J DAS GROTESKE. ine unwillkürliche Gebärde zum Grotesken zeigt neues Erwachen der Kunst an. Kunst will sich auszeichnen, will hervorbringen, will Niegesehenes sichtbar machen. Nicht das Typische, Allgemeine, Übereinstimmende ist ihr Anliegen, sondern das Charakteristische, Persönliche, Unterscheidende. Es gibt kein typisches Kunstwerk. Typisch ist nur das Handwerk. Durch Wiederholung, Nachahmung, Stilkopieren sinkt die Kunst zum Handwerk, der Künstler zum Handwerker herab. Die Verpflichtung hört daher nicht auf, durch das Unerwartete die Welt in Bewegung und Extase zu setzen. Es ist einzig nur zum gesteigerten, dichterischen Aus druck befähigt. Die zauberhafte Macht dieses Unerwarteten, Sich-Unterscheidenden, Charakteristischen ist so gross, dass sie selbst ihren Entdecker und Hervorbringer, den Künstler, in eine Art Rausch versetzt, die ihn zum leidenschaftlichen Priester der eigenen Sache, mitunter zum Tragiker und Märtyrer macht. Das Charakteristische beherrscht die Form, wächst bedeutsam heraus, unterjocht alle Merkmale, die selbstver ständlich und allgemein sind, und siegt mit jener kühnen Ge bärde. Das Groteske ist der verheissungsvolle Anfang jeder neuen Kunst. Eine Kunst, die nicht mit diesem Geburtsvor recht auftritt, ist todgeboren. Objektivität, Ausgeglichenheit, harmonische Ruhe sind nicht der Anfang, sondern das Ende einer Kunst. Ein Zeichen, dass sie zu Grabe geht, müde und reif, in Klassizität einbalsamiert und mit allen Ehren der Akademisierung beigesetzt zu werden. Göttlich gepriesene Schönheit und himmlische Ruhe wohnen in den Raffaelschen Teppichen und erfüllen die ehrfürchtige Menschheit mit Gähnen. Ewig wird die semmelblonde Rasse nach diesem geweihten Bann kreis wandern, wo Würde und Wohlfrisiertheit keinen unheilig grotesken Hupfer mehr wagen werden. Aber das Leben ausser halb, ringsum in aller Welt, tobt heidnisch und zeugt Wunder. Nun ist diese Welt ein berückender Zauberhain, den das vieldeutige Lächeln seiner grotesken Gebilde sinnverwirrend überzieht. Schön und hässlich, die Masstäbe einer kindischen Ästhetik, versinken hilflos in dem ehrfürchtigen Grausen, das die Menschheit erfasst. Die göttliche Kraft liebt es, sich in ungewöhnlichen Erscheinungen kund zu geben. In der auf gehenden Sonne steht die allnährende Gottheit mit vielen Brüsten, geflügelte Löwenleiber mit Menschenköpfen und grossen Pferdeaugen halten Torwacht an Palästen, Menschenleiber mit Vogelfüssen und Tierfratzen versinnlichen gute und böse Schicksalsmächte, und wenn die Sonne scheidet, tönt in der Sahara der wilde Sang der Steinkolosse, der Habichtblick flügel- leibiger Götter schlägt ins Gebein und aus dem Sand hebt sich das kolossale Haupt einer Sphinx. Im Waldbezirke heiliger Berge jagt das Satyrgefolge zum Dienst des Dionysos und aus der Ekstase springt die Tragödie. Neben den bockfüssigen Faunen galoppiert der Kentaur, Tierleib und Mensch in einem, Gedanke und Ursprung, bezeichnenderweise mit dem Geheimnis aller Künste begabt und weiser Lehrer des Herakles, dessen Tatendrang selbst noch im Götterschritt der Urkraft geht. Immer erweist sich die Groteske als die gewaltige Sprungkraft der künstlerischen Entwicklung. Was nützte es, dass der kirch liche Geist sie als Höllenkunst verdammte, erhebt sie sich doch in den übermächtigen Türmen altgotischer Dome zu einer nie gesehenen Grösse. Und wäre sie nur eine Kunst des Satans, ersehen im frommen Dienst das abschreckend Hässliche der Teufelsmasken darzustellen, so ist das Volk aus gesünderem Instinkt mit dem Teufel wie mit seinem lieben, lustigen Bruder umgegangen, von dem es zum Dank die köstliche, nie versagende Ursprünglichkeit und Frische der Charakteristik in seinen künstlerischen Offenbarungen erhalten hat. Der Auffassung des Grotesken als der Personifikation des Tierischen im Menschen, das getötet werden müsse, damit das Göttliche am Leben bleibe und triumphiere, begegnet der Volksspruch des XVI. Jahr hunderts auf gesunde Art wieder mit einer prachtvoll grotesken Wendung t D Ein Lebendiger uff eim todten sass, Und als der todt lachen thet, Starb der Lebendicgk uff der stedt. Der unhaltbare Dualismus von Tier und Gott im Menschen entweicht als krankes Hirngespinst vor der Gewalterscheinung Michel Angeles „Moses“, der mit dem charakteristischen Hörneransatz als Sendling jener rätselhaften Urwelt ersteht, die immer neue, unerwartete Symbole ihrer geheimnisvoll webenden Kraft gebiert und die träge Gewohnheit durch Schreckgesichte aufscheucht. Immer fällt eine kleinliche Welt von stumpfsinnig gewordenen Kunstübungen zusammen. Es ist diesmal die Renaissance. Der Riese, der ihr die neuen Gesetztafeln ent gegenhält, stammt aus einer älteren Linie mit höheren Macht ansprüchen als der Doppelbastard der römisch antiken Wieder geburt. Er hat die Pyramiden gesehen und ist mit dem Ur- geschlecht der Kentauren verwandt. Er ist eine Persönlichkeit, die auf eigenem beruht, eine Naturkraft, deren künstlerische Reagenz, wie immer, als Groteske, sei es im Guten wie im Bösen, empfunden wird. Wieder ist der Bogen kühn gespannt, um die Pfeilrichtung in der Länge von einem Jahrhundert vor zudeuten. Im Schatten der Riesengestalt lächeln galante Abbés in unheiliger Skepsis über den frommen Altweiberglauben des Dualismus, die kichernden Frivolitäten des Barocks erfüllen ein Zeitalter, dessen Erlesenheiten ein gemeinsames Symbol an beten : die Groteske des Reifrockes. Bis das bezaubernde Spiel in einem Sumpf von Gemeinheit versinkt und die Grimasse Goyas, auch eines von dem ewigen Geschlecht, Entsetzen auf rüttelt und die Menschheit medusenhaft seiner Hypnose unter wirft. □ 30J