Würde den Lehrern die Privatpraxis verboten, fo würden wohl folgende Wirkungen eintreten: □ 1. Würden künftig kaum gute erprobte Künftler für künftle» rifcbe Lehrtätigkeit zu gewinnen fein, denn gute Künftler werden nie ganz auf die Ausübung ihrer Kunft verzichten und fich mit idealen Übungen und Nurlehrtätigkeit begnügen. □ 2. Wenn fich doch mehr fänden, müßten die Lehrergehälter fofort erheblich erhöht, teils verdoppelt und verdreifacht werden. □ 3. Würden auch trotj der Gehaltserhöhung viele der jetzigen Lehrkräfte fofort ihr Amt niederlegen und es würde durch folche völlig freiwerdenden Künftler, und wahrfcheinlich die tatkräftigften, ein recht empfindlicher Wettbewerb den jetjt proteftierenden und für ihre Einnahmen fehr beforgten Firmen entfteben. Diefer Wett» bewerb dürfte aber je^t, folange die Künftler durch ihre Gehälter wirtfchaftlich zu der außerdienftlichen Entfaltung ihrer Kräfte nicht gerade ganz hart gezwungen find, durchfchnittlich einen recht befcheidenen Umfang haben. Die meiften Künftlerlebrer behalten neben ihrer Lehrtätigkeit feiten noch die Zeit und Spann» kraft, lebhaft und wirkungsvoll fich einer einkömmlichen Praxis hinzugeben. Sie betätigen fich praktifch wefentlich deshalb, weil fie fühlen, daß nur der fich übende und mit dem Leben verbin» dende Lehrer ein fcharfes Werkzeug bleibt. □ Was nun hier von der Arbeitsweife und Kraft des Lehrers getagt ift, dürfte auch für die Gefamtkraft der Schule gelten. □ Ende Auguft 1906 (gez-) MAX SELIGER DIE NEUE ZÜRICHER KUNSTGEWERBESCHULE ie Evolution auf dem Gebiete der dekorativen Kunft, die vor 10 Jahren auf dem Kontinent begann, bat in letzter Zeit einen folcb allgemeinen Niederfdhlag auf faft alle Gebiete der Gewerbekunft bewirkt, daß kaum eines derfelben davon gänzlich unberührt geblieben ift. Das allgemein gewor» dene Empfinden, allem zweckmäßige Schönheitsformen verlei» hen zu follen, führt zu dem Streben nach einer äftbetifchen Ein» beit, welche die mannigfaltigen Verfuche perfönlicber Original!» tät nach und nach in den Hintergrund drängen wird. So ent» faltet fich die neue Gewerbekunft auch gerade da am vorteil» bafteften, wo Form und Verzierung aus den einfachften Grund» fätjen heraus entfteben, befonders wo die erfteren, fowohl für Handwerk, als für Mafchinenarbeit, aus der Technik heraus ent» wickelt find und noch das Gepräge der Werkzeuge zeigen. Jeder Gewerbezweig wird fomit feine eigene beftimmte Formen» fpracbe haben. Die Kunftgewerbefchulen dürfen daher nicht mehr wie früher Kunftfcbulen oder vorwiegend Zeicbenfcbulen in akademifcbem Sinne fein, fondern fie werden Pflegeftätten fein müffen für praktifche Gewerbekunft, deren äftbetifcbe Lei» tung und Beeinfluffung künftighin von derartigen Anftalten aus» geben dürfte. □ Die Kunftgewerbefcbule der Stadt Zürich beftebt feit 1878 und wurde 1907 vollftändig reorganifiert. Es ift dies die erfte Kunft» gewerbefcbule, welche von Grund auf umgeftaltet wurde, da fie über ein gänzlich neues Lebrerperfonal mit Direktor Prof. J. DE PRAETERE an der Spiije verfügt, während jeder Lehrer, aus der Praxis berufen, die neue Kunftrichtung vertritt. Die Anftalt wurde vorwiegend mit Werkftättenbetrieb eingerichtet, und zwar unter Berückfichtung ausgefprocbener Gewerbezweige, wie Möbelbau, Metalltechnik, Weberei, dekorative Malerei und grapbifche Kunft. Auch werden in befonderen Kurfen Lehrlinge aufgenommen, um für