Zeitschriften
HALBMONATSCHRIFT ZUR PFLEGE DER
KÜNSTLERISCHEN BILDUNG UND DER
STÄDTISCHEN KULTUR
Herausgegeben von JOSEPH AUG. LUX
unter Mitwirkung der Herren PROF. CORNELIUS GURLITT,
ARCH.-PROFESSOR JOSEPH HOFFMANN, PROFESSOR
D R - ALFRED LICHTWARK, PROFESSOR KOLO MOSER,
HERMANN MUTHESIUS, PROF. SCHULTZE-NAUM-
BURG, OBERBAURAT PROF. OTTO WAGNER etc. etc.
II. JAHRGANG 1905-6
□ VERLAG □
„HOHE WARTE“,
WIEN UND LEIPZIG
INDEX.
Seite
STÄDTEBAU UND STÄDTESTUDIUM.
Geschlossene und offene Bauweise JJ8
Regulierungsprojekt des Theaterplatzes in Berndorf in Verbindung mit
dem Bau eines Gesellschaftshauses. (Illustriert) 120
Die Stadt Strakonite. (Illustriert) 131
Wiener Vorstadtkultur 205
Der Wald- und Wiesengürtel und die Höhenstrasse der Stadt Wien.
(Illustriert) 207
Altwiener Geschäftsläden 216
Der Nordosten Wiens 218
Wenn du vom Kahlenberg... (Illustriert) 219
Offene und geschlossene Bauweise. (Illustr.) Von PAUL SCHULTZE-
NAUMBURG 229
St. Pölten, Friedhofeingang. (Illustriert) 239
Städtestudium vom Standpunkte der heimatlichen Kultur: X. Brünn.
(Illustriert) 241
XI. Reise nach SaUburg 283
HAUSBAU.
Cottage 32
Das Haus des Bürgers. (Illustriert) 37
Haus und Garten. Von GERTRUDE JEKYLL 54, 71, 96
Maljutins künstlerische Holzarbeiten . 124
Das englische Haus 142
Das Schulhaus 155
Tote Architektur. Zum Ausbau der Wiener Hofburg 213
Alt-Wiener Haustore 215
Ein kleines Landhaus in Finnland. (Illustriert.) Von GUSTAF
STRENGELL 293
Holländische Reiseskizzen. I. Der Friedenspalast in den Haag .... 307
WOHNUNGSPFLEGE.
Schlafzimmer. (Illustriert.) Entwurf von F. ZEYMER 5
Möbelvorlagen. (Illustriert) 26
Einfache Küche. (Illustriert) 46
Einfache Tischlermöbel. (Illustriert) 53
Das Speisezimmer im amerikanischen Wohnhause, amerikanische
Küchenmöbel. (Illustriert) 97
Vom guten und schlechten Möbel 112
Herrenkleiderschrank. (Illustriert) 113
Die Maschinmöbel der Dresdner Werkstätte. (Illustriert) 130
Das Maschinenmöbel. Von HERMANN MUTHESIUS. Beilage des
Doppelheftes 19 und 20 2
GARTENBAU.
Gartenarchitektur. (Illustr.) Entwürfe von Arch. MAX BENIRSCHKE 12
Hausgarten. Nach einer Anlage von Architekten ROBERT ORLEY 22
Haus und Garten. Von GERTRUD JEKYLL 114, 128, 275
Gartenarchitektur. (Illustriert) 173
Gartenfeste 174
Der schöne Garten. Von OSKAR BIE 176
Heckenrosen 178
Wiener Gärten 181
Der Farbengarten. Von Prof. JOSEF M. OLBRICH 184
Der Küchengarten . 275, 285
Ein Garten aus Rosen und Lorbeer 280
Entwürfe. Von Architekten A. HOLUB 280, 281
Seite
TECHNIK UND KUNST IM GEWERBE.
Goldschmiedekunst. (Illustriert) 8
Goldschmiedekunst. (Illustriert.) Von ALFRED LICHTWARK ... 57
PLASTIK.
Grabmäler. (Illustriert.) Entwürfe von Prof. JOSEPH HOFFMANN. 6
Professor Franz Metzner 79
Die tragische Muse. (Illustriert) 98
Georg Minne, der Redner 116
Alt-Wiener Friedhof zu St. Marx. (Illustriert) 109
Denkmalideen mit Entwürfen. (Illustriert.) Von Prof. JOSEPH HOFF -
MANN 287
MALEREI.
Blumenstücke. (Illustriert.) Von E. R. WEISS 81
Rudolf von Alt. Von J. A. LUX 200
HANDARBEITEN UND MODE.
Zur Reform der weiblichen Handarbeiten. (Illustriert.) 63
Das Reformkleid. (Illustriert) 78
Wiener Moden von 100 Jahren 217
VOLKSKUNST UND HEIMATSCHUTZ.
Volkstümliche Baukunst. (Illustriert)
I. Nordböhmische Wohnbauten 16
II. Heimatliche Bauweise in Ober-Bayern 31
Polnische Bauernstickerei. (Illustriert) 73, 92
Kalotaszeger Kunst. (Illustriert) 256
KUNSTERZIEHUNG.
Entwurf eines neuen Unterrichtsplanes. Von JOHANN FRIEDRICH 152
Musik und Gymnastik. Von ALFRED LICHTWARK 157
Geschichtliche Entwicklung des Kunstunterrichtes im XVIII. Jahrhundert.
Von Dr. HERMANN MUTHESIUS 158
Moderner Kunstunterricht. (Illustriert) 160
Die Samskola in Gothenburg 161
Die Idee einer guten Kunstschule. (Illustriert) 291
WIRTSCHAFTSPOLITIK. KUNSTPOLITIK.
Die Volkswirtschaft des Talentes .... 2, 17, 33, 49, 65, 102, 147, 149
Wien und die künstlerischen Gemeindeaufgaben. (Illustriert.)
I. Der Karlsplatz 4
II. Plätze 20
III. Der Minoritenplatz in seiner neuen Verunstaltung 20
IV. Plan eines allgemeinen Ausstellungsbaues für Wien .... 36
VERSCHIEDENE KULTURANGELEGENHEITEN.
Die Baumeister gegen die Baukunst 29
Korrespondenz 32
Dschin Dschitsu 44
Neues Dresdner Spielzeug. (Illustriert) 62
Wie Verschönerungsvereine verhunzen 62
Die Ausstellung billiger Landhäuser. (Illustriert) 63
Kunst im Buche 63
Ein Arbeiterkonsumvereinshaus 104
III
Ein Ort- und Landschaftsbuch der „Hohen Warte“. Von WALTHER
v. SEMETKOWSKY J3J
Eine englische Ausstellung von Cottages 201
Heimische Bauweise 201
Schweizerische Vereinigung für Heimatkunst 201
Arbeiter Wohnhäuser in Triest 201
Wohldorf, die Hamburger Gartenstadt 201
THEATER.
Die Kunst des Theaters. (Illustriert) 10
Wenn die Tänzerin tanzt 38
AUSSTELLUNGEN.
Erste Kunstausstellung. (Illustriert.) Architekt HANS OFNER, St. Pölten 24
Ausstellung künstlerischer Reklame in Brünn 32
Kirchliche Kunst in der Wiener Sezession 47
Kunstsalon Miethke 48
„Kunst im Hause.“ Am Christkindlmarkt 63
Moderne Kunst. (Illustriert) 68
Vom Wesen der hieratischen Kunst 79
Der Fächer SO
österreichische Volkskunst zur Ausstellung im Kunstgewerbemuseum 92
Vincent van Gogh 99
Die Scholle 99
Von deutschen Kunstausstellungen 303
KRITIKEN.
„Der Fall Böcklin“ 27
Kunst und Kunstkritiker. Whistler gegen Ruskin 79
Almanache, Kalender und Kataloge 98
William Morris 146
SENDSCHREIBEN UND AUFRUFE.
Anfrage an das k. k. Österreichische Unterrichtsministerium:
I. Ist die Verwendung von „Vorlagenwerken“ nicht ein pädagogi -
scher Unsinn? (Illustriert) 14
2. Möbelvorlagen 26
An das Hohe k. k. Unterrichtsministerium, Wien . • 85
An das Hohe k. k. Unterrichtsministerium, Wien 101
Aufruf zur Gründung eines Niederösterreichischen Museums in Wien. 203
LITERATUR.
Aphorismen von
WILLIAM MORRIS 23, 133, 139, 145, 176, 239
OUCKAMA KNOOP ... 53, 59, 208, 214, 219, 241, 253, 256, 282
OSCAR WILDE 99, 302
JOHN RUSKIN 140, 156, 159, 170
ADALBERT STIFTER 151, 154
BACON 198
□ □
Seite
LUX: Ansichten 171, 189
Auferstehung 193
Das Mysterium 194
Die Allgemeinheit 277
Sonnenschule. Von JOHANN FRIEDRICH ... 40
Japanische Lyrik 60
Harn. Von LAFCADIO HEARN 76
Beethovens Septett. Von WALT. WHITMAN 100
Lilis v. Fiona Macleod 106
DANTE ROSSETTI: Lilith, Sonett 116
Bon Odori v. Lafcadio Hearn 190
Die Kritik. Von OSCAR WILDE 199
Ein Archiv des Herzens 225
Eine ergötzliche Geschichte. Aus dem Wiener Theateralmanach . . . 227
Die himmlische und irdische Liebe. Von Pater CEVA 239
Mein Abendmärchen. Von JOHANN FRIEDRICH 273
Siena und Simon Martini. Genius Loci. Von VERNON LEE. . . . 277
Goethe als Lebendiger. Kunstschätze am Rhein, Main und Neckar . 278
Märchen. Von FJODOR SZOLOGUB 286
LUX: Das Groteske 301
Die Brigittenkirchweihe in Wien 308
BÜCHER.
Büchereinlauf 32, 172, 203, 228, 252
Bücher, die man lesen soll 24, 601, 010, 162
PREISAUSSCHREIBEN.
Preisausschreiben des Scheu-Denkmalkomitees 202
Preisausschreiben der „Deutschen Modenzeitung**. Doppelheft 17 und 18,
Beilage 2
BEILAGEN.
Beilage für heimatliche Kulturinteressen: Braunau am Inn, einst und
jetzt. Schändung historischer Kunstwerte. Heft 4 1 bis 4
Kunstbeilagen:
I. Unbekannter chinesischer Meister. Heft 5.
II. C. A. Reichel. Mutter. Heft 5.
III. bis XIV. Sonderheft Rudolf v. Alt. Heft 6.
XV. Georg Minne. Der Redner. Heft 8.
XVI. Dante Gabriel Rossetti. Lilith. Heft 8.
Musikbeilagen:
Lieder aus des Knaben Wunderhorn: Heideröslein, Der schwere
Traum, Allerschönster Engel. Heft 7 1 bis 4
Christkindleins Wiegenlied, Liebesklage, Drei Jungfräulein, Ver -
schneiter Weg, Zwei Königskinder. Heft 9 1 bis 4
Trinklied von Salieri. Doppelheft 15 und 16 1 bis 2
Bk
Seite
AUTORENVERZEICHNIS.
Seite
BACON.
Zitat 198
OSKAR BIE.
Der schöne Garten J7é
PATER CEVA.
Die himmlische und irdische Liebe 239
JOHANN FRIEDRICH.
Die Sonnenschule 40
Entwurf eines neuen Unterrichtsplanes 152
Mein Abendmärchen 273
GOETHE.
Kunstschätee am Rhein, Main und Neckar 277
Über die Wohnung. „Goethes Gespräche mit Eckermann". Beilage.
Doppelheft 21 und 22 2
LAFCADIO HEARN.
Harn 76
Bon Odori 194
JAPANISCHE LYRIK 60
GERTRUDE JEKYLL.
Haus und Garten 54, 71, 96, 114, 128, 275
OCKAMA KNOPP.
Zitate 53, 59, 208, 214, 219, 241, 253, 256, 282
VERNON LEE.
Siena und Simon Martini. Genius Loci 278
ALFRED LICHTWARK.
Goldschmiedekunst 57
Musik und Gymnastik 157
JOSEPH AUG. LUX.
Vorwort des Herausgebers 1
Die Volkswirtschaft des Talentes . . 2, 17, 33, 49, 65, 102, 147, 149
Wien und die künstlerischen Gemeindeaufgaben.
I. Der Karlsplate 4
II. Plätee 20
III. Der Minoritenplate in seiner neuen Verunstaltung .... 20
IV. Plan eines allgemeinen Ausstellungsbaues für Wien .... 36
Schlafzimmer 5
Grabmäler 6
Goldschmiedekunst 8
Die Kunst des Theaters 10
Gartenarchitektur 12
Anfrage an das k. k. Österr. Unterrichtsministerium . 14, 26, 85, 101
Volkstümliche Baukunst.
I. Nordböhmische Wohnbauten In
II. Heimische Bauweise in Ober-Bayern 31
Hausgarten 22
Cottage 23
Erste Kunstausstellung. Architekt HANS OFNER, St. Pölten 24
„Der Fall Böcklin“ 27
Die Baumeister gegen die Baukunst 29
Ausstellung künstlerischer Reklame in Brünn 32
Das Haus des Bürgers 37
Dschin-Dschitsu 64
Kunstausstellungen.
Kirchliche Kunst in der Wiener Sezession 47
Kunstsalon Miethke 48
Beilage für heimatliche Kulturinteressen.
Braunau am Inn, einst und jetzt. Schändung historischer Kunst -
werte. Heft 4 1 bis 4
Einfache Tischlermöbel. Armstühle 53
Verschiedene Kulturangelegenheiten.
Neues Dresdner Spielzeug 62
Unsere Heimatschutzbeilage 62
Wie Verschönerungsvereine verhunzen 62
Zur Reform der weiblichen Handarbeiten 63
Die Ausstellung billiger Landhäuser 63
Kunst im Buche 63
„Kunst im Hause.“ Am Christkindlmarkt 63
Bücher, die man lesen soll 64, 100, 116, 202, 228, 252
Moderne Kunst 68
Volkskunst und Heimatschutz.
Polnische Bauernstickerei 73, 92
Professor Franz Metzner. Neue Monumentalplastik. Berliner
Gesellschaftsbaus 79
Kunst und Kunstkritiker.
Whistler gegen Ruskin 79
Vom Wesen der hieratischen Kunst 79
Rudolf von Alt 81
Österreichische Volkskunst. Jahresausstellung im Kunstgewerbe -
museum 92
Das Speisezimmer im amerikanischen Wohnhaus. Amerikanische
Küchenmöbel 97
Wenn die Tänzerin tanzt 98
Tragische Muse 98
Almanache, Kalender und Kataloge 98
Vincent van Gogh 99
„Die Scholle“ 99
Ein Arbeiterkonsumvereinshaus 104
Alt-Wiener Friedhof zu St. Marx 109
Vom guten und schlechten Möbel 112
Herrenkleiderschrank, amerikanisch 113
Sächsische Künstler 115
Georg Minne. Der Redner 116
Künstlerwerkstätten 117
Geschlossene und offene Bauweise 118
Regulierungsprojekt des Theaterplatzes in Berndorf in Verbindung
mit dem Bau eines Gesellschaftshauses 120
Maljutins künstlerische Holzarbeiten 124
Die Maschinmöbel der Dresdner Werkstätte 130
Österreichischer Künstlerbund 132
Idiotenhafte Stadtvertretung 132
Das Wohnhaus 134
Das englische Haus 142
William Morris 146
Die österreichische Ausstellung in London 148
Das Schulhaus 155
Moderner Kunstunterricht 160
Persönliche Ansichten über verschiedene Dinge 171
Die „Sztuka“. Zur Ausstellung in der Sezession 171
Gartenarchitektur 173
Gartenfeste 174
Wiener Gärten 181
V
Seite
Seite
Ansichten J89
Auferstehung 193
Das Mysterium . J94
Blumenstücke. Von E. R. WEISS, Hagen i. W 200
Eine englische Ausstellung von Cottages 20 J
Heimische Bauweise 201
Schweizerische Vereinigung für Heimatkunst 201
Arbeiterwohnhäuser in Triest 201
Wohldorf, die Hamburger Gartenstadt 20 f
Wiener Vorstadtkultur 205
Der Wald- und Wiesengürtel und die Höhenstrasse der Stadt Wien 207
Tote Architektur. Zum Ausbau der Wiener Hofburg 213
Alt-Wiener Haustore 215
Der Nordosten Wiens 218
Wenn du vom Kahlenberg 219
Ausstellung der Kunstgewerbeschule 227
St. Pölten, Friedhofeingang 239
Städtestudium vom Standpunkte der heimatlichen Kultur.
X. Brünn 241
XI. Reise nach Salzburg 283
Beilage, Grund und Boden.
Die Regulierung und Bebauung der Stadt Amstetten nach
künstlerischen Grundsätzen. Doppelheft 17 und 18 I
Vermessungswesen. Doppelheft 17 und 18 1
Arbeit als Selbstbeglückung 254
Vermessungswesen. Doppelheft 19 und 20 1
Die Allgemeinheit 277
Ein Garten aus Rosen und Lorbeer 280
Denkmalideen 287
Die Idee einer guten Kunstschule 291
Vermessungswesen. Doppelheft 21 und 22 1
FIONA MACLEOD.
Lilis 106
WILLIAM MORRIS.
Zitate 23, 133, 139, 145, 176, 239
HERMANN MUTHESIUS.
Geschichtliche Entwicklung des Kunstunterrichtes im XVIII. Jahrh. 158
Das Maschinmöbel. Beilage des Doppelheftes 19 und 20 ... . 2
PROF. JOSEF M. OLBRICH.
Der Farbengarten 184
Ritterliebesbrief aus dem XV. Jahrhundert 225
DANTE GABR. ROSSETTI.
Lilith, Sonett H6
RUSKIN.
Zitate 140, 156, 161
Samskola-Programm 159, 170
PAUL SCHULTZE-NAUMBURG.
Offene und geschlossene Bauweise 229
WALTHER v. SEMETKOWSKY.
Ein Ort- und Landschaftsbuch der „Hohen Warte" 131
SZOLOGUB.
Märchen 286
ADALBERT STIFTER.
Zitate !51f 154
Brief an Fanny Greipl .
GUSTAV STRENGELL.
Ein kleines Landhaus. .
WALT. WHITMAN.
Beethovens Septett . . .
HENRY VAN DE VELDE.
Der Fächer
OSCAR WILDE.
Zitat 99
Die Kritik 199
WIENER THEATERALMANACH für das Jahr 1796.
Eine ergötzliche Geschichte
□ □ □
i
VI
ZUM BEGINN DES II. JAHRGANGES.
D ie künstlerische Bildung im Volke wurde bisher auf dem Umwege über die Literatur betrieben. „Die
Kultur des Geistes“, die „Kultur des Denkens“ blieb bis heute das Schlagwort der „Gebildeten“,
die darüber völlig vergessen hatten, daß dieser „Kultur des Geistes“ keine Wirklichkeit entspricht.
Die reale Umgebung, mit der die meisten Gebildeten ganz zufrieden sind, zeigt sogar eine ziemlich arge
Unkultur. Außere Verrohung und Verelendung gehen damit Hand in Hand. Wert wird Unwert, Unwert Wert.
Hier setzt unsere Arbeit ein. Wir pflegen künstlerische Bildung nicht durch die Literatur, durch die Wissen^
Schaft, sondern durch die Kunst, durch die Anschauung. Was einzelne hervorragende Männer auf diesem
Gebiete begonnen haben, setzen wir fort; uns schwebt der Begriff von Kunst und Arbeit als eine organische
Einheit vor.
Der große schier alles umfassende Umfang unseres Programms ist aus dem Beiblatt jedes Heftes, noch
mehr aber aus dem Inhalt des abgelaufenen Jahrganges bekannt, der alles Gestalten einer vergleichenden
Darstellung unterzogen und die Unterscheidungsmerkmale zwischen „Gut und Schlecht“ festzustellen ver«-
sucht hat. Daß den schlechten Neuschöpfungen meistens gute alte Beispiele gegenübergestellt wurden, ist
natürlich; des schlechten Neuen ist leider zu viel und des guten Neuen noch zu wenig, um die Heimat'
kultur anders als mit alten Lösungen zu erläutern. In Hinkunft aber soll das Neuschaffen in den Vorder'
grund treten, da wir hoffen können, daß das Unterscheidungsvermögen an den alten Dingen bereits ge'
schärft ist, um nicht nur das überwiegend schlechte Neue abzulehnen, sondern auch — UND DAS IST
UNSER ENDZIEL! — die, wenngleich seltenen, guten neuen Schöpfungen, die gewöhnlich mißverstanden
werden, zu erkennen und die Herrschaft der Qualität — der Wertigkeit — zu befestigen.
Rückblickend können wir mit bescheidenem Stolze sagen, daß unsere Arbeit nicht unbelohnt geblieben ist.
Mehrere Bauwerke von künstlerischem Wert sind durch unser Dazwischentreten vor dem Abbruch gerettet
worden, verkannte gute Bestrebungen werden der Förderung leitender Kreise — MIT NACHDRUCK! —
keineswegs erfolglos empfohlen; in Städtebaufragen haben wir den ratsuchenden Stadträten der Provinzorte
den ^Veg zu künstlerischen Lösungen gezeigt, gelegentliche Vorträge haben in künstlerisch praktischen Fragen
weiterhin Aufklärung gegeben und schließlich wurde die Organisierung von „Hohe ^Varte“'Verbänden zur
Förderung der Kulturinteressen in den Provinzen unternommen, also immerhin ein gutes Stück Arbeit ge'
geleistet, wenn auch manche andere von guten Absichten geleitete Versuche an dem leider sehr verbreiteten
Stumpfsinn scheitern mußten.
Wir haben uns auch, Gott sei Dank! redlich viel Feinde erworben. Wer wollte den Stumpfsinn nicht zum
Feinde haben? Und darum haben wir natürlich auch sichere Freunde gewonnen, deren Zahl täglich wächst
und die wissen, daß hier fruchtbare Arbeit geschieht für die Kultur jedes einzelnen und der Gesamtheit. An
ihnen liegt es, der guten Sache zu dienen, indem sie neue Anhänger werben. Gewiß, jeder kann mit Leichtig'
keit das Seine dazn beitragen.
Der Herausgeber,
DIE VOLKSWIRTSCHAFT DES
TALENTES.
(Fortsetzung aus den Heften 21 und 22, 23 und 24, 25 und 26,
Seite 353, bezw. 377, bezw. 401.) Wenn
ich schon davon absehe, daß der menschenunwürdige Zustand
einer großen Bevölkerungsschicht als schwerstes Kulturver'
säumnis ihrer Verantwortlichkeit zur Last fällt, wie werden
sie, muß ich fragen, dem trotz aller Widrigkeit aufstrebenden
Talent und seinem höchsten Ausdruck, nämlich der Kunst,
gerecht? Wie hat das Bürgertum seine Aufgabe der Kunst
gegenüber erfüllt? Das Bürgertum tut sein Höchstes in der
Nachäffung des Adels. Seit Molières Bourgeois Gentilhomme
ist es sein Ziel, es dem Vorbild gleichzutun. Mr. Jourdain
übte sich in Prosa, aber auch in Poesie. Der Adel hat seine
historische Kulturmission erfüllt, der Kunst von heute gegen'
über sind Hof und Adel vollkommen steril. Hof und Adel
geben höchstens in der Jagdpflege ein Vorbild, keineswegs in der
Kunstpflege. Das nachäffende Bürgertum tut es ihnen darin
gleich; die Mrs. Jourdain von heute begnügen sich mit der Prosa
allein. Das heutige Bürgertum hat seine Pflichten dem Talent
und der Kunst gegenüber total vernachlässigt; sein Vermögen
zu repräsentieren, dient das Automobil mit der höchsten Zahl
von Pferdekräften, die Größe der Brillanten, damit sie ihre
Frauen behängen, lauter Dinge, die mit der Kultur, mit der
Pflege des Talents und der Kunst in keiner Beziehung stehen.
Soll das Talent als Wertquelle erkannt, der Kultur und
Vervollkommnung dienstbar gemacht werden, dann darf die
wichtige Funktion des gesteigerten und geläuterten BedürL
nisses, die heute auf allen Linien versagt, nicht fehlen. Der
Mensch ist Anfang und Ende aller Dinge. Hervorbringen
und Verbrauchen stehen im engen Zusammenhang, eins
hat nur Sinn durch das andere. Um das andere kennen zu
lernen, führt unser Weg bergan, zu einem der nächsten
höheren Gipfelpunkte, dem der Fähigkeit des Genießens.
II. SPARSAMKEIT UND VERSCHWENDUNG.
Es ist damit allein nicht getan, daß die Spießbürger alle
üppig würden. Es kommt nicht darauf an, daß sie sich
mit allem Luxus umgeben zu dem einzigen Zwecke, daß
das Geld unter die Leute käme. Es kommt auch nicht
darauf an, durch ihren Aufwand zu zeigen, daß sie sich die
Kostspieligkeit leisten können. Denn beides, Luxus und
Kostspieligkeit, sind leicht geeignet, Schaden und Ärgernis
hervorzubringen. Sie bedeuten vielfach eine schlechte Am
wendung des Geldes, dem bloßen Schein zu liebe, und jede
schlechte Anwendung des Geldes bereitet Ärgernis und
Schaden. Dagegen kann eine gute Anwendung des Geldes
niemals kostspielig sein. Für eine gute Sache kann niemals
genug Geld angewendet werden. Denn Geld ist eine Sache,
die erst Sinn bekommt durch ihre Anwendung, eine Sache,
die, für sich allein betrachtet, tot und unfruchtbar ist, während
die menschliche Arbeit, die wieder zum Menschen spricht,
einen körperlichen oder geistigen Nährwert bildet, dessen
Zeugungskraft fortwirkt. Wie viel auch Geld angewendet
wird, es kann bei guter Anwendung niemals zum Verlust
führen. Ich verstehe unter dieser Anwendung nicht die
Sparkassa, die den höchsten Zinsfuß und die größte Sicher'
Stellung gewährt. Die beste Anwendung ist die, die das
höchste Maß von Schönheit und Vortrefflichkeit ermöglicht.
Der Hintergedanke auf einen Unternehmergewinn entscheidet
hier nicht. Für die Schönheit und Vortrefflichkeit ist kein
Preis zu hoch. Schönheit und Vortrefflichkeit in allem, was
der Mensch schafft, baut, tut, denkt, fühlt, ist das einzige
Mittel gegen Armut und Elend, die oft genug auch hinter
dem äußeren Reichtum verborgen sind. Alles Schaffen, Bauen,
Tun, Denken und Fühlen steht in unlösbarem Zusammen'
hang. Es gibt kein Schaffen, das nicht auf das Fühlen
zurückwirkt und kein Fühlen, das nicht in dem Schaffen
mitschwingt. Es gibt keinen Menschen, der, gewohnt Schönes
und Gutes hervorzubringen, innerlich schlecht wäre, und es
gibt keinen schlechten Menschen, der befähigt wäre, aus
eigener Kraft Gutes und Schönes hervorzubringen. Daher
kann auch das Gute niemals häßlich sein, aber das Häßliche
wird immer schlecht sein. In einem Lande, das in allen
Teilen wohlgepflegt und sorgfältig bebaut ist und auch in
der geringfügigsten Sache den Schönheitssinn der Bewohner
verrät, kann keine bittere Armut herrschen, so wenig als
Schlechtigkeit dort herrschen wird. Wie herrlich und voll'
kommen dort auch alles sein mag, wie kostbar die Materialien,
aus denen die Häuser, die Wohnungen, die Gewebe und
Kleider gebildet sind, auch sein mögen, es wird, wenn es
der Schönheit und der Kunst wegen geschehen ist, nicht als
Kostspieligkeit oder als Verschwendung gelten können, weil
es dazu dient, das Leben der Menschen vollkommen und
glücklich zu machen. „Menschen, die schöne Dinge hervor'
bringen, sollen an einem schönen Orte wohnen“, und es
gibt ein Stadium, wo alle nützliche Hervorbringung auch
schön wird, entweder durch die Form, die ein ebenmäßiges
Gefäß der edlen Absichten ist, oder durch die edlen Gefühle,
von denen die Verrichtung begleitet ist. Absichten und Ge'
fühle sind auf den Menschen gerichtet, der in allem das
Maß gibt; in diesem Hinblick wird Kunst Religion und
die Religion Kunst. Allerdings Religion ohne Heiligen'
Verehrung, ohne Märtyrer, ohne Devotionalien und ohne
Paramentenprunk.
Es kann, wie groß auch der Aufwand zur Hervorbringung
des Schönen und absolut Zweckdienlichen, wofern man auch
die Zweckdienlichkeit sogenannter Gefühlswerte erkennt, sein
mag, nicht nur nichts verloren, sondern es kann nur immer
gewonnen werden. Es gibt allerdings Gemütsmenschen, und
diese bilden die erdrückende Majorität, denen der Gewinn an
Menschlichkeit weniger wichtig ist als der Gewinn an Zinsen,
und die für die Kunst und alle Leistungen des Talentes nur
dann ein offenes Herz haben, wenn sich ihre Kunstliebe mit
dem Kapitalgewinn in ein nach ihrer Anschauung vorteil'
haftes Verhältnis setzen läßt.
Auch von dieser Seite ist der Sache beizukommen, obzwar
die Volkswirtschaft des Talentes mehr bedeuten soll als die
Volkswirtschaft des Kunsthändlers und mit einem anderen
Maße mißt als in den Niederungen der Händlerweisheit gang
und gäbe ist. Als Max Klingers Beethoven der Stadt Wien
zum Kaufe angetragen war, hätte sie keinen Augenblick zögern
dürfen, den höchsten Preis zu geben, um der Stadt diese Am
ziehung zu geben und ihre Kulturbedeutung zu erhöhen.
Haben die Gemeinde' und Sozialpolitiker jemals darüber nach'
gedacht, was es wirtschaftlich bedeutet, daß Beethoven,
Schubert, Waldmüller, von anderen Künstlern, insbesondere
der Gegenwart, zu schweigen, in dieser Stadt gelebt und
gewirkt haben? Was wäre z. B. München ohne die künstleri'
sehen Persönlichkeiten, die mit der Entwicklung der Stadt
unlösbar verbunden sind, geblieben? Und bedeutet für Berlin
in demselben Sinne Potsdam nicht mehr als die Millionärs'
Stadt Charlottenburg? Und wie hat sich plötzlich Darmstadt
gehoben, seit sich dank einer verständigen Kunstpolitik her'
vorragende Künstler dort vereinigen konnten, um durch ihr
Schaffen der Stadt neuen Geist und neue Schönheit zu geben?
Und wie müßten sich alle Städte heben, wenn sich aller Eifer
nun der besten und tüchtigsten Leistung zuwenden würde, um
allen Einwohnern das höchste Maß von Wohnlichkeit, Gesund -
heit, architektonischer und künstlerischer Schönheit zu geben,
so daß es für die Groß- und Kleinbürger kein erstrebenswerteres
Ziel geben könnte, als in einer solchen Stadt zu leben, sein
Geld zu verzehren und ein weiteres zu tun, daß sich die
Entwicklung in der begonnenen Richtung fortpflanze? Diese
Nutzanwendungen sind zwar die alltäglichsten und gewöhn -
lichsten, die sich von unseren Grundsätzen aus ergeben,
aber ich habe gerade diese gewählt, um in der kleinsten
Projektion das ungeheure Gesichtsfeld der Parabel auch dem
plattesten Verstand begreiflich zu machen. Ich erwähne sie
vorübergehend, mit dem flüchtigen Hinweis auf den Kunst -
handel, der in einem gewissen Sinne diese Grundsätze
praktisch wahr zu machen scheint. Wenn man von dem
vielfach auch hier geltenden anrüchigen Merkantilismus dem
Künstler gegenüber absieht, so wird man zugeben, daß
wenigstens ein Teil der Lösung nahezu gelungen scheint:
die Bewertung des Kunstwerkes. Wenn auch nicht immer
dem Künstler, aber dem Kunstwerk wird der Kunsthändler
gerecht. Zugegeben, daß ihn mehr als seine Begeisterung
die Gewinnsucht, die sich den Löwenanteil sichert, antreibt:
die Tatsache, daß er dem Kunstwerk einen Preis sichert, der
nie zu hoch sein kann, enthält ein nicht geringes Verdienst.
Der Kunsthändler ist der einzige Preisbildner, der seine
Forderung auf das Verständnis und auf die Genußfähigkeit
des Käufers gründet, wofern nicht Täuschung oder Unredlich -
keit im Spiel ist. Der Künstler würde es nie wagen, solche
unverschämte Preise zu verlangen; der Kunsthändler tut es
und ist nicht notwendigerweise unverschämt. Warum sollte
ein wahrhaft bedeutendes Bild nicht 100.000 Mark wert sein?
