DAS ENGLISCHE LANDHAUS. DIE ARBEITERHÄUSER DER BOURNVILLE- KOLONIE ERBAUT VON W. A. HARVEY. as englische Landhaus bildet die Grundlage des englh sehen Wohnungswesens. Es ist für uns architekv tonisch deshalb von besonderem Interesse, weil es für die Entwicklung des modernen Bauwesens auf Grundlage der volkstümlichen und bodenständigen Baukunst ein lehrreiches Beispiel darbietet. Was zu lernen ist, soll nicht eine Nachahmung ihrer Bauform sein, sondern die Auf* nähme des Grundgedankens der bürgerlichen englischen Haus^ architektur, daß die künstlerische oder handwerksmäßige Ent-- wicklung von der heimischen Tradition ausgehen muß, die auch bei uns in allen Gegenden eine Fülle von charakterü stischen Beispielen überliefert hat. Daß diese Beispiele nicht im Wege der Nachahmung verwertet werden dürfen, sondern als Vorbild einer organischen Bauentwicklung für unsere Kultur nutzbar gemacht werden können, und auf welche Art, wird für uns nach wie vor ein vielverzweigtes und schier unerschöpfliches Thema sein. Diesen baukünstlerischen Grunde satz durch ein fremdes Beispiel zu erhärten, dazu bieten zunächst unsere Bilder Gelegenheit, in denen Familienhäuser der Bournville^Kolonie, die der Architekt W\ A. Harvey erbaut hat, gezeigt werden. Auf den ersten Blick ist es zu erkennen, daß der Vorzug dieser neuen Wohnhäuser im engen Anschluß an die lokale Bauüberlieferung liegt. Bournville ist eine Arbeiter^ kolonie und als solche volkswirtschaftlich und künstlerisch eine Schöpfung von großer Tragweite, die zur Gartenstadt-Bewegung in England, Deutschland und Belgien den Anstoß gegeben hat. Einer Schilderung der Hausarchitektur von Bournville muß daher eine nationalökonomische Darstellung zu gründe gelegt werden. Es ist vielleicht neben der Arbeiterkolonie Port Sunlight die erste moderne Gründung, in der die wirtschafte liehen, sozialen und künstlerischen Bestrebungen zur gegem seitigen Förderung Hand in Hand gehen. Die deutsche Gartem stadt-Gesellschaft weist in ihren Flugschriften mit besonderem Nachdruck auf dieses Vorbild hin und ihr Wortführer Hans Kampffmeyer entwirft in wenigen Zügen ein zutreffendes Bild der Kolonie. Bournville ist eine Gründung des bekannten Kakaofabrikanten Cadbury, der vorher in Birmingham das Wohnungselend mit all seinen hygienischen, wirtschaftlichen und ethischen Mißständen kennen gelernt hatte. Er sah voraus, daß die Beibehaltung dieses Wohnungssystems die völlige Entartung der englischen Rasse zur Folge haben müsse, und wollte durch ein praktisches Experiment zur Lösung dieser brennenden Zeitfrage beitragen. Fünf Kilometer weit von Birmingham kaufte er in schöner Lage ein Gelände von 500 Morgen, behielt 100 Morgen für seine Werkstätten und begann auf den übrigen 400 Morgen Wohnhäuser zu er^ richten, die er zu billigem Preise an seine und an fremde Arbeiter vermietete. Als dann nach einiger Zeit das Miets^ einkommen eine Verzinsung des Anlagekapitals und eine gesunde Weiterentwicklung des Unternehmens verbürgte, schenkte er die ganze Anlage, die einen Wert von fünf Millionen darstellte, der Gemeinde, mit der Bestimmung, daß der Grund und Boden für alle Zeit Gemeindeeigentum bleiben solle. Die Mietsüberschüsse sollten zunächst zum weiteren Ausbau von Bournville und später zur Gründung von weiteren ähnlichen Niederlassungen verwendet werden. Bournville ist heut ein blühender und gesunder Ort von 2500 Einwohnern. Breite, baumbepflanzte Straßen führen hindurch. Vor jedem der schmucken Häuser liegt ein Blumem gärtchen. An die Rückseite schließt sich ein großer Gemüse garten, dessen Bestellung sich die Leute in ihren Muße stunden mit großem Eifer widmen, und dessen Ertrag zirka ein Drittel der Miete für Haus und Garten beträgt. Bei den Entwürfen für die Häuser hat der Architekt der Gemeinde, Mr. Harvey, an den ortsüblichen Landhausstil frei angeknüpft. Die ganze Anlage verschmilzt infolgedessen mit der Land schaft zu einem harmonischen Ganzen. Man hat den Ein druck, daß der Ort von jeher dort gelegen habe. Von den ansprechenden Architekturen geben die beigefügten Abbildungen eine Vorstellung. Die wechselnden Formen und Farben der Fassaden stimmen sehr wohltuend zu den Gärten ringsum. Und hinter der äußeren Ausstattung bleibt die innere nicht zurück. Zum Beleg dafür diene eins der kleinsten Häuser, das mit dem zugehörigen Blumen- und Gemüsegarten für den wöchentlichen Mietpreis von fünf Mark abgegeben wird. Im Erdgeschoß befindet sich eine außerordentlich geräumige Wohnstube mit freundlichem Erker und schön ausgestattetem Kaminplatz, daneben eine große Küche mit praktischer Badeeinrichtung. Im ersten Stock liegen drei lichte Schlafzimmer. Auch die einfachen und soliden Möbel sind nach den Entwürfen des obenerwähnten Archi tekten gefertigt und zu einem mäßigen Preise käuflich. Alles in diesem Arbeiterhäuschen atmet wohltuende Ruhe und Behaglichkeit. Der Gemeinsinn, der solche Wohnstätten schuf, betätigte sich auch in Wohlfahrtseinrichtungen anderer Art. Es besteht ein Altersversorgungsheim, ein Waisenhaus, ein Erholungs haus für schwache Stadtkinder. Große Parkanlagen und Spiel plätze ziehen sich mitten durch den Ort. Ein mächtiger Saal dient für öffentliche Versammlungen aller Art, für Vorträge, Konzerte und sonstige künstlerische Darbietungen. In dem hübschen Bibliotheksgebäude erfreuen sich die Lesezimmer lebhaften Zuspruchs, und abends werden Vortragszyklen veranstaltet. Die Mädchen erhalten unter anderem auch Handarbeitsunterricht. Dabei hat sich die Notwendigkeit her ausgestellt, sie vorerst im Zeichnen zu unterweisen, und heute führt bereits eine ganze Anzahl von ihnen ihre Stickereien, Schnitzereien und sonstigen kunstgewerblichen Arbeiten nach eigenen Entwürfen aus. überhaupt wird es einem jeden nahegelegt, seine Mußestunden durch irgend eine Liebhaberei in edler Weise auszufüllen. Eine neue Förderung werden diese kunstgewerblichen Be strebungen durch das Denkmal erhalten, das die Ruskin- gesellschaft dem Kunstschriftsteller auf einem von der Ge meinde überlassenen Grundstück errichtet. Es ist keine „Figur“, sondern ein stattliches Gebäude, in dem man die Lehren des Meisters praktisch verwerten will. Im Erdgeschoß befindet sich neben einem Bibliothekzimmer der große Lese saal, der auch zu Vorträgen und zum Zeichenunterricht dienen soll. Darüber liegt ein großer Saal für Ausstellungszwecke, die zahlreichen Nebenräume aber sollen als Unterrichtswerk stätten für die verschiedenen Kunsthandwerke benutzt werden. Als Mr. Cadbury der Gemeinde das königliche Geschenk der Gründung in ihr Eigentum übergab, besaß der Ort 350 Familienwohnhäuser. Seit dieser Zeit (es geschah im De zember 1900) wurde fortwährend gebaut und es stehen heute 500 Häuser. Die meisten vor 1901 erbauten Cottages haben 2 Wohnstuben, eine Küche und 3 Schlafzimmer. Seither hat man größere gebaut mit 4—5—6 Schlafzimmern und einem Badezimmer mit Warm- und Kaltwasserleitung. Seit zwei Jahren hat man mehrere Häuser mit einem einzigen großen Wohnraum statt deren zwei kleinere erbaut; in anderen hat man in dem Boden der Abwaschküche eine verschließbare, vertiefte Badewanne eingelassen. Jedes Wohnhaus besitzt na