die fpätere Weiterbildung an der Schule einen guten Grund zu legen. Eine allgemeine Klaffe für Zeichen» unterricht, d. h. Naturftudien, Aktzeichnen ufw., vermittelt dem Schüler die zeicbnerifcbe Ausbildung, während in Abendkurfen für die Fortbildung von Gehilfen Fürforge getroffen ift. □ Durch einen metbodifchen Lehrgang wird der Schüler zu felbftändigem Schaffen genötigt, fo daß Entwurf und Ausführung bei ihm Hand in Hand gehen. Die Aufgaben, welche geftellt werden, find diejenigen der täglichen Praxis, da die Anftalt gänz lich auf dem Boden der Praxis ftebt und felbft Gelegenheit hat, mit führenden Firmen zufammen zu arbeiten. Die Schule ift be» ftrebt, die verfchiedenen Techniken unterer Zeit gemäß zu ge» ftalten. In der Stickerei z. B., wo eine Harmonie zwifchen Stoff und Stickmaterial befteben muß, werden durch Überkreuzen, Überbinden und Durchflechten Fadeneffekte bervorgebracht, welche fowobl eine dem Material entfprecbende Verzierung, als auch eine fcbnellere Produktion als bisher ermöglichen. □ In der Stoffweberei wird der zeichnerifche Hauptwert auf Pbantafiebindungen gelegt, welche die Wirkung der Seide im Faltenmufter am reicbften zur Geltung bringen. Auch das Flach» mufter kann durch verfchiedenartige Phantafiebindungen einen eigenen Reiz und eine befondere Wirkung erhalten. □ In der Abteilung für Metalltechnik, welche für Goldfcbmiede und Silberfcbmiede, Metalltreiber und Zifeleure eingerichtet ift, haben die Schüler zunäcbft das Werkzeug, wie Punzen u. a., felbft anzufertigen. Sie kommen dann durch Punzeneffekte auf die verfchiedenften Variationen, welche ihnen in unerfchöpflichem Reichtum ftets neue Anregungen zu pbantafievoller Verzierung bieten. □ In der Buchbinderei fchneidet der Schüler feine Stempel felbft, wodurch er eine ausgeprägte Stempelverzierung, alfo wirkliche Bucbbinderkunft bervorbringt. Ebenfo gelangt der Setjer durch die einfachften Mittel, mit Linien und kleinen typographifchen Verzierungen dazu, in feinem Gebiet rein typograpbifche Werke zu fcbaffen. In der Dekorationsmalerei wird die unerfcböpflicbe Mannigfaltigkeit des arcbitektonifchen Ornamentes betont, wäb» rend in der Schablonentechnik durch richtige Verwendung von Halter und Färbung die Wirkung einer wahren Fläcbenverzierung erzielt wird. □ Sämtliche Werkftätten arbeiten fo auf ein gemeinfames Ziel bin, während die Abteilung für Raumkunft die Direktive gibt, indem nebenbei ausgefprocbene Aufgaben unferer Zeit, wie Arbeiterwobnungen, Wobnräume für bürgerliche Verbältniffe u. a. m., oder auch Spezialaufgaben der verfcbiedenften Art ge» ftellt werden. Auch wird dadurch die Möglichkeit geboten, in die Ausarbeitung von Gegenftänden des Innenraumes das richtige Gleichgewicht zu bringen, indem die harmonifche Einheit des Raumes durch die Fachabteilung für Innenarchitektur überwacht wird. Auf diefe Weife bringt die Schule nicht allein in die Ge» werbekunft eine wünfchenswerte Abklärung, fondern fie wird zugleich in den Stand gefetjt, der getarnten Kunftinduftrie gefunde Anregungen und äftbetifche Befruchtung zuzuführen. □ SOBALD WIR ETWAS DURCH UND DURCH NÜTZ» LICHES MACHEN, LIEGT ES IN UNSERER NATUR, DASS WIR UNS DARÜBER FREUEN, WEIL WIR MIT UNS UND MIT DEM DING ZUFRIEDEN SIND; DARUM MÖCHTEN WIR ES AUCH IN ANSPRECHENDER WEISE ZIEREN ODER VERVOLLKOMMNEN DURCH EINE FEI» NERE KUNST, ALS AUSDRUCK UNSERER FREUDE UND ZUFRIEDENHEIT. JOHN RUSKIN 302