Und wenn es diesen Preis wert ist, warum soll er nicht be -
zahlt werden? Und ist dieses Geld, das dafür ausgelegt wird,
nicht eine höchst weise Anwendung oder ist es nicht eine
Verschwendung? Es könnte jemand auch so töricht sein zu
fragen, ob man nicht nach denselben Grundsätzen dahin
gelangen würde, auch für ein Stück Brot, das doch unent -
behrlicher und daher bedeutender ist als das bedeutendste
Bild, auch 100.000 Mark zu begehren, umsomehr als man
hiebei doch ganz unzweifelhaft mit der Genußfähigkeit des
Käufers rechnen könne. In der Tat gründen die National -
ökonomen auf eine ähnliche törichte Fragestellung ihre
Theorie vom Gebrauchswert und vom Tauschwert, indem
sie beispielsweise das Brot einen Gebrauchswert und das
Bild einen Tauschwert nennen und erklären, der Volkswohl -
stand ist abhängig von der Menge der Güter, die einen Tausch -
wert haben. Ich werde mich später mit der schiefen Theorie
vom Tauschwert befassen und beweisen, soweit es nicht
schon aus allem früher Gesagten hervorgeht, daß trotz
der Menge von Tauschgütern der Volkswohlstand ein un -
säglich geringer sein kann, wie es tatsächlich heute der Fall
ist, und daß der Preis von 100.000 Mark für ein Bild eine
schlechte Anwendung des Geldes, also eine unsinnige Ver -
schwendung darstellt, insolange man in diesem Bilde einen
bloßen Tauschwert, nicht aber einen Gebrauchswert erblicken
kann.
Wenn man den Gebrauchswert eines jeden wahren Kunst -
werkes erkannt hat, wird man gerne zugeben, daß man auch
für ein Stück Brot 100.000 Mark verlangen und sicherlich auch
erhalten kann, sofern es die Entstehungsbedingungen und Auf -
gaben des Kunstwerkes erfüllt, nämlich daß es nicht in jedem
Augenblick für jedweden Verlangenden hergestellt und von ihm
verschluckt werden kann, sondern daß es als eine seltene
und in seiner Art einzig dastehende Leistung einen bleibenden
Wert bildet, dessen Anblick Tausende und Tausende von
Menschen mit einer neuen Ahnung von Schönheit und einem
neuen Weltbild erfüllt, und in Tausenden von Seelen einen
Besitz hinterlegt, der irgendwie den Anstoß zu irgend einem
weiteren Guten im Leben geben kann. Also hat auch das
Bild einen Gebrauchswert, der zwar ein anderer ist als der
des Brotes, der aber, wenngleich in unkörperlicher und feinster
geistiger Verästelung, irgend einer Lust oder einem Bedürfnis
der Sinne dient, und sei es auf noch so großen Umwegen,
abgeschwächt und verdünnt, irgendwie selbst dem Brotbäcker
zu gute kommen muß, der wie gering seine Ansprüche an
die Umgebung sein mögen, ein Mitgenießer der Kultur ist,
die seit Anfang der Welt in fortwährender Steigerung ihre
Nahrung von der höchsten menschlichen und künstlerischen
Offenbarungskraft, so sie in der hohen Kunst gipfelt, empfängt.
Ein wesentlicher Umstand verleidet uns allerdings das Bei -
spiel vom Kunsthändler. Es ist die Tatsache, daß das Kunst -
werk weder für ihn noch für Käufer, von einigen Ausnahmen
abgesehen, einen wahren Gebrauchswert darstellt. Auch der
Käufer sieht meistens einen Tauschwert darin, eine grob-
merkantilistische Kapitalsanlage. Würde beim Ankauf nicht
sofort an die ferne Möglichkeit eines vielleicht gewinn -
bringenden Wiederverkaufes gedacht, so würde der Schritt
in die künstlerische Volkswirtschaft der Zukunft auf einem
Gebiet tatsächlich vollzogen sein und das Beispiel hätte den
Wert einer umfassenden Kulturarbeit. Zum Kunstwerk ge -
hört unbedingt die angemessene Umgebung, die Weihe,
der Tempel, und die Raumkunst müßte von hier zu den
Sinnen des Volkes sprechen und bis an die äußere Markung
ihrer Wohnstätten helfend mitwirken. Was weiß der begüterte
Liebhaber von solchen Forderungen? Seine Mängel treten
sofort zutage, wenn man ihn auf Gebieten trifft, die nicht
mit seinem Sammlerinteresse zu tun haben. Er kauft Bilder,
weil es Mode ist, weil er mit hohen Preisen, die er zahlt, ein
Renommee gewinnen will, oder weil ihm dieses oder jenes
Nebensächliche an dem Bilde gefällt, wenn er schon nicht
vielleicht heimlich selber mit Händlerinteressen umgeht.
Sieht man alsdann die Art, wie solche Schätze gewöhnlich
untergebracht oder vielmehr aufgespeichert werden, dann
wird es offenbar, daß der Geist des Werkes auch dem
anscheinenden Liebhaber verschlossen blieb. Wer Bilder
sammelt und sein Interesse nicht auf die Architektur, das
Möbel und die gesamte nähere und weitere Umgebung des
Werkes überträgt, um alles in den rechten Zusammenhang
zu setzen, hat den Gebrauchswert des Kunstwerkes nicht
erkannt. Der Künstler sieht immer eine ganze Welt, der
Liebhaber dieser Art immer nur einen Bruchteil. Selbst
Museen und öffentliche Sammlungen sind nicht freizusprechen.
So wandert das Kunstwerk von Hand zu Hand, bestaunt,
begafft, bewertet und bezahlt, aber sein Erlösungswort wird
nicht vernommen. Augen und Ohren, von Konventionen
erzogen, nehmen nur wahr, was sich mit den Konventionen
verträgt, und die Schönheit mit all ihrer Macht der Befreiung
geht einsam und unerfaßt durch die Welt. Der Sammler
und Liebhaber hat trotzdem eine wichtige Aufgabe gewählt,
wenn er sie auch mit dem schielenden Blick auf die marktliche
Preislage erfüllt. Er ist nur zu leicht geneigt, den Wert
seines Bestandes börsenmäßig auszurechnen. Die Theorie
vom Tauschwert hat für ihn die Geltung durchaus nicht
verloren. Würde der Tauschwert über Nacht aufgehoben
sein können, die Kauflust würde sofort erlahmen und der
Ankauf von teuren Werken käme als Verschwendung sofort
in Verruf, ein Vorwurf, den auch der Reiche nicht liebt.
Indessen wäre die Verschwendung dann erst recht nicht
einzusehen. (Fortsetzung folgt.)
3
WIEN UND DIE KÜNSTLERISCHEN
GEMEINDE.AUFGABEN.
I. DER KARLSPLATZ.
ier ist alles noch Übergang. Der heutige Zustand
ist wüstenhaft, verglichen mit dem Bilde, das sich
vor der Eindeckung des hier durchziehenden Wiem
flusses von der ehemaligen Elisabethbrücke aus dar--
bot: reiche gärtnerische Anlagen längs der Ufer, über die
sich das Werk Fischers von Erlach, die Karlskirche mit
monumentaler Größe erhob. Der Anblick war groß und lieb'
lieh zugleich. Heute erscheint die Kirche klein und versunken.
Den unteren Teil des weiten Platzes, gegen den Schwarzem
bergplatz, hat die Spekulation an sich gerissen. Dort soll
der Platz im rechten Winkel durch das neue Stadtmuseum
abgebaut werden. Es läßt sich nicht Vorhersagen, wann
es geschehen wird. Um den Bau geht seit Jahren ein Streit,
ohne daß es bis heute gelungen wäre, Einmütigkeit zu erzielen.
Es ist für unsere Verhältnisse bezeichnend, daß der Kampf
um den Museumsbau ein Streit um die Fassade ist. Ein
Wort Lichtwarks: „Bei einem Museum ist die Fassade nichts,
der Grundriß alles.“ Vom Grundriß war kaum die Rede.
Es ist gar nicht ernstlich daran gedacht worden, daß das
Wiener städtische Museum nicht als ein Speicher von
Sammelgegenständen, sondern als eine volkstümliche Bil -
dungsstätte im Organismus unserer Stadt eine wichtige
Aufgabe erfüllen soll, die mit Repräsentation nichts zu tun
hat. Wenn es sich um nichts weiteres handeln sollte, als
durch Kaisers Empfangssaal und Bürgermeisters Empfangs -
saal das monumentale Wahrzeichen einer leeren Feierlich -
keit zu errichten und für die durchreisenden Fremden zu
den während eines zweitägigen Stadtaufenthaltes durch -
rannten 300 Museums- und Ausstellungssälen noch einige
Dutzende von Museumszimmern hinzuzufügen, dann ist schade
um jeden Betrag, der aus den Gemeindegeldern für einen
solchen Bau verschwendet wird. Die Fehler unserer Hof -
museen sollten eine ewige Warnung sein. Dagegen ist die
Bausumme in jeder Höhe nutzbringend angelegt, wenn das
Stadtmuseum als Volksbildungsstätte aufgefaßt wird. Die
Auffassung müßte im Bauorganismus zum Ausdruck
kommen. Die Repräsentation würde als überflüssig und
drückend empfunden werden. Alle Mittel aber wären zu ver -
wenden, es im Innern weitläufig und bequem, gediegen und
angemessen und bei aller Schlichtheit so anheimelnd und
einladend als nur möglich zu machen, wobei nicht nur
bestehende Forderungen zu erfüllen, sondern auch Bedürf -
nisse vorauszusehen sind. Was ein solches Museum für die
künstlerische und kulturelle Bildung in unserer Stadt auf
Grundlage der eigenen Vergangenheit zu leisten hätte, ist
vielleicht nicht einmal noch annähernd erkannt.
Der Gedanke ist berückend.
Was wissen wir von der künstlerischen und kulturellen
Vergangenheit auf unserem Boden?
Wie viele triebsame künstlerische Kräfte sind erloschen, weil
sie die Wurzelhaftigkeit verloren haben? Wien hat in der
Zeit von 1750 bis 1850 in der Architektur, in der Malerei,
im Kunstgewerbe und namentlich in der Möbeltischlerei eine
Blüte besessen, die völlig vergessen ist; wo finden wir
im neuen Wien die Weiterentwicklung dieser künstle -
rischen Gedanken, die damals aufgespeichert wurden? Das
ganze Neu-Wien ist ein Monument des Erloschenseins künst -
lerischer Triebkräfte. Das Schaffen der Alt-Wiener Maler, so -
weit es mit lokalen Bedingungen zusammenhängt, ist nir -
gends zu überschauen; die Entwicklung und Pflege des
Porträts im alten Wien wird in keiner Galerie veranschau -
licht. Hier müßte das Stadtmuseum mit der erziehlichen
SCHLAFZIMMER. ENTWURF UND
AUSFÜHRUNG F. ZEYMER, WIEN.
I m letzten Heft war die Rede von den Wiener
Tischlern, die in den Wiener Gartenbausälen eine
Möbelausstellung nach künstlerischen Entwürfen
veranstaltet hatten. Ich sagte damals, Zeymers
Schlafzimmer sei das beste tischlerische Erzeugnis.
Der Sohn, ein Schüler Prof. Hoffmanns, hat es ent -
worfen und die väterliche Werkstatt hat es ausgeführt.
Die oft mißverstandene und mißbrauchte „künst -
lerische“ Note, für viele gleichbedeutend mit Putz
und Zier, überflüssigem Tand, ist hier nicht zu finden.
Hier ist nur alles Wesentliche und Notwendige ent -
halten, aber dieses vollkommen, als gute, einfache
Form, gutes Material, gute solide Arbeit. Darin ist
es einem alten Biedermeierzimmer verwandt, ohne
eine Nachbildung zu sein. Nicht die Form oder das
Motiv der heimatlichen Überlieferung ist nach -
gebildet, sondern der Geist der Sachlichkeit und
Anständigkeit ist als der einzige Wert der heimat -
lichen Überlieferung hier zu gründe gelegt. Möchte
doch diese Gesinnung einmal die Grundlage alles
Schaffens und Bauens werden. Dann wird die künst -
lerische Phantasie noch ein übriges tun dürfen, wie die
Schalmei in der schabloniertenWandmalerei oberhalb
des Kopfendes der Betten. Sie ist hier ein Ausklingen
der Harmonie und Ruhe, die im ganzen Raum und
jeden Möbel ausgesprochen ist.
Absicht einsetzen, das Vorhandene nach sachlichen Gesichts -
punkten zu ordnen und allmählich auszubauen. In der
Architektur fehlt gänzlich das Vorbild heimischer Bau -
gedanken, obzwar bis ungefähr 1850 der Kupferstich un -
ausgesetzt beschäftigt war, Perspektiven und Grundrisse
jeglicher Bauwerke, Gartenschöpfungen und Stadtbilder zu ver -
bildlichen, und es keine sonderlich schwierige Aufgabe wäre,
an solchen Blättern die praktische Architektur auf heimatlicher
Grundlage aufzurollen und dem architektonischen Neu -
schaffen der Stadt einen unbezahlbaren Dienst zu erweisen.
Im Kunstgewerbe gilt das gleiche; die ausgezeichnete Möbel -
tradition auf dem Wiener Boden ließe sich heute noch mit
Leichtigkeit in kleinen Musterräumen darstellen, eine Auf -
gabe, die in den Bereich eines Wiener Stadtmuseums gehört
und von diesem schon deshalb gelöst werden müßte, weil das
Kunstgewerbemuseum die Erfüllung schuldig bleibt. Nament -
lich im Anhang an die Reliquiarräume hervorragender Persön -
lichkeiten, Grillparzers, Schuberts etc., die schon zum Bestände
des Museums gehören, sind sie als Fortsetzung des Kultur -
bildes, das mit diesen Wohn- und Sterbezimmern erschlosssen
wird, gut zu denken.
Auf dem Gebiete der Theatergeschichte fehlt es vollends an
einer erschöpfenden und ständigen Ausstellung, die eine
lebendige Beziehung zum heutigen Theaterwesen unter -
hielte. Wir ahnen nicht, wie veredelnd auf unsere herab -
gekommenen Theaterverhältnisse das Vorbild aller An -
strengungen und künstlerischen Erfolge in formaler Hinsicht
aus einer Zeit wirken müßte, die für Wien den heute
nur sehr bedingungsweise geltenden Titel einer Theaterstadt
erworben hat.
Außer diesen allgemeinen Beziehungen gibt es noch viele
wesentliche Gesichtspunkte in technischer und gewerblicher
Hinsicht, von denen aus die Funktion des Museums zu
leiten ist. Die Graphik und der Buchdruck, Holzschnitt,
Lithographie, Kupfer- und Stahlstich haben im alten Wien
eine künstlerische Höhe eingenommen, ebenso wie der
Buchschmuck, die Buchausstattung, der Buntdruck und
der Ledereinband, die an den zahlreichen Almanachen, den
verschiedenen und originellen Ankündigungen, den Privat-
und Familiendrucken ein ansehnliches, noch nutzbar zu
machendes Material überliefert haben. Die Kultur der Familie
und der Persönlichkeit wäre zu gleicher Zeit zu betonen und
in ein besonderes Licht zu stellen, indem die Forderungen des
Geschmacks, der technischen Sachlichkeit und Solidität als
Grundlagen der formalen Schönheit selbst, an den anscheinend
so geringen Dingen, wie den Spielkarten, den Wunsch-,
Gratulations- und Besuchskarten, aufzuzeigen wäre, um den
allseitigen Zusammenhang der formalen Kultur darzustellen,
der den Schmuck, die weiblichen Handarbeiten und das
Kostüm mit einbeziehen müßte.
Wir wissen nicht, wie viele Interessenkreise auf diesem
Wege noch entdeckt werden könnten, wir wissen auch gar
nicht, ob man bei der guten Vergangenheit stehen bleiben
oder ob man nicht den kleinen Schritt weitergehen würde,
gute Hervorbringungen der Gegenwart dem alten Bestände
anzugliedern, um die Entwicklungslinie weiterzuführen. Wir
wissen nur, daß das Fehlen einer solchen Bildungsstätte
schwer empfunden wird und daß sie sich nur aus dem
musealen Bestand an lokalen, künstlerischen und kulturellen
Werten einer Stadt entwickeln muß, wenn die Museen aus
dem fossilen Zustand von bloßen Kunstspeichern sich zu
organischen Gliedern im Leben und Bildungsdrang der
städtischen Kultur fortbilden würden. Sie könnten mehr
leisten als die Universitäten zu tun vermögen, sie könnten
an der künstlerischen Erziehung des Volkes im weiten
Umfang arbeiten. Diese Aufgabe bestimmt schon ihren
inneren Organismus, in dem es an behaglichen Diskutier^
und Vortragssälen möglichst in räumlicher Nachbarschaft
mit dem betreffenden Sammelgebiet sowie im Zusammen^
hang mit einem kleinen Bibliotheksraum, der die Literatur
des betreffenden Gebietes enthält, nicht fehlen dürfte. Hier
müßte Rede' und Lehrfreiheit für jedermann ohne Ansehung
der Person herrschen. Wer irgend ein Gebiet des SammeL
wesens studiert und darüber etwas zu sagen hat, sollte es
auf bloße Anmeldung hin tun dürfen, seine Gemeinde findet
er sicherlich, namentlich in den Abendstunden. Ein solches
Volksmuseum muß des Abends geöffnet sein, der arbeitenden
Bevölkerung sollte sein Segen zu gute kommen. Und den
Schulen. Die Lehrer müßten die Jugend hinführen können,
um die Heimatkunde nicht aus den Büchern, sondern an
der lebendigen Anschauung vorzunehmen.
Aus der Erkenntnis dieser Aufgabe muß der Plan für das
Gebäude hervorgehen. Ohne die räumliche EntfaltungS'
möglichkeit ist die Erfüllung der Aufgabe, wenn sie je den
leitenden Körperschaften, sei es des Museums oder der
Gemeindeverwaltung, vorgeschwebt ist, nicht zu erwarten. An
der klaren Erforschung und Bestimmung der Bedürfnisse
wird der Architekt erfahren, was er zu tun hat, sonst kann
er nur Stückwerk leisten. Keine Repräsentation, keine Prunk'
säle für Ausstellungszwecke, sondern schlichte Räume, mit
möglichst viel Licht und viel Wand, hochgelegenen breiten
Fenstern, an die Decke reichend, mit Eingangstüren vom
Korridor aus, nicht von Saal zu Saal, damit die Ruhe und
Geschlossenheit nicht durch das stete Durchhasten der Menge
gestört und der Oberflächlichkeit des Durchhastens nicht
Vorschub geleistet werde. Das Publikum ist zu erziehen,
nicht alles auf einmal sehen zu wollen, um sich nichts zu
merken, sondern wegen eines bestimmten Saales, einer be'
stimmten Vitrine zu kommen und mit einem bleibenden
Eindruck zu gehen. Auf die Ausbildung zahlreicher Gesell'
schaftsräume, als Diskutier' und Vortragssäle, Bibliotheks'
zimmer, Schreib' und Studierzimmer, ist großes Gewicht zu
legen; jede Sammelabteilung soll solche Räume zur Ver'
fügung haben. Schließlich ist daran zu denken, daß die
Vereine von Sammlern, die Altertumsvereine und Stifter
samt ihren Sammlungen den Sitz im Museumsgebäude
haben, wo ja die Gegenstände nach dem Hingang der
Begründer oder Stifter verbleiben sollen und deren Zu'
gehörigkeit schon zur Zeit der Sammeltätigkeit aus privater
Initiative äußerlich ausgedrückt würde. Es ist gar nicht
abzusehen, wie sehr dadurch die Mithilfe privater Kreise
zur Vermehrung des Bestandes angeregt würde, abgesehen
von dem weiteren Vorteil, daß die brahminenhafte Ab'
geschlossenheit solcher privater Körperschaften so ziemlich
aufgehoben und ihre Tätigkeit der Öffentlichkeit unmittel'
bar nützlich gemacht würde.
Wenn nach innen das Beste getan, so wird es nach außen
hin um den würdigen Ausdruck nicht verlegen sein. Wand
und Fenster, was braucht es viel mehr? Architektonische
Spielereien tuen es gewiß nicht. Die Monumentalität liegt
in der Größe der Verhältnisse, nicht im Zierat; sie wird
der benachbarten Karlskirche das stolze Vorrecht des Prunkes
überlassen und für sich den Vorzug der Schlichtheit bewahren,
der hier alles ist.
Von allen Entwürfen, die im Bewerb um den Museumsbau
Vorgelegen sind, ist nur einer der ferneren Diskussion vor'
behalten geblieben, der Entwurf des Oberbaurates Otto
Wagner, der auch die; Platzgestaltung einschließt. Möge es
den Stadtvätern im Verein mit dem Künstler gelingen, für
die kommende Bedeutung eines Stadtmuseums das Rechte
zu finden.
GRABMÄLER.
ENTWÜRFE VON PROF. JOSEPH HOFFMANN.
I ch bringe hier einige Grabmalentwürfe unseres PROF.
JOSEPH HOFFMANN. Sie haben nichts mit den Grab'
mälern gemein, die man auf unseren heutigen Friedhöfen
zu sehen gewohnt ist. Dort herrscht die Grabsteinindustrie,
die die bekannten nüchternen Typen als Massenartikel her'
vorbringt. Die monumentalen Gräber und die Ehrengräber
nehmen einen gesonderten Platz ein und sind dadurch hervor'
gehoben, daß allerlei plastisches Beiwerk, symbolische Ge'
stalten oder die Porträts in Relief, ja sogar die ganze Gestalt
in Stein plastisch ausgearbeitet, die frühere Lebensstellung
des Abgeschiedenen veranschaulicht. All diese naturalistische
Kunst am Grabe ist nicht im stände, die Nüchternheit zu
bannen und die Erhabenheit des Todes mit den schlichten
Mitteln der Monumentalität — das Monumentale ist immer
schlicht — auszudrücken. Man spaziert dort herum wie —
mit Respekt zu sagen — in einem Panoptikum, wo vielerlei
zu sehen, aber nur das eine nicht: eine Grabstätte, die ihre
Bestimmung ausdrückt.
Ich bringe deshalb die Entwürfe Hoffmanns zur Ansicht,
weil es Grabstätten sind, die ihre Bestimmung ausdrücken.
Steinarchitektur und Schmiedeeisen, es könnte auch edle
Plastik hinzutreten — sie müßte jedoch ein ganz eigenes
Kunstwerk sein — aber darauf kommt es im Wesen nicht
an. Grabstätten sind Weihestätten, altersher heilig, hier
künstlerisch entsprechend ausgebildet als Tempel oder Haus,
dessen Ausdruck und Bestimmung heißt: HIER IST RUHE.
6
LINKS:
ALTER SCHMUCK.
i. Englische Goldbrosche,
XIV. Jahrhundert.
2,3, 5. Romanische Gold-
ringe.
4. Russischer Anhänger.
RECHTS:
NEUER SCHMUCK von
H. Wilson.
X. Goldene Halskette mit
Smaragden, Opalen,
Saphiren, Perlen.
2. Vorderansicht eines
Reliquiarringes, der
vorne |zu öffnen ist.
GOLDSCHMIEDEKUNST.
enn das schmuckkaufende oder schmucktragende
Publikum unsere Feststellung der Wertlosigkeit
des heutigen Durchschnittsschmucks (siehe Heft 20,
Seite 343 der „Hohen Warte“, Jahrgang I, 1905)
bezweifelt und es nicht glauben kann, daß der im Laden
gekaufte Schmuck fast ausnahmslos Maschinenprodukt ist,
das künstlerisch keinen Wert besitzt, so lese es einmal die
Anfragen in der deutschen Goldschmiedezeitung (Nr. 41,
VIII. Jahrgang), die ich wörtlich wiederhole:
FRAGE 406. Welche Firma fabriziert Stock' und Schirm'
griff'PRESSUNGEN im rohen Zustand, nicht montiert?
FRAGE 407. Wer liefert PRESSUNGEN, doppelseitig, von
FIGUREN, Tieren, Sportemblemen u. s. w.?
FRAGE 419. Wer liefert glatte Armreifen in NEUSILBER
VERSILBERT, in Form wie Trauringschienen?
Ich frage die Laien: „Haben Sie jemals Schmuck gekauft
mit der Voraussetzung, daß er eine maschinenmäßige Pressung
ist? Ist Ihnen der Schmuck jemals als etwas anderes er'
schienen, denn eine Handarbeit? Sie haben also nicht gewußt,
daß Sie eine Maschinenarbeit — Pressungen — kaufen, die
Ihnen eine Handarbeit vortäuschen? Würden Sie Schmuck
kaufen, wenn Ihnen vorher gesagt wird, daß es Pressungen
sind?“
Sicherlich werden alle Laien antworten: Nein, wir haben es
nicht gewußt, wir sind betrogen worden.
Ich sage aber darauf: „Wenn Sie betrogen worden sind, so
ist es Ihre Schuld. Sie haben sich nie bemüht zu unter'
scheiden lernen, was echt ist und was falsch. Sie haben sich
gerne das Falsche gefallen lassen, wenn es nur einen Schein
von Echtheit hatte. Sie haben keine Ansprüche an Gediegen'
heit, Sachlichkeit und tektonischer oder kunstgerechter Her'
Stellung gehabt, die nur in Zeiten und bei Menschen von wirk'
lieber Kultur vorhanden sind. Sie würden Metallerzeugnisse,
die ihre maschinelle Herstellungsweise ehrlich zur Schau tragen,
entrüstet zurückweisen. — Sie wollen Handarbeit, wenn auch
mit der Maschine hergestellt. Das heißt: Sie verlangen irgend
eine Stilart, ein historisches Ornament und vergessen, daß die
historischen Stile ausnahmslos Handarbeit waren und daher
unnachahmlich sind. Was nachahmlich und überlieferbar ist
als „Tradition“ — um dieses bei Ihnen gewiß beliebte, aber
völlig mißverstandene Wort zu gebrauchen — ist einzig der
Stil, den die Herstellungsweise, das Werkzeug bedingt.
An diesem Stil und seinen persönlichen oder künstlerischen
Ausdrucksmöglichkeiten ist Ihnen aber niemals gelegen ge'
wesen. Darum haben Sie immer nur das unpersönlich ge'
wordene historische Ornament — K es offenbarte einst gewiß
eine persönliche und künstlerische Beziehung, doch ist diese
persönliche Beziehung in Vergessenheit gekommen — be'
vorzugt und ließen sich’s stillschweigend gefallen, daß es
auch auf die unpersönliche Art der Maschine hergestellt
wurde und wird. Dagegen aber würden Sie die Zumutung,
die unpersönliche Herstellungsart der Maschine, die immer
nur für Massen arbeitet, an dem Produkt als charakteristische
Merkmale sichtbar zu machen, entschieden ablehnen. Sie
8
Anhänger aus Silber, Opa -
len, Kupfer. Mondsteinen
und Perlmutterschalen;
versilberter Goldring mit
Brillanten, nach Entwür -
fen von Prof. Joseph Hoff-
mann ausgeführt von der
Wiener Werkstätte, aus
dem 20. Heft der „Hohen
Warte“ I. hier wiederholt
zum Vergleich mit altem
und neuem Schmuck auf
Seite 9.
Rechts: Anhänger, Ent -
wurf von Prof. K. Moser
(Wiener Werkstätte).
bestehen auf dem unlauteren Schein, eine persönliche Hand -
arbeit in ihrem Schmuck zu besitzen, wenn es auch Maschinen -
produkt ist. Weil Sie den Stil des Werkzeugs, die in der
Tat großartige handwerkliche Überlieferung in der Gold -
schmiedekunst und ihre künstlerischen Ausdrucksmöglich -
keiten nicht erkennen — wir werden sie späterhin eingehend
erörtern — weil Sie also gar nicht zu unterscheiden wissen,
was gut und schlecht ist und daher auch keinen Geschmack
haben können, so genügt Ihnen dieser grobtäuschende Schein
und das Bewußtsein des hohen Rohstoffwertes von Gold
und Diamanten, mit denen Sie sich oder Ihre Frauen nach
Art der Parvenüs behängen. Sie haben jede persönliche Be -
ziehung zum Schmuck verloren und ihn dadurch ästhetisch
unmöglich gemacht. Gerade der edle Schmuck kann die
persönliche Beziehung nicht entbehren. Die Frauen und
Mädchen tragen Stoffe und wählen sie in Farben, die zu
ihrem Alter, ihrer Gesichtsfarbe, ihren besonderen Zwecken
passen. Die Farben sollen zur Gesichtsfarbe in solchem
Kontrast stehen, daß es harmonisch wird, so daß man sagen
kann: diese Farbe kleidet Sie gut. Zum Stoff und zur Farbe
haben Sie eine persönliche Beziehung, Sie wirken darin oft
künstlerisch. Den Schmuck aber tragen Sie nicht als Mittel,
Ihren persönlichen Ausdruck zu erhöhen, Ihre Erscheinung
zu steigern und zu vollenden, sonst würden Sie die unendlich
variierten, in der Variation immer individuellen Halbedel -
steine höher schätzen, auch nicht um Ihre persönliche Be -
ziehung und Schätzung edler und echter künstlerischer Arbeit
und damit Ihre höhere menschliche Bildung und Kultur zu
offenbaren, sondern aus dem sehr gewöhnlichen Bedürfnis,
Reichtum zur Schau zu tragen, vorausgesetzt, daß das Material
nicht gefälscht ist, was aber eigentlich an der Tagesordnung ist.
Nur jener Stil des Werkzeugs verbindet die Goldschmiede -
kunst mit den besten Erzeugnissen der Blütezeiten und läßt
sie doch nicht altern. Die guten künstlerischen Erzeugnisse
von heute haben mit den guten Beispielen aller Zeiten und
aller Völker das Gemeinsame der Technik, des Werkzeugs
und der Handwerksüberlieferung. Diese sind uralt. Dieser
Stil aber besitzt die höchste persönliche und künstlerische
Ausdrucksfähigkeit. Darum kann dieser Stil der Sachlichkeit
dem modernen Gedanken dienen und die alten ornamentalen
und abgelegten Formen zu gunsten neuer Ideen verlassen,
ohne im geringsten das Material und die technischen Be -
dingungen zu vergewaltigen. Denn die sachgerechte Be -
handlung des Materials steht im Kernpunkt des neuen künst -
lerischen Willens, der zugleich uralt ist. Ich stelle hier alten
englischen, romanischen und russischen Schmuck zusammen
mit neuem englischem von Wilson und neuem Wiener Schmuck
aus der Wiener Werkstätte und man wird an ihnen die Unter -
schiede des Zeitgeschmackes finden, aber zugleich das Gemein -
same der technischen oder handwerklichen Elemente, aus
denen sich so verschiedenartige und individuelle Gebilde
aufbauen. (Fortsetzung im nächsten Heft.)
9
DIE KUNST DES THEATERS.
cnn die Fähigkeit, zu SEHEN, so verbreitet wäre
wie die Fähigkeit, zu HÖREN, dann würde die
Welt des Sichtbaren längst eine gründliche
Säuberung erfahren haben. Ein großer Teil der
Bildungsmängel kommt von der schlechten Erziehung des
Auges her. Zwar sehen alle Leute so gut, um nicht an einen
Laternenpfahl anzurennen; viele können sich sogar rühmen,
den Laternenpfahl aus großer Entfernung zu erkennen, woraus
man zu schließen pflegt, daß es „gute Augen“ sein müssen.
Ich möchte die Probe versuchen, und von den Leuten ver^
langen, aus dem Gedächtnis einen Laternenpfahl mit allen
sichtbaren Merkmalen und den daran haftenden albernen
Zieraten aufzuzeichnen oder ihn genau zu beschreiben. Es
würde sich herausstellen, daß die guten Augen eigentlich
nichts wert sind. Das Ohr ist in viel höherem Grade ge -
schult, Werte zu unterscheiden und Eindrücke wahrzunehmen.
Die Fähigkeit, eine Melodie zu erfassen und mit annähernder
Richtigkeit wiederzugeben, ist ziemlich verbreitet; in der
Musik ist man sogar an hohe Anforderungen gewöhnt. Aber
der sichtbaren Kunst gegenüber müssen die meisten über -
haupt erst HÖREN oder SAGEN HÖREN, bevor sie SEHEN,
und häufig genug begnügen sie sich mit dem Sagenhören.
Das abstrakte Wissen ersetzt die lebendige Anschauung. In
diesem Falle befindet sich das Theater. Das Wort des Dichters
herrscht, beherrscht alles. Man hört den Schauspieler, ist
„Aug’ und Ohr“ für ihn und ist blind dafür, daß alles um
ihn her elender Dekorationspofel ist. Man merkt gar nicht,
daß das Wort auf dem Theater buchstäblich allein ist, daß
es gar keinen künstlerischen Zusammenhang mit der Um -
gebung hat, in der es gesprochen wird. Wer sich dabei auf
die Bühne zu Shakespeares Zeit beruft, die gar nur Tafeln
mit der Aufschrift: „Wald“, „Garten“ etc. mangels realistischer
Dekorationen verwenden mußte, beweist nur, daß diese Not
eine Tugend war. Die Aufschrifttafeln lähmten wenigstens
die Illusion nicht, die der Zuschauer mitbrachte. In dieser
Einfachheit stand das Wort des Dichters nicht allein, so
wenig, wie es im antiken Theater allein stand. In diesem
Punkt ist es Vorbild, wie wenig es auch sonst mit dem
heutigen Abendtheater gemeinsam haben kann. Denn das
antike Theater ist eine Verbindung von Deklamation, Chor
und Reigen, hervorgegangen aus der Leidenschaft der Be -
wegung, der inneren und äußeren, des Tanzes und ihres
beredten Ausdrucks, geradezu mit architektonischer Strenge
und Gesetzmäßigkeit kunstvoll aufgebaut und mit der antiken
Baukunst als Schauplatz eine stilistische Einheit bildend.
