hauptftraße des Fifcherdorfes. Huch er bat ausgedient. Er war ein berühmter Schiffer. Über vierzig Menfcben hat er das Leben gerettet. Hlle Seeleute aus Egmond find berühmt. □ Die Egmonder Fifcher überragen um eine gute Kopflänge diefes Landvolk. Ein Fifcher, der abends zwifeben den niederen Hütten wandelt, ift eine gigantifebe Erfcbeinung. Ihr Gemüt neigt zur Fröhlichkeit. Sie find wochenlang zur See; wenn fie beimkebren, freuen fie fich der Heimat und wollen luftig fein. Ihr Herz liegt auf der Zunge. Zur Zeit des Fanges ift nur die unreife Jugend und das Greifenalter der männlichen Be völkerung zu Haufe. Die Frauen und Kinder harren geduldig. Hbends fiebt man die Weiber in Gruppen zufammenfteben. Sie tragen weiße, geflickte Häubchen und die febweren Holzpantinen. Die Hände haben fie an die beiden Hüften gelegt, von den die Röcke hoch und baufchig abfteben. Standhaftigkeit und Geduld drückt die Haltung aus. Nur wenige Männer fterben eines natür lichen Todes. □ Es vergeben oft Wochen, Monate; der Mann kehrt nicht heim. Der Winterfturm rüttelt an den kleinen Fenftern, die See brüllt. Er wird nie mehr beimkebren. Die Kinder, fechs, acht an der Zahl, kneten aus Brot kleine Schiffe und laffen fie über boeb- getürmte Wellen aus Sand gleiten. □ Es ift felbftverftändlicb, daß fie Schiffer werden. Hlle. □ MYNHEERS Die füßefte Stunde der Mynheers ift die fogenannte Bitter- ftunde. Bei einem Gläschen Bois Genever, das vor der großen Speifeftunde eingenommen wird, etwa zwifchen 4-5 Uhr, tun fich die Seelen auf. Es ift ein Stündchen gemütlicher Unter haltung, ein Hugenblick zwanglofer gefellfcbaftlicber Berührung, in der keine gefcbäftlicbe Nötigung liegt. Es ift ein freiwilliger flnfcbluß der Geifter; hier ftrablt Heiterkeit aus und bereitet eine gute pbyfifebe und feelifcbe Dispofition für das Diner vor. Speifen kann man allein, »bittern« muß man in Gefellfchaft, wenn es den rechten Wert haben foll. Was in Frankreich das Hpéritif, in England das »Five o’clock« ift, das ift in Holland die Bitterftunde. Man mag in Deutfcbland über die Sitte, »den Magen vor dem Effen mit Hlkobol zu füllen« geringfcbäfjig urteilen, in Holland wird man freudig mittun. Hbftinenten gegenüber mag behauptet werden, daß hier das feuchte Klima dazu berechtige. Hber das ift keine hinreichende Erklärung. Der Wert der Bitterftunde liegt nicht im Materiellen. Das Gläs chen wirkt als Motor, die Stunde ift befchwingt, das Banale fällt ab. Sie ift entlaftet von den Hrbeitsforgen des Tages; die Ent« laftung macht fie leicht und froh. Sie darf fogar Pbantafie haben, ein kleiner Huffchwung über die rechnerifche Realiftik des Htl- tags ift ihr freigegeben. So febwebt fie, eine unfichtbare Leucht kugel über dem Tage, die mit dem gewohnten Zeitpunkt zu erftrablen beginnt, umfo heller natürlich, je kräftiger der Geift des Menfcben — nicht des Getränks — ift. Das Leben der Nation mit den Tagesgewobnbeiten gleicht einem ziemlid) gleicbmafcbigen Gewebe; wie Kette und Schuß wickeln fich Tageslauf und Tages einteilung mit Frübftück am Morgen, Lunch am Mittag und Diner zwifchen 5-7 Uhr übereinftimmend ab und regeln das Tempo der öffentlichen Mafchinerie. Hber in diefem mechanifcben Ge webe find die Bitterftunden die Blumen, das Zierwerk leichter Pbantafie. □ Eine angenehme Bitterftunde ift eine fiebere geiftige Hnwei- fung des Leibes auf die Zuträglichkeit des Diner. So habe wenigftens ich es in der bolländifcben Huffaffung gefunden. □ STHDTVOLK UND BHUERNVOLK Hn dem ausgezeichneten Schubwerk pflegen wir die Engländer oder Hmerikaner zu erkennen. Es gibt ficherlicb noch andere äußere Merkmale, durch die fie fich vorteilhaft von den Indivi duen anderer Nationen unterfebeiden. Das gepflegte Haupt- und Bartbaar, die feine Wäfcbe, die gute Reifeausrüftung gehören zu diefen Merkmalen. O Das find Kennzeichen, die allerdings jedem anftändigen Euro päer als das Selbftverftändlicbe gelten. In England gelten fie für den Durcbfchnitt, anderswo für die Ausnahme; das ift der Unterfchied. □ Die englifche Gefellfchaft bat den Typus »Gentleman« ausge bildet, ein Begriff, der erzieberifche Bedeutung bat. Der Kon tinent bat ihm nur den unzutreffenden Begriff des »Kavalier« entgegenzufetjen, eine Allegorie, die höfifebe Hnklänge verrät und leicht an Komik oder Extravaganz ftreift. Die herrfebende 213