HAUS UND GARTEN.
VON GERTRUD JEKYLL, LONDON.
(Fortsetzung.)
ZWEITES KAPITEL.
EIN STREIFZUG DURCH DEN WALD IM
APRIL.
s ist ein windiger Tag Anfang April und ich nehme
meinen Feldsessel und wandere in den Wald hinaus,
wo man immer so schön geschützt ist. Hinter dem
Föhrengehölz dehnt sich eine Strecke wilden, waldähnlichen
Landes aus. Es ist zum größten Teil mit Eichen bedeckt
und nur hie und da ragt eine schottische Föhre in die Höhe,
die sich von der Schar ihrer Genossen entfernt zu haben
scheint und die in der Einsamkeit zwischen noch unbelaubten
Bäumen von ganz anderer Art um so hübscher wirkt. Die
Jahreszeit ist etwas zurückgeblieben; es scheint noch immer
Mitte März zu sein, und die die Erde bedeckende Schicht
von abgefallenen Blättern sieht so verblaßt aus, wie es nur
im März oder in den ersten Wochen eines kalten Aprils der
Fall ist. Es ist schwer zu glauben, daß der Waldboden nach
Ablauf eines Monats mit einem Teppich bedeckt sein wird,
dessen Grund von dem Grün zarter Gräser und farnähnlichen
wilden Petersilien und dessen Muster von Primeln und wilden
Hyazinthen gebildet wird. Die Laubdecke wird vorläufig nur
durch einige hübsche Büschel wilder Zehrwurzel, die jetzt am
schönsten ist, und die weitgespreizten Blätter des Hunds
bingelkrauts unterbrochen. Diese Pflanze ist nicht sehr schön,
ausgenommen in manchen Fällen, wo sie Flecken greller
grüner Farbe bildet, sie ist aber als Vorbotin lieblicher
Frühjahrsblüten willkommen. Es ist ein giftiges Kraut und
man muß sich hüten, es in den Garten zu bekommen, so
heimtückisch und unausrottbar ist seine überall eindringende
Wurzel.
Dort, wo das Untergehölz nicht in dem üblichen Zwischen^
raum von wenigen Jahren abgehaut wird, findet man hie
und da sogar einen alten Haselnußbaum mit einem sechs
Zoll dicken Stamm oder mit fünf, sechs zusammengewachsenen
Stämmen. Nur wenn man ihn so antrifft, sieht man erst,
daß er einer der anmutigsten kleinen Bäume ist. Die Stämme
haben die Eigenschaft, sich gleich bei ihrer Basis auszu
spreizen und sich zu wölben, so daß sie fast ein regelrechtes
Segment eines Kreises bilden. Die Rinde wird nach drei
jährigem Wachstum rauh, vorher ist sie aber bis auf eine
dünne, papierähnliche braune Schicht den Überrest einer
früheren Haut, weich und gleichsam poliert, während ihre
Farbe zwischen Graugrün und einem ruhigen Braun mit
silberigen Streifen und Punkten schwankt. Es ist schwer zu
glauben, daß wir uns mitten im April befinden, so sehr ist die
Jahreszeit mit ihren frostigen Nächten und Winden zurück
geblieben, die aus allen Himmelsrichtungen kalt zu wehen
scheinen. Heute kommt der Wind vom Süden, trotzdem er vom
Nordosten zu blasen scheint. Wie kalt muß es in Nordfrank
reich sein! Der durch den Föhrenwald führende Pfad, den ich
beim Rückweg wähle, ist seiner ganzen Länge nach geschützt,
der Wind erreicht mich aber trotzdem in kleinen kalten
Stößen, als ob Pfeile von kalter Luft zwischen den Bäumen
abgeschossen würden. Die vom Winde geschüttelten Föhren
geben jenen angenehmen Laut von sich, der mich immer an ein
entferntes, gegen ein steiniges Ufer anprallendes Meer erinnert.
Vor mir und links vor mir ist keine Sonne mehr zu sehen
und die scharfen Schatten der Bäume lagern sich dort, wo
das Sonnenlicht durch eine halb offene Stelle schräg über
den Fußweg dringt. Etwas weiter, in einer Entfernung von
etwa fünfzig Ellen, ist der Pfad in Dunkel gehüllt und die
durch den Schatten der Baumstämme wie durch ein Gitter
unterbrochenen sonnigen Stellen sind immer weiter von
einander getrennt. Die Föhren heben sich hier dunkel vom
nebligen Hintergrund ab. Es ist kein eigentlicher Nebel, da
der Tag ganz klar ist, und dieser Eindruck entsteht nur
dadurch, daß ich mich auf einem Hügel und auf der Höhe
der Föhrenwipfel befinde, von wo aus der Abhang sich
steil nach Norden senkt. Dort, wo die Sonne die Ränder
der näheren Stämme erreichen kann, treten dieselben als
eine scharf beleuchtete Linie hervor, während ihr übriger
Teil in ein warmes Dunkel gehüllt ist; dort, wo die Bäume
jedoch im Schatten stehen, sind sie in ein Grau gehüllt,
das fast in Blau übergeht, da auf sie durch die Lichtung
hinter mir der Widerschein des blauen, wolkenlosen Himmels
fällt. Die gegen die Sonne gesehenen Stämme scheinen von
einer blassen grünlichbraunen Färbung zu sein, die heller als
die von ihnen geborgenen Schatten ist und durch die von
der Sonne beleuchteten welken Farrenkräuter vor ihnen etwas
heller erscheint.
Wenn ich mich in den Schatten vertiefe, verschwindet der
bläuliche Schimmer und ich sehe ihre wahre warme, rötlich
graue Färbung, die von den blässeren Flechten unterbrochen
wird. Ich wünschte mir, von einem jungen, angehenden
Maler begleitet zu sein, da die verschiedenartige Färbung der
Bäume des Waldes in der heutigen Beleuchtung für das
Gewöhnen des Auges, an das Sehen der Farben der Gegen
stände, so wie sie erscheinen, sehr wertvoll war: das ungeübte
Auge sieht die Farbe nur in einer ganz beschränkten Weise.
Ich glaube, daß jemand, der diese Art von Trainierung niemals
durchgemacht hat, wohl kaum den Unterschied, der auf diese
Weise in dem Grade des Genießens alles dessen, was in
unserer schönen Welt am bewundernswertesten ist, entsteht, be
greifen kann. Es befähigt selbst in einem größeren Maße als das
Aufnehmen von Formen und Proportionen, das der Künstler
sich aneignen und pflegen muß, Bilder an sich und nicht
nur Gegenstände zu sehen. Und die auf diese Weise vom
Auge und Hirn erfaßten Bilder sind die allerschönsten, denn
sie sind von dem größten Künstler entworfen und werden
dem sehenden Auge und dem empfangenden Herzen dar
geboten.
Es ist nicht auf den Mangel an Beobachtungsgabe, sondern
auf ungenügende Übung zurückzuführen, daß die meisten
Menschen von der Natur nicht unmittelbar das sehen und
empfangen können, was der Künstler genießt und daß die
einzigen, ihnen auffallenden Naturbilder diejenigen sind, die
eine außerordentliche Intensität oder Quantität von positiver
Farbe aufweisen, wie beispielsweise ein leuchtender Sonnen
untergang oder eine in der gelben Pracht des Herbstes
prangende Baumgruppe, oder ein Mohnfeld oder ein sich
unter seiner Blütenlast beugender Obstbaum. Die ungeübten
Augen vermögen die viel zahlreicheren und zarteren Natur
schönheiten und Stimmungen nur dann zu genießen und
zu verstehen, wenn dieselben ihnen von dem die Sprache
der Natur verstehenden und als deren Dolmetsch dienenden
Künstler in der Form eines gemalten Bildes dargeboten
werden.
Jetzt erreiche ich den Saum einer etwa dreißig Jahre alten
Rottannenkultur. Die Wipfel der Bäume begegnen einander
über dem schmalen Fahrweg und man glaubt in dem späten
Nachmittagslicht die Mündung eines schwarzen Tunnels zu
sehen, so drückend und tief erscheint dies unheimliche
Dunkel. Es ist hier tatsächlich vollkommen finster und in
der Tiefe seltsam still, diese Stelle scheint ganz tot zu sein
und es ist den Vögeln und kleinen Waldtieren gleichsam
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