Hier stehen alle Mittel in künstlerischem Zusammenhang.
Wer noch ein anderes Beispiel von einer Kunst des
Theaters kennen lernen will, der beachte doch, was die
Jesuiten der Reformation aus dem Gottesdienst gemacht
haben: eine imposante Schauwirkung, die alle Mittel
des Jesuitenbarocks zu einer künstlerischen Einheit ver -
schmilzt: Architektur, Malerei, Plastik, Musik, Gesang,
Goldornate, Weihrauchwolken; überwältigend zwar, aber von
der Frömmigkeit des Herzens so weit entfernt wie die Päpste
von Petrus. Ja, und das ist der besondere Trumpf: sogar
die Andachtsgäste werden zur Mitwirkung herangezogen,
sie nehmen teil an der heiligen Handlung, am Chorgesang,
sie agieren wirklich mit, sie sind mit einem schlauen Kniff
in dieser Einheit verstrickt, nicht nur durch ihr Zeitkostüm,
sondern auch durch ihren Anteil an der Handlung. So ver -
staubt und überlebt die barocken Requisitenscherze auch
heute sind, in der alten Pracht vor hundertfünfzig Jahren
beweisen sie eine bedeutende Kunst der Regie, eine Zusammen-
Entwurf für ein Kostüm. E. Gordon Craig.
fassung aller Werte zu einer künstlerischen Einheit, die auch
Richard Wagner erträumt hatte und gegen die aber Baireuth
mit den Pappendeckelkulissen eine reine Stümperei ist. Auf
dem heutigen Theater ist RegieKUNST mit Betonung des
Grundwortes nur dem Namen nach bekannt. Ein Direktor,
dem ich erklärte, daß die amerikanischen Police-men, die
er in einem Stücke auf die Bühne bringt, jeden Amerikaner
zum Lachen reizen müßten, rechtfertigte sich mit den Worten,
daß die Amerikaner, wenn sie einen österreichischen Wach -
mann auf die Bühne brächten, wahrscheinlich uns auch zum
Lachen reizen würden, was ich übrigens gern zugeben will.
Für die heutige ^Kunst des Theaters“ ist der Standpunkt
bezeichnend. Die Miß Duncan tanzte vor wenigen Jahren in
einem Wiener Theater ihre Tänze nach der Antike vor
einem Hintergrund, der das Ärgste an Dekorationsschmierage
darstellte. Es ist niemandem aufgefallen. Wir sehen täglich
in den Variétés ausgezeichnete Akrobatik, Leistungen form -
vollendeter körperlicher Gymnastik; niemand stößt sich an
der aufreizend albernen Dekorationsmalerei solcher Bühnen;
man ahnt nicht die Wirkungen, die sich ergeben müßten,
wenn die Kunst der Bewegung eine gleich hochentwickelte
Regiekunst fände, die alles, Wort, Bewegung als Gebärde,
Tanz und Akrobatik, Farbe, Lichtwirkung und die festen
Linien und Flecken der Dekoration, in eine höhere
künstlerische Einheit auflösen würde. Wir können heute
höchstens Einzelwirkungen wahrnehmen. Der Blick geht
nicht aufs Ganze. Darum finden wir nur Einzelleistungen,
die ein gesondertes Leben führen. Wir haben bestenfalls
eine Dichtkunst, eine Schauspielkunst, eine Tanzkunst, eine
Kunst der Akrobatik, aber wir haben keine Kunst des
Theaters oder, als Abart, des Variétés.
IO
Entwurf für eine Szene.
E. Gordon Craig.
Entwurf für eine Szene.
E. Gordon Craig.
Das Schlimmste ist, daß sie, wenn sie plötzlich von irgend'
woher auftaucht, gar nicht erkannt wird. In Wien hat man
es fast völlig übersehen, daß im letzten Frühjahr Max
Reinhardt das Beispiel einer ernstwollenden Regiekunst hier
gezeigt und die Möglichkeit bewiesen hat, wie die Bühne
auch die formale Bildung fördern kann. Wenn die Kunst
des Sehens so entwickelt wäre wie die Kunst des Hörens,
dann hätte jeder Theaterbesucher zumindest an der Interieur'
kunst zu Bahrs „Sanna“ etwas für die eigene schätzbare
Persönlichkeit lernen müssen. Mindestens aber hätten
die Theaterdirektoren Wirkungen beobachten und Winke
empfangen sollen. Bei ihnen ist aber die Sache so, daß
höchstens die Elegants gelegentlich profitieren: den neuesten
Hosenschnitt und ob man die Weste nach unten zu spitz
verlaufend oder abgerundet trägt. Von den Damen schweigt
die Höflichkeit. Im übrigen sind die Bühnen nichts weniger
als das Spiegelbild der bildsamen künstlerischen Kräfte;
während sich das Gesetz der Kunst im Leben, hie und da
wenigstens, erfüllt, sieht es auf den Bühnen aus, als ob die
Welt vor fünfzehn Jahren stehen geblieben wäre. Wenn’s
hoch kommt, erscheint einmal ein sezessionistisches Zerrbild.
Von all den Rückständen merkt das liebe Theaterpublikum
nichts; es hört nur Worte, von geliebten Schauspielern
gesprochen...
Aber es merkt natürlich auch nicht die Fortschritte, sonst
hätte es zu Reinhardt mit der von Roller empfangenen
Schulung kommen müssen. Unter Professor Roller ist an
der Hofoper das zu finden, was man die Kunst des Theaters
nennt. Das ganze Bühnenmaterial, Menschen, Stoffe, Holz,
Seide, Flitter, Leinwand, Beleuchtung, Farbe, zu einem ein'
heitlichen Kunstwerk verarbeitet. Aber wie? Das will gesagt
sein. Nein, das will GESEHEN sein. Die Proportionen
zwischen den Menschen und der Umgebung, die die Gebärden,
Handlungen und Zustände der handelnden Personen bedeutsam
machen. Die erdrückende Wucht der Gefängnismauern,
Sonnenschein und grüne Zweige hoch oben, von außen her,
und die feuchten Schatten in der Tiefe des Kerkerhofes.
Dann von der Bergeshöhe oder vom Schiff aus gesehen: die
Weite des Horizonts und die heitere Bläue. Die Impression
einer gesehenen und in den verschiedensten BeleuchtungS'
zuständen beobachteten Natur tritt hier an Stelle der her'
kömmlichen Farbenabstraktionen von Rosenrot und Erbsen'
grün, in denen die Sonne am Theaterhimmel auf' und unter'
zugehen pflegt. Man darf nicht vergessen, daß Professor
Roller an den Apparat und an die Voraussetzungen der
Hofbühne gebunden, nicht die letzten Möglichkeiten der
Regiekunst praktisch ausschöpfen kann; wir wissen aber
nicht, welche Erfahrungen und welche Offenbarungen er
niederzulegen hat, so lange er sich nicht in einer umfassenden
Publikation ausspricht, wozu er sich hoffentlich einmal
entschließen wird.
Inzwischen aber zeigt ein anderer Künstler auf seine eigene
Art die äußerste Entwicklung dieser Kunst in einer Reihe
von Skizzen, die vorher in München, jetzt in Wien im
Salon Miethke zu einer sehr sehenswerten Ausstellung
vereinigt sind. Es ist ein junger Engländer, Gordon CRAIG,
einst dem Beardsley>Kreis zugehörig, jetzt in Berlin lebend.
Seine Entwürfe sind flüchtige Niederschriften, die Ideen von
Kunstwerken, die in anderen Materialien, den lebendigen
und toten Stoffen der Bühne, ausgeführt zu denken sind.
Größenverhältnisse, Beleuchtungseffekte und Farben sind
für ihn selbständige Ausdrucksmittel und er verwendet
ii
sie bedeutsam und dichterisch. Er hat Farben und Färbern
akkorde, die Stimmungen ausdrücken und die er dramatisch
verwendet, indem er der Dichtung folgt oder freischaffend
verfährt. Ja, er will sogar dem Dichter den alten Rang streitig
machen, in Wahrheit um selbst der Dichter zu sein wie
in seiner Pantomime „Hunger“. Er erklärt einen seiner
Entwürfe zu dieser Dichtung: „Bei dem ersten Klange der
Musik wird der Vorhang, der aus Fetzen und Lumpen
gemacht ist, in der Mitte entzweigerissen und wir sehen
einen Mann mit einer scheußlichen Maske. Er steht auf
einem kleinen Hügel aus Lehm, er atmet schwer und schnauft
beinahe. Er macht ein ähnliches Geräusch wie der Stier,
wenn sein Gefährte zum Schlachthof geführt wird. Sein
rechter Arm zeigt einen Haken statt einer Hand und von
diesem Haken hängt ein kleiner, toter Junge, den er dem
Publikum entgegenstreckt. Er zeigt diese Figur allen und
bewegt sie von rechts nach links; immerwährend hört man
das rücksichtslos herausgestoßene Gestöhn. Dann fängt ein
schwarzer Regen an zu fallen, der schließlich so dicht wird,
daß die Figur nicht mehr zu sehen ist, und alles hört auf:
das Geräusch, die Ansicht und alles.“
Wer sich des näheren über Gordon Craig und seine künst^
krischen Anschauungen zu belehren wünscht, der sei auf
seine bei H. Seemanns Nachfolger erschienene Broschüre:
„Die Kunst des Theaters“ verwiesen.
Harry Graf Keßler gibt eine gut interpretierende Einleitung
zu dem Buche:
„Man sieht auch gleich, worauf es ihm deshalb ankommt:
auf gewisse Proportionen, die er festlegt, bedeutsame Großem
Verhältnisse zwischen Menschen und ihrer Umgebung, weil
diese bei jeder Bewegung und Beleuchtung gleich bleiben.
Eine Seele im unendlichen kalten Weltenraum, so denkt er
sich Hamlet. Die bedrückende Enge der Kerkermauern gibt
das Grundthema für Gretchen im letzten Akt des ersten
Teils von Faust. — Dann sucht er Farbenakkorde, die bei
jedem Hin und Her auf der Bühne schön bleiben, oder
solche, deren Stimmung er, der Dichtung folgend, variieren
kann: dunkle Trauertöne, Braun, Purpur, Schwarz, im
Hintergründe von zarten Freudenfarben überstrahlt. Dann
kommt das Dunkle vor, in das Lichte, Helle eindringend.
Und plötzlich bei der Katastrophe tönt der Akkord ins Gegem
Jänner. Holzschnitt von E. Gordon Craig.
12
teil verkehrt, schwer, lastend, unheilvoll, von Dur in Moll
übergeführt. — Schnitt und Musterung der Kostüme, Formen
und Tiefen der Räume, Säle, Landschaften werden märchem
haft und phantastisch gemacht oder lyrisch, weich, einer
Liebesstimmung angepaßt; oder auch sie erscheinen grau,
schrill, abgehackt und verzweifelt wie in gewissen Skizzen
für die Pantomime ,Hunger'.
Craig spricht bestimmt aus, daß er für das Theater im nächsten
Jahrhundert eine völlig veränderte Rolle sieht. Er verachtet
nicht den Dichter, aber er protestiert gegen die Art, wie die
Männer des Theaters, Direktoren, Schauspieler, Theatermaler
auf den Dichter sich verlassen. Er will die Bühne ihrer
eigenen Kunst zurückgeben. Er hat die Bedingungen dieser
von so vielen erhofften reinen Kunst der Bühne klar erkannt
und in seiner Person, wie es scheint, verwirklicht. Das Ge^
samtkunstwerk, das Wagner von Musik und Dichtung aus
in Angriff nahm, wird, von ihm, oder durch ihn angeregt,
vielleicht heute von Malerei, Tanz und Gebärde aus neu
verwirklicht werden.“
GARTENARCHITEKTUR.
VIER ENTWÜRFE VON ARCH. MAX BENIRSCHKE,
DÜSSELDORF.
artenhäuser aus Stein und aus Lattenwerk, die Laube
und der Laubengang sind Inhalt dieser Entwürfe.
Der alte regelmäßige Garten kannte diese Bestand^
teile — die „Kunst des Gartenbaues“, unseren
Lesern des I. Jahrganges der „Hohen Warte“ bekannt, be^
handelte diese Elemente — aber das XIX. Jahrhundert, das
die Karikatur des naturalistischen Gartens brachte, löste die
Regelmäßigkeit in Verwilderung auf. Erst der moderne Bau^
künstler hat wieder den architektonischen Zusammenhang von
Haus und Garten betont und in seinen Gartenarchitekturen
etwas geschaffen, das den Beispielen der älteren Heimatkultu'r
wesensverwandt ist. Schultze^Naumburgs Gartenbuch hat
die Schönheit und Zweckmäßigkeit der alten heimatlichen
Gartenarchitektur, die oft das unbeabsichtigte Resultat des
Sachlichkeitssinnes war, enthüllt und den Nonsens der
heutigen sogenannten Landschaftsgärtnerei, der noch immer
der sogenannte Kunstgärtner huldigt, sinnfällig gemacht. So
ist das, was die Künstler gewollt haben, trefflich illustriert
und hoffentlich nützt es, ein verständiges Publikum zu er--
ziehen. Die alten Beispiele kann der Künstler nicht kopieren,
Stilmeierei ist auch in dieser Hinsicht ein böses Ding. Max
Benirschke hat an den alten Beispielen nur Wirkungen und
Gesetzmäßigkeiten studiert und ist im übrigen auf eigene
schöpferische Art verfahren. Wenn wir Heimatkultur treiben,
so bedeutet das immer nur einen Hinweis auf Wirkungen
und Gesetzmäßigkeiten, die unserer Art, unserem Klima,
unserer Lebensweise und vielleicht auch unseren Baustoffen
frommen, sofern sie noch dieselben sind wie einst, und
nicht durch neue Erfindungen und Entdeckungen ersetzt
sind. Weil diese Wirkungen nur an den älteren Werken
der Heimat zu finden sind, müssen diese als Beispiele dienen.
Der Künstler aber wird und soll damit schöpferisch verfahren
und er wird, wenn er streng und gerecht ist, Wirkungen
und Gesetzmäßigkeiten erzielen, die ebenfalls der Heimat
entsprechen und Heimatkultur sind. Auf diese hinweisen
zu können, wird uns natürlich noch lieber sein. Darum will
ich auch auf Benirschke aufmerksam machen.
If.UUUlDi fvMKy uHß JTWDtmaßBin
GEGENBEISPIEL.
Aus dem Stickerei'Vorlagewerk des k. k. Kunstgewerbe -
museums. (Stark verkleinert.)
GUTES BEISPIEL.
Stickerei aus der Kunstschule für Frauen und Mädchen, Wien.
Schnurarbeit von Fräulein Paula Roth.
ABT.: MALER A, BOHM.
Anfrage an das k. k. Österreichische Unterrichtsministerium.
Ist die Verwendung von „Vorlagewerken“ nicht ein pädagogischer Unfug?
I ch stelle hier ein Blatt aus den Stickereivorlagen,
die das k. k. Kunstgewerbemuseum zum Gebrauch
an Fachschulen herausgibt, als Gegenbeispiel anderen
wahrhaft künstlerischen Arbeiten gegenüber, die nicht
„Vorlage" sind, sondern deren Zeichnung oder Muster
aus dem Material und der Technik entwickelt sind.
Wozu gibt das Kunstgewerbemuseum „Vorlagenwerke“
heraus? Vorlagen werden gemacht, um kopiert zu
werden. Sie erziehen zur Schablone, zur Denkfaulheit,
zur Unproduktivität. Jeder Künstler, jeder Pädagog
weiß, daß der Gebrauch von Vorlagewerken der richtige
Weg ist, UNFÄHIGKEIT groß zu ziehen. Kann
von Menschen, die in der Schule erzogen werden,
sklavisch nachzuahmen, im Leben Ersprießliches er--
wartet werden? Sollen die kunstgewerblichen Fach -
schulen Fähigkeiten entwickeln, oder unfähige Nach -
ahmer, deren es ohnehin zu viele gibt, erziehen? Diese
Stickereivorlagen sind für die kunstgewerblichen Fach -
schulen bestimmt. Begegnet man nicht allzu häufig
kunstgewerblichen Erzeugnissen mit albernen unsach-
14
emäßen Zieraten, naturalistischen Schmuckformen, will-
ürlich stilisiert, als Flachrelief und Schnitzerei an Möbeln,
als Motive für Wandfriese, als Einlagen in Holz,
Bein etc. verwendet, peinlich wirkende Putzmacherei,
die man schlechtweg „sezessionistisch“ bezeichnet? Nun
wird es offenbar, wo die falsche Sezession gezüchtet
wird. Die papierene Kunst der Stickereivorlagen —
Naturalismus in willkürlichen Stilisierungen — ist von
einer textlichen Erläuterung begleitet, die ausdrücklich
erklärt: „Obwohl dieselben eigentlich durchweg für
Stickerei in den verschiedensten Techniken gedacht
sind, so eignen sich diese Motive doch auch für ander -
weitige Verwendung, sowohl für Einlagen in Holz,
Bein oder Perlmutter als auch für Flachschnitzerei
und Brandtechnik. Auch für Schnitzrahmen oder
Wandfriese sind viele Motive verwertbar etc.“
Ist das nicht ein unverzeihlicher Mißgriff, den weder
der Künstler noch der Pädagog verschulden dürfte?
Stickereien, die ebenso gut als Flachrelief in Holz
geschnitten, als Intarsia aufgetragen, als Brandtechnik
GUTE BEISPIELE.
Aus der Kunstschule für Frauen und Mädchen, Wien.
Perlstickerei von Fräulein Minka Podhajska.
„ ABT.: MALER A. BÖHM
Läufer mit Knoten und Stilstich von Fräulein Paula Roth.
♦ verwendet, als Rahmenmotiv geschnitzt werden sollen, sie können nichts anderes zugleich sein, wie etwa
sind weder Stickereien, noch Reliefs, noch Lederschnitt, Relief, Kachelschnitt, Intarsia etc. Andere Werkzeuge,
? noch Intarsia, noch Keramik, sondern ganz einfach andere Materialien, andere Zweckbestimmungen haben
i unbrauchbare Zeichnungen naturalistischer Abklatsch, eine ganz andere Art des Ausdrucks, sie können nicht
Ix willkürlich stilisiert, ohne Zweck, ohne Notwendigkeit aussehen wie Stickereien, und ein Vorlagewerk, das
i, und ohne Verständnis, also, wie gesagt, papierene mit einem Schlag hundert Anwendungen decken will,
V K-imst, Vorkge schhmmer Sorte, Schablone. ist verderblichste Schablone und verdient schleunige
T er r L °. , dle sogenannte Stilisierung ist kein wilh Abschaffung. Die kunstgewerblichen Fachschüler sollen
n kurlicher, in die Zeichnung hineingetragener Begriff, nicht Maschinen werden, sondern befähigte Menschen,
:t j ls i.notwendig geboren als Ausdruck des Werkzeugs, die gelernt haben, in allem was sie machen, die
der i echnik und des Materials. Die zeichnerische organische Beziehung aufzusuchen und auszudrücken
n Ermittlung kann nur im gefühlten Zusammenhang und darin eine ebenso künstlerische als menschliche
h mit einem bestimmten Material, einer bestimmten Techx Bildung und Fähigkeit zu zeigen, die der Handlanger,
ir nik, einem bestimmten Werkzeug erfolgen, als Werk/ der an Vorlagen erzogene zum Stumpfsinn verkrüppelte
lt Zeichnung, nicht als Vorlage im herkömmlichen Sinne. Mensch niemals haben wird.
rx Ich bringe in dieser Zusammenstellung Stickereiarbeiten Geschäftliche Rücksichten, die mit dem Verkauf solcher
Z - j US a U o U j 1 ? und Märken, Abteilung Vorlagewerke möglicherweise Zusammenhängen, sollen
ei oes Malers A. tfohm, die diese wahrhaft künstlèrischen nicht gelten, wenn es sich um künstlerische oder kunstx
;r Grundsätze veranschaulichen. Diese Arbeiten und die gewerbliche Erziehung handelt, namentlich dann nicht,
Muster sind keine papierenen Stilisierungen, sondern wenn ein Staatsinstitut im Hintergrund steht. Die
er sie sind notwendig geworden aus Material und Technik, Erziehung ist wichtiger als das Geschäft. Das Vorlagex
< davon s!e die Charakteristik tragen als Schnurarbeiten, werk über Möbel wirkt nicht segensreicher, wie ich
\ z rSandchenarbeit, Stilstich, Knotentechnik und Perlarbeit nächstens beweisen werde.
tk mit Applikation. Diese Stickereien sind Stickereien; JOSEPH AUG. LUX.
15
Häuser aus Ehrenberg
bei Rumburg.
Holzbauten mit Schiefer-
bekleidung in
Nordböhmen.
VOLKSTÜMLICHE BAUKUNST.
I. NORDBÖHMISCHE WOHNBAUTEN,
nter dem Haupttitel „Volkstümliche Baukunst“ will ich eine Serie
von heimatlichen Bauweisen eröffnen, soweit solche einen organi -
schen Baugedanken, eine zweckmäßige Verwendung des Materials und
sachliche Ausnützung heimischer oder ortstümlicher Naturstoffe dar -
stellen. An solchen Werken sind Gesetze und Wirkungen zu beobachten.
Darin sollen sie einen Wert für alle Betrachter haben. Denn wir dürfen
nicht vergessen, daß das vornehmste Erzeugnis heimatlicher Kunst, das
ältere Wohnhaus ist, oft das einzige Erzeugnis, das der umgreifenden
Zerstörung standgehalten hat, während alle sonstige Kunsttätigkeit
des Volkes im Hause und an der Erscheinung des Menschen ver -
schwunden ist. Ich bin natürlich weit entfernt, einer beliebten Alter -
tümelei das Wort zu reden. Darum warne ich ausdrücklich, in solchen
Beispielen Vorbilder zur Nachahmung zu sehen. Es wäre furchtbar,
wenn eine Stilseuche, die volkstümliche Motive wie Bazillen überträgt,
von neuem zum Ausbruch käme, nachdem die Architektur sich eben
von den historischen Stilen loslösen will. Alle Nachahmung von Stilen
führt in eine Sackgasse und die neuen Architekten müssen sich hüten,
sich wieder in eine solche zu verrennen. Trotzdem, glaube ich, wird
man die volkstümliche Baukunst immer mit großem Nutzen ansehen
können. Denn sie zeigt Grundsätze einer lebendigen Baukunst, die
organische Beziehungen ausdrückt zur Heimat, zum Material, zum
Menschen und seinem Leben. Lebt in einem Orte noch eine solche
Volksbauweise als lebendige Überlieferung, so sollen sich alle geistigen
Führer solcher Orte einsetzen, diese zu erhalten, das Verständnis und
die Liebe zu dieser Eigenart zu pflegen, sobald großstädtischer, bau -
industriemäßiger Ungeschmack einzureißen droht. Solche Bewegung
anzuregen, sollen diese Veröffentlichungen dienen. Ich glaube, daß sie
einem weiteren Zweck nützlich werden können. Sie sollen zeigen, wie
der alte Hausbauer mit den gegebenen einfachen Mitteln fertig wurde
und eine oft überraschende Schönheit erzielte. Man wird durch diese
Beispiele auch erfahren, wie sich der heutige Baukünstler zur Forderung
einer heimatlichen Baukunst stellen kann. Eine formgetreue Fortsetzung
des alten Hausbaues ist nur in Gegenden möglich, wo die alte Bau -
weise noch in Übung ist, das ursprüngliche heimatliche Material in
Verwendung steht und die Erwerbs- und Wirtschaftsverhältnisse sich
nicht geändert haben, wie es in den Gegenden des nördlichen Böhmens,
wo sich die hier abgebildeten Häuser befinden, der Fall ist. In allen
anderen Fällen aber, und das sind die weitaus häufigsten, wird der
heutige Baukünstler es den alten Bauwerken darin gleichtun, daß er
in gutem Material, das in der Gegend heimisch ist, solid baut und
von allen Schablonen befreit, die Bedürfnisse der darin wohnenden
Menschen sowie die von der Landesnatur auferlegten Bedingungen
auf das vollkommenste erfüllt, also die organische Beziehung herzu -
stellen sucht. Dann wird sein Bauwerk von selbst „heimatlich“ wirken,
ohne daß er den alten Bauernstil oder Bürgerhausstil einfach kopiert.
Dieses ist sehr verwerflich, denn es führt nur zu scheinbar befriedi -
genden Lösungen, weil die heutige Menschheit zum größten Teil unter
ganz verschiedenartigen Bedingungen lebt und arbeitet, neue Baustoffe
und neue Techniken erfunden hat und vielleicht auch in manchen
Dingen hygienische Rücksichten genauer zu beobachten hat, wodurch
der bauliche Organismus einen wesentlich anderen Ausdruck empfangen
muß. Ich werde darüber bei anderer Gelegenheit reicheres Material ver -
öffentlichen; das Folgende soll von den nordböhmischen Wohnbauten
in der Rumburger Gegend handeln.
Das Haus ist Zimmermanns Baukunst, die noch gepflegt wird. Auf
einem niedrigen Granitsockel erhebt sich die einfache und sehr sinn -
reiche Zimmermannkonstruktion, die aus dem Bilde klar zu erkennen
ist und durch keine schmückenden Zutaten, sondern nur durch gute
Verhältnisse wirkt. Die Fensterrahmen sind ausnahmslos weiß ge -
strichen, was von ungemein freundlicher Wirkung ist. Die Unart des
holzbraunen Anstriches ist nur an den Neubauten, die übrigens auch
gänzlich aus der Art schlagen, zum Nachteil der ganzen Umgegend,
wahrzunehmen. Schiefer ist dort ebenfalls heimischer Baustoff. Wie
der eintönige, graue, rötliche und weißliche Schiefer verwendet wird,
als Wandbekleidung zum Schutz gegen Wetterunbilden, und durch
ornamentalen Wechsel der Lagerung und Färbung lebendig und ge -
radezu zu künstlerischer Wirkung gebracht wird, ist im höchsten
Grade beachtenswert und als Ergebnis alter Tradition anzusehen, das
ebenso wie der einfache und zweckmäßige Grundriß, mit der Lebens- i
und Erwerbsweise der Bewohner erhalten blieb, die eine alte Haus -
industrie in Span- und Flechtwerk, Weberei und Wirkerei betreiben.
NACHDRUCKVERBOT für sämtliche in den Heften der „Hohen Warte“
erscheinenden Artikel und Illustrationen.
Alle Zuschriften und Sendungen Wien I. Wallfischgasse No. 4. Telephon 5461.
Verlag „Hohe Warte“ (Lux & Lässig). Für die Redaktion Joseph Aug. Lux.
Druck von Christoph Reisser’s Söhne, Wien V.
Papier von der Neusiedler Aktiengesellschaft für Papierfabrikation, Wien.
16
An unsere Freunde
und Leser!
Fördern Sie die Interessen der künst^
krischen Bildung!
Empfehlen Sie die „Hohe Warte" in
Ihren Kreisen, in den Lokalen, die Sie
besuchen, in den Vereinen, denen Sie
angehören.
Senden Sie Adressen Ihrer Bekannten
zur Beschickung mit Probenummern.
Werben Sie Anhänger für die „Hohe
Warte", die für alle Interessen der
künstlerischen Kultur arbeitet.
Arbeiten Sie in diesem Sinne mit uns,
senden Sie Photographien, Berichte etc.
zur Förderung der heimatlichen Kultur^
interessen.
Fühlen Sie sich als Mitglied der freien
Kulturgesellschaft, zu der alle An^
hänger der „Hohen Warte" gehören.
Bilden Sie im Anschluß an die „Hohe
Warte" Ortsverbände zur Förderung
heimatlicher Kulturinteressen, im Sinne
unseres Aufrufes in Heft 14, Jahr^
gang I, Seite 241.
DIE VOLKSWIRTSCHAFT DES
TALENTES.
(Fortsetzung aus den Heften 21 und 22, 23 und 24, 25 und 26,
Seite 353; bezw. 377, bezw. 401, Jahrg. I und Heft 1, Seite 2,
Jahrg. II.) Der Ankauf würde reineren Motiven entspringen
und tiefere Wirkungen üben. Die künstlerische Offenbarungs -
kraft des Menschen zu steigern ist kein Opfer zu groß, und
alle sogenannte Verschwendung, die daran geübt wird, ist
in Wahrheit Sparsamkeit und weise Anwendung, weil ein
Wert dafür gewonnen oder gefördert wird, der als Kraft -
spender weiterwirkt. Dagegen ist alle heute übliche Sparsam -
keit, die solche Werte mit Geringschätzung ablehnt, der
Ausdruck einer empörenden Verschwendung.
Wir wissen gar nicht, wie viele Reichtümer durch die un -
sinnige Sparsamkeit verschwendet werden, indem wir die
schöpferischen Fähigkeiten unentwickelt oder unerkannt ver -
kümmern lassen. Wir wissen gar nicht, wie viel Glückseligkeit
und Daseinsfreude mit dem Spülwasser stumpfer Alltags -
gewohnheiten verschwemmt und verschüttet werden, weil
wir den Offenbarungen kein Gehör geben wollen und mit
dem gutem Willen schließlich auch die Fähigkeit dazu
verlernt haben. Wenn ich mit dem Kaufmann, dem Arzt,
dem Lehrer, dem Baumeister, dem Beamten von Kunst rede,
wird er mich verstehen? Wenn ich ihm die Notwendigkeit
seines Anteiles an der Kunst erweise, wird er mir glauben?
Ist denn das, was er unter Kunst versteht, überhaupt Kunst?
Haben wir es nicht in den letzten Jahren erlebt, daß die auf
Sachlichkeit gegründete angewandte Kunst und Architektur
verhöhnt worden ist auch von jenen, die kostbare Bilder
kaufen und dem allgemeinen Niedergang des Kunstgewerbes
gegenüber vollkommen empfindungslos bleiben? Daß auch
jene Auserwählten in bezug auf Tisch, Stuhl, Schrank,
Wohnhaus, Garten, Kleidung und sonstige Erscheinungen
der formalen Kultur keine Ansprüche zu stellen haben und
in allen diesen Lebensformen eine rohe Geschmacklosigkeit
an den Tag legen, die man nicht einmal bei wilden Völker -
stämmen antrifft? Das Kunstempfinden, einst Gemeingut des
Volkes und Grundlage der Volksarbeit und Volkswirtschaft,
hat sich auf gewisse Kunstgebiete spezialisiert, ist Angelegen -
heit einer Minderheit von Menschen geworden und der Be -
griff einer Kunst, die in allen Dingen des Lebens als der
notwendige formale Ausdruck das Bild einer harmonischen
und einheitlichen Kultur gibt, hat aufgehört zu existieren.
Die Kunst als das Selbstverständliche, als Gewerbe, als
Äußerung des Talentes in jedwedem Geschäfte ist im gleichen
Maße verkümmert als die Fähigkeit zur Kultur, das Unter -
scheidungsvermögen zwischen Gut und Schlecht, als der Begriff
von Kunst als Gebrauchswert verkümmert ist. Und eine un -
mittelbare Folge dieser Verkümmerung ist der Rückgang
des Volkswohlstandes, die Entwertung des Talentes, die Ver -
kennung der wahren Wertquelle, die Unterdrückung der
Persönlichkeit, die Förderung des Spezialistentums, der Zerfall
der Einheit in chaotische Trümmer und die äußere und innere
Verarmung. Und doch hat man niemals so dringend nach
17
Kunst verlangt als heute und so laut von ihr gesprochen,
über die eigentlich als einem stillen und selbstverständlichen
Geschehen kein Wort zu verlieren wäre. Man verlangt
allenthalben Kunst als Schmuck und Verschönerung und
vergißt, daß die Kunst an den Dingen selbst sein sollte, an
jedem Gegenstände des alltäglichen Gebrauches, an dem
Hause, an dem Garten, an allem was getan und geschaffen wird.
Freilich nicht die Kunst als Zierat, als Aufputz, als das Uber--
flüssige, sondern als die vollkommenste sachliche und formale
Erfüllung aller Aufgaben des Lebens, sei es des Alltags oder
der höchsten seelischen Empfindungen, die nach symbolischer
Verkörperung drängen, mit einem Wort als eine Art ßau^
kunst, die alle Künste, alle Gewerbe, alle Industrien unter
ihre Führung nimmt, die organischen Bedürfnisse des
Menschen erforscht, ihnen die angemessene Erfüllung gibt,
indem sie alle Betätigungszweige zusammenfaßt, ihnen Pro--
bleme stellt und sie zu den höchsten, trefflichsten und
talentiertesten Leistungen anspornt im Dienste der zusammen--
fassenden, ordnenden und gestaltenden Absicht, in deren
Mittelpunkt die Menschheit, der einzelne sowie die Gesamt'
heit steht. Es ist der Gedanke einer sozialen Kunst, wie die
der Gotik oder der japanischen Kultur, die die Grundlage
der Volksarbeit und der Volkswirtschaft bilden wird.
Wir haben diese Kunst sukzessive mit der verminderten
Fähigkeit des Verbrauchens verloren; die Kunst im heutigen
Sinne ist nicht Gebrauchswert, sondern sie ist, wie früher
schon gesagt, bloßer Tauschwert und wird es bleiben, solange
die Fähigkeit, Kunst im sozialen Sinne zu gebrauchen, nicht
entwickelt ist. Diese Entwicklung wird kommen müssen,
die allgemeine Verelendung des Daseins wird schließlich die
Sehnsucht nach glücklicheren Umständen hervorrufen und
die Anstrengungen der Talente, diesen Umschwung herbei-
zuführen, beschleunigen helfen. Der Bankrott liegt heute
offen zutage. Der bloße Augenschein auf einer Wanderung
durch Stadt und Land lehrt es. Was ist aus den schönen
Städten geworden? Was aus der bäuerlichen Kultur der
Provinzen? Die Bauernkultur bot ein einheitliches, wohl-
abgestuftes, künstlerisches Bild vom Feldzaun angefangen bis
zum Hausbau und zur Dorfanlage, mit allem was dazu ge -
hörte an Hausrat, Werkzeugen, Kostümen, Gewerben und häus -
lichem Kunstfleiß. Und dasselbe gilt von den charakteristischen
alten Städten, die eine entzückende Bautradition aufweisen,
mit der die Menschen, ihre Tracht, ihre Erzeugnisse im
harmonischen Verhältnis standen. Ich will nicht sagen, daß
man Überlebtes und Vergangenes zurückrufen soll, o, im
Gegenteil! aber ich will andeuten, was wir, die wir das Ver -
hältnis und Gleichmaß in unserer Kultur verloren haben, an
dem alten Beispiel hätten lernen sollen. Der Unterschied
zwischen einst und heute besteht darin, daß damals die Kunst
das Leben selbst war, während heutzutage diese Einheit ent -
zweit ist, zwei Hälften, die kein Ganzes mehr zu bilden ver -
mögen. Ich meine nicht, daß wir die äußere Form der alten
Bauten und sonstigen Formen nachahmen sollen, Gott be -
wahre! Nachahmung ist das schlimmste Übel, an dem unsere
Zeit krankt, ich meine auch nicht, daß die neuen Bauten,
die in der Nachbarschaft der schönen alten aufgerichtet
werden, deshalb häßlich sind, weil sie den Stempel anderer
Bedürfnisse, anderer Technik tragen und daher eine andere
Form haben; häßlich und schlecht sind sie vielmehr deshalb,
weil sie nicht mehr mit derselben Gediegenheit und Liebe,
nicht mit demselben Verständnis für das natürliche und
menschliche Bedürfnis der Inwohner, also nicht mehr mit
jener organischen Kunst erbaut sind, wie die alten Häuser,
die eben darin ein viel zu wenig beachtendes Vorbild geben.
Die neuen Häuser, die fast allerortens den Geist der Wohn -
lichkeit, Zweckmäßigkeit und Gediegenheit und somit einer
echten Baukunst verleugnen, bestätigen die ungeheure Größe
des Verlustes, den wir alle erlitten haben. Wir werden den
Umfang des Verlustes erst allmählich gewahr, wenn wir die
Gebildeten eines Ortes, die Kaufleute, Ärzte, Anwälte etc.,
gehört und von ihnen erfahren haben, daß sie sich in den
neuen Kasernen sehr wohl fühlen, daß die Pseudoarchitektur
ihrem Schönheitssinn und die mangelhafte, schablonenmäßige
Anlage ihrem Bequemlichkeitsbedürfnisse vollständig ge -
nügen, und wenn wir ihre Wohnungen, ihren Hausrat, ihre
Neigungen, ihre geistigen und künstlerischen Bedürfnisse
kennen gelernt und gesehen haben, daß das Innere nicht
besser ist als die verlogene Erbärmlichkeit der Außenseite,
die heutige Hausbauweise derselben barbarischen Roheit
und Verkommenheit verfallen ist, wie die Erzeugnisse der
Industrie und des Handwerkes, die alles übrige für die Not -
durft des Lebens liefern. Und vollends wird der Verlust
offenbar, wenn wir, was unschwer ist, erkennen, daß diese
Menschen zu ihrer Umgebung passen, daß auch sie schlechte
Durchschnittsware sind, aus denselben Schulen, demselben
Richtmaß hervorgegangen wie die schlechten Hausbauer, er -
zogen zu einer mechanischen und geistlosen Anwendung er -
lernter Regel, unfähig, Talent zu äußern und die Äußerung
des Talentes zu begehren und zu würdigen, einseitige
Spezialitäten, die das Streben aufs Ganze verloren oder
eigentlich nie gekannt haben.
Dann wundert es einen freilich nicht, daß das Elend, der
Schmutz, die Roheit und Verkommenheit, die die Arbeits -
stätten unerquicklich und die Arbeit unersprießlich machen,
ihre Teilnahme nicht wecken können, daß sie die Ver -
nachlässigung und Verwahrlosung, die in allen Städten und
Provinzen wahrzunehmen sind, als einen durchaus erträglichen
und nicht beleidigenden Zustand betrachten, und daß sie,
wenn sie Kunst begehren, sei es ein Denkmal oder einen
Brunnen oder um irgend einen Gegenstand besonders aus -
zuzeichnen und zu schmücken, nicht das Beste und Kostbarste,
also nicht die Leistung der Individualität und der besonderen
Begabung wählen, sondern das Mittelmäßigste und vor allem
das Billigste, und daß es sie nicht verletzt, als öffentlichen
Wandbrunnen in einem schönen alten Stadtgebilde eine
gemeine gußeiserne Schale angebracht zu sehen. Dann kann
es natürlich auch nicht wundernehmen, die individuelle
Leistung des Talentes verlacht und verschmäht und die
abgebrauchtesten und schleuderhaft wiederholten Formen
bevorzugt zu sehen, weil sie in einer solchen niedrig
organisierten Welt jedem etwas sagen, und weil sie am
billigsten zu haben sind. Die Maschine leistet ja alles, sie
leistet auch Arbeit mit dem Anschein von Handarbeit, die
in den Augen der unbefähigten Menge dadurch entwertet
erscheint, obzwar uns gerade die Maschinenarbeit den Wert
der Handarbeit achten lehren soll. Der Segen, den die
Maschinenarbeit bedeutet, wird in unserer Kultur- und
Wirtschaftsverfassung geradezu ein Unheil. Wie alles
mißbraucht wird, wird auch die Maschine mißbraucht. Eine
Unzahl Dinge sind notwendig, die mit der Maschine hergestellt
werden müssen und die schön sind, wenn sie alle Merkmale
der Maschinenherstellung tragen; noch offenbarer wird der
Segen der Maschine, wenn man bedenkt, daß sie eine Menge
von Arbeit zu leisten berufen ist, die dem Menschen wider -
wärtig oder schädlich sein muß. Aber die Maschine, bestimmt
die Dienerin der Menschheit zu sein, ist heute noch ihre
Tyrannin. Indem sie das Unmögliche leisten will, den Schein
der wertvollen persönlichen Handarbeit zu erzeugen, entwertet
sie in den Augen der ungebildeten Menge die persönliche
Arbeit und ihre Schönheitsmerkmale und gewährt durch
18
e Billigkeit und Massenhaftigkeit die Möglichkeit eines leicht
erhältlichen Scheinluxus, der den Sinn für Schlichtheit,
Sachlichkeit und vornehme Gediegenheit vollend verdirbt.
Die Schönheit und der Wert der japanischen Kunst wäre
’’ sofort ins Lächerliche übersetzt, wenn man daran ginge, sie
n maschinenmäßig herzustellen. Und wir sollten für diese
r Lächerlichkeit in unserer Kultur kein Empfinden haben?
Die weitere Wirkung dieser Produktionsweise ist die Ver^
y minderung der Erwerbskraft und daher der Kaufkraft,
weshalb die Billigkeit immer mehr den Ausschlag geben
soll, auf Kosten der Qualität. Diese, wenn auch in vielen
^ Fällen notgedrungene Sparsamkeit, die alsbald allgemeine
Lebensnorm geworden ist, erscheint, wie bereits erwähnt, als
lt die schlimmste Art der Verschwendung. Ihr ist alles geopfert
, r worden, was im Volke an wertbildenden Kräften ruht, die
Fähigkeit, Talente zu entfalten und zur Geltung zu bringen,
* die Fähigkeit, die Hervorbringungen des Genius zu würdigen
und dem Leben als Notwendigkeit zu gründe zu legen, die
Fähigkeit zur Freude an der Arbeit und am Leben, und
folglich die Fähigkeit, Reichtümer hervorzubringen, die allen
ein der Kultur angemessenes Dasein ermöglichen, den so'
r " Zusagen kommunistischen Anteil an den Offenbarungs-
£ möglichkeiten der Menschheit, Reichtümer also, die Leben
sind.
Es ist höchste Zeit, diese Art von Verschwendung zu ver^
meiden und jene früher erwähnte Sparsamkeit, das heißt
:r die edle Anwendungsart der Mittel zur Geltung zu bringen.
Alle Mittel müssen angewendet werden, das Talent zu pflegen,
1 ’ um ) ene soziale Kunst zu gewinnen, die Gebrauchswerte
r j hervorbringt. Wir haben heute nur Tauschwerte, die nicht
nähren, weder im materiellen noch im immateriellen Sinne.
n Die schlechte Mittelmäßigkeit, die in allen Produktionen
e ’ hervorgebracht wird, ist Tauschwert, denn sie gibt für den
n Gebrauch keine Nahrung; sie ist nur gut genug, den Um
verstand des Käufers zu täuschen und die Hilflosigkeit oder
e ’ Unfähigkeit des Herstellers auszunützen. Dann gibt es noch
n andere Arten von Tauschwert, die nur deshalb keinen Ge^
ai brauchswert abgeben, weil die Fähigkeit sie zu gebrauchen,
:n abgeht; es sind die Hervorbringungen erlesener Kunst. Die
ie erlesensten sowohl als die schlechtesten Erzeugnisse sind es,
in die ob ihres spezifischen Wertes und Unwertes unerkannt,
als Tauschwert im Interesse des Gelderwerbes durch die
ie Hände gehen und keine Bedeutung als Gebrauchswert er^
:n langen können. Nur wenn ein Volk im Besitze von Gebrauchs-'
ig werten ist, steht es um die Wohlfahrt des einzelnen und
m der Gesamtheit günstig. Darum wird die rechte Sparsamkeit
ie verschwenderisch mit allen Mitteln sein müssen, die Fähigkeit
ie des Gebrauchens zu entwickeln, weil von dieser Fähigkeit
et die Entwicklung des Talentes und seiner'wertbildenden Kraft
rt abhängt. Die entwickelte Fähigkeit des Gebrauchens wird
ie das Antlitz der Welt und die Grundlagen unserer Wirt-
id schaftszustände gänzlich umwandeln helfen. Diese Fähigkeit
es wird die Sinne empfänglich machen für die feine Lehre, die
ie jedem echten Kunstwerk liegt und die nicht versagt bis
[lt zu den letzten und anscheinend geringsten Verrichtungen
le un d Handreichungen, damit auch diese im Einklang mit
er dem beglückenden Geiste stehen, der in jeder Äußerung
g. e hoher Kunst liegt. Diese Fähigkeit wird alsdann auch den
•.T' Schmutz, die Unwürdigkeit und das Joch, darin viele Menschen
n t verharren, unerträglich und belastend finden und die Ge^
re bundenheit lösen. Sie wird das Talent in den Mittelpunkt
in ihrer Fürsorge setzen und durch die Erkenntnis des Menschen
:et a ^ s die wahre Wertquelle eine soziale Kunst als Grundlage
he der Volkswirtschaft entwickeln, die in keiner Diskussion
ch mehr steht, weil sie als die notwendige und selbstverständ^
liehe Funktion des Volkes erkannt sein wird. Mag auch
der höchste und äußerste Gipfel der künstlerischen Offen-
barungskraft nicht im Verstandes- oder Gefühlsbereich aller
Menschen liegen, so wird immerhin in einer Volkswirtschaft
des Talentes, da die soziale Kunst die Grundlage der Volks -
betätigung bildet, jedes Ding und jegliche Gestaltung des
Alltags das Verlangen nach Schönheit, Trefflichkeit und
künstlerischer und menschlicher Gesittung verkörpern, so
daß auch das Nächstliegende und Alltägliche eine Stufe bildet
auf der Leiter zur höchsten Offenbarung des Genies.
Die Kräfte, die solchen Umschwung herbeiführen, liegen im
Schoß auch unserer Zeit, wie unfruchtbar sie scheinen mag.
Die wahre Wertquelle ist eine so elementare Naturgewalt,
daß sie auch die stärksten Widerstände nicht hemmen,
sondern ihre Explosivkraft eher noch verstärken wird. Die
Zeichen mehren sich.
III. INDUSTRIE UND HANDEL.
„Der Beweis ist erbracht, daß die Entwicklung unserer Volks -
wirtschaft in erster Reihe vom Wohlbefinden der Industrie
und des Handels abhängt.“
Seit zweihundert Jahren pflegen die Volkswirte das zu
behaupten und jüngst habe ich diesen Satz in einem
amtlichen Bericht über Handel und Gewerbe, nebst einer
umfangreichen Begründung, gelesen.
Es wäre ganz herrlich, wenn dieser Beweis gelingen würde.
Denn er kann nur dann gelingen, wenn sich zeigen läßt,
daß Handel und Industrie wetteifern, die wertbildende Kraft
des Talentes zu fördern, indem die Industrie einerseits bestrebt
ist, das Nützliche in der vollendetsten Weise hervorzubringen
und zu diesem Zwecke bedacht ist, immer neue Talente heran -
zuziehen, den bestehenden Arbeiterstand geistig, sittlich und
sozial zu heben, der Kultur unserer Zeit angemessen, weil
seine Leistungsfähigkeit nur mit der Freude am Schaffen
zunimmt; ferner indem der Handel anderseits bedacht ist,
immer nur das Beste auf den Markt zu bringen, mit dem
geläutertsten Verständnis für die Leistungen des Talentes
das Bewußtsein verbinden würde, eine verantwortungsreiche
Vermittlung von Kulturwerten zu bilden und es vorzöge,
die Ware lieber zu verbrennen, denn mit tadelhaften Gütern,
die entweder dem Hersteller Zwang und Schaden verursachten,
oder dem Käufer Enttäuschung bereiteten, einen betrügerischen
Gewinn zu erzielen. Wenn sich das zeigen läßt, dann ist
sicher, daß die wahren Wertquellen einen wunderbaren Strom
von Gütern über die Erde verbreiten, daß die Schönheit und
das Wohlbefinden im Bereich aller, auch der geringsten
Menschen und selbst in der bescheidensten Hütte aufgeht,
daß der Geist der Hersteller und der Genießer erhoben und
veredelt wird von der Schönheit und Vollkommenheit der
Dinge, die das nackte Leben umkleiden, und dann wird man
ernsthaft sagen können, daß sich eine wahre Volkswirtschaft,
nämlich die Wohlfahrt des ganzen Volkes und aller seiner
einzelnen Glieder, nicht nur der Unternehmer und Händler,
entwickle.
Da ich aber fast nirgends in der heutigen Welt die Anzeichen
eines solchen glücklichen Wandels, sondern fast überall nur
Schmutz, peinigendes Elend, Gewinnsucht und den Unrat
einer geschmacklosen und schlechten Produktion erblicke,
so hoffte ich, den versprochenen Beweis wenigstens in einem
Zukunftsbild erbracht zu finden, indem der amtliche Bericht
mitteilen würde, Handel und Industrie hätten sich heute
entschlossen, das bisherige schlechte System aufzugeben und
von morgen ab sein Fortkommen und Wohlbefinden auf
den wahren Wert, von dem dieses Buch handelt, zu gründen.
(Fortsetzung folgt.)
19
WIEN UND DIE KÜNSTLERISCHEN
GEMEINDEAUFGABEN.
II. PLÄTZE.
ie Plätze sind die Gemächer der Stadt. Wie durch
lange Korridore wandelt man durch die Straßen,
und gelangt man endlich zu einem offenen Platz,
dann steht man aufatmend einen Augenblick still.
Wenn sich der Blick weitet, wird die Brust freier. Und das
Gefühl der Ruhe und Ausgeglichenheit zieht ein, wenn die
Maßverhältnisse des Raumes harmonisch sind. Dann ist
man heiter gestimmt und ist von der frohen Empfindung
gehoben, „als ob einen nichts Übles anwehen könnte“. Was
Goethe da vom Markusplatz in Venedig sagte, kann mit
gutem Fug auf die Ah>Wiener Plätze angewendet werden.
Wie schöne stille Gemächer tun sie sich auf, darin alles
wohl gestellt ist. Die Wohnhäuser, die Kirchen, die Paläste,
die Monumente, die Brunnen. Wie die Möbel eines Saales
stehen sie da, aus dem Wege gerückt, und so gestellt, daß
Höhe und Breite wohltuend übereinstimmen. Als hätte man
durch eine Tür in ein wohlgeordnetes trauliches Gemach
geblickt, geht man weiter, beglückt und von aller Müdigkeit
entlastet. Die Kunst ist also für das Wohlbefinden in der
Stadt nicht zu entbehren. Von der Tür aus kann man die
Ordnung eines Gemachs am besten überschauen. Der Tür^
blick enthält alles. Denn vom Eingang aus ist die Anordnung
bestimmt. Ein Raum, der in diesem Blick nicht sein Bestes
offenbart, hat überhaupt keine Harmonie. Und von den
Plätzen ist dasselbe zu behaupten. Der beste Standpunkt
ist nicht in der Mitte. Er ist an der Pforte, an der Straßen^
mündung, wo sich der Raum plötzlich weit auftut. Fast alle
Alt ^Wiener Plätze sind auf diesen Türblick angelegt. Ihre
ganze Schönheit strömen sie auf den Vorübergehenden aus,
und keiner ist, den sie nicht erquickt. Wenn die Fiaker an
dem Josefsplatz vorüberfahren und sie haben fremde Fahr'
gäste, deuten sie mit der Peitsche hin. Am liebsten möchten
sie den Hut ziehen. Ein wahrhaft kaiserlicher Saal, dehnt
sich der Platz neben der Straße aus, in welcher der Verkehr
unbehindert flutet. Der Platz ist still, fast feierlich. Und das
Denkmal, das mitten darin steht, ist von monumentaler
Wirkung. Monumental durch die Größe und Schönheit und
Übereinstimmung seiner Umgebung. Auf ähnliche Art neben
den Straßenzügen ist der Universitätsplatz angelegt und der
Hof. Schmale Zugänge, wie dunkle Torwege, führten einst
auf den letzteren, der sich wie ein heller, weiter Hof plötZ'
lieh vor den überraschten Augen öffnet. Er ist architektonisch
einer der schönsten Plätze Wiens. Bedeutungsvolle Bauwerke
stehen noch da; und trotzdem ist es keine Störung, daß
hier der Markt abgehalten wird. Die ragende Größe der
ernsten Gebäude und das bunte Volksleben, das sich vor
ihnen abspielt, geben ein anmutsreiches Bild. Interessant ist
der Minoritenplatz. Er ist ganz verborgen, nur das rote
Kirchendach und der achteckige Turm schauen weit über
alle Dächer hinaus. Er hat nichts von dem heiter festlichen
Charakter der Freyung, nichts von der schönen Symmetrie
des Hofes und der anderen genannten Plätze, er ist furchtbar
verschoben, aber er hat den ganzen stillen Zauber, den die
anderen auch haben, und vielleicht noch etwas mehr. Die
städtische Hierarchie findet hier ihren wohlabgestuften archi'
tektonischen Ausdruck. Die Kirche dominiert. Die alters'
schwarzen Mauern sind mönchhaft ernst, aber an dem schönen
gotischen Portal, wo jeder Stein nicht mehr Stein, sondern
gemeißeltes Symbol ist, ist alle Feierlichkeit gesammelt. Im
Schatten des Gemäuers, demütig hingekauert, liegen bürger'
liehe Wohnungen, schlicht und fast erdrückt von der Macht,
die von der Kirche ausgeht. Das barocke Tor des Liechtenstein'
Palais, dem gotischen Kirchentor schräg gegenüberliegend,
gibt einen heiteren Gegensatz. Aber es ist kein Widerspruch,
daß das fürstliche Hochgefühl gerade in der kirchlichen Nach'
barschaft ein monumentales Wahrzeichen hinterlassen hat.
Regierungsgebäude schließen sich an und der Kanzleistil
gewinnt auf der anderen Seite des Platzes Oberhand. Auch
das ist durchaus geschichtlich motiviert. Nicht minder als
das neue Gebäude, das eine stilgerechte Barockfassade hat
und mit seinem erheuchelten Stilcharakter die Harmonie
des Platzes zerreißt. Eine steinere Chronik, welche ein be'
trächtliches Stück Wiener Kulturgeschichte enthält, ist der
Minoritenplatz.
Diesen alten Plätzen ist ein minder freundliches Bild ent'
gegenzusetzen. Die neuen Plätze. Der Platz von der Karls'
kirche angefangen bis zur Sezession gleicht einer Wüste. Ihm
fehlt noch alles, was er braucht, um nicht bloßer Anger zu
sein. Je größer der Platz, desto energischere Raumteilungen
braucht er. Die Place de la Concorde in Paris hat 100.000
Quadratmeter Flächeninhalt, aber die Leitlinien und Augem
ruhepunkte, die Trottoirs, Alleen, Monumente, lassen den
weiten Raum angenehm faßlich erscheinen. Eine Stadt braucht
Plätze und die Plätze brauchen Monumente als Ruhepunkte
für das Auge. Platz und Denkmal sollen eine architektoni'
sehe Einheit bilden. Die Vorzüge der alten Plätze sind an
den neuen kaum mehr zu finden. Das Tegetthoff'Denkmal
am Praterstern steht da wie ein Riff, daran sich die Woge
des Verkehrs bricht und zum weiten Ausbiegen genötigt
ist. Es ist so postiert, daß es für den Wagen' und Passanten'
verkehr eine schwere Verlegenheit bildet. Im argen Miß'
Verhältnis zum Raum stehen fast alle neuen Denkmäler.
Das ist schon oft gesagt worden und braucht kaum mehr
bewiesen werden. Was die alten Plätze lehren, hat bisher
wenig Beachtung gefunden. Einst stellte man die Denkmäler
nicht ins Freie, sondern schuf für die Plätze architektonische
Monumente. Und das waren die Brunnen. Was unserer
Stadt heute fehlt, sind monumentale Brunnen. Sie bringen
ein belebendes Element in die Monotonie, und was sie für
die Schönheit einer Stadt bedeuten, kann man alten Städten
absehen, wo kein größerer Platz des Brunnens entbehrte
und der rauschenden Melodie inmitten disharmonischer
Straßengeräusche. Nicht weniger als acht neue Denkmäler
sind im Entstehen, für die man noch keine geeigneten Plätze
ausfindig gemacht hat. Der Stadtpark ist mit Plastiken am
gefüllt wie ein Friedhof, andere öffentliche Plätze darben. Sie
verlangen aber nicht Denkmäler, die man einem schönen alten
Brauche nach lieber in die Kirchen stellen soll, sondern sie
verlangen Brunnen. Solcher kann eine Stadt nicht genug
haben.
III. DER MINORITENPLATZ IN SEINER NEUEN VER'
UNSTALTUNG.
Die oben geschilderte Geschlossenheit des Minoritenplatzes
ist nicht mehr. Sehr eingreifende Umgestaltungen sind vor'
genommen worden, die das schöne Platzgebilde fast ganz
zerstört haben. Nach der Seite des einstigen Ballhauses ist der
Platz aufgerissen, die ehemaligen Anbauten der Kirche wurden
„stilecht“ im gotisierenden Baucharakter aufgeführt, und somit
der altehrwürdige Bau durch den neuen Anbau stilmäßig re'
stauriert. Jeder halbwegs künstlerisch empfindende Mensch muß
den neuen Zustand (siehe Grundrisse und Ansichten) tief be'
klagen. Wenn die Nötigung einer Umgestaltung vorlag, warum
hat man sich nicht der Mitarbeit jener Künstler versichert, von
denen man strengste Gewissenhaftigkeit in bezug auf das
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Kunstgesetz, das auch in der überlieferten Platzbildung ver^
körpert war, voraussetzen konnte. Wäre hier nicht ein triftiger
Anlaß Vorgelegen, durch eine IDEENKONKURRENZ die
Meinung der gesamten Künstlerschaft einzuholen und aus
den Vorschlägen das Beste zu wählen, das sich mit einer
aufgeklärten und vorgeschrittenen Auffassung verträgt. Die
K. K. ZENTRALKOMMISSION FÜR KUNST- UND
HISTORISCHE DENKMALE soll eine aufgeklärte und
vorgeschrittene künstlerische Auffassung nunmehr bekunden,
ihren Mitgliederernennungen nach zu urteilen ist sie bei
Beschlußfassung der Platzumgestaltung sicherlich mit am
grünen Tisch gesessen. Wo blieb die neue Auffassung; wo
blieb ihre Kompetenz in den Fragen der Erhaltung? Ihre
Programmschrift, vom verstorbenen Prof. Alois Riegl verfaßt,
verheißt viel Gutes; ich zitiere aus der Schrift, die ich noch
ausführlich zu besprechen gedenke, nur die folgenden Sätze:
„Am frischen Menschenwerk stören uns die Erscheinungen
des Vergehens (vorzeitigen Verfalls) ebenso wie am alten
Menschenwerk Erscheinungen frischen Werdens (auffallende
Restaurierungen).“ „So erblickt der moderne Mensch im
Denkmal ein Stück seines eigenen Lebens und jeden Eingriff
in dasselbe empfindet er ebenso störend wie einen Eingriff
in seinen Organismus.“
Wäre die treffliche Theorie in die Praxis übergegangen, der
Minoritenplatz hätte ein ganz anderes Gesicht erhalten müssen.
Die Herren, die dort regieren, sollten wissen, was Regenten -
weisheit ist: den rechten Mann für die rechte Sache zu finden.
Dem Minoritenplatz eine künstlerisch einwandfreie Gestaltung
zu geben, soll unter den Künstlern keiner als der Rechte
befunden werden? Mehr als zehn könnte ich herzählen;
damit sie auch am grünen Tisch gekannt werden, hätte
man die Künstlerschaft zur Ideenkonkurrenz einladen müssen;
den Weizen von der Spreu zu sondern, wird die nunmehr
vorherrschende besagte Auffassung hoffentlich zuwege gebracht
haben.
Daß es nicht geschehen, ist bedauerlich, denn wir haben im
Zusammenhänge damit die künstlerische Vernichtung eines
bemerkenswerten Platzgebildes zu beklagen.
Die „Freilegung“
des Minoriten-
platzes.
21
Links: Hausgarten, vom
Architekten Robert Örley.
Rechts: GEGENBEISPIEL.
Derselbe Garten von einem
„Kunstgärtner" entworfen.
l'
C<
HAUSGARTEN
angelegt vom ARCHITEKTEN ROBERT ÖRLEY, nach den in unserer Zeitschrift mitgeteilten Grund/
sätzen einer KUNST DES GARTENBAUES (Siehe „Hohe Warte“, I. Jahrgang, Heft 5, 7, 12, 14, 15,
beziehungweise Seite 96, 132, 219, 251, 267.)
(
D er Fall ist lehrreich. Ein schöner Hausgarten für ein
neues, vom Architekten Robert örley im Währinger
Cottage (Wien) erbautes Wohnhaus sollte angelegt
werden, ein Garten von mäßigem Umfang, in dem
mehrere Familien, die das Haus bewohnen, Abgeschlossenheit
und alle Annehmlichkeit finden können, die man an einen
guten Hausgarten stellt.
Hausgarten vom Architekten Robert Örley.
Ein Kunstgärtner, der sich auch Gartenarchitekt nennt, wurde
berufen. Er lieferte einen Plan üblicher Faktur, den wir hier
als GEGENBEISPIEL bringen.
Die winzige Verkleinerung einer sogenannten freien Land
schaft, daher die Bezeichnung „Landschaftsgarten“, Irrwege
in der Breite eines halben Meters, Rasenplätze in Brezelform,
eine papierene Anlage ohne den irgendwie erkenntlichen
Versuch, einen organischen Gedanken auszudrücken. Der
Architekt erklärte sofort, daß es mit dieser schlechten, unzweck
mäßigen Schablone nicht gehe. Der „Kunstgärtner“ schüttelte
den Kopf, der Bauherr wohl auch; sie begriffen nicht, was
der Architekt wollte. Haben doch alle Nachbarn im „Cottage“
einen solchen Garten, warum sollten wir nicht auch?
Damals sprach ich mit örley über „Hausgärten“, kurz vor
der Veröffentlichung der „Kunst des Gartenbaues“, und stellte
ihm auf Wunsch das Manuskript zur Verfügung. Von den darin
ausgesprochenen Grundsätzen ausgehend, hat der Künstler
seinen Hausgarten selbst entworfen: eine streng architek
tonische Anlage, die den kleinen Raum groß erscheinen läßt,
im richtigen Verhältnis zur Hausarchitektur steht, wie einer/
seits der als gutes Beispiel hingestellte Grundriß und die
perspektivische Ansicht zeigt, die im ersten Frühjahr des
Gartenbestandes aufgenommen wurde. Der Garten, mit dem
roten Ziegelboden, den geraden, von Wein überwachsenen Laub
gangen, den abgeschlossenen Gartensitzen, ist recht gemüt/
lieh und bei aller radikalen Neuheit eine durchaus heimatliche
Schöpfung, denn dieselben Gartenbaugrundsätze leben in den
alten Hausgärten, soweit sie in ursprünglicher Reinheit erhalten
blieben. „Das ist freilich was anderes als der Brezelgarten",
meinte der beglückte Bauherr, und wir meinen es auch.
fai
be
au
Cc
riß
we
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Ich
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leb:
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ST
OE
FE
22
COTTAGE.
S o werden die Villenviertel, die Familienhäuser mit Gärten
umfassen, heute mit Vorliebe genannt. Das Wort ist aus
England übernommen, bedeutet, wörtlich genommen,
id' . . Hütte ’ un d im übertragenen Sinne Landhaus oder Eim
familienhaus, das in der Regel während des ganzen Jahres
3' bewohnt wird. Das englische Cottage sieht wirklich ländlich
aus und ist voll Behagen (Komfort). Das kann man den
rde Cotta g es am f^stlande in der Regel nicht nachsagen. Grund'
iie r riß und Konstruktion ist dem städtischen Miethaus entlehnt,
wenn auch in entsprechender Verkleinerung. Die Fassade will
nd a ^. CS m °gii c i ie sein* hier Schweizerhausstil, dort Ritterburg,
ege u- m dritten Kenaissancepalast, beim vierten Barockschloß,
rnl fünften alles zusammen und so fort wie eine Katzem
tien Ländlichkeit und Behagen finden hier keinen Ausdruck.
Der i n diesen Fällen, wie in vielen anderen, Altes mit
, c k, Neuem verglichen und Unterschiede aufgezeigt. Nun will ich
eite Neues mitNeuem vergleichen; der Unterschied zwischen Gut und
vas Ai hIeCht Wird hier, wie ich g Iaube > nicht weniger offenbar werden.
Adso stelle ich hier zwei Beispiele aus dem Wiener Wäh-
ringer Cottage gegenüber, wo die Verhältnisse nicht viel
vor a .- e f. S be R en , als in allen „Cottages“ des Festlandes. Fast
Ute " amthche Stilen sind Gegenbeispiele oben besprochener Art,
rin davon lcb e ^ nes m der Abbildung bringe, im Nebeneinander
tler mit J eincm ? uten Cottagehaus vom Architekten R. örley, der
m uresem Einfamilienhause das Wesen der Sache ausdrückt:
Ländlichkeit und Behagen.
ler^ ^ I ° cbtc d * eses Beispiel doch weiterwirken, den Begriff einer
die ^ ebe ° d ^ en Baukunst zu verbreiten, in deren Bereich alle
bauhchen Alltagsaufgaben, die kleinsten wie die größten,
aes gehören. 6
ein
ab'
* ZITAT.
che
kn STEIN DAS AUSSEHEN VON EISENWERK,
ten ODER HOLZ DAS VON SEIDE, ODER TOP'
n 1 FERWARE DAS VON STEIN ZU GEBEN, IST
GEGENBEISPIEL. Cottage aus demselben Villenviertel.
DAS LETZTE HILFSMITTEL VERFALLEN'
DER KUNST. SETZEN SIE SICH SO SEHR
ALS MÖGLICH (DIES SEI ALLEN GESAGT)
ALLER MASCHINENARBEIT ENTGEGEN.
ABER WENN SIE FÜR MASCHINENAR -
BEIT ZU ZEICHNEN HABEN, LASSEN SIE
WENIGSTENS DEUTLICH ERKENNEN,
WAS ES FÜR ARBEIT IST, MACHEN SIE
SIE MECHANISCH DURCH UND DURCH
UND ZU GLEICHER ZEIT SO EINFACH
WIE MÖGLICH. VERSUCHEN SIE ZUM
BEISPIEL NICHT, EINEM GEDRUCKTEN
TELLER DAS ANSEHEN EINES MIT DER
HAND GEMALTEN ZU GEBEN; MACHEN
SIE IHN SO, WIE IHN NIEMAND, WENN ER
IHN MIT DER HAND MALTE, ZU MACHEN
VERSUCHEN WURDE, WENN SCHON BE -
DRUCKTE TELLER AUF DEN MARKT GE -
BRACHT WERDEN MÜSSEN: ICH SELBST
KANN IHREN NUTZEN NICHT EINSEHEN
MIT EINEM WORTE, LASSEN SIE SICH
NICHT ZU MASCHINEN MACHEN, ODER
ES IST MIT IHNEN ALS KÜNSTLER GANZ
VORBEI. OBWOHL ICH NICHT SEHR FÜR
DIE EISERNEN UND KUPFERNEN MA -
SCHINEN EINGENOMMEN BIN, ERSCHEI -
NEN MIR DIE VON FLEISCH UND BLUT
DOCH NOCH VIEL SCHRECKLICHER UND
HOFFNUNGSLOSER; KEIN MENSCH IST
EIN SO UNBEHOLFENER UND NIEDRIG
STEHENDER ARBEITER, DASS ER NICHT
ZU ETWAS BESSEREM GEEIGNET WÄRE
ALS DAZU. WILLIAM MORRIS.
23
ERSTE KUNSTAUSSTELLUNG.
ARCH.: HANS OFNER, ST. PÖLTEN.
ie von den heutigen Kunstbestrebungen wenig be^
rührten und ziemlich teilnahmslosen österreichischen
Provinzen, die gewohnt sind, ihre geistigen und
künstlerischen Bedürfnisse mit billiger Massenware
zu decken, auf ein höheres Geschmacksniveau zu bringen,
ist keine leichte, aber immerhin eine unumgängliche Aufgabe.
Wir arbeiten daran, soweit es an uns liegen kann, aber
vorderhand, von Ausnahmen natürlich abgesehen, noch mit
wenig Dank. Sollen wir von dort her kein Echo empfangen
können?
In Deutschland ist jede Mitteb und Kleinstadt ein Kultur^
Zentrum, das Anteil nimmt an der Kulturarbeit der Nation.
Was weiß man in unseren Provinzen von den ringenden
Kräften und von den Aufgaben der künstlerischen Bildung?
Wann wird sich’s auch dort einmal regen?
Für St. Pölten hat ein junger Architekt, Hans Ofner, einen
sehr energischen und achtenswerten Vorstoß zu dieser Be^
wegung unternommen, indem er aus eigenen Mitteln und
mit eigener Arbeit eine sehr anziehende Kunst' und Kultur'
ausstellung veranstaltete, die, wie gesagt, fast durchwegs eigene
Arbeiten enthält und beweist, daß er bei Prof. Hoffmann
Tüchtiges gelernt hat. Die St. Pöltner können daran viel
profitieren, und hoffentlich sind sie vernünftig genug, die
Sachen zu erwerben und der Stadt, die nicht nur durch eine
gute, alte Bautradition ausgezeichnet ist, sondern darin ein
gewisses künstlerisches Ansehen genießt, daß sie einen Bau
von Prof. Olbrich besitzt und mehrere bedeutende moderne
Künstler, wie Stöhr, Andri u. a., sozusagen zu ihren Söhnen
zählt, die beginnende Bedeutung eines kleinen Kulturzentrums
sichern. Hoffentlich gibt der Erfolg der ersten Ausstellung
dem jungen Künstler die Aufmunterung zur zweiten Aus'
Stellung, die er zu beabsichtigen scheint, wenn ich seine Am
zeige, ERSTE Kunstausstellung, recht verstehe.
Diese erste enthält drei Räume: einen allgemeinen Aus'
stellungsraum, ein modernes Speisezimmer und ein Herren'
zimmer nach Ofners Entwürfen. Die beiden letzteren sind
hier illustriert. Außerdem enthält die Ausstellung sehr feine
Zeichnungen und Radierungen von Otto zu Gutenegg,
München, einige treffliche Farbenholzschnitte von Hermann
Zeillinger, München, und eine große Anzahl, namentlich in
den Vitrinen des allgemeinen Ausstellungsraumes, von
kunstgewerblichen Gebrauchsgegenständen, Email' und Silber'
schmuck, größtenteils eigener Manufaktur. Das Vorwort des
geschmackvollen Katalogs erläutert die Grundsätze der künst'
krischen Gestaltung und sucht zum Nachdenken über die
wichtigsten Kulturfragen anzuregen, indem es sagt:
Der modernste unter den Künstlern war bisher offenbar der
Schneider. Er hatte keine Stilschrullen im Kopf wie der
Tapezierer, der Möbeltischler und heute noch der Großteil
der Architekten. Er allein wurde mit seiner Aufgabe fertig,
ohne die Rumpelkammer der großen Historie zu plündern; er
suchte weder den gotischen Stil, noch die Renaissance oder
das Barock aufzuwärmen, sondern er hielt sich — als wäre
er ein echter Künstler — an das Gegebene: an den Stoff und
an den Zweck. Aus dem weichen schmiegsamen Material
baut er sein Gebilde streng nach dem organischen Gesetze,
daß es dem Träger, dem Bedürfnisse und der Gegenwart
paßten. Sie bestellen einen Salonanzug: was würden Sie
sagen, wenn er Ihnen ein Hans Sachs'Kostüm, ein Kleid
â la Louis XV. brächte? Sie würden ihn mit seinem Mummen'
schanz zum Teufel jagen. Warum lassen Sie sich diesen
Mummenschanz von Ihren Baumeistern, Ihren „Dekora'
Speisezimmer (blau poliertes Ahorn) vom Arch. Hans Ofner. ^ e]
teuren“, Ihren Lieferanten „stilgerechter“ Möbel gefallen?
Warum verlangen Sie nicht, daß Ihr Salon zu Ihrem Salon/
anzug passe? Dulden Sie endlich, daß der moderne Architekt
— nur er kann es — Sie aus dem Bann erlöse. Sein \CTrken
und seine Zuhilfenahme ist für Sie ein Gebot der formalen
Bildung, der sich niemand entschlagen kann, der auf sich
etwas hält. Zum Zeichen Ihrer mitteleuropäischen Kultur
tragen Sie den praktischen kurzen Rock im Alltag, den langen
Rock zur Feier und den Smoking als abendliches Gesell'
schaftskleid. Ihre Damen tragen Stoff' oder Seidenkleider,
in der Form mehr oder weniger praktisch, in der Färbern
wähl aber meistens wundervoll. Darin wirken Sie künstlerisch.
Warum tun Sie nicht das Gleiche mit Ihrer Wohnung, warum
verwerten Sie dort nicht Ihre Gebote schlichter Zweckmäßig'
keit und Ihre koloristischen Erfahrungen?
Gehen Sie nun doch fest entschlossen den kleinen Schritt
weiter und setzen Sie Ihre äußere Umgebung, zunächst Ihre
häusliche, in Übereinstimmung mit Ihrer Tracht. Betonen
Sie die Schlichtheit, vermeiden Sie alle Putzmacherei, ver'
langen Sie dafür Gediegenheit. Wie einfach Ihre Wohnung
auch sei, sorgen Sie dafür, daß sie eine organische Beziehung
ausdrückt. Nicht nur das Kleid soll angemessen sein, auch
das Möbel und das Haus soll es sein, um wieder Teü Ihrer
Persönlichkeit zu werden, Ihre Liebe zum Heim zu festigen
und das Kulturniveau zu heben.
Allein werden Sie das Rechte niemals finden, sonst wäre es
ja längst gefunden. Ebenso werden Ihre Bauleute, Ihre
Tischler allein es niemals finden, sonst hätten wir nicht zu
klagen. Die pflegen nur abwehrend den Kopf zu schütteln.
Sie können es nur mit Hilfe des modernen Architekten
finden, den Sie für Ihre Sache als Anwalt brauchen, wie
man heute einen Hausarzt oder einen Rechtsanwalt braucht.
Sie werden mit ihm arbeiten, wie Sie mit Ihrem Schneider
arbeiten; Sie werden Hand in Hand mit ihm die formalen
Notwendigkeiten Ihres Heims erforschen, und er wird dafür
sorgen, daß das Notwendige vollkommen geschieht. Er wird
den Handwerksleuten das Kopfschütteln abgewöhnen und
sie in eine strenge künstlerische Zucht nehmen, der sie zum
Schaden unserer ganzen Kultur längst entwöhnt sind.
3
24
Dasselbe.
ner.
Herrenzimmer (Weichholz, weiß, lackiert) vom Architekten Hans Ofner.
en?
Oll'
:ekt
ken
ilen
sich
Itur
gen
seil'
der,
ien'
sch.
rum
ßig'
tritt
Ihre
men
ver'
ung
lung
luch
hrer
igen
•e es
Ihre
it zu
teln.
kten
wie
ucht.
eider
ialen
lafür
wird
und
zum
Büfett aus dem Speisezimmer.
Bücherschrank aus dem Herrenzimmer.
25
S'i
Aus den Möbelvorlagen des k. k. Österr. Kunstgewerbemuseums:
Sessel „modern englisch“.
Tischchen „modern“ (Mahagoni mit Kerbschnitt!).
Vorzimmerbank „englisch“.
(Alles in stark verkleinerter Wiedergabe»)
IST DIE VERWENDUNG VON
VORLAGEWERKEN NICHT EIN
PÄDAGOGISCHER UNFUG?
(Siehe Heft x, Jahrgang II, Seite 14, Anfrage an das
k. k. österr. Unterrichtsministerium.)
MÖBELVORLAGEN.
W as über die Stickereivorlagen gesagt wurde, gilt
auch von den Möbelvorlagen. Hier werden „mo^
dem englische“, „moderne“, „Alttiroler“ Möbel
für die Fachschüler österreichischer Provinzen zur
platten Nachahmung vorgelegt. Was die künftigen Provinz^
gewerbler wohl mit „englischen“ Möbeln anfangen werden?
Man kann nur mit Grauen an diese „Sezession“ denken,
die daraus entstehen wird. Sie steckt schon in den Vorlagen:
unzweckmäßige Formen, unzweckmäßige Materialbehandlung,
Beschläge als bloß äußerlicher Zierat und anderer Untugenden
mehr.
Was sollen die Fachschüler für Holzbearbeitung lernen?
Vor allem sollen sie nicht lernen, diese Vorlagen nachzu'
ahmen. Sie sollen lernen, gute, brauchbare, sachliche Möbel zu
entwerfen und herzustellen, Möbel, die der heimischen Holz^
bearbeitung und der überlieferten Konstruktion (Holzver^
bindung) entsprechen, und den Kulturüberlieferungen der
Heimat angemessen sind. Gerade wir in Österreich haben
in den Städten und Provinzen eine ausgezeichnete Uber^
lieferung im bürgerlichen und bäuerlichen Möbel besessen.
Gute Möbel, die in jeder Hinsicht sachliche Vorzüge auf*
weisen, entstehen nicht, indem man fremde Vorbilder ver^
pflanzt, englische nach Tirol, Tiroler nach Mähren u. s. f.;
gute Möbel entstehen nur auf Grundlage einer gewissen
Kultur und einer allgemeinen künstlerischen Bildung, die
aus vielen Quellen genährt wird. Jenes Maß von Kultur,
das auch in den Fachschulen und Kursen für Möbelkunst
gepflegt werden kann, beschränkt sich nicht allein auf die
praktische und theoretische Beherrschung der Holzbearbei -
tungstechniken, sondern auch auf die Kenntnis der ästhetischen
und konstruktiven Eigenheiten der verschiedenen Hölzer,
eine Kenntnis, die z. B. Mahagoniholz wegen seiner feinen
und festen Struktur zu jenen schlanken Formen verwendet,
wie das englische Mahagonimöbel zeigt; wie wenig übrigens
die Schöpfer dieser Möbelvorlagen von dem vielgepriesenen
und mißbrauchten englischen Vorbild gelernt haben, beweist
oben abgebildetes Tischchen aus Mahagoniholz mit Kerb -
schnitt (!!) in breiten, groben Formen, die wohl beim Weich -
holzmöbel gerechtfertigt sind und hier nur verschwenderischen
Aufwand sowie Unverstand und Geschmacklosigkeit bedeuten.
Außer dieser elementaren Kenntnis ist genau zu wissen not,
was das Leben wirklich braucht, als die größere und wichtigere
Kulturpflege, die auch eine Angelegenheit des Fachmannes
und vor allem der Erziehung ist.
Um gute und sachliche Möbelkonstruktionen herzustellen,
ist menschliche Angemessenheit vor allem nötig. Das Möbel soll
angemessen sein. Das Leben muß man ein wenig angesehen
haben, die Kultur des Bauernhauses, des Bürgerhauses, des
Landlebens und des Stadtlebens aus eigener Anschauung
kennen gelernt haben, um zu wissen, was jeder besondere
Fall verlangt. Aus diesem lebendigen Studium mensch -
licher Bedürfnisse im steten Hinblick auf ein bestimmtes
Material und aus der guten, bodenständigen Handwerks -
überlieferung (die reicher ist, als man am Zeichentisch
ahnt) ergeben sich von selbst die guten, sachlichen, zweck -
mäßigen, vollkommenen und eben darin schönen Typen, die
nicht mechanisch wiederholte Typen, sondern lebendige Werte
sind, die der also zur Kultur erzogene Fachmann jederzeit
gleichsam aus der Natur zu holen vermag. Der zeichnerische
Ausdruck, die Möbelzeichnung, als einfache Werkzeichnung
ist gleichfalls ein Ergebnis sachlicher Notwendigkeit und soll
nie mehr sein. Wir werden immer Möbel bringen, die ein
Ergebnis der Kultur und Beispiel für die rechte Art des
Strebens sind; die obigen Illustrationen aus dem k. k. Vor -
lagenwerk sind warnende Gegenbeispiele; sie sind keiner
Kultur entsprungen, sie sind Bureauprodukte, und ihre
Nachahmung führt zum Versiegen oder Verflachen jeder
selbständigen erfinderischen Tätigkeit, die sich selbst
Rechenschaft geben kann und spielerischen Unverstand
vermeidet. So gehören z. B. die meisten in den Vorlagen
vorgezeichneten Beschläge in das Gebiet des spielerischen
Unverstandes.
26
„DER FALL BöCKLIN".*
S o heißt ein Buch, das gegenwärtig in Deutschland viel
Lärm verursacht. Sein Verfasser, Julius Meier^Graefe,
einer der geistreichsten Kunstschriftsteller, die Deutsch^
land gegenwärtig besitzt, ein feiner Kenner und Liebhaber,
Geschäftsmann und Ästhet in einer Person, eine kosmopolh
tische Natur und bei aller Eleganz ziemlich brutal rücksichtslos,
hat seiner persönlichen Überzeugung nicht wenig zum Opfer
gebracht. Zuerst, in Berlin als Mitbegründer des hoch'
verdienten „Pan", einer Kunstzeitschrift, die die moderne
Bewegung in Deutschland einleitete, gehörte er zu jenen
Ersten, die sich an Böcklin begeisterten, in einer Zeit, da
das Publikum von dem Künstler noch nichts wissen wollte;
aber später, da er als Besitzer der „maison moderne“ in
Paris lebte, von dem Geiste der französischen Malerei er'
griffen, gewöhnte er sich daran, die deutsche Kunst mit
französischen Augen zu betrachten, was bei einem Deutschen
übrigens nicht zu wundern ist. Der Deutsche, wenn er Esprit
hat, wird in Frankreich gewissermaßen Franzose, ja, sein
großes Aneignungsvermögen befähigt ihn sogar, es den
echten Franzosen zuvor zu tun. Wird er auf dem Boulevard
einmal seiner reisenden Landsleute ansichtig, die mit den
dicken, roten Reisebüchern in den Händen und in abgetragenen,
für daheim zu schlecht befundenen und gewöhnlich deshalb
als Reisekostüm ausgemusterten Kleidern, mit Schlapphut
und steifer Hemdbrust einherstiefeln, die Terrassen der
Cafés mit haarsträubendem Französisch und lärmendem
Gequatsch erfüllen, dann ist es er, dessen Mundwinkel sich
am tiefsten ziehen, dessen Spott am herbsten ist, weil er
die Schwächen seiner Nation am besten kennt und im Aus'
land ihre Vorzüge am leichtesten vergißt und weil er sich
allzu geschmeichelt fühlt, wenn er in Frankreich mit den
Worten ausgezeichnet wird: „Sie sind schon ein ganzer
Franzose.“
Bis zu einem gewissen Grade ist diese Verleugnung begreif'
lieh. Sie ist weder Treulosigkeit noch Verrat; sie ist einzig
und allein das unwillkürliche Ergebnis einer wenig gefestigten,
mangelhaften und unterlegenen nationalen Kultur. Es geschieht
aus dem gleichen Grunde, daß im Auslande der Engländer
Engländer, der Franzose Franzose bleibt und der Deutsche
seine Natur ändert. Liebt er seine alte Heimat, was er auf
seine Art gewöhnlich tut, so züchtigt er sie, tadelt und be'
schämt sie, obschon er wissen muß, daß sich im schiefen
Sehwinkel des Boulevards nicht die günstigste Seite des
Deutschtums wahrnehmen läßt. Was er aber just verschweigt;
er macht es geflissentlich schlecht, um es besser zu machen,
wie der Fall Heinrich Heine zeigt, der trotz allem ein
deutscher Dichter geblieben war.
Der Fall ist durchaus typisch und er würde, auch wenn ge'
wisse geistig verwandte Züge nicht vorlägen, zu Meier'Graefe
führen. Auch er war schon „ein ganzer Franzose“ geworden,
ganz erfüllt von dem leuchtenden Glanze des französischen
Impressionismus, als er, der frühere BöcklimVerehrer, Deutsch'
land mit dem unerbetenen Buche beschenkte, darin er nicht
nur Böcklin totschlägt, sondern auch Menzel, Klinger,
Thoma, die ganze deutsche Kunst und die englische dazu.
„Der Fall Böcklin“ soll ihm in Deutschland viel geschadet
haben. Je nun! In Deutschland kann das Buch gewiß nützen.
Man müßte es nur nicht so tragisch nehmen, als man tut,
und man müßte nicht vergessen, daß ein solches Papierereignis
keinen Künstler totschlagen kann, Böcklin am wenigsten,
und daß trotz allen tempelschänderischen Gehabens unleugbare
* „Der Fall Böcklin und die Lehre von den Einheiten“, von Ju
Meier'Graefe. Verlag Julius Hoffmann, Stuttgart.
und ich will sogar sagen ganz brauchbare Wahrheiten in
dem Buche enthalten sind.
Sie sind aber keinesfalls so brandneu, wie es den Anschein
hat. Daß die Bildergeschichten einmal aufhören müssen, ist
eine längst ausgemachte Sache und ebenso ausgemacht ist die
Unterscheidung der malerischen Qualitäten, die Meier'Graefe
in der „Lehre von den Einheiten“ behandelt. In diesen zwei
Angelpunkten bewegt sich seine Beweisführung, die den
„Fall Böcklin“ im letzten Grunde als den Fall Deutschland
erkennen läßt. Hand aufs Herz! Bei aller Böcklin'Begeisterung
ist die Kunst unserem Bürgertum eigentlich ganz Wurst.
Es ist immer dieselbe Geschichte: heute beflegelt man einen
Künstler, morgen vergöttert man ihn, das eine wie das
andere blindlings, ganz einfach deshalb, weil es zum guten
Ton geworden ist, begeistert zu sein, so wie es kurz vorher
Mode war, entrüstet zu sein. Diese Edlen! Wenn sie doch
erklären würden, warum sie plötzlich so begeistert sind?
Oh, doch! Hört man es denn nicht immer wieder sagen?:
„Böcklin hat uns eine Welt von ganz neuen Fabelwesen
erschlossen!“ Obschon es ganz lächerlich zu denken ist, was
etwa ein Börseaner mit dem neuen Fabelwesen zu schaffen
hat, so ist es in der Tat nichts anderes als die Bildergeschichte,
das alte Genre, der erzählende Inhalt, der sie begeistert; wie
man sich gestern noch an dem „Gratulanten“, an der „Keller'
szene im Kloster“ und ähnlichem erfreute, so schwärmt man
heute für das „neue Fabelwesen“ und bleibt daneben wohl
auch dem „Gratulanten“ freundlich gesinnt. Bloß die Eti'
ketten sind gewechselt und hinter dem Begeisterungsrummel
steckt die alte Barbarei, die wieder jener Künstler, der neu
und unbekannt auf den Plan tritt, solange zu fühlen bekommt,
bis er „populär“ wird. Was hat der Kunstbildung unseres
Großbürgertums das „neue Fabelwesen“ geholfen? Was haben
sie überhaupt von Böcklin gelernt? Wie haben sie die um
erschöpflichen Kulturmöglichkeiten verwirklicht, die der
Künstler Böcklin erschlossen hat? Wo finden wir in ihren
Wohnungen, in ihren Architekturen, in ihren Bedürfnissen
und Neigungen den, wenn auch nur leisen Versuch vor, sich
mit dem Kunstwerk in Einheit zu setzen, die unsagbare
formale Harmonie und fast keusche architektonische Strenge
ins Leben zu tragen, die der Künstler Böcklin, von der früh'
italienischen Kunst angeregt, und in seinen Werken verkörpert
hat? Auf alle diese ernsten und wichtigen Fragen hat die
Böcklin'Begeisterung statt jeglicher befriedigenden Antwort
nur die berühmte Ausrede auf das deutsche „Gemüt“, das
nun auch mit „neuen Fabelwesen“ erfüllt ist. Wozu der
Lärm, ihr Gemütvollen? Beweist das Geschrei nicht, daß
Meier'Graefe doch den Finger in eine Wunde gelegt hat?
Wie diese Kulturmöglichkeiten verstanden worden sind, davon
gibt der Rahmenhändler, der böcklinische Motive in der
Rahmenschnitzerei fortsetzt, ein schauderhaftes Zeugnis.
Es ist doch seltsam, daß alle Widersacher Meier'Graefes (er
hat fast nur Widersacher gefunden) sich als schlechte Ver'
leidiger Böcklins erwiesen haben. Sie bestreiten Meier'Graefe,
aber sie widerlegen ihn nicht. Ganz einfach, weil er gar
nicht zu widerlegen ist, selbst wenn er sein Buch nicht so
unangenehm pseudowissenschaftlich aufgestutzt, stellenweise
nicht so uneben und verworren geschrieben und mit vielfach
erzwungenen Gleichnissen verbrämt, sondern sich durchwegs
einer durchsichtigen Klarheit und Schlichtheit befleißigt hätte,
die bei einem so schwierigen Thema eine schriftstellerische
Anstandspflicht ist. Aber ungeachtet dieser äußeren Mängel,
die ein Merkmal der Überhastung sind, ist das Buch durch
erwähnten Wahrheiten innerlich stark und von dieser
unerschütterlich. Auch der lächerliche Vorwurf, daß
•Graefe aus Mangel an „Gemüt“ nicht befähigt sei.
27
ßöcklin voll zu würdigen, ist ganz unhaltbar; wer also redet,
vergißt eben, daß Meier^Graefe als Verfasser einer ebenfalls
jüngst erschienenen dreibändigen „Entwicklungsgeschichte
der modernen Kunst“,* unter anderem die feinsinnigste und
tiefste Deutung der Werke des belgischen Bildhauers George
Minne gegeben, die seiner Kennerschaft für die Forderungen
des Stils alle Ehre machte, wobei es sich also um Kunst'
werke handelt, über die das deutsche Publikum, dessen Gemüt
von den „neuen Fabelwesen“ angefüllt ist, vorderhand noch
Schmutzwellen von Entrüstung zu erbrechen pflegt. Der
Sache Böcklins ist schlecht gedient, indem man Meier^Graefe
bedingungslos bestreitet, da man ihn, von nebensächlichen
Streitfragen abgesehen, doch nicht widerlegen kann, wenigstens
in der Hauptsache nicht. Böcklin wird bestehen, auch wenn
Meier'Graefe recht behält. Was schadet es dem Gewaltigen,
wenn der Nachweis gelungen ist, daß gewisse Bilder des
Künstlers vom rein malerischen Standpunkt aus betrachtet
und an den Gesetzen des Naturalismus gemessen, nicht
immer einwandfrei sind? Hat nun das deutsche Publikum
das „neue Fabelwesen“ auf seinem Eselsrücken aufgesackt, in
der Meinung, nun sei es genug mit Kunst beladen, und es
kommt einer und haut auf den Sack, je nun, dann ist’s
gewiß dem Esel vermeint. Ich denke, es ist heilsam. Die
deutsche Kunstbegeisterung rechtfertigt Meier-Graefes vehe'
menten Angriff auf Böcklin. Ohne dieses gewisse Publikum
und seine ernüchternde Begeisterung gliche Meier^Graefe
einem Nachtwandler, der den Grund unter sich verloren hat
und in der Luft hängt. Aber er hat Grund, sicherlich.
Trotzdem erweckt das Buch ein starkes Unbehagen. Das
Urteil Meier-Graefes über Böcklin hat einen schiefen Blick,
der mir nicht gefällt. Das ist es nicht, daß er bedenklich
übers Ziel schießt, denn ich kann mir denken, daß einer,
um die Sauertöpfigkeit aufzurühren, durchgreifend verfahren
muß. Auch ist es ganz gut zu begreifen, daß Böcklin keine
Weide für französische Augen ist. Aber was hat Meier^Graefe
damit zu schaffen? Wenn er sich auf den Kopf stellt, er
wird doch kein Franzose. Und was haben wir damit zu
schaffen? Könnten wir nicht mit vielleicht größerem Rechte
sagen, daß beispielsweise die heutige französische Architektur
für uns auch keine Augenweide ist? Und das heutige
französische Kunstgewerbe schon gar nicht? Und daß bei
uns dagegen die Ansätze zum Stil, zur Zusammenfassung
von Architektur, Kleinkunst, Malerei und Plastik als einer
raumkünstlerischen Einheit, ersichtlich stark in der Ent'
wicklung begriffen ist? Sowie daß Böcklin einen machtvollen
künstlerischen Anstoß zu dieser Bewegung gegeben hat?
Vom internationalen Standpunkt, auf den sich Meier'Graefe
augenscheinlich viel zu gute tut, können wir keinen Künstler
gerecht beurteilen, denn dieser gleicht dem Baum, der aus
dem Kulturboden der Heimat die Kräfte zieht und die Früchte
seiner Art trägt. Nichts berechtigt uns, den deutschen Maler
an dem französischen Maler zu messen und den Deutschen
mit dem Franzosen zu erschlagen. Nichts berechtigt uns, von
einem „Fall Böcklin“ zu reden; wir haben es einzig und
allein mit einem „Fall Meier'Graefe“ zu tun, der sein
persönliches Verhältnis zu Böcklin revidiert. Daß Böcklin
als Maler nicht zu den Impressionisten zählt, ist keine er'
schütternde Entdeckung; sie hindert nicht, ihn als den großen
Künstler zu verehren, dessen Sendung noch nicht erfüllt und
dessen Botschaft nicht einmal noch recht verstanden ist,
sicherlich nicht, solange man nur sein „neues Fabelwesen“
verhimmelt oder beckmesserisch seine Palette verlästert. Man
darf nicht vergessen, daß auch der Impressionismus nur eine
* „Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst“ von J. Meier'Graefe,
3 Bände, Verlag Julius Hoffmann in Stuttgart.
Durchgangsphase 'der künstlerischen Entwicklung ist, und daß
die letzte und notwendige Erfüllung des Impressionismus der
Stil sein wird, der im einzelnen schon vorgebildet ist und
herrschen wird, wenn die anderen Künste den Vorsprung der
Malerei eingeholt haben werden. Böcklin weist auf dieses
höhere Ziel; um dieses Höheren willen wird der Rang des
Künstlers nicht erschüttert werden können, so wenig wie man in
einem der Vollendung nahenden Gebäude die Fundamente aus'
lösen und verwerfen kann, ohne den Aufbau und die Einheit
zu zerstören und in ein Chaos zu verwandeln. Von den
verschiedenen Entwicklungssträngen, die zum Stil führen,
geht einer über Böcklin. In Wahrheit aber geht der Kampf
nicht um Böcklin, sondern um das Höhere, nicht weil der
Künstler oder die Kunst in Frage steht, denn diese können
durch keinen Federstreich zu Fall gebracht werden, sondern
vielmehr weil ein „Fall Deutschland“ des Pudels Kern ist.
Es ist lediglich eine Angelegenheit der Kultur und der
Erziehung. Wer Böcklin vollends ergriffen hat, dem stehen
alle Tore weit offen. Er wird den Weg zu Minne finden,
ebensogut wie zu Klimt und zu Kodier, um nur einige
markante Erscheinungen auf dem steilen Pfad zur Höhe zu
nennen. Meier'Graefe sieht geflissentlich vorbei; er verneint
Böcklin, verherrlicht den Stilisten Minne, lobt unter anderem
van den Gogh, der als Naturalist mit einem Fuß schon
im Stil steht; er verwirft den Stilisten Kodier und läßt
Klimt höchstens für Kunsthändlerartikel gelten, um seine
Bilder zu Buchdeckeln zu verwenden. Aber zu gunsten des
Naturalismus in Frankreich legte er ritterlich die Lanze ein,
um die deutsche Kunst in ihrer beginnenden feinsten Blüte
unbedenklich über den Haufen zu rennen. Der kunstliebende
Pöbel, der bei allen Eröffnungen mittut und den eigentlich
die Lektion treffen soll, hat sein übles Späßchen dabei. Den
Künstler trifft es nicht. In einer Beziehung aber könnte
der Spaß einen Ernst bedeuten und den Eifer des Autors
lohnen: in einer vorübergehenden Kursschwankung auf dem
Kunstmarkte, die auf die vorherige Periode der Überschätzung
Böcklins eine zeitweilige Unterschätzung zu gunsten des
Naturalismus herbeiführen wird.
28
DIE BAUMEISTER GEGEN DIE BAUKUNST *
4 m kürzlich stattgefundenen sogenannten Baumeister^
• \ tag haben die Baugewerbetreibenden gegen die Bau^
f \ künstler einen Beschluß gefaßt, der in den Archiv
" tektenkreisen und weit über diese hinaus Aufsehen
und Unwillen erregt hat. Diesem Beschluß zufolge erscheint
der Architekt in den Augen der Baumeister als Eindringling,
der sich unbefugt zwischen Bauherrn und Baumeister einnistet
und angeblich des letzteren geschäftliche Interessen stört.
Das Referat des Baumeistertages hebt besonders hervor, die
Baumeister seien von Gesetzes wegen allein befugt, ihre Hilfst
kräfte aufzudingen und folglich auch — um den Gedanken
der Baumeister auszuführen — den Architekten aufzudingen.
Sie meinen, daß dadurch die künstlerische Wirksamkeit des
Architekten keinesfalls geschmälert, sondern viel eher ge--
fördert werden würde.
Was die Baumeister unter der künstlerischen Wirksamkeit
des Architekten verstehen, ist in Wahrheit nichts anderes
als die effektvolle Fassade, deren Entwurf der Architekt auf
Bestellung dem Baumeister für ein gewisses Entgelt liefert,
als eine Art lockendes Reklameschild, bestenfalls als eine
mehr oder weniger hübsche Maske, um damit die alte
Wohnungsmisere zu verdecken und „modern“ herauszu'
putzen.
Baufragen sind Volksfragen und darum ist es nicht gleich'
gültig, ob wir eine gute oder eine schlechte Bauweise haben.
Eine gute Bauweise wird sich nicht entwickeln, wenn sich
ein ewig wiederholter schlechter Grundriß hinter einer am
spruchsvollen Fassade verkleidet.
Eine gute Bauweise geht vom Grundriß aus, um hier die
organische Beziehung zu den menschlichen Wohnbedürfnissen
zu suchen. Sie wird nicht nach der Schablone vorgehen,
sondern auch in den Bautypen, die sie schafft, menschliche
Angemessenheit und höchste Solidität anstreben. Sie wird
das Notwendige auf vollkommene Weise tun und Sachlichkeit
zu ihrem Grundsatz machen. Sie vermeidet das überflüssige
und betont die Schlichtheit; statt Putzmacherei gibt sie Ge'
diegenheit. Sie betrachtet das Stadtgebilde im ganzen sowie
im einzelnen, sei es Straße, Haus und Wohnung, als
Kunstwerk und ist der Meinung, daß der Staat und das
Volk an diesem Kunstgebilde als der Kristallisation seiner
eigenen leiblichen Bedürfnisse, seiner Kultur und seiner
künstlerischen Bildung ein weitaus höheres Interesse haben
müßte als an gelegentlichen Bilderausstellungen, die sein
Kunstinteresse so überaus stark in Anspruch nehmen. Soll die
gute Bauweise entwickelt werden, dann muß vor allem
das Volk und in seiner Vertretung die Gemeinde und
der Staat die Baukunst als seine eigene Angelegenheit pflegen
und mit den Künstlern arbeiten, das Rechte zu finden.
Das Volk oder der einzelne als Bauherr wird allein das
Rechte niemals finden und ebensowenig werden die Bam
meister das Rechte finden können, sonst wäre es längst ge'
* Die kunstfeindlichen Beschlüsse vom jüngst stattgefundenen Bau-
meistertag haben der Architektenschaft den Anlaß zu einer energischen
Abwehr gegeben. Insbesondere tritt die GESELLSCHAFT ÖSTERr
REICHISCHER ARCHITEKTEN hervor, die sich mit einer sehr ener-
gischen Schrift, „DIE BAUMEISTER GEGEN DIE BAUKUNST“, an die
Öffentlichkeit wendet und damit nicht nur die unerhörten Anmaßungen
der Baumeister gebührend zurückweist, sondern auch das künstlerische
Moment im Bauwesen für das Verständnis weitester Kreise darstellt.
Die Schrift wird in einigen Tagen im Buchhandel erscheinen und
großen Widerhall erwecken. Wir sind heute schon in der Lage, auf sie
empfehlend hinzuweisen und in den obigen Ausführungen eine An'
deutung des treffenden Inhaltes zu geben.
fundeu. Diese allein werden den Fortschritt nicht herbei'
führen können, so wenig wie ihn die Tischler im Kunstge'
werbe herbeiführen konnten. Im Kunstgewerbe herbeigeführt
haben ihn die Künstler und im Baugewerbe herbeiführen
wird ihn die Baukunst. Das Rechte zu finden, ist nur mit
Hilfe des Baukünstlers möglich, den der Bauherr für seine
Bausache als Anwalt braucht, wie man heutigentags für die
Rechtssachen einen Rechtsanwalt und für die medizinischen
Fragen einen Hausarzt braucht.
Die Aufgabe des Architekten besteht also darin, mit dem
Bauherrn die formalen Notwendigkeiten des Hauses, der
Wohnung oder des ganzen Städtebaues zu erforschen und
dafür zu sorgen, daß das Notwendige vollkommen geschieht;
die Aufgabe des Baugewerbes wie eines jeden anderen Ge'
werbes besteht in der fachlichen Ausführung der bau'
künstlerischen Gedanken, die sich aus der gemeinsamen
Arbeit des Bauherrn und des Baukünstlers ergeben.
Der baukünstlerische Gedanke erschöpft sich also keines'
wegs in der Fassade. Er wurzelt im Grundriß und kommt
in der Fassade nur so zum Ausdruck, wie sich in einem
Antlitz die innere Verfassung eines Menschen ausprägt.
Die Baumeister begründen ihr Verhalten damit, daß es viele
schlechte Architekten gibt und Elemente, die die Architekten
aus ihren Kreisen ausgeschieden wissen wollen; wenn das
auch wahr ist, so sind in dieser Sache immerhin nicht die
Baumeister, sondern die Architekten allein berufen, Wandel
zu schaffen; die Baumeister können sich ruhig darauf be'
schränken, schlechte Elemente aus ihren Kreisen aus'
zuscheiden, weil nicht nur zu wünschen ist, daß es lauter
gute Architekten gebe, sondern daß es auch lauter gute Bau'
meister gebe.
Die schlechten Architekten werden von selbst aufhören, wenn
die künstlerische Bildung des Volkes so weit sein wird, daß
jedermann und vor allem“ jeder, der als Bauherr bauen läßt,
zwischen Gut und Schlecht zu unterscheiden weiß. Wenn
aber diese Fähigkeit Gemeingut sein wird, kann der Bau'
künstler erst recht nicht r ausgeschaltet werden, weil er es
ist, der die künstlerische Entwicklung nicht nur im Bauwesen,
sondern auch in allen beteiligten Gewerben und Industrien
herbeiführt und immer erneuert, während der Baumeister
unter dem Einflüsse des Baukünstlers bestenfalls seine
gewerbliche Leistungsfähigkeit entwickeln wird. Daraus folgt,
daß die Baukunst der Kopf ist und das Baugewerbe die
Hand; wenn sich aber die Hand die Funktionen des Kopfes
anmaßt, so führt eine solche Empörung, wie die alte Fabel
lehrt, zum Siechtum des ganzen Körpers. Das Bauwesen, als
Körper betrachtet, lebt auf, wenn die Baukunst herrscht, es
siecht, wenn die Baukunst geknebelt ist.
Niemals war die freie und unbeschränkte Wirksamkeit des
Baukünstlers notwendiger als in der heutigen Zeit, da sich
die bürgerliche Bauweise in einem Zustand der Verrohung
befindet, wie in keiner Epoche zuvor. Es gehört zu den
Bildungsmängeln unserer Zeit, unter Baukunst nichts anderes
zu verstehen, als eine äußerliche Anwendung historischer
Stilelemente.
Das Bewußtsein ist leider erloschen, daß der Hausbau, wie
überhaupt die baugedankliche Lösung jeglicher Alltagsauf'
gäbe eine Angelegenheit der Baukunst ist, und daß daher
der Begriff Baukunst mit den Interessen der gesamten Be'
völkerung identisch ist, soweit er die Wohnungsfrage, das
äußere und innere Wohlsein des Städtebaues und Wohn'
hausbaues betrifft.
Seit die Teilnahme der Bevölkerung an den Aufgaben der
Baukunst zu versagen begonnen hatte, kam die baukünst'
lerische Kraft zum Versiegen und die Spekulation bemächtigte
29
sich des Gebietes, wo wichtige Interessen der BevöII erung^si,verständlichen Haftpflicht die Forderung der alleinigen und
und der Kultur zu erfüllen oder zumindest 7t 1 11 TI 1 Cr rrnt» 'tu
und der Kultur zu erfüllen oder zumindest zu verteidigen
gewesen wären. Die bauliche Entwicklung unserer Vorstädte
ist ein Bild des völligen Erloschenseins der künstlerischen
Kraft im Bauwesen. enn das legendäre ^Vort von der
Schönheit Wiens ausgesprochen wird, ist ein Zustand gemeint,
der nicht mehr ist, oder der hätte werden sollen. Wer durch
die nüchternen, staubigen, trotz auffallender Breite und Heilig'
keit tristen Straßenzüge der neuen Bezirke wandert, ahnt
nicht, daß sich an dieser Stelle einstmals entzückende Ort'
schäften befanden, die eine ganz andere bauliche Entwicklung
verdient hätten, als sie gefunden haben. Die Spekulation hat
den Ausbau der Bezirke übernommen und ihnen den Stempel
einer unzweckmäßigen Schablone aufgedrückt. Öde und Un'
Wohnlichkeit ist ihr Merkmal. Die sogenannte „schöne
Fassade“ ist für den Zustand der Dinge ebenso bezeichnend,
wie der Mangel des Bades in fast allen Wohnungen, die stief'
mütterliche Behandlung der Nutzräume und die sonstigen
zahlreichen Mängel und Gebrechen, die auf die Herrschaft
der Schablone zurückzuführen sind. Verschönerungsversuche
werden vielfach unternommen; aber sie bleiben äußerlicher
Zierat."
Die Schönheit muß an den Dingen sein, sie kann nicht
äußerlich angeheftet werden. Die häßlichen Feuermauern,
die ungefühlten Verhältnisse, die auffallende Sucht, durch
zwecklose Türmchen, kleinlichen Zierat über die formalen
Gebrechen zu täuschen, verraten die schlechten Gewohnheiten
des heutigen Baubetriebes und den Mangel einer strengen
künstlerischen Zucht.
Es soll nicht untersucht werden, wieviel von dieser traurigen
Hausbauerei dem Architekten, wieviel dem Baumeister zur
Last fällt; es soll nur festgestellt werden, daß diese Architektur'
macherei nichts mit Baukunst zu tun hat. Es ist gewiß, daß
die Mehrzahl auch dieser Architekten bessere Leistungen
hervorgebracht hätte, wenn sie freie Hand gehabt haben
würde und nicht gezwungen wäre, in Abhängigkeit vom
Unternehmer schlechte Fassaden zu zeichnen und im Dienste
des Kapitals die höchste Ertragfähigkeit auf Kosten einer an'
ständigen Bauweise herauszuquetschen. Die schlechte Archi'
tekturzeichnung ist immer das Ergebnis schlechter Unter'
nehmerinstinkte, und es ist einerlei, ob die Baumeister und
Bauunternehmer solche Entwürfe selbst anfertigen oder sie
sich von einem Architekten, den sie in Sold nehmen, zeichnen
lassen.
Die Bausünden greifen von der Großstadt über ins offene
Land und beginnen auch dort verheerend zu wirken. Es gilt
also, nicht nur Geschehenes wieder gut zu machen, sondern
auch vieles, das noch unberührt ist, aus dieser Gefahr zu
retten. Der einzige Weg dazu ist die Popularisierung der
Baukunst. Das Volk muß begreifen lernen, daß es sich
dabei um Dinge handelt, die seine Wohlfahrt betreffen,
daß es hierin sachliche Ansprüche und Bedürfnisse zu
stellen hat.
Die künstlerische Bildung, die Gemeingut werden muß, wird
das ihrige tun. Sie wird Baukunst fordern. Eine Baukunst
werden wir aber erst dann haben, wenn der Baukünstler die
Leitung haben und seine Bauleute sowie alle seine Lieferanten
nach freiem Ermessen wählen wird. Dieses Recht wird ihm
nie streitig gemacht werden können. Von ihm wird Rechen'
schaft über die formale Durchbildung verlangt werden und
er wird umso strenger sein müssen, je größer die Freiheit
ist, die alles auf seine persönliche Verantwortung stellt. Der
Baumeister haftet allerdings für seine Bauarbeit, wie der
Zimmermann für seine Zimmermannsarbeit haftet und die
Baumeister haben daher kein Recht, aus dieser selbst-
ungeteilten Bauausführung zur Gänze zu stellen und gar
den Baukünstler aus seiner leitenden Stellung als Bevoll'
mächtigten des Bauherrn für immerwährend verdrängen zu
wollen.
Wenn aber der Architekt sein soziales und künstlerisches
Recht gefunden hat und sich der Allgemeinheit persönlich
verantwortlich weiß, wird er es nicht wagen, solche Häuser
und solche Scheinfassaden, wie sie die modernen Städte auf-
weisen, zu schaffen. Er wird weder dem Zwang des Protzen'
tums, noch des Spekulantenunwesens folgen, wenn er die
berechtigte Kritik einer zu den Ansprüchen vollkommener
Sachlichkeit und Gesittung erzogenen, das heißt künstlerisch
aufgeklärten Bevölkerung zu fürchten hat.
Heute ist es fast umgekehrt der Fall, indem die Bevölkerung
den Baukünstler fürchtet. Der Baumeister ist entschieden
populärer. Aber diese Popularität stammt aus Zeiten hoher
allgemeiner Kultur, kraft derselben der Baumeister, wenn
auch mehr oder weniger unbewußt, zugleich Baukünstler war.
Die bürgerlichen und bäuerlichen Hausbauten der Heimat
aus der älteren Periode sind sein Werk und es sind meistens
entzückende Lösungen. Was heute der sogenannte Baumeister
neben diese guten Gebilden der älteren Bauweise hinstellt,
kann sich mit diesen nicht messen.
Die eigentümliche Kulturentwicklung hat Kunst und Hand'
werk auch im Bauwesen getrennt; infolgedessen blieb das
Handwerk „ohne Hoffnung auf Erhebung zurück“ und die
Kunst blieb „ohne Hilfe verständnisvoller, sorgsamer Teil'
nähme“. Künstler und Handwerker, das heißt: Baukünstler
und Baumeister, müssen wieder Hand in Hand arbeiten, aber
in der Form, daß der Künstler aus der Abhängigkeit von
der Architektur' oder Fassadenzeichnung frei wird und die
Aufgabe als Ganzes vor sich sieht. Unter seiner Leitung
wird sich das Baugewerbe wieder zum Ansehen heben und
dieses wird weder unsolide Arbeit dulden, noch wird solide
Arbeit verpfuscht werden.
Wer also heute baut oder bauen läßt und erwartet, daß seine
Ansprüche auf Gediegenheit, Sachlichkeit und Schönheit er'
füllt werden, bedarf des Baukünstlers. Heute ist in allen
Teilen der gebildeten Welt eine starke Bewegung gegen die
schlechte Architektur und gegen die schablonenhafte, durch
Scheinfassaden maskierte Spekulationsbauerei im Zuge. Die
künstlerische Bildung breitet sich aus und wird die Aufgabe
des Baukünstlers erkennen, die heute nicht mehr zu ent'
b ehren ist.
Es gibt keinen anderen Weg als diesen, wenn wir hoffen
wollen, daß die Zweieinheit von Künstler und Nichtkünstler
einmal wirklich zur Einheit verschmilzt, wie es bei den Bau'
meistern des XVIII. Jahrhunderts der Fall war. Dieses Ziel
einer verallgemeinerten persönlichen Kultur, die jeden be'
fähigt, im Umkreis seines Alltags, seines Hausbaues, seiner
Wohnungseinrichtung kraft der allgemeinen künstlerischen
Bildung das Richtige allein zu treffen, ist noch so fern,
daß heute noch gar nicht daran zu denken ist. Der Künstler
und folglich auch der Baukünstler geht in der Entwicklung
voran und die Menschheit wird nachfolgen; dies wird aber
nur dann möglich sein, wenn die behördlichen und zünf -
tigen Einschränkungen fallen und jene Freiheit gesichert
wird, die alles auf die eigene Verantwortung stellt. Diese
Freiheit braucht der heutige Baukünstler ebenso wie er das
Verständnis und die Theilnahme des Volkes braucht, den
unzeitgemäßen Forderungen der Baumeister gegenüber wird
er sie zu wahren und zu verteidigen wissen, und die Be-
völkerung, die erkennt, daß ihre Interessen die seinigen
sind, wird ihm zur Seite stehen.
3o
Neues Bauernhaus für die
Pfaffenhofener Gegend.
VOLKSTÜMLICHE BAUKUNST.
II. HEIMISCHE BAUWEISE IN OBER-BAYERN.
n Bayern gehen Regierung, Gemeinden und die gesellschaftlichen
Faktoren mit den Künstlern Hand in Hand, im volkstümlichen
Bauwesen eine Besserung des Geschmackes durchzusetzen. Wer heute
in Bayern über Land fährt, findet Ortschaften, deren neuere Bauten
ihn ebenso sympathisch berühren wie die Beispiele der älteren Bau -
tradition. Abstoßende Beispiele aus neuerer Zeit, wie in unseren
Provinzen, kommen nun nicht so bald wieder vor.
Die Erziehung, namentlich in den Fachschulen, wirkt hier im günstigen
Sinne ein. Die üblichen Vorlagenwerke mit allen möglichen zusammen -
getragenen Motiven wurden abgeschafft; die lebendige Anschauung
wurde an Stelle der papierenen gesetzt. Architekt Franz Zell, der einen
Kurs in der königlichen Baugewerkschule in München zu leiten hat,
zeigt in einer kleinen Schrift, „Heimische Bauweise in Oberbayern“,
Beispiele einfacher Wohngebäude für die Kleinstadt und Land, von
seiner Schule entworfen, für eine bestimmte Gegend und einen
bestimmten Zweck als einen Versuch praktischer Baukunst. Die
Charakteristik der ortsüblichen Bauweise ist Ausgangspunkt; ein
Bauernhaus für die Pfaffenhofener Gegend zu errichten, hat zur
Voraussetzung, daß der Entwurfskünstler weiß, auf Grund welcher
lokalen und wirtschaftlichen Voraussetzung sich die sächliche Form
des dortigen alten Bauernhauses entwickelt hat. Unsere Illustrationen
zeigen das alte Bild und einen Entwurf für ein neues Bauernhaus, das
sich der dortigen Gegend und dem dortigen Leben organisch einfügt.
Es soll sich dabei um keine Stilkopie handeln, sondern um die
sachliche Erfüllung einer bestimmten Aufgabe. Sie ist überraschend
gut gelungen und beweist, daß der Vorgang Zells durchaus richtig
und erfolgreich ist.
Typus eines alten
Bauernhauses in
der Gegend von
Pfaffenhofen.
3i
KORRESPONDENZ.
ir erhalten folgende Zuschrift: „Möchten Sie nicht in Ihrer Zeit -
schrift, die — man muß schon sagen — segensreich wirkt, einige
Worte über das neue Lanner-Strauß-Denkmal und den jüngst ent'
hüllten Mozart-Brunnen sagen, die, so wie mich, gewiß auch manchen
anderen klären werden. Denn, kann ich die beiden Denkmäler — be -
sonders den Mozart-Brunnen — gewiß nicht zu den schlechtesten Werken
rechnen, so scheinen sie mir anderseits doch nicht allzu großen künst -
lerischen Wert zu haben. Besonders unklar bin ich mir über das
Denkmal im Rathauspark. Angesichts des Brunnens frage ich mich
auch: warum kein wirklicher Gebrauchsbrunnen? Aber wäre denn
dieser nicht auch fast nur der „Zierde“ wegen da? Denn in diesem
Stadtteil hat doch jede Wohnung die Wasserleitung im Hause. Dorf-
und Kleinstadtidyll sind eben in der Großstadt nur künstlich zu
züchten, also unmöglich.
Die beiden Hauptfiguren selbst haben aber doch etwas wunderbar
Emportragendes. Da die „HOHE WARTE“ der künstlerischen Er -
ziehung sich widmet, so wird sie sich ja am liebsten derer annehmen,
die bei dem ehrlichsten Wollen und der festesten Überzeugung von
der Bedeutung der Kunstbewegung doch durch den langjährigen Um -
gang mit der Unkultur, namentlich in den Jahren der Entwicklung,
um das unbefangene Verständnis betrogen sind, seien sie nun Schaffende
oder Genießende. Ganz besonders nützlich erscheinen mir helfende Worte
in einzelnen Fällen, die dem Leser selbst aufgestoßen sind, ohne daß
er von anderen, z. B. der „HOHEN WARTE“, aufmerksam gemacht
wurde.
Wollen Sie, geehrter Herr, meiner Bitte willfahren, so nehmen Sie
meinen aufrichtigen Dank entgegen.
Ein Suchender.“
Eine Darstellung dieser Werke wird eines unserer nächsten Hefte
bringen. Wir freuen uns, von unseren Lesern direkte Anfragen, die
einem Kunstinteresse entspringen, zu empfangen.
AUSSTELLUNG KÜNSTLERISCHER REKLAME IN
BRÜNN.
m Mährischen Gewerbe-Museum in BRÜNN wurde soeben eine un -
gewöhnlich stark beschickte „AUSSTELLUNG KÜNSTLERISCHER
REKLAME“ eröffnet, welche Originalentwürfe, Buch- und Notentitel -
umschläge, Geschäfts- und Einladungskarten und Briefköpfe, Theater-
und Festprogramme, kurz, alles was dem Wesen der Reklame in
durchaus künstlerischer Weise Rechnung trägt, vereinigt. Da findet
man Max Klinger und Liebermann, Stuck und Roller, Hoffmann und
Kolo Moser, Andri und Auchentaller, Leistikow und Melchior Lechter,
Orlik, Forstner, Lefler und Veith, Walter Crane, Steinlen und die
ganze erlesene Schar der Pariser Plakatkünstler, von den Holländern
den immer eigenartigen Toorop, von den Skandinaviern Larsson und
den vielseitigen Wennerberg und viele, viele andere, deren Namen
einen dicken Katalog mit über 800 Nummern füllen. Auch das Ergebnis
des vom Mährischen Gewerbe-Museum ausgeschriebenen WETTBE -
WERBES FÜR KÜNSTLERISCHE REKLAME sieht man hier. Preise
erhielten die Plakate mit dem Kennwort „Frühlingsfest“ (Fräulein
Ida LEHMANN, Wien); „Winterstürme wichen dem Wonnemond“
(Viktor SCHUFINSKY, Znaim); „Ver Sakrum i und Ver Sakrum 2“
(Fräulein Marianne FRIMBERGER, Wien); dann die Titelumschläge
mit dem Kennwort „Drei Dreiecke“ (Ferdinand STAEGER, Prag); „Ist
ein Titelblatt nicht auch Reklame“ (Ferdinand ST AEGER, Prag);
„Buchreklame Nr. 47“ für das Titelblatt „Gedanken und Denker“
(A. STEPANEK, Brünn); „Is’s g’falli“ und „Ver Sakrum 3“ (Fräulein
M. FRIMBERGER, Wien). Lobende Erwähnung fanden die Arbeiten mit
dem Kennwort „Plakatsäulchen auf Tramwaymasten“ (G. CZERMAK,
Brünn); „Elefant“ (Max BENIRSCHKE, Düsseldorf) und „Hohe Warte“
(Emil PIRCHAN, Wien). Die von mehr als siebzig Künstlern und
Sammlern, Museen und Kunstdruckereien beschickte Ausstellung bleibt
BIS ZUM 26. NOVEMBER geöffnet.
Jahrgang I der „HOHEN WARTE“, I. und II. Halbjahr, ist in
einigen gebundenen Exemplaren noch zum alten Preis zu haben.
Später Preiserhöhung!
Einbanddecken für den I. Jahrgang werden auf Bestellung
nachgeliefert.
BÜCHEREINLAUF.
ALFRED LICHTWARK. „Eine Sommerfahrt auf der Yacht Hamburg.“
Preis M. 3-—. VERLAG BRUNO CASSIRER, Berlin, 1905.
ALFRED LICHTWARK. „Der Deutsche der Zukunft.“ Preis M, 3-—.
VERLAG BRUNO CASSIRER, Berlin, 1905.
H. IRVING HANCOCK. „Dschiu-Dschitsu, die Quelle japanischer Kraft.“
Autorisierte Übersetzung von Max Pannwitz. Mit 51 Tafeln. Brosch.
M. 5-—, gebd. M. 6.—. VERLAG JULIUS HOFFMANN, Stuttgart.
VERNON LEE. „Genius Loci.“ Ins Deutsche übertragen von Irene
Forbes-Mosse. Brosch. M. 3'—, gebd. M. 4*—. VERLEGT BEI
EUGEN DIEDERICHS, Jena, 1905.
ANNA MEEDER. „Märchen.“ Preis M. 3^5. VERLAGSANSTALT
FRAUENERWERB, Dresden.
ANTON MENGER. „Neue Sittenlehre.“ Brosch. M. i'—, gebd. M. i'so.
VERLAG GUSTAV FISCHER, Jena, 1905.
„MÜNCHEN UND DIE MÜNCHENER LEUTE.“ Leute, Dinge, Sitten,
Winke. Preis M. 4-—. J. BIELEFELDS VERLAG, Karlsruhe.
HEINRICH LILIENFEIN. „Heinrich Vierordt. Das Profil eines deutschen
Dichters.“ Kart. M. r—. KARL WINTERS UNIVERSITÄTSBUCH -
HANDLUNG, HEIDELBERG.
„KRITIK DER KRITIK“. Monatsschrift für Künstler und Kunst -
freunde. HERAUSGEBER A. HALBERT & LEO HORWITZ. Heft 1.
Preis pro Heft 30 Pf. = 40 h. Pro Jahr (12 Hefte) M. 3-— = K 4-—.
SCHLESISCHE VERLAGSANSTALT, Breslau.
„KIND UND KUNST.“ Monatsschrift für die Pflege der Kunst im
Leben des Kindes. Jährl. 12 Hefte, M. 16.—, Einzelpreis M. 1-25.
II. Jahrgang. Heft i und 2. VERLAG ALEX. KOCH, Darmstadt.
□ INHALT □
DES VORLIEGENDEN 2. HEFTES
DER „HOHEN WARTE“, JAHRG. II:
An unsere Freunde und Leser! — Die Volkswirt -
schaft des Talentes. (Fortsetzung.) — Wien und
die künstlerischen Gemeindeaufgaben. II. Plätze.
(Fortsetzung.) (Mit Abbildungen.) — Hausgarten,
angelegt vom Architekten Robert örley. (Mit Ab -
bildungen.) — Cottage. (Mit Abbildungen.) — Erste
Kunstausstellung. Arch.: Hans Ofner, St. Pölten.
(Mit Abbildungen.) — Ist die Verwendung von
Vorlagewerken nicht ein pädagogischer Unfug?
Möbelvorlagen. (Mit Abbildungen.) — „Der Fall
Böcklin“. (Mit Abbildung.) — Die Baumeister gegen
die Baukunst. — Volkstümliche Baukunst. II. Hei -
mische Bauweise in Oberbayern. (Fortsetzung.)
(Mit Abbildungen.) — Korrespondenz. — Bücher -
einlauf. — Ausstellung künstlerischer Reklame in
Brünn. — Zitat von William Morris.
ANMERKUNG: Wegen Raummangel mußte die Fortsetzung „Gold -
schmiedekunst“ für das nächste Heft zurückgestellt werden.
NACHDRUCKVERBOT für sämtliche in den Heften der „Hohen Warte“
erscheinenden Artikel und Illustrationen.
Alle Zuschriften und Sendungen Wien I. Wallfischgasse No. 4. Telephon 5461.
Verlag „Hohe Warte“ (Lux & Lässig). Für die Redaktion Joseph Aug. Lux.
Druck von Christoph Reisser’s Söhne, Wien V.
Papier von der Neusiedler Aktiengesellschaft für Papierfabrikation, Wien.
32
An unsere Freunde
und Leser!
Fördern Sie die Interessen der künst^
lerischen Bildung!
Empfehlen Sie die „Hohe Warte“ in
Ihren Kreisen, in den Lokalen, die Sie
besuchen, in den Vereinen, denen Sie
angehören.
Senden Sie Adressen Ihrer Bekannten
zur Beschickung mit Probenummern.
Werben Sie Anhänger für die „Hohe
Warte“, die für alle Interessen der
künstlerischen Kultur arbeitet.
Arbeiten Sie in diesem Sinne mit uns,
senden Sie Photographien, Berichte etc.
zur Förderung der heimatlichen Kultur/-
Interessen.
Fühlen Sie sich als Mitglied der freien
Kulturgesellschaft, zu der alle Am
hänger der „Hohen Warte“ gehören.
Bilden Sie im Anschluß an die „Hohe
Warte“ Ortsverbände zur Förderung
heimatlicher Kulturinteressen, im Sinne
unseres Aufrufes in Heft 14, Jahr/
gang I, Seite 241.
DIE VOLKSWIRTSCHAFT DES
TALENTES.
(Fortsetzung aus den Heften 21 und 22, 23 und 24, 25 und 26,
Seite 353, bezw. 377, bezw. 401, Jahrg. I. und Heft i und 2,
Seite 2, bezw. 17, Jahrg. II.)
Aber von einem solchen Vorhaben war auch in dem amtlichen
Bericht nichts zu finden, so wenig wie etwas davon in der
Praxis zu finden ist. Im Gegenteil. Der amtliche Bericht gibt
die traurige Weisheit zum besten, daß das bisherige schlechte
System das empfehlenswerteste sei, und daß das Wohlbefinden
von Industrie und Handel nur in dem bekannten Grundsatz
von „Billig und Schlecht“ begründet liege, mit anderen Worten,
daß die Entwicklung der Volkswirtschaft nicht durch die
gute und schöne Arbeit gefördert werde, sondern durch die
schlechte und betrügerische, nicht durch die Anerkennung
und angemessene Vergütung der Leistung nach Maßgabe der
Bedürfnisse, sondern durch Ausschindung und Lohnbe'
drückung, nicht durch Menschlichkeit und Gerechtigkeit,
sondern durch Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit, nicht
durch Förderung der Kraft und Entwicklung des Talentes,
sondern durch Mißbrauch des Talentes, durch Hemmung
und Unterdrückung der entwicklungsbedürftigen Kräfte und
Erziehung zur Schwäche und Hilflosigkeit. Freilich ist die
Schwäche nicht mehr ganz hilflos, wofern sie sich zur Masse
organisiert hat und den Kampf gegen die Unterdrückung
führt; aber, wie ein Künstler vortrefflich sagte: „Masse ist
noch nicht Kraft“.
Was also ist in Wahrheit erwiesen? Man muß sich die
Frage sehr eindringlich vor Augen halten, weil sie von nicht
geringer Tragweite ist. Industrie und Handel sind unleugbar
die stärksten motorischen Kräfte der Volkswirtschaft, die je
nach ihrer Anwendung ebenso fördernd als hemmend wirken
können. Wie kommt es also, daß in einer Zeit, da alle
Kräfte der Industrie und dem Handel dienen, die Kultur
immer tiefer in den Zustand der Barbarei und der Trost'
losigkeit versinkt, wie kommt es, daß die hauptsächlichsten
Stätten der heutigen Gütererzeugung, die Fabriksstädte und
Fabriksdörfer, die verhältnismäßig die reichsten Vermögens'
stände aufweisen, zugleich die häßlichsten, traurigen und
unfruchtbarsten Aufenthaltsorte sind, die von der Menschheit
am liebsten gemieden und nur von einer widerwillig aus'
harrenden Einwohnerschaft bevölkert werden. Wie kommt
es, daß der Handel, seit alters ein wichtiger Kultur' und
Zivilisationsfaktor, heutzutage die glänzenden Kaufläden der
Großstädte und die oftmals kostspieligen Wohnungen des
Bürgertums mit einem ganz nichtswürdigen Plunder von
Gegenständen, kunstgewerblichen und künstlerischen Dingen,
die sich bei näherem Betracht fast ausschließlich als elende
Surrogatware entpuppt, angefüllt sind, eitle und lächerliche
Rübezahlgeschenke, die, wenn die Menschheit plötzlich die
Sehkraft bekäme, den Wert vom Unwert zu unterscheiden
(und sie wird diese Sehkraft bekommen, oh, was das betrifft!),
einmal als nichtiges Katzengold erkannt werden, an dem
allerdings das Vermögen der Nation, nicht ihr Geld allein,
sondern ihr Schweiß und Blut, ihre Gesundheit und Kraft
verschwendet wurde, es wird ein schreckliches Erkennen
sein, ein Bewußtwerden der drückenden Armut und Leere,
die im Hintergründe dieser gleißenden Kultur lauert. Wenn
in einem Augenblicke die Schuppen von allen Augen fallen
würden, wäre der Sturz aller Werte, die Scheinwerte sind,
unvermeidlich und gut neun Zehntel von allem, um dessen«-
willen heute gefeilscht, betrogen, geknechtet und geschuftet
wird, müßte alsdann auf einen riesigen Schutthaufen zu^
sammengeworfen werden. Aller Reichtum dieser Art wäre
im Handumdrehen zur Bettelarmut, die mit hinderlichem
Ballast beschwert ist, und das Unvermögen, die im langen
Mißbrauch erzogene Untüchtigkeit der eingerosteten Fähige
keiten müßte als furchtbarstes Verhängnis empfunden werden.
Es wäre wie das Erwachen eines Nachtwandlers, der unfehh
bar in die Tiefe stürzt. Und doch ist der Sturz unvermeidlich
und heilsam, wenn er sich auch nicht plötzlich vollzieht,
sondern im Wege organischer Umwandlung. Ein Erwachen
ist es immerhin. Unsere ganze Zukunft ist auf unser Auge
gestellt. Die Entwicklung unserer Kultur und unserer Volks^
Wirtschaft hängt von der Bildung unseres Auges ab. Das
Auge ist der Wächter und Hüter des Paradieses, das sich
in eine Wüste umverwandelt, wenn das Auge schläft. Sobald
das Auge wieder befähigt ist, das Gute vom Schlechten zu
unterscheiden, die Häßlichkeit des Schmutzes, der Armut
und Verwahrlosung wahrzunehmen, den Unwert, sobald es
nicht mehr die falschen, geschmacklosen und ungehörigen
Erzeugnisse ertragen wird, sobald ihm der Schmutz und die
Verwahrlosung des äußeren Lebens ein beleidigender Anblick
wird, dann wird es auch das Elend und die Armut vieler
Menschen in den Orten dieser ungehörigen Erzeugung nicht
mehr ansehen können und die wahre Volkswirtschaft wird
dann im Aufblühen und in der Entwicklung begriffen sein.
Nicht die heutige Form von Industrie und Handel fördert
die Entwicklung der wahren Volkswirtschaft, die immer nur
als eine Entwicklung der schöpferischen und edelsten Kräfte
des Volkes zur wahren Nützlichkeit, zur Freude und Schöne
heit und zur Gesittung verstanden sein soll; Industrie und
Handel in der heutigen Form haben gar kein Interesse an
einer solchen Volkswirtschaft. Zwar könnte einzig und allein
das Wohlbefinden von Industrie und Handel, wie später zu
zeigen sein wird, nur von einer solchen Volkswirtschaft
abhängen; in der heutigen Form aber wird das Wohlbefinden
von Industrie und Handel lediglich als eine Sache der Plus-
macherei, der Erzeugung des an sich unfruchtbaren Geldes,
auf Kosten der einzig fruchtbaren menschlichen Arbeitskraft
und auf Kosten des unerfahrenen und getäuschten Käufers
betrachtet.
Es ist, als ob ein schwerer Traum die Menschheit ängstigen
würde. Alle kennen die schrecklichen Gesichte, die ich in
diesem Buche beschworen habe, und alle verhüllen ihr
Haupt, um sie nicht zu sehen, und obgleich sie deren
Wahrheit nicht leugnen können, schreien sie entsetzt, es ist
nicht wahr, es kann nicht sein!
Dieselben Menschen, die mit ihrer Industrie und ihrem
Handel die Welt erlösen und beglücken möchten, frohlocken,
einen Beweis zu erbringen und der Beweis schlägt ins
Gegenteil um. Der Segen verwandelt sich in einen Fluch,
und obschon die dreifach geschlungene Kette von Armut,
Verkommenheit und Roheit tief ins Fleisch drückt, sind
Industrie und Handel bemüht, die Kette immer fester am
zuziehen, angeblich um die Volkswirtschaft zu entwickeln.
Noch vermag man es nicht einzusehen, daß diese Art von
Volkswirtschaft auf Trug und Bedrückung hinausläuft.
Damit es aber nicht scheinen möge, als wäre ich ein bos^
hafter Lügner, der die Sache des Handels und der Industrie
grundlos verdächtigen möchte (obschon die Schäden vor
aller Augen liegen), so will ich ein paar praktische Beispiele
anführen, die beweisen, daß Industrie und Handel, so wie sie
heute beschaffen sind, sich nicht auf ein gutes Wollen be -
rufen können, sondern mit vollem Bewußtsein korrumpierende
Mächte sind. In der „Deutschen Volkswirtschaft im XIX.
Jahrhundert“ von Werner Sombart, die ich schon an früherer
Stelle erwähnt habe, wird die „Anpassungsfähigkeit“ des
deutschen Volkes als Ursache des wirtschaftlichen Auf -
schwunges gerühmt und folgendermaßen illustriert: „In
Brasilien kauft man nicht gerne Waren, an denen etwas
Schwarzes ist. Die Engländer exportieren in dieses Land
vorzügliche Nähnadeln, aber sie waren verpackt in schwarzes
Papier. Sächsische Fabrikanten erhalten von der Marotte
der Brasilianer Kunde, schicken viel schlechtere Nähnadeln
hinüber, aber verpacken sie in rosa Papier und erobern auf
diese Weise den Markt.“ Dem Professor Werner Sombart
erscheint dieser und viele ähnliche Fälle lehrreich durch
ihre symptomatische Bedeutung. Auch mir erscheinen sie
so, allerdings in einem ganz anderen Sinne. Jene sklavische
Anpassungsfähigkeit, die betrügerische Unterwürfigkeit er -
scheint mir nur als eine sehr traurige Rühmlichkeit, die der
deutschen Natur wenig gut ansteht und das Zeichen eines
moralischen Verfalls ist, der durch das heutige Wirtschafts -
prinzip verursacht worden. Ich habe es schon an anderer
Stelle ausgeführt, daß dieses Prinzip auf einem doppelten
Betrug beruht, der einerseits an dem bedrückten Verfertiger
und Hand- oder Maschinenarbeiter und anderseits an dem
unwissenden und ob seiner Unkenntnis getäuschten Abnehmer
ausgeübt wird.
Ich frage nun, was geschehen wird, wenn der brasilianische
Käufer aus seiner Unkenntnis erwacht und zur intensiveren
Bildung vorschreitet? Wenn er inne wird, daß die schwarze
Papierpackung für feine Stahlware der Konservierung wegen
unerläßlich ist, und daß obendrein die rosa Papierpackung
ein viel schlechteres Fabrikat enthält?
Er wird für diese entgegenkommende Anpassungsfähigkeit,
die nur schwer vom unlauteren Wettbewerb zu unterscheiden
ist, wenig Dank wissen und das deutsche Fabrikat wird
auch auf dem brasilianischen Markt mit dem im Ausland
für alle Schundware gebrauchten verächtlichen Ausdruck
„Made in Germany“ abgetan sein. Durch unzählige andere
Beispiele läßt sich dartun, daß ein wirklicher und dauernder
Erfolg niemals durch den Grundsatz von Billig und Schlecht,
niemals durch Unlauterkeit und Verschlechterung, sondern
immer nur errungen werden kann durch eine Steigerung
der Qualität, durch den Einsatz der höchsten und besten
Eigenschaften, die aber nur möglich sind durch eine Steigerung
aller menschlichen Werte.
Ich lasse es an diesen Beispielen genügen, denn alle anderen
Fälle, die wir aus den amtlichen Berichten und aus den
praktischen Erfahrungen anführen können, enthalten die
Nutzanwendung derselben Wahrheit, die in den Berichten
und in der Praxis triumphiert, nämlich daß das unschätzbare
volkswirtschaftliche Elememt, DAS TALENT, aus Handel
und Industrie ausgeschaltet ist, und daß William Morris’
Worte recht behalten. „Es wird viel auf den Schein berechnete
Arbeit in der Welt hervorgebracht, die dem Käufer Schaden
bringt, noch mehr dem Verkäufer, und wenn er es nur
wüßte, am meisten dem Hersteller: ein wie guter Grund zur
Erlangung einer guten dekorativen Kunst, das heißt orna -
mentalen Arbeit, würde gelegt werden, wenn die Hand -
werker sich entschlössen, nur ausgezeichnete Arbeit zu liefern,
statt, wie jetzt nur zu oft geschieht, die Mittelmäßigkeit zur
34
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ten
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ris’
ete
len
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tia'
id'
rn,
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Norm zu machen, die wir oft nicht einmal erreichen. Von
den Handwerkern weiß ich, daß das Publikum im allgemeinen
darauf erpicht ist, billig zu kaufen und in seiner Unwissem
heit gar nicht danach fragt, ob die Dinge, die es kauft, häßlich
sind, ob der Mann erhält, was ihm gebührt; auch weiß ich,
daß die (sogenannten) Fabrikanten darauf erpicht sind, eim
ander in bezug auf Billigkeit, nicht aber in Vortrefflichkeit
den Rang abzulaufen, daß sie dem Verkäufer, der einen
vorteilhaften Handel abschließen möchte, auf halbem Wege
begegnen und ihn mit Freuden mit häßlichen Waren zu
dem billigen Preis versehen, was mit keinem schöneren Worte
als BETRUG bezeichnet werden kann.“
Der wirtschaftliche Mißerfolg ist die unvermeidliche Folge
dieser auf Billigkeit und Häßlichkeit gerichteten Politik. Das
Talent ist unentbehrlich, wenn die Leistung ihren Rang
behaupten soll; wenn das Talent als die Grundlage der
Volkswirtschaft erkannt ist, dann muß auch die [Industrie
und der Handel zu dieser Grundlage zurückkehren, um den
drohenden Krisen zu entgehen, die der bisherigen Wirtschafts'
Verfassung unzweifelhaft bevorstehen. Der Umschwung hat
sich in manchen Gebieten bereits vollzogen und er wird sich
alle Gebiete erobern, um der Volkswirtschaft ihr wahres
Gesicht wieder zu geben. Der größte Teil hat allerdings noch
nichts von dem Hauch des neuen Geistes verspürt, es sei
denn, daß er in seinen ungünstigen Bilanzen den Wandel
der Kultur bemerkt, dessen unaufhaltsamen Schritt er ver -
gebens zu hindern sucht. Dann heißt es, die neue Richtung
sei an allem schuld und man ruft nach der Polizei; Industrie
und Handel, die sich bisher als Träger des Fortschrittes auf-
gespielt haben, werden in diesem Augenblick konservativ;
im Namen der Freiheit und des Fortschrittes rufen sie nach
der Zensur. Andere vermeinen sehr modern zu sein, indem
sie das Neueste und Modernste zu ihrer Sache machen, ohne
zugleich die Vortrefflichkeit zu ihrer Aufgabe zu machen,
die in allen Einrichtungen des Lebens gleichmäßig zu veiv
spüren sein müßte und die allgemein sein wird, wenn die
Volkswirtschaft und folglich auch Industrie und Handel zu
den wahren Grundlagen zurückgekehrt sein wird. Dann wird
das Vorurteil, das die Gesellschaft von den Geschäften des
Kaufmannes hat, zu den Requisiten einer überwundenen
Barbarei gehören. Die Geschäfte des Kaufmannes werden
ebenso ruhmvoll sein wie alle Arbeit, die um sehr edle
Dinge geschieht, und ich glaube, es ist im Grunde ein sehr
ehrenvolles Geschäft, die Welt mit sehr guten und nützlichen
Gegenständen bekanntzumachen. Die Achtung und Wert'
Schätzung für solche Gegenstände zu verallgemeinern und
an der Erziehung zur Kultur mitzuarbeiten. Daß Merkur
der Gott der Kaufleute und der Diebe war, würde aufhören,
mehr als eine bloß mythologische Beziehung zu bedeuten.
Aber auch das Bild, das die Industrie in jener glücklicheren
Verfassung bietet, würde von dem heutigen ein völlig ver'
schiedenes sein. Die Fabriksorte würden aufgehört haben,
Stätten des Elends, des Schmutzes und der Roheit zu sein,
wie es heute fast allgemein der Fall ist, sondern sie würden
im Gegenteil die gern aufgesuchten und gepriesenen Orte
der Schönheit und Fruchtbarkeit sein, bewohnt von glück'
liehen und schaffensfreudigen Menschen, deren Glück und
Freude in allen Häusern, Wohnungen, Gärten, Werk'
Stätten etc. sichtbar wird als Sauberkeit, Vortrefflichkeit aller
Einrichtungen und unablässiges Walten eines hochentwickelten
Schönheitssinnes, der nichts Unzweckmäßiges, nichts Haß'
liches, nichts Geschmackwidriges oder Gesundheitschädhches
duldet. Die englischen Gartenstädte industrieller Herkunft
bilden den Anfang einer solchen Zukunft, die kommen wird,
wie fern und utopisch solche Pläne auch heute noch scheinen
mögen, da zum Schaden unserer ganzen Kultur die echte
Menschlichkeit vom Throne gestoßen und mit der verbannten
Göttin die sonnengleiche und belebende Aureole einer schöpfe'
rischen Kräfte' und Talententfaltung entschwunden ist.
IV. ARBEIT UND KUNST.
Von dem Mißbrauch der menschlichen Arbeitskraft, von der
Vernachlässigung des Talentes als Wertquelle und von dem
Mangel künstlerischer Kultur im gegenwärtigen Leben war
die Rede. Arbeit, Talent und Kunst waren so behandelt, als
ob sie verwandte Begriffe wären, als ob diese drei Worte
eine und dieselbe Sache ausdrückten, nur jedesmal von einer
anderen Seite gesehen. Und schließlich wurden die drei Be -
griffe als organische Einheit der Volkswirtschaft zu gründe
gelegt, als ihr eigentlicher Inhalt, und es wurde auf dieser
Grundlage ersichtlich gemacht, daß Volkswirtschaft Kultur
erzeugen und die Fähigkeit jedes einzelnen, Kultur zu mehren
und zu genießen, entwickeln müsse. Volkswirtschaft, die einen
anderen Reichtum als diesen anstrebt, ist alles andere, nur
keine Volkswirtschaft. Was man heute im allgemeinen
darunter versteht, müßte einen ganz anderen Titel führen.
Ich habe das Kopfschütteln vieler meiner Leser vor Augen,
das Kopfschütteln während der drei vorangehenden Kapitel.
Ich höre ihre Bedenken: wie kann man drei so grund'
verschiedene Dinge, wie Arbeit, Talent, Kunst, in einen
Topf werfen, drei Dinge, die gar nichts miteinander zu tun
haben, und die im heutigen Leben durch chinesische Mauern
voneinander geschieden sind? Was hat der Arbeiter von
der Kunst, was die Kunst von ihm? Kunst ist für reiche
Leute, die sie bezahlen können, eine schöne Sache, aber
ziemlich unnütz, ein Luxus bestenfalls, edler Zeitvertreib.
Was hat das Talent dabei zu tun? Wenn es bei der Kunst
ist, dann mag’s am Ende nicht schaden; aber der Arbeiter
kann’s selten brauchen, es macht ihn nur unzufrieden und
dem Staat erscheint’s direkt gefährlich. Also: Talent ist
eine Sache für sich, man hat es eben, oder man hat es
nicht; Arbeit ist für die Armen und Kunst für die Reichen.
Basta!
Gerade diese fast feindselige Trennung der ursprünglichen
und organischen Dreifaltigkeit von Arbeit, Talent und Kunst
hat die zahlreichen schweren Krankheitserscheinungen an
dem Wirtschaftskörper hervorgebracht, von denen die Rede
war, und das Zerrbild einer Kultur geliefert, die auf der
einen Seite den Zustand der Barbarei und Verwahrlosung
oder zumindest der Verödung, und auf der anderen Seite,
nur einem kleinen Bruchteil der Menschheit erreichbar, die
welke Blüte einer Uberkultur hervorgebracht hat. Der Zustand
gleicht einer Störung der Kräftezirkulation, bei der notwendig
der ganze Körper siecht, und die hervor gerufen wurde einer'
seits dadurch, daß allzuviel Arbeit ohne innere Notwendig'
keit und daher ohne künstlerische Regung geschieht und
anderseits die Kunst ohne die Zucht einer notwendigen und
verlangten Arbeit sich überlassen und für die Kultur un -
fruchtbar bleibt. „Der Künstler ging aus dem Handwerker
heraus und ließ ihn ohne Hoffnung auf Erhebung zurück,
während er ohne die Hilfe verständnisvoller, sorgsamer Teil'
nähme blieb. Und der Handwerker, den der Künstler hinter
sich zurückgelassen hat, als die Scheidung der Künste eintrat,
muß ihn einholen, muß wieder Seite an Seite mit ihm ar'
beiten. Ich weiß nicht, welche ungeheuren Hindernisse, soziale
und wirtschaftliche, sich dem in den Weg stellen; doch ich
glaube, daß sie größer zu sein scheinen, als sie sind“.
(William Morris). (Fortsetzung folgt.)
35
WIEN UND DIE KÜNSTLERISCHEN
GEMEINDEAUFGABEN.
IV.
PLAN EINES ALLGEMEINEN
AUSSTELLUNGSBAUES FÜR
WIEN.
as Ausstellungswesen als eine Funktion des öffent^
liehen Lebens der Neuzeit verlangt einen Bau^
Organismus, der nicht aus der Vergangenheit ge^
schöpft werden kann. Die Vergangenheit kannte
keine Ausstellungen im heutigen Sinne. Für ein modernes
Bedürfnis soll die moderne Form gefunden werden. Wir
haben in Wien heute noch kein zweckmäßiges allgemeines
Ausstellungsgebäude, ein Mangel, der täglich empfindlicher
wird. Die Intensität der Produktion, der Wettbewerb der
Kräfte auf allen Gebieten macht häufige kleine Ausstellungen
notwendig. Man will nicht immer auf die kostspieligen
großen Weltausstellungen warten, die vielleicht ihre Rolle
ausgespielt haben, und es gilt vieles zu zeigen, das in dem
großen Rahmen verloren ginge und dennoch bedeutsam ist.
Die ringenden Kräfte, die Ansätze neuer Bildungen wollen
sich zeigen und ihr Publikum finden. Die Kulturarbeit für
die eigene Stadt, die nächste Umgebung soll geschehen, an der
ja alle mittun, und sie kann nur wirken, wenn sie sich zeigen
kann in rascher, häufiger Wiederkehr, Anregung gebend und
aus der Berührung mit der Welt Anregung nehmend.
Die große Menge fruchtbarer Kräfte und werdender Bildungen
hat in Wien keine Gelegenheit sich zu zeigen und zu ent^
falten, weil es an guter, einfacher und billiger Ausstellungs^
möglichkeit mangelt.
Allerdings gibt es eine Reihe von Ausstellungsgebäuden,
aber sie reichen nicht aus. Die Rotunde, eine sehr bedeutende
bauliche Leistung von der ersten Weltausstellung her, ist
wegen ihrer Größe für intimere Ausstellungen gar nicht ge^
eignet. Die Ausstellungsgebäude, die sich die Künstler--
Vereinigungen errichtet haben, erfüllen nur den Vereinszweck
und bilden nicht den neutralen Boden, den ein allgemeines
Ausstellungshaus abgeben müßte. Selbst wenn sie gegen
Miete zeitweilig zu haben sind, wie der Bau der Gartenbau^
gesellschaft, so stellt sich heraus, daß der Bauorganismus,
dem Palazzostil entlehnt, das Unzweckmäßigste ist, was für
ein Ausstellungsbedürfnis nur erdacht werden kann. Das
österreichische Museum für Kunst und Industrie hat zwar
jahrelang kunstgewerbliche Ausstellungen im Museums--
gebäude veranstaltet, leidet aber für die eigenen Sammlungen
an Raummangel und an dem erwähnten Fehler einer um
geeigneten Bauform, so daß es für ein modernes Ausstellungs^
wesen ungeeignet erscheint. Es war also nur Notbehelf. Ein
projektierter Zubau für Ausstellungswesen ist an dem Wider -
stand der maßgebenden Faktoren gescheitert, die sich über
die künstlerischen, beziehungsweise sachlichen Forderungen
nicht einigen konnten. Ein Entwurf des Oberbaurates Otto
Wagner ist in dem Massengrab ministerieller Eingaben ver -
schwunden und wird kaum wieder auferstehen können, weil
lokale Umgestaltungen die Baustelle hinter dem Museum
zur Ausführung des Planes inzwischen unmöglich gemacht
haben. Dort würde jetzt nur mehr Pfuschwerk entstehen
können. Darum muß man beizeiten darauf bedacht sein,
eine andere Lösung zu finden. Das Museum hat seit zwei
Jahren aufgehört, industrielle Ausstellungen zu veranstalten
und hat darin gut getan; den Möbelindustriellen und vielen
anderen Faktoren, denen sich naturgemäß ein Museum nicht
erschließen konnte, ist heute dadurch so gut wie jede Aus -
stellungsmöglichkeit entzogen, zum Schaden für die Produktion
und zum Schaden für die Kultur, die im Ausstellungswesen ein
unentbehrlich gewordenes Erziehungsmittel, eine Art freier
Akademie, darin sich die Kräfte messen und steigern, erblickt.
Die Salons der Kunsthändler, ebenfalls nur einem Bruch -
teil des Schaffens zugänglich, sind ungeachtet verdienstlichen
Wirkens, nicht hinreichend, eine erschöpfende Übersicht
auch nur der Kunsttätigkeit, die immerhin nur eine Provinz
im Reiche der menschlichen Kulturarbeit ist, zu bieten. Zwar
ist die moderne Geschäftsstraße, das Schaufenster auch eine
Ausstellung. Aber es bedarf keines Beweises dafür, wie be -
schränkt und einseitig diese primitivste Ausstellungsart ist,
die zwar über den Inhalt eines Ladens und den Zeitgeschmack
des Publikums belehrt, keinesfalls aber über alle triebsamen
Kräfte, die der öffentlichen Teilnahme und der Förderung
seitens des Publikums bedürfen oder, was vielleicht das
Wichtigere ist, das Publikum belehren und gewissermaßen
zur fördernden Mitarbeit erziehen wollen.
Was weiß die Öffentlichkeit von dem Wirken dieser
schöpferischen Kräfte? Was weiß sie von der künstlerischen
Leistungsfähigkeit auf dem Gebiet der Wohnungsein -
richtungen, die in den gelegentlichen Gewerbeausstellungen
nie klar zum Ausdruck gekommen ist? Was weiß sie von
der Kunst des Gartenbaues, von dem neuen Gedanken einer
Gartenarchitektur, die in den üblichen Pflanzenausstellungen
nie zu sehen war; was von den künstlerischen, hygienischen,
verkehrstechnischen Grundsätzen im Städtebau, was von
den modernen Baustoffen, was von den organischen Ideen
im Hausbau, von der Reform einer Kunst im Hause und
der weiblichen Handarbeiten, von den Techniken und der
Ästhetik gewerblicher und industrieller Erzeugnisse, von der
modernen Buchpflege, vom Stand des Illustrationswesens,
vom modernen Holzschnitt, von den zahllosen Fragen,
Problemen und Lösungen moderner Kulturarbeit, die im
Verborgenen fort und fort geschieht? Was weiß sie davon,
daß sich bei uns eine Edelmetallkunst, eine Goldschmiede -
kunst entwickelt hat, die hoch über dem Niveau der Durch -
schnittsware im Schauladen steht, daß im Textilwesen, soweit
es moderne Stoffmusterungen angeht, Wien künstlerisch
den Vorrang einnimmt und Paris überflügelt hat? Was
weiß sie überhaupt von den Kräften, die diesen Fortschritt
herbeigeführt haben?
Im Interesse der Kultur ist es notwendig, daß das Leben einer
Stadt fortwährend sich selbst beobachtet und jeden bildsamen
Trieb für die eigene Entwicklung fruchtbar macht.
Was zu diesem Zwecke not tut, ist DIE ZENTRALISATION
DES AUSSTELLUNGSWESENS innerhalb der Stadt.
Ein großes, allgemeines Ausstellungshaus, darin jede Aus -
stellungsabsicht verwirklicht werden kann und gegen eine
gewisse Miete beliebige große oder kleine Ausstellungen ver -
anstaltet werden können, ist ein unentbehrlicher Organismus
des modernen städtischen Lebens geworden, der geschaffen
werden muß. Ein solcher Bau, der aus einem Bedürfnisse
des modernen Lebens abgeleitet ist, muß daher einen modernen
Baugedanken verkörpern. Es handelt sich also nicht mehr
um ein Gebilde im italienischen Palazzostil mit Freitreppe,
Arkadenhof, einem Wald von Säulen, korkstöpselartigen
Karyatiden und der sonstigen üblichen Raumverschwendung
für eine inhaltslose Feierlichkeit, sondern um Räume ohne
falsches Pathos, die zu uns modernen, eleganten Menschen
passen, also um ein GEBÄUDE, DAS SEINE BESTIMMUNG
AUSDRUCKT. Helligkeit und Geräumigkeit, viel Licht und
viel Wand ist das Wesentliche, nicht das Bauwerk ist die
Hauptsache, sondern das Auszustellende; dieses hervorzu-
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heben und zur vollen Wirkung zu bringen, die im Ausstellungs -
gegenstand liegt, die Wiß- und Schaubegierde des Besuchers
auf dieses zu konzentrieren, darin liegt die Bestimmung des
Bauwerkes. Es soll große und kleine Ausstellungen beher -
bergen, alles vorteilhaft veranschaulichen können, was Kunst,
Wissenschaft und Industrie im Dienste der Kultur hervor -
bringt und es soll ein unparteiischer Boden sein für alles,
was immerhin gut und fördernswert ist. Darum wird die
Leitung eines solchen Zentralinstitutes für Ausstellungs -
wesen Männern anvertraut sein müssen, die nicht merkantile
oder parteiliche Interessen pflegen, sondern die Kultur heben
und von denen die Fähigkeit dazu vorausgesetzt werden kann.
Die Wertigkeit in den Erstrebungen sowie in den Erreichungen
ist das einzige, worauf es bei der Kultur ankommt.
Es gilt nicht nur Bedürfnisse zu erfüllen, sondern auch voraus -
zusehen. Da es sich zunächst um ein Bauwerk handelt, müssen
von vornherein die Künstler zu Rate gezogen werden. Die
Pflicht der maßgebenden Faktoren ist es nur, den Berufensten
zu kennen. Er wird gefunden werden, wenn man will.
Uber das Ausstellungswesen liegen bestimmte Erfahrungen
vor, die zu benützen sind; an den bestehenden Werken
kann man zumindest lernen, Fehler zu vermeiden. Als
direktes Vorbild ist keines der vorhandenen Bauwerke dieser
Art zu betrachten. Der Kristallpalast in London, der Glas -
palast sind zwar Produkte der Neuzeit und sind für ähnliche
Notwendigkeiten, wie die oben geschilderten, vorgesehen;
sie sind überaus praktisch, aber auch ziemlich häßlich. Maß -
gebend wird die Besonderheit des gegebenen Falles und
ein genaues Studium der Bedürfnisse, der vorhandenen und
der vorauszusehenden, sein.
Die Lösung ist natürlich an die Platzfrage gebunden. Für
diesen Fall handelt es sich glücklicherweise um kein un -
lösbares Problem. Der einzig mögliche und zu erlangende Platz
für ein solches Bauwerk ist der Grund, auf dem die heutige
„Gartenbaugesellschaft“ steht. Das dortige Gebäude, das seinen
Zweck in keiner Weise erfüllt, wäre nach der Grunderwerbung
zu schleifen, um Besseres an dessen Stelle zu setzen.
Die maßgebenden Faktoren, vor allem die REGIERUNG,
können, wenn sie wollen, diesen Gedanken verwirklichen. Es
wäre eine große Tat, die unserem wirtschaftlichen und kulturel -
len Leben von unberechenbarem Vorteil wäre. Ein dringendes,
vielgestaltiges Bedürfnis liegt vor, vielleicht findet es an leitender
Stelle Verständnis und Förderung. Joseph Aug. Lux.
DAS HAUS DES BÜRGERS.
ie Anlage des Hauses, auf beiden folgenden Heftseiten
dargestellt, ist aus den einfachsten Bedürfnissen ent -
wickelt und wiederum auf das Einfachste zurückgeführt.
So ist im ERDGESCHOSS ein großer Raum als
Wohn- und Speisezimmer, die gute Stube mit der vorigen
durch eine verhängte Öffnung zusammengeschlossen, die Küche
durch einen Schalter mit dem Speisezimmer verbunden an -
geordnet worden. Ein großer Vorplatz ist vorgesehen, während
die offene Veranda als Eingang dient, jedoch bei gutem Wetter
als Speiseraum im Freien benützt werden kann.
Im ERSTEN STOCK liegt ein großes Schlafzimmer mit
Bad, zwei kleinere und ein größeres Zimmer für die Jugend
sowie eine Kammer für das Hausmädchen.
Der KELLER zieht sich unter dem ganzen Hause, ausge -
nommen der Veranda, hin. Durch einen separaten Eingang an
der Rückseite gelangt man in die dort angelegte Waschküche.
Die Verwendung der einfachsten ortsüblichen Materialien
ist angenommen.
Das Mauerwerk ist in Feldbrenner ausgeführt gedacht und bis
Brüstungshöhe der Erdgeschoßfenster mit grauer Tönung sehr
rauh verputzt. Um das Aufsteigen der Erdfeuchtigkeit und das
dadurch verursachte Abbröckeln des Putzes zu verhindern, wird
auf Terrainhöhe eine Backsteingurte vorstehend sichtbar durch -
geführt, so gleichzeitig ein farbiges Sockelband bildend.
Der Erdgeschoßteil ist an der Rückwand und den Seiten -
ansichten vollständig in sichtbarem rotem Backstein-Mauer-
werk, die vordere Ansicht und der Aufbau weiß verputzt.
Einfach durch das Ausbauen des rückwärtigen Bauteiles
zu Zimmern sind die Giebelformen entstanden, während der
große Raum des Vorderteiles durch Ausbau des Zwerghauses
ausgenützt ist. Das Dach wird mit roten Ziegeln gedeckt und
das Holzwerk des Hauses lichtblau, das der Fenster und Türen
hingegen weiß gestrichen. Zwischen hohen geputzten Wangen
führt die Treppe mit Backsteinen gemauert zum Eingang
und unterhalb des Fensters der guten Stube, zwischen den
gemauerten Pflanzenkübeln, ist eine Gartenbank aus Kiefern -
holz, zum Herausnehmen eingerichtet, angebracht.
Architekt F. W. Jochem, Darmstadt, hat solche Projekte,
davon dieses ein Beispiel ist, ausgearbeitet und in einem
geschmackvollen Band bei Julius Hoffmann in Stuttgart
herausgegeben. Allen Hausbaufreunden empfohlen!
„SONNENSCHULE“.
EIN WIENER PROBEJAHR VON JOHANN FRIEDRICH.
E in Dichter hat sich in die Schule verirrt. Verirrt — ist das
Wort nicht Widersinn? Ist nicht der Dichter der rechte Er -
zieher ebenso wie der Künstler, der im Wesen dasselbe ist und
nur so benannt wird, um zu sagen, daß er sich mit anderen
Materialien ausdrückt wie der Dichter. Aber ihr Wesen ist das gleiche:
schöpferische Fähigkeit und als Erzieher entwickeln sie das Schöpferische
ihrer Schüler, die persönlichen Anlagen, die Individualität. Der Künstler-
pädagog baut auf den spontanen Kinderzeichnungen auf, das An -
schauungsvermögen zu stärken und auszudrücken. Der Dichterpädagog
tut ähnliches mit seinem Material, er weckt in den jungen Seelen die
Fähigkeit zu schauen, zu empfinden, die Schönheit der umliegenden
Natur, der Monate, Tages- und Jahreszeiten, ihre flüchtigen, ungreif -
baren und dennoch wirklichen Stimmungen, das ganze Paradies sinn -
fälliger Erscheinungen und nun ist es die Aufgabe des Schülers zu
sagen, was er will und wie er es will. Die feinen, poesievollen Wahr -
nehmungen des Dichters, seine Schülerunterhaltungen über tausend
kleine und große Dinge, Gold, Sonne, Sterne, Winterstiefe, Frühlings -
wetter, Tanz, Blumen, Schmetterlingen und die kurzen Schüleraufsätze,
diesen Unterhaltungen entsprungen, sind der Inhalt der Sonnenschule,
ein bunter, heiterer Kranz, ein ganz wundervolles Buch, jedem dringend
ans Herz zu legen. Bei Hermann Seemanns Nachfolger, Berlin, ist es
verlegt und kostet M. 2.—. Wer ein paar Seiten gelesen, verlangt das
ganze Buch und liebt es. Mir ist es so gegangen. Ich füge eine Lese -
probe an, weil ich glaube, es müßte anderen auch so ergehen. Ich
will aber vorausschicken, wie der Autor sich und sein liebenswertes
Buch rechtfertigt.
Der junge Mann, der dieses Buch geschrieben, glaubt, um
Mißverständnissen vorzubeugen, alsogleich eindringlichst
versichern zu müssen, daß er keineswegs im Begriffe ist,
hiemit etwa die Laufbahn eines Schulreformators zu be -
ginnen. Die Pulskraft seines Herzens hat derzeit noch jene
erfreuliche Ursprünglichkeit, die ihm oft genug mit dem
Blute wahre Springbrunnen von funkelnden Utopien und
Träumen ins Gehirn hinaufpumpt. Er würde mit der Kon -
sequenz eines Michel Kohlhaas nicht eher ruhen, bis alle
Schulen seines lieben Vaterlands Österreich Glaspaläste
wären voll Sonnenschein, voll Musik, voll Blumen, voll
Schönheitstrunkenheit. — Er sieht demütig ein: dies ist
kein Temperament für einen Reformator und wiederholt
seine obige beruhigende Versicherung. Er legt die Zukunft
des Erziehungswesens mit bestem Vertrauen in die Hände
jener Fachmänner, die erfahren genug sind und gelehrt, um
beurteilen zu können, wie breit der Rand der Schreibhefte
zu sein hat und wie schwer ein Beistrichfehler oder ein
Verstoß gegen die normierte Schreibung der S-Laute zu
ahnden ist. Auch die Frage, ob der Lehrer statt roter Tinte
rosaroten Stift verwenden dürfe, sieht ihrer baldigen Lösung
zuversichtlich entgegen — und so hieße es ja wirklich Eulen
nach Athen tragen, wollte jemand ein Büchlein schreiben
mit Vorschlägen zur Verbesserung des Schulwesens. Es ist
auf diesem Gebiete alles gut und gesichert.
Keineswegs aber will er mit diesem Buche sein „Ich“ als
ein pädagogisches Vorbild hinstellen. — Es wäre auch die
vermessenste Vermessenheit! — Ist er doch in das Schul -
wesen hineingeworfen worden — er weiß selber nicht wie.
— Zuerst — als Knabe — wollte er Hofprediger werden,
später einmal Theaterdirektor, darauf Gärtner und Blumen -
philosoph, dann Bauer in seinen geliebten Heimatbergen,
und zwar auf jenem Gipfel, der von weißen Margueriten so
überblüht ist, daß er vom tiefen Tal wie beschneit aussieht
und der so sehr in den blauen Himmel hineingetaucht ist,
daß in allernächster Nähe ein bläulicher Hauch auf den
weißen Blütensternen zu sehen ist wie darübergegossene und
mit dem Löschpapier aufgesogene Blautinte — dort droben
wollte er ein Haus haben und Bauer sein — in Margueriten!
— Dann ward er allen Ernstes — die Übergänge sind schwer
darzulegen — Mediziner — und nun neuestens Schulmeister.
— Er sieht selber ein, daß er als solcher unmöglich etwas
Gutes schaffen kann; fehlt ihm doch das Um und Auf des
Lehrers: das System.
Wenn er trotz dieser einsichtsvollen Bescheidenheit, die ihm
von fachmännischer Seite gewiß zu seinen Gunsten ange -
rechnet werden wird, euch in diesem Buche Schüieraufsätze,
die unter seiner Leitung entstanden, vorlegt, so geschieht es
keineswegs, um seinen anmaßenden Einfall in den Lehr -
stand zu rechtfertigen — dies ist ja ein- für allemal un -
möglich — sondern es geschieht aus Gründen rein ästhe -
tischen Vergnügens. Ihn mutet nämlich diese Sammlung,
da er sie nun vollendet hat, wie ein schöner Knabenchor
an, so hellklingend, so frisch. Es sind auch schon ein paar
mutierende Stimmen darunter; — wenn sich der Heraus -
geber dieses Buches nicht täuscht, so wirken dieselben
keinesfalls störend, sondern geben der Gesamtwirkung jene
Art Reiz, die er am jungen Traubensafte liebt, wenn der -
selbe noch all die flüchtige Süßigkeit der in der Wollust
des Sonnenkusses flüssig gewordenen, liebesbrünstigen Erde
in sich hat und doch auch schon den herben Beigeschmack
erkennen läßt, der ihm in seiner Zukunft anhaften und dem
Gaumen des Kenners die Eigenart und den Wert des Ge -
tränkes verraten wird. Von Monat zu Monat freuten sich
die jungen Herzen auf diesen Aufsatztag, auf dies dichtende
Innig-sein-dürfen. Jeder letzte Schein eines Schulzwanges fiel
dabei ab. Niemand war genötigt zu schreiben. Nur der freie,
leichte, schöne Einfall und das innige Aussprachebedürfnis
hatten Daseinsrecht. Das Erlebte hatte den Vorzug vor dem
Erdichteten, das Farbige, Klingende, Lebhafte vor dem Be -
dächtigen, Eintönigen.
HERZLICH mußte es sein und verboten war nur eins: das
Rohe. Der junge Schulmeister hat die eigenartigsten In -
dividuen für dieses Buch ausgewählt. In seinem schönen Vor -
stadtzimmer im Anblick des vielgeliebten Böcklin-Selbst-
bildnisses mit dem geigenden Tode, welches ihn immer an -
mutet, als schaute er der Natur selber ins dunkle, strenge,
schöne Auge und hörte er dabei die Schicksalsmelodie seines
eigenen Lebens, hat er sich jedesmal wie der begeistertste
Abonnent einer künstlerischen Monatsschrift gefreut, wenn
er aus den letzten Schulaufsätzen wieder neue, sei es nun
erwartete oder unverhoffte Kenntnisse von der geistigen
Struktur und der Lebensrichtung seiner Jünger gewann. Und
nun gibt er auch die sämtlichen Werke dieser vierzehn jungen
Dichter, obwohl auch andere Schüler vereinzelte glückliche
Arbeiten lieferten und anderseits wieder manche der auf -
genommenen minderwertig sind. Er glaubte dem geschlossenen,
einheitlichen Gesamteindrucke durch sein Vorgehen förder -
licher zu sein, als wenn er nur die guten Aufsätze aller, auch
der im übrigen unbedeutenden Verfasser aufgenommen hätte.
Störende Fehler ließ er weg und hie und da hat er wohl
auch das wirklich Gebotene in der darin gelegenen Kraftlinie
ein wenig näher gegen die Vollendung hingeschoben, wenn
es mit einiger Wortumstellung oder kleinen Veränderungen
geschehen konnte. — Er setzte den Aufsätzen der Schüler
seine eigene Stimmung und seine gelegentlichen Schulge -
spräche voraus, soweit er diese letzteren in gekürzter Form
wiederzugeben vermochte. Es sollte damit einigermaßen an -
gedeutet werden, wie die Aufsätze aus seinem Zusammen -
leben mit den Schülern organisch hervorwuchsen und wie
sein Gedanke durch die Kristallprismen der Kinderseelen in
ein farbenschillerndes Spektrum zerlegt wurde.
OKTOBER.
VON GOLD UND SONNE.
Blauklare Herbst^ und Sonnenherrlichkeit! — Auf den Vor^
Stadthügeln, auf dem fernen großen Walde, in allen Gärten
und Fenstern, in allen Gassen und Plätzen, auf allen Brücken
und Stiegen, auf allen Erkern und Balkons, um alle Gitter
und Springbrunnen, Türme, Drähte und Viadukte! Goldenes
Zittern um die Stundenzahlen und Zeiger der Kirchenuhren,
sonniges Prangen und Lachen auf allen Konzertannoncen!
— Stadtbahnmaschinen atmen Silber und verlieren sich fern
ins Dunkelblau; Blumenauslagen leuchten und spielen in
jubelnden Farben; in jeden, noch so dunklen Lichthof taucht
die Sonnensäule hinein und vergessenste Fenster blitzen aus
irgend einer nebensächlichen Ecke wie verrückt.
Ich habe Vormittag ein Stündchen in der Schule zu tun
und Nachmittag. Dazwischen renne ich nun im Golde dahin
und trinke es — ein goldrauschiger Trunkenbold. Bald schau
ich einem schimmernden Kirchturmzeiger zu, glaube zu sehen,
wie er sich mühen muß, im richtigen Tempo vorzurücken,
weil ihn die Sonne so schwer belastet — lache über mensclv
liches Zeitmaß — bald steh’ ich auf einem Hügel und schau
nach dem großen Walde, bin drunten und droben, lieg’ im
Feldgras, steh’ im Zimmer vor meinem Böcklin, spiegle
mich im kristallnen Tintenzeug, sitz’ an einem Gartenzaun,
denk’ an meine Schüler: an den samtnen Walter mit der
großen Masche unterm Kinn, an den rothaarigen Stichelheim,
an den immer zitternden, schielenden Sperber mit den kind^
liehen Verlegenheitsgebärden, an den Riesen Sonnlöffler mit
der blonden Mähne, an den kranken Tiefling mit den dicken
Augengläsern und der windschiefen Nase, an das Weim
bauernbürschchen Rosner, an den Wiener Spitzbuben Pick'
maier, an den zarten, zum Zerblasen zarten, bleichen Spinn-
weber, denk’ an die beiden Geheimnisvollen im Hintergründe,
die immer so nahe beieinander sitzen, als müßte der breit'
schultrige Lauterer mit dem sonngebräunten schmalen, grad'
linigen Gesicht, mit den herben, ernsten, schon fast männ'
liehen Zügen, den feinen Edlen von Aspenang beschützen,
der so ganz das Antlitz eines schönen Mädchens hat, mit
blondlockigem Haar, dunkelbraunen, sehnsüchtigen Augen
und feiner, schmaler Griechennase, denk’ auch an den Tiroler
Tannberger mit dem schwarzen Italienerhaar und den deut'
sehen Blauaugen — — — — alle, alle kenne ich nun schon
den Namen nach und lese in ihren Gesichtern; denn es steht
viel in den Gesichtern der Kinder geschrieben von dem Kraft'
besitztum, welches ihre Ahnen ihnen vererbt haben in den
Herzmuskel und ins Gehirn hinein. Und ich las in aller
Heimlichkeit schon manche freudige Geschichte. —
Ach, Erde, Erde sind sie alle, sprossende, glühende, blühende
Scholle, Erde wie ich, Erde wie der Riesenturm dort im
blauen Dunst, wie diese morsche Zaunlatte hier, Erde wie
drüben am Straßenrand die blauen Skabiosen, Erde, wach'
geküßt durchs Licht, daseinsdürstig, von der Natur gezwungen,
den Traum ihrer Ahnen weiterzuträumen, die Träume ihrer
eigenen Enkel begründen zu helfen. Sonnenlicht, Welt'
Schönheit, Gottesreinheit, ich will ein Lenker sein dieser
jungen Träume, da mich die Natur in dieselben hinein'
geworfen. Hinauf zu dir, sonnenwärts sollen sie träumen
lernen und träumend sollen sie des Gipfelweges so kundig
werden, daß ihre Enkel einst ihn nimmermehr verfehlen
können. — SO will ich Lehrer sein. — Und ich spüre meine
Freude aufperlen wie aus tiefem Meeresschoße an die Ober'
fläche und ich schaue ringsum und finde mich in der Herz'
kammer Gottes, aus der alle Welten aufperlen wie ich;
Klopfen, Pulsieren, Wogenschlag der Ewigkeit. Alle Worte,
alle Namen, die ich einst gewußt, fühl ich jetzt zergehn;
zwei nur halten sich länger, die Wörtchen „Anfang“ und
„Ende“; da kommt eine Goldwelle sachte heran, leuchtend,
lächelnd und schlürft sie auch hinweg.
Was ich Nachmittag in der Schule meinen Kindern vor'
schwätze — ich weiß es gar nicht. Was ich von Erhaltung
des Stoffes und der Kraft weiß, flutet mir wie ein Spring'
brunnen in klaren Goldworten aus der Seele — und ich seh’
nur so verschwommen im Taumel, wie sie alle auffangen
und durch die funkelnden Augen hineintrinken — kleinlichste
Dinge aus dem Alltagsleben werden zu Bilderchen mit Gold'
konturen und sind voll Ewigkeit: wie die Sonne sich in
Wein verwandelt, wie die Sonne den \^ald aus der Erde
kitzelt, wie unser ganzes Sein aus der Sonnenheimat stammt
und ins ewige Urlicht zurückstrebt. — — — — — — —
Samstag ist der erste jener geplanten freien Monatsaufsätze.
Ach was! — ich lasse sie ganz frei. — Irgend etwas von Gold
sollen sie schreiben, vom Gold, daß sie zuletzt gesehn, vom
Goldgegenstand, der ihnen am besten gefällt, meinethalben
auch nur von Dukaten. Oder — haben sie nichts von Gold zu
eigen und haben sie nicht einmal noch ein Goldding gesehn,
so mögen sie nach eigenstem Schöpferbelieben irgend etwas
in Gold verwandeln.
OKTOBER. WALTER WOLFGANG.
Als ich heuer bei meiner Großmutter auf dem Lande war,
da sah ich allerlei aus Gold. Zuerst fand ich Gold in dem
Märchen vom Rumpelstilzchen, welches ich am Saume des
Waldes las, wo man auf das ganze Dörfchen hinabsieht. Da
sah ich auch das Fenster des Bezirksgerichts mit dem Gitter,
welches ganz so aussah, als ob es zu jener Kammer gehören
würde, in welcher das arme Mädchen ihren Flachs über Nacht
zu Gold spinnen müßte. Auch die Luft auf dem Märchen'
buch war wie grünliches Gold, weil der Tannenwald und die
Sonne sich vermengten. Zweitens war im Dorfe der Groß'
mutter auch einmal ein Fest und da kam ein Mädchen nach
dem Mittagessen und bat um die Goldspitzhaube. Die Groß'
mutter sperrte im blauen Zimmer den Glaskasten auf und
nahm die Goldspitzhaube heraus. Nach der Jause, als ich
mit der Großmutter zum Feste ging, sah ich das Mädchen mit
der Goldspitzhaube und es tat groß damit, wiewohl dieselbe
nicht ihr gehörte. Drittens war auch das Blashorn unseres
Postkutschers von Gold und ich hörte ihn fast alle Tage in
der Frühe blasen, bevor noch die Gebetglocke läutete. Oft
hüpfte ich aus dem Bette und machte die Fensterladen auf
und sah die goldne Trompete glitzern. Am Ende hat mich
diese Postkutsche zur Bahnstation geführt, wobei der Kutscher
ebenso blies, wie ich es jeden Tag gehört hatte. Als ich
sodann im Eisenbahnzug durch die Felder davonfuhr, welche
mit rotem Klee bewachsen waren, stand ich lange am Fenster
und sah in der Sonne das goldene Horn an der schwarzen
Postkutsche hängen und über den roten Klee zurückfahren
in den Wald, woran das Dorf meiner Großmutter lag und
welcher jetzt aus der Ferne ganz dunkelblau aussah. Ich
mußte weinen. Und als ich im Koffer nachsah, bemerkte
ich, daß ich mein liebes Märchenbuch im Dorf der Groß'
mutter vergessen hatte.
OKTOBER. BRUNSHUBER JOHANN.
Hochgeehrter Herr Professor! — Da ich nicht weiß, was ich
mir am liebsten denken will, so denke ich mir das letzte
Lesestück ganz von Gold, die Pyramiden und alle Häuser in
der Stadt Memphis, sowie auch den Palmenwald und die
sämtlichen darin befindlichen Bäume, ferner die Wüste auch
ganz von Gold, dann auch die Steinchen, welche wir über
die Pyramide hinabgeworfen haben, desgleichen die am Fuße
befindlichen Menschen, welche überaus klein sind und alle
Kamele und Krokodile. Indem ich mir dies alles von Gold
denke, schließe ich mein Schreiben und freue mich auf den
nächsten Monatsaufsatz.
OKTOBER. TANNBERGER ERICH.
Da weiß ich sogleich, was ich zu Gold machen werde und
wie ich dies anfangen will. Nämlich wie ein alter Adept,
von dem ich neulich gelesen habe. Es soll Nacht sein,
nehmen wir an, aber eine solche, in welcher um Mitternacht
Vollmond scheint. Am Fensterbrett ist es schon ein wenig
hell, obwohl man ihn noch lange nicht sieht. Dorthin trage
ich meine Goldglocke, welche schon sehr, sehr lange in
unserer Familie ist, weil sie vor einigen hundert Jahren
mittelalterliche Goldarbeiter gewesen sein sollen. Ich setzte
mich hin und nehme aus der Glocke den goldenen Schwengel
und jetzt habe ich die goldene Zauberschüssel. Jetzt gebe ich
das schöne Bild von meiner Heimat hinein, nämlich Inns^
bruck in Tirol, und zwar die Maria^Theresienstraße mit den
Lauben und dem goldenen Dachl und den Felsen und den
Stadtturm. Jetzt muß ich warten, bis es Mitternacht schlägt
und der Mond genau auf das Fensterbrett herschaut. Und
dann schlage ich zugleich mit der Domuhr zwölfmal mit
dem Goldschwengel an die Goldglocke. Da wird mit jedem
Schlag das Bild immer heller und goldener, mit Schlag zehn
ist es schon sehr golden und mit Schlag zwölf wird es
glänzen wie das reinste Gold und alle Häuser und Felsen
und besonders die Bogen bei den Lauben und der Stadtturm
werden recht erstaunt und verwundert umherschauen; und
wenn der Klang ganz verklungen ist, wird auf einmal alles
auslöschen und wieder dunkel sein.
OKTOBER. SPINNWEBER EMIL.
Als der heiße Sommer war, lag ich sehr krank im Bette
und aß nur Milch. Am Abend hörte ich ganz deutlich den
Doktor vor der Türe reden: „Ich kann nicht helfen.“ Da
weinte die Mutter, als ich sie hereinkommen sah, obwohl
sie tat, als ob sie lachen würde, weil der Doktor etwas Frohes
gesagt hätte. Sie legte mir einen großen Umschlag auf den
Kopf und deckte damit meine Augen zu. Aber ich habe den
Umschlag weggeschoben und damit angefangen, daß ich den
Doktor gehört habe. Aber die Mutter verstand nicht, was ich
sagte. Da schlief ich ein. Und da sah ich das Gold, wovon
ich schreiben will. Der liebe Gott, welcher aussah wie der
Religionsprofessor, hob mich auf, weil ich auf der Bahre lag,
und nahm mich bei der Hand. Da rollten lauter kleine
goldene Kugeln von mir hinab. Ich hörte sie rollen auf dem
Zimmerboden und im Staube wurden sie grau. Aber als ich
aufwachte, war ich naß im Gesicht, weil mich die Mutter
mit Weihbrunn besprengt hatte, wie ich glaube. Wahrscheinlich
war das schuld an den gesehenen goldenen Küglein.
OKTOBER. ROSNER JULIUS.
Das letzte Gold war der Papierdrachen, welchen wir aus dem
Weinberge aufsteigen ließen. Weil der Wind ging, so flog
er nicht gerade in die Luft hinauf, sondern schief über die
Donau hin. Es war nämlich Weinlese, so daß wir Unterleib'
schmerzen hatten und uns abwechseln mußten in bezug auf
das Halten der Schnur. Beim Nachhausegehen im Dorf ver'
wickelte sich die Schnur in den Telegraphendraht am Chor'
fenster der Kirche. Ich ging hinein und holte den Mesner,
welcher die Leiter holte und den Drachen herunternahm.
Dieser Drachen war aus Goldpapier gemacht und wir
werden ihn nächsten Samstagnachmittag, wenn es schön
ist, wieder steigen lassen. Denn ich fahre Samstag wieder
hinaus.
OKTOBER. SPERBER NIKOLAUS.
Ich weiß gar nicht, wie manche Menschen schlecht sind, wo
doch jeder verbotenen Sünde ihre Strafe auf dem Fuße folgt.
Denn am Tage, an welchem man morgens das heilige Geist'
amt beging und das Schuljahr begann, begab ich mich zu
Mittag in die Hofburg, um der Burgmusik beizuwohnen.
Bei der Mariahilferkirche begegnete ich dem Mitschüler
Stichelheim, welcher mich fragte, wohin ich gehe. „Ich gehe
mit,“ sagte er gleich. Die Leute sahen ihn an, wegen seiner
roten Haare. Wir gingen im Volksgarten und sahen durch
die Gitterstäbe hinaus. Da hörten wir schon von Ferne die
Musik und begaben uns auf die Straße. „Da schau,“ sagte ich,
„wie die Trompeten an der Mauer vorüberglänzen.“ — „Das ist
immer so, wenn die Sonne scheint,“ sagte Stichelheim. Aber
als bloß getrommelt wurde, hörten wir plötzlich schreien.
Stichelheim sagte: „Rennen wir hin.“ — Und wir rannten
hin. — Da hatten die Wachmänner einen Arbeiter und alle
standen herum und sahen zu. Sie zogen ihm ein Päckchen
feiner goldener Uhrketten für Frauen aus der Tasche, welche
der Dieb gestohlen hatte bei einem Juwelier auf dem Wege
neben der Musik. Da schrien alle. Aber ich zog Stichelheim
mit Hilfe des Ärmels weg und sagte zu ihm: „Es ist nichts
so fein gesponnen, es kommt dennoch an die Sonnen.“
Ferner: „Unrecht Gut, tut selten gut,“ dann auch: „Es ist
nicht alles Gold, was glänzt“ — und viele andere Sprichwörter.
— Dann begaben wir uns nach Hause.
OKTOBER. FERNLEITNER GUIDO.
Ein Hirtenknabe lag am Rande eines Felsens hoch auf der
Alpenmatte. Indem er das Läuten der Kühe kaum mehr
hörte, sah er in die Abendwolken, welche über den fernen
Gletschern waren und so wie die Gletscher selber ganz von
Gold leuchteten. Er sah immer nur in dieses Gold und er
kam immer mehr hinein, indem er an das dachte, was der
Katechet vom Himmel gesagt hatte. Er sah goldene Engels'
flügel und durch das offene Himmelstor sah er die Füße
des Thronsessels, auf welchem wahrscheinlich Gott saß. Da
geriet er so in die Freude über das Gold, daß er die Musik
des Himmels hören wollte. Und er meinte, er habe selbst
goldene Engelsflügel und sprang auf und wollte selbst hin.
So stürzte er über die Felsenwand tief in den Abgrund.
Nach einiger Zeit erlosch das Gold, die Wolken sahen dunkel'
blau aus und es ward Nacht. Den Hirten aber hatte das
Gold in den Tod gelockt.
OKTOBER. STICHELHEIM FERDINAND.
Wie oft sagen die Leute: goldene Sonne, oder goldene Sterne.
Aber die Sterne bestehen aus Metall, Schwefel, Eisen und
so weiter und die Sonne auch. Das wirkliche Gold ist ein
Edelmetall und kommt in verschiedenen Ländern vor. Bald
ist es in Bergen, bald im Sand von Bächen. Aber das Wichtigste
ist, daß es sehr selten vorkommt und darum werden die
Dukaten daraus gemacht. Denn wenn man die Dukaten aus
Kupfer machen würde, so könnten alle reich werden, weil
Kupfer häufig vorkommt. Auch die Kronen, welche die
Könige eigentlich aufhaben sollten, sind in der Regel aus
Gold gemacht sowie auch der Thron, auf dem sie von Zeit
zu Zeit sitzen müssen. Ich selbst hoffe in den nächsten Pfingst'
feiertagen eine goldene Uhr zu bekommen, weil ich da gefirmt
werde.
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OKTOBER. RUDBERT GEORG.
Ich will die Glocke der Kuh schildern, obwohl sie eigentlich
nicht von Gold war. Aber sie glänzte sehr schön und wenn
einer nicht gewußt haben würde, daß sie nicht von Gold
war, so würde er sicher gemeint haben, sie ist wirklich von
Gold. Ich war auf der Seealpe im Sommer und wohnte auf
der Schwaig. Der Bauer brachte die Glocke am Abend und
hängte sie der schönsten Kuh unter den Hals. Am nächsten
Morgen ging ich mit dem Halterbuben hinaus, um Aufsicht
zu halten über die Kühe. Wir redeten und sahen weit hinab.
Es war alles wie Gold infolge der Sonne. Da hörten wir
auf einmal die Glocke nicht mehr. Die Kuh schaute her
und hatte den leeren Lederriemen. Da suchten wir beide im
Grase und endlich fand ich die Glocke zwischen hohen
Arnikablüten, nur weil sie so glänzte wie Gold.
OKTOBER. PICKMAIER ADOLF.
Meine Mutter hält mich oft zum Narren, obwohl ich nicht
dumm bin, sondern für mein Alter viel weiß. Das hat die
Hausfrau, wo wir wohnen, gesagt, daß ich es nicht hören
soll. Aber die Mutter hat am Samstag mich im Spaß ange^
logen und sie meint, ich glaube alles. Sie hat eine Schüssel
gehabt aus Gold und schlug mit einem Drahtbesen in der
goldenen Schüssel Seifenschaum oder was. Ich sagte: „Was
wird das, Mutter?“ — Sie sprach: „Das muß alles zu Gold
werden, was jetzt noch weiß ist, muß alles so werden, wie
die Schüssel ist, wenn man es recht schlägt und lange genug.“
Ich sprach: „Darum schlägt mich der Vater wahrscheinlich
auch, weil er meint, ich werde zu Gold, wenn er mich stark
schlägt und lange genug.“ Ich lachte dazu und die Mutter
auch und sie erzählte es dem Vater, als derselbe vom Gast'
haus kam. Aber der Vater verstand es nicht, weil er sich
gleich angezogen ins Bett legte und die Mutter ihm die
Stiefel und das Gewand ausziehen mußte. Aber nächsten
Morgen lachte er auch über meinen Witz. — Ich habe viel
ausgelassen, weil ich nur das schrieb, was wirklich von
Gold ist.
OKTOBER. TIEFLING CHRISTOPH.
Von Sonne und Gold weiß ich viel zu schreiben. Aber am
liebsten möchte ich erzählen, was mir neulich einfiel. Mein
Vater hat nämlich ein Buch über jene Physik, die im ge -
wöhnlichen Leben zu finden ist. Und da steht darin, daß
alle Menschen aus Sonne gemacht sind und daß unsere
Kraft nichts ist als verwandeltes Sonnenlicht. Und die Kunst
und die Musik ist auch nichts anderes. Da später meine
Schwester das schöne Beethoven-Stücklein spielte, welches
ich so gerne höre, ist mir dabei eingefallen, daß jetzt
eigentlich aus dem schwarzen Klaviere goldene Sonnenstrahlen
herausspringen. Denn die Kunst ist auch nichts als um '
gewandeltes Sonnenlicht und die Musik ist die schönste
Kunst. Und wirklich war mir, als ob ich inwendig ganz
Gold sein möchte, als ich diese Töne hörte und ich meinte,
das schwarze Klavier müßte zu brennen anfangen; allein es
glänzte nur in der Nachmittagssonne.
OKTOBER. LAUTERER LUDWIG.
Ich erlaube mir hiemit Herrn Professor mitzuteilen, daß
wir beide, Lauterer und Aspenang, Künstler sind. Ich glaube,
man kann da ruhig die Wahrheit sagen und muß sich nicht
ärgern und genieren, wenn andere lachen. Wir beide wollen
Ruhm erwerben, wenn wir einmal bekannt sind und „in
unserer Brust sind unseres Schicksals Sterne“. Mein Vater
ist Eisenhändler und die Mutter des Aspenang ist Blumen -
händlerin, denn Vater hat er keinen.
Wir haben uns also letzthin auf dem Kasten, in welchem
die Rosen und wertvollen Blumen verborgen sind, im Geschäft
des Aspenang, entschlossen, daß jeder in den kommenden
Aufsätzen nur von seiner Kunst schreiben soll: Aspenang
von der Musik, ich von der Malerei. — Ich beginne daher
sofort: Von Gold und Sonne. — Ich will ein Bildchen in
Worten hinmalen. — Bitte zu entschuldigen, wenn ich so
schnelle Worte hinschreibe. Also Bild: Längsstrich, Quer -
strich. Birke im Längsstrich, weiß mit Goldrand und schwarzen
Tüpflein und Strichlein, genau Birkenrinde; — über dem
Querstrich dünne, violette Bogenstriche, das sind die Zweige;
— goldene Blätter daran wie Dukaten; — Hintergrund tiefes
Himmelblau; — Wölklein in Form von Engeln, weiß, Flügel
und Haare gold; Erdboden rotes Moos. — (Rot muß in
allen Bildern sein, die ich mache.)
OKTOBER. ASPENANG, MAX, EDLER VON.
Ich will nur von Musik im Aufsatz schreiben; so hab’ ich
mit dem Lauterer den Vertrag geschlossen. Ich spiele Geige
und Klavier. Am meisten aber liebe ich die Harfe. Auf dem
Schulweg seh’ ich alle Tage eine, sie ist ganz Gold, wenn
die Morgensonne hineinscheint; — und wenn der Tau das
Auslagefenster angehaucht hat, wische ich mit dem Taschen -
tuch ein Guckloch und schau hinein. Wie man zu sagen
pflegt, es „juckt" mich so in den Fingern und ich meine, wenn
ich an den Saiten so zupfen könnte, wie ich es letzthin in
der Oper „Rheingold“ gesehen habe, so würde die Welt für
mich ganz Gold und Sonne sein. Als ich letzthin meinen
dunkelblauen neuen Uberzieher anzog und den neuen, licht -
grauen, breiten Hut, da schien die Sonne so schön ins Zimmer
und von dem Waschen mit der Veilchenseife war mir so
wohl, daß ich glaubte, an diesem Tage heute muß ein großes
Glück kommen und mir die Harfe geben. Und im Vorüber-
gehen versteckte ich meine Schulbücher, indem ich sie hinter
das Tor des betreffenden Hauses legte und ging hinein ins
Geschäft und fragte, wieviel die Harfe koste. Da sprach der
Mann, der ganz versteckt in glänzenden Trompeten, die mich
schon durch ihr Anschauen schreckten und gar nicht zur Harfe
paßten, am Schreibtisch saß: „Da müssen Sie noch lange
studieren, mein Herr. Die kostet zweitausend Gulden.“ —
Ich war so traurig, daß ich, als ich in Mathematik drankam
„nicht genügend“ erhielt. Aber noch besitze ich eine Hoff -
nung. Eine reiche Frau kommt immer Blumen kaufen zur
Mutter und dabei ladet sie mich jedesmal ein, zu ihr zu
kommen mit der Violine, weil sie mich einmal so schön den
Pilgerchor aus „Tannhäuser“ spielen hörte. — Aber die Mutter
erlaubt es mir nicht. — Einmal jedoch wird sie es vielleicht
erlauben — und dann: Gold und Sonne.
Blumen -
stück von
E. R. Weiß
in Hagen
i. W.
43
DSCHIU.DSCHITSU
DIE QUELLE JAPANISCHER KRAFT.*
ie edle Kunst der Selbstverteidigung, wie sie bei den
Japanern geübt wird als System der Körperstählung,
wird DschiU'Dschitsu genannt, „Siegen durch Nach -
geben“, wie Lafcadio Hearn, der Deuter und Schilderer
japanischen Wesens, das Wort erklärt.
Ursprünglich von einer besonderen Kriegerkaste in Japan
gepflegt, heute dort allgemein gelehrt und geübt, hat Dschiu-
Dschitsu auch in anderen Ländern, namentlich Amerika
und England Anerkennung und Eingang gefunden. Die
deutsche Buchausgabe findet daher auch bei uns verdiente
Aufnahme.
Dschiu-Dschitsu nimmt den athletischen und gymnastischen
Betätigungen des Abendlandes gegenüber eine völlige Sonder -
stellung ein. Weder dem Ringen noch dem Boxen, dem
Fechten oder Turnen gleich, hat es von jedem etwas. Im
Enderfolg aber ist es allen diesen Leibeskünsten überlegen:
es bildet alle Körperteile gleichmäßig aus; es entwickelt
nicht nur rohe physische Kraft, sondern ebenso, wo nicht
mehr, Gewandtheit und Gelenkigkeit; es erzieht im höchsten
Grade zur Geistesgegenwart und zur Fähigkeit, alle Schwächen
des Gegners auszunutzen, ja, ihn geradezu vermittels seiner
eigenen Kraft zu besiegen; es lehrt schließlich eine Reihe
der überraschendsten und wirkungsvollsten, sonst nirgends
zu findenden Kampfmittel und Kunstgriffe. Eigen ist über -
dies dem Dschiu-Dschitsu der hohe Grad von Selbstbeherr -
schung, den es von seinem Anhänger heischt und den es
ihm immer mehr anerzieht, sowie die den höchsten hygie -
nischen Anforderungen entsprechende Lebensweise, die es
vorschreibt.
Dem geschulten Boxer wird es schwer eingehen, daß seine
mühsam erworbene Kunst dem Dschiu-Dschitsu gegenüber
nichts vermögen soll. Aber je eher er diese Tatsache an -
erkennt, um so seltener werden wir Gelegenheit haben, in
den Zeitungen von Niederlagen zu lesen, die ein englischer
oder amerikanischer Boxer einem kleinen Japaner gegenüber
erlitten hat.
Noch im letzten Herbst konnte man auf der Arena der
ersten amerikanischen (der Harvard-) Universität das Schau -
spiel genießen, den stärksten Studenten dieser Hochschule
mit einem zwerghaften Japaner sich im Kampfe messen zu
sehen. Tyng brachte seinen besten Fußballstoß an und warf
den Gegner, vermochte ihn dann aber in keiner Weise zu
fassen und als sie ihre Kunst im Entwinden und Ausweichen
eine Weile gezeigt hatten, packte der Japaner auf einmal
den Amerikaner mit blitzschnellem Griff und streckte ihn
kunstgerecht zu Boden.
Nicht selten berichten auch amerikanische Blätter von Fällen,
wo ein Polizist von einem Japaner, den er verhaften wollte,
überwältigt wurde und der Fremde erst, nachdem dem Mann
der Gerechtigkeit verschiedene Kollegen zu Hilfe gekommen
waren, dingfest gemacht werden konnte.
Anderseits verlautet öfters aus japanischen Häfen, daß dort
ein einzelner eingeborener Hüter des Gesetzes nicht weniger als
drei oder vier unruhige Matrosen nach vergeblicher Gegen -
wehr festgenommen habe. Schon die ersten amerikanischen
Matrosen, die nach Abschluß des japanisch-amerikanischen
Vertrages (durch Admiral Perry) wieder heimkehrten, erzähl -
ten die wunderbarsten Geschichten. Sie hatten, wie das ja bei
Matrosen nichts Ungewöhnliches ist, am Lande Händel be-
* DSCHIU-DSCHITSU, die Quelle japanischer Kraft, methodische Körper -
stählung und athletische Kunstgriffe der Japaner von H. Irving Hancock.
Verlag von Julius Hoffmann, Stuttgart. Brosch. 5 M., geh. 6 M.
Der Arm eines ausgebildeten Dschiu-Dschitsu-Schülers.
Die Japaner fragen nicht viel nach Muskelwülsten am Oberarm; der
kleine Wulst gerade ober der Ellenbogenbeuge gilt ihnen am meisten.
Obige Abbildung zeigt ein prächtiges Muster eines Armes, wie ihn
die DschiU'DschitsU'Übungen erzeugen. Der Mann ist 155 cm hoch
und wiegt etwa 110 Pfund.
kommen und sich mit den Eingebornen geboxt. Zu Hause
berichteten sie dann, das Land da drüben sei von Teufeln
bevölkert, denen die besten Hiebe nichts anhaben könnten;
und diese japanischen Teufelskerle waren nicht nur hