■H UlJlilMliüliL! i ' ■ ZUR ÄSTHETIK DER GROSSSTADT * VON DR. M. HABERLANDT. T alent, Geschlecht, Alter scheiden tiefer, als Berg und Tal getrennt sind, die ästhetischen Personen voneinander. Das sind Mächte von Ewigkeit her oder mindestens von langer, langer Wirksamkeit, die den Menschen gänzlich verschieden bestimmen und jedem von Grund aus ein anderes Wollen und ein anderes Glück in die Seele geben . . . Freilich, wie selbst Berg und Tal Zusammenkommen, auf Stufen und Treppen zueinander strebend, wie Übergänge und Pässe selbst zwischen ihrer Höhe und Tiefe vermitteln, so auch in der ästhetischen Welt: — aber wir sprechen doch von Berg zu Berg, wenn wir Schönheitsurteile tauschen, darüber mache man sich klar — wenn es auch oft nur Ge^ zirpe von Maulwurfshügel zu Maulwurfshügel sein mag . . . Nicht von so langer Hand her, aber doch mit starken Griffen und gestaltender Macht sind noch viele andere Kräfte formend an uns tätig: Erziehung, Bildung, Beruf, Lebensweise, äußere Lebenslage, kurzum das LEBEN in seiner Fülle und Mannig' faltigkeit. Das ist nun freilich ein gar weites Feld. Aber mim destens die EXISTENZ ZAHLREICHER ÄSTHETISCHER GRUPPEN unter der schabionisierenden Wirksamkeit aller dieser Faktoren mag uns hier dämmern. Die Ästhetik des Arbeiters ist eine andere als die Gelehrtem ästhetik — der Techniker steht anders zum Schönen als der Humanist, der Millionär anders als der arme Teufel von der Straße. DIE ÄRBEITSEINTEILUNG, dies Prinzip aller Kultur, DIFFERENZIERT AUCH DEN INNEREN MENSCHEN IN JEDEM BELANG UND ZUMAL IN ÄSTHETISCHER HINSICHT. Immer zahlreicher und verschiedener werden die Berufe, immer langwieriger und umfänglicher gestaltet sich der Bildungsgang, der zu ihnen hinleitet, immer schroffer findet man Gegensätze und Einseitigkeiten der konformen Lebens^ weisen bis auf ihre Spitze getrieben. Einst erschöpften die ästhetischen Welten des Jägers, des Kriegers, des Priesters den Empfindungsumkreis der Menschlichkeit. Äber ihre Art, das Schöne zu finden und zu schaffen, ward überholt und be^ drängt von neu auftauchenden Gruppen oder Berufen und deren ästhetischen Werten. Der Kaufmann, der Ackerbauer, der Hirte und Herr der Herden, der Waldbauer „und Städte^ gründer nahen und legen jeder ihre bestimmte Ästhetik um sich, wie eine Dunstzone ihres spezifischen Lebens. Und in dem ganzen Entwicklungsgang des Kulturlebens hat mit der fortschreitenden Arbeitsteilung und Berufsspaltung dies Her^ vortreiben immer neuer entsprechender ästhetischer Wert- Systeme nicht aufgehört. WO EIN BERUF IN DIE TIEFE GEHT UND DEN GANZEN MENSCHEN IN SEINEN DIENST RUFT, WIRD ER AUCH ÄSTHETISCH SCHÖPFERISCH. Die Philologenkunst der Beschäftigung mit dem Altertum hat die klassizierende Geschmacks- und Kunstepoche über Europa heraufgeführt. Die Technik von heute, durchaus mechanistisch denkend, auf klare Absichten und Ziele aus, durchaus nur Wille zur Formel und Rechnung, muß not wendig in gänzlich anderer Ästhetik sich aussprechen, sich ausleben als alle bisherigen Berufe. Immer tiefere Risse und Klüfte reißt so der Wildstrom des Lebens auf zwischen Mensch und Mensch; immer zahlreicher werden die Gehege und Zäune wie in der Welt da draußen, so auch in der geistigen; zu immer kleineren Flicken wird der Purpurmantel des Schönen zerschnitzelt, und wie lange noch? steht die babylonische Sprachverwirrung des Schönen vor der Tür .... Mögen die Bringer und Verwalter der Schönheit hieraus ihre Lehren ziehen! KUNST UND VOLK! ist heute freilich jedes zehnte Wort unter ihnen. Aber ich frage, WO IST ES, DIES VOLK? Sind hirnlose Schlagwörter und billige * Aus dem in Kürze im „Wiener Verlag“ erscheinenden Werk: „DIE WELT ALS SCHÖNHEIT“. demokratische Wünsche wirklich stärker als der Augenschein? Ich sehe Klassen, Schichten, Berufe, ich sehe Dörfler und Städter, ich sehe Sklaven und Herren, alle mit ihren be sonderen Trieben und Gewohnheiten, jeden mit seinem Fall von Bravheit und Schmutz, alle, alle mit ihrem Gott und ihrem Extrateufel — und nur in den gleichen Schönheitstopf sollten alle greifen wollen! Die Kunst zum Prokrustesbett machen! Gibt es ein heilloseres Mißverständnis ihres Wesens, ihrer tiefsten Wirksamkeiten? Das Schöne ist doch ein biologischer Begriff, ein Lebenswert, und WO VERSCHIE DENES LEBEN SICH ENTWICKELT UND GEGEN EINANDER STELLT, MUSS DAS SCHONE GLEICH SINNIG VERSCHIEDEN EMPFUNDEN UND GEBOTEN WERDEN. Sonst schwächt es, statt zu stärken, sonst ver dirbt es, statt auszuheilen, sonst führt es zur ästhetischen Anarchie. mur Im Grunde ist diese Sache aber erst durch das PROBLEM DER GROSSSTADT mit ihrer heillosen Vermengung der ästhetischen Gruppen, wo der Arbeiter an den Philosophen, der Jude an den deutschesten Biergeist, der raffinierte Lüstling an den schnödesten Philister stößt, so brennend geworden. . Es ist das Vorurteil des Großstädters, daß seine Art den höchstkultivierten Menschen darstelle — die Geschichte der großen Geister hat den vollen Gegenbeweis dafür geliefert. Den ästhetisch erregten Menschen par excellence scheint die Großstadt allerdings hervorzubringen, und zwar durch beides, durch Überfluß und Mangel, durch Sättigung und Hunger. Der Großstädter wird mit Kunst übersättigt und leidet Mangel an Natur, wenigstens an dem, was man gewöhnlich Natur nennt. Er genießt alle Raffinements der ersteren, ihre alten Schätze und neuesten Verführungen, er hat Zutritt zu allen ihren Zirkeln und Mysterien, und alles mischt sich ihm im scharfgewürzten Mischtrank durch einander, in welchem Tropfen aus allen Sonnentagen zusammenlaufen* Das Resultat ist die TIEFE ASTHETF SCHE ERMÜDUNG UND ERREGTHEIT DER GROSS STADTKULTUR, gegen welche man sich von Zeit zu Zeit wie eine Art Kaltwasserkur die Natur verordnet, den krampf haften Genuß des Naturschönen. An dieser ungesunden und verkehrten Ökonomie des ästhetischen Genusses nimmt heute unter uns Großstadtleuten jeder Beruf, jede Gesell schaftsklasse, der Herr wie der Lohnsklave auch ohne jede innere Not seinen Teil. Wer von diesen Lastträgern der Gesellschaft verbot sich denn je, fremde Honigkörbe an zurühren, wer versagte es sich, gewisse Türen zu öffnen, wer nahm sich wirklich nur von dem, worauf sein echter Hunger ging ? Und wer hat immer zu SEINER Zeit genommen? Haben •wir — um nur ein Beispiel zu nennen — etwa eine Kunst des Morgens und des Vormittags? Und es gibt doch manche, einzelne und ganze Klassen, die eine solche haben und brauchen könnten, die sie schaffen müßten, wenn sie nach sich selbst, nach ihrem eigenen Gesetz und Wesen zu leben wüßten. Aber die meisten sind eben seit Jahrtausenden ge wöhnt, vormittags zu ARBEITEN, um zu leben, und dem Schönen, der Kunst sind hier die Abendstunden reserviert, wo wir müd, erheiterungsbedürftig, der Langeweile aus gesetzt sind. Es ist auch danach, dieses Schöne, diese Kunst für er schöpfte, verärgerte und stumpfgewordene Abendseelen, aus denen nun jede unkräftige Begierde, jede Faulheit und müde Feigheit kriecht! Wahrhaftig, es ist in dem allgemeinen Notstand schon so weit gekommen, daß eine ANDERE ÄSTHETISCHE ÖKONOMIE DER BESSERGESTELLTEN, die nicht in der täglichen Tretmühle der Arbeit eingespannt sind, das gute Gewissen gegen sich hätte. Wir haben völlig die Vor nehmheit der Alten verloren, welche mit dem unbewegtesten Gemüt, indessen der Sklave arbeitete, sich ein Fest machten, wann es sie trieb und eine schöne Sonne dazu lockte. Ich wünschte allen denen, die es können, die nicht im Schraub- 66