L: PERSÖNLICHE ANSICHTEN ÜBER VER, SCHIEDENE DINGE. Die Wahrheit reizt zum Widerspruch, weil sie gegen die Gewohnheit geht. Das „literarische Theater“ bleibt notwendigerweise ein Papier^ ereignis, nicht weil die Unternehmer zu wenig literarisch sind, sondern weil die Literaten zu wenig künstlerisch sind. Die heutige Bühne, wenn sie literarischen Ehrgeiz hat, gibt Tendenzen statt Kunst. Die zahllosen sozialen Mißstände lassen ein Tendenztheater zeitgemäß erscheinen, mit allerlei Nützlichkeitsstücken vier Wochen zu spielen und dann end^ gültig abzusetzen. Diese dramatischen Tendenzstücke sind notwendig als Unterstützung der sozialen Tagesarbeit, trefflich geeignet, die durch Parlamentsinterpellationen, Gerichtsver^ handlungen, Leitartikel, Feuilletons, Lokalnachrichten, sati^ rische Witzblätter aufgedeckten gesellschaftlichen Schäden wirksam zu illustrieren und das öffentliche Gewissen zu peitschen. Daß solche Stücke gut und lebenswahr geschrieben sind, ist schriftstellerischer Anstand. Aber das ist kein Grund, sie als Kunst anzusehen. Der Weg der Kunst ist ein anderer. Eines der künstlerischen Zeichen des neuen Dramas ist, daß es alle Künste vor neue Aufgaben stellt. Es ist das Schlimmste, was sich zu gunsten eines Bildes, einer Zeichnung, eines Dramas sagen läßt, daß es aus dem „Mitleid mit der Kreatur“, aus der „Echtheit des Mitgefühls“ geschaffen ist. Entweder ist das Lob verlogen oder das Kunst' werk. Alle schlechten Kunstwerke werden in dieser lächer' liehen Weise gerechtfertigt. Es ist genau so lächerlich, als ob man sagte, das „Mitleid mit der Kreatur“ sei die Grundlage der Vivisektion. Oder: aus „Mitleid mit der Kreatur“ hat der Wolf das Lamm gefressen. Die Kunst hat mit dem Mitleid genau so wenig zu tun wie die Natur. Die Natur gestaltet, indem sie mit unschuldvoller Grausam' keit zerstört; künstlerisch gestalten wird, wer frei von dem unterjochenden Mitleid ist. Die Legende von dem Künstler ist bekannt, der aus Mitleid, den Heiland zu malen, sein Modell ans Kreuz schlug. Die künstlerischen Naturen gehen immer über die Wünsche ihrer Zeit und ihrer Besteller hinaus. Hoffnungslose Hand' werker und gewissenlose Spekulanten gehen nie über diese Wünsche hinaus; sie sind in Übereinstimmung mit dem Publikum. Der Künstler ist nur in Übereinstimmung mit sich und im Widerspruch mit dem Publikum; das sichert die Entwicklung. Sich einzuleben, ist dann der Kulturfort' schritt. Und wenn das Publikum dort angelangt ist, wo der Künstler war, ist dieser schon weit voraus. Beethovens Musik gleicht auch im stärksten Ausdruck mensch' lieber Leidenschaften einer formedlen antiken Plastik, davon jedes kleinste Bruchstück die Schönheit des Ganzen enthält. Wagners Musik ist ein gewaltsames Gebirge, mit schroffen Zacken und Abgründen; im ganzen mächtig und herrlich, aber im Bruchstück wie taubes Gestein mit kristallinischen Einschlüssen. Ein künftiger Genius wird in dem Gebirge einen Block suchen, um wieder die ausdrucksvolle Einfach' heit edler Plastik herauszumeißeln. ] BILDERAUSSTELLUNG [ DIE „SZTUKA“. ZUR AUSSTELLUNG IN DER SEZESSION. ie Vereinigung polnischer Künstler „Sztuka“ füllt einige Säle der Se zession mit einer interessanten Malerausstellung, die allerdings dies mal nicht so großartig in die Erscheinung tritt wie vor einigen Jahren. Daran ist aber nicht die „Sztuka“ schuld. Sie hat die verständnisvolle Mitarbeit entbehren müssen, die früher im Hause behilflich war. Es geht daher in den Sälen ein wenig „drunter und drüber“. Abgesehen davon, ist das Auftreten der polnischen Künstler auch jetzt sehr er freulich. Die „Sztuka“ verkörpert die Blüte der polnischen Kunst; sie hat den Vorzug, noch eine Entwicklung vor sich zu haben. Die meisten Künstler als Maler, die ihr angehören, haben in Paris den Schwerpunkt ihrer Ausbildung gesucht; aber unter dem europäischen Firnis glüht die angeborne Farbe des nationalen Temperaments hervor. Der Einfluß der mondänen Gesellschaft und ihres Geschmackes einer seits, die heimliche Liebe des Künstlers zu seinem Land und seinem Volk anderseits, bilden die tieferliegenden psychologischen Elemente dieses Schaffens. Es ist aber ganz klar, wohin die Resultante geht. Die „Sztuka“ hat sich unschätzbare Verdienste um die Erhaltung und Erforschung der heimischen Volkskunst erworben; die Materialienhefte, die sie aus ihren Sammlungen und Forschungen herausgibt, bieten einen ganzen herrlichen Feldblumenstrauß naiver volkstümlicher nationaler Kunstschöpfungen, die weitaus interessanter und wertvoller sind als der temperamentlose mitteleuropäische Durchschnitt unserer gewöhnlichen Kunstausstellungen. Die Ausgrabungen der „Sztuka“ sollen nicht allein auf verschüttete Quellen aufmerksam machen, auf die schlummernden künstlerischen Antriebe des Volkes, sondern auch auf die tektonische Entwicklung, und sind daher weit über das ethnographische Interesse hinaus bedeutsam. Vor allem sind sie ein Fingerzeig und eine Warnung in betreff der unseligen Wiederbelebungsversuche durch bureaukratische Fachschulreglements. In dieser Beziehung hat die „Sztuka“ mit dem ungeheuren Übergewicht der künstlerischen Über zeugung eine ergötzliche Fehde gegen den Geist des Schematismus geführt. Eine umfangreiche publizistische Tätigkeit — denn es galt nicht nur zu erobern, sondern auch zu verteidigen — entsprang der Vielseitigkeit der „Sztuka“, deren Künstlerkreis glänzende Schriftsteller angehören. Es sei an die ausgezeichneten „Glossen über die Kunst“ von Jözef Mehoffer erinnert (Ver sacrum, Heft 14, Jahrgang 1903), die gegen den Grafen Lanckoronski gerichtet, und um ein Restaurierungs- attentat abzuwenden, das Recht des Künstlers in treffsicheren Sätzen geltend zu machen suchen, wobei ein scharfer Seitenhieb auch auf das Beuroner Kirchenhandwerk fällt, mit dem die Sezession den Ruhm des laufenden Ausstellungsjahres zu bestreiten vermeinte. Die un übertrefflichen Materialienhefte der „Sztuka“, geeignet, dem Fachschul- und Kunstunterrichtswesen eine andere Richtung zu geben, fanden zunächst bei der Regierung wenig Verständnis; es bedurfte einer un gewöhnlichen publizistischen Vehemenz auch von außenstehender sach- freundlicher Seite, um Staat und Gesellschaft in bescheidenstem Ausmaß an dieser wichtigen Arbeit zu interessieren. Auch wegen geeigneter Be setzung von Lehrstellen durch künstlerisch einwandfreie Kräfte führt die „Sztuka“ gegen den maßgebenden Unverstand in Krakau einen heftigen Krieg; kurz, ich kenne keine andere Künstlervereinigung, die außer ihrer spezifischen Tätigkeit mit dieser zupackenden Frische und Überlegenheit so weitausgreifende künstlerische Interessen pflegen würde. Es ist ganz gewiß, daß der ertragfähige heimische Boden der Kunst reichlich zurückgeben wird, was die Künstler und ihre Sinnesver- wandten, die ihn bebauen, an Arbeitsmühe verschwenden. Wenn auch der faszinierende Einfluß von Paris den Horizont der polnischen Künstler überstrahlt, so blieb doch ihr Auge ungeblendet und angesichts der Kathedrale auf dem Wawel befähigt, das „Geheimnis des Malerischen“ solcher Innenräume, den Zauber solcher Architekturen, die bunte Farbenfreude und den Reichtum tektonischer Künste des Volkes zu ergreifen. Die Urwüchsigkeit und elementare Kraft des heimischen Elementes setzt sich in dem Schaffen der „Sztuka“ durch, aber nicht, wie manche vielleicht denken, als eklektische Nachbildung nationaler Vorbilder, sondern als schöpferische Eigenart, die in dem vom künst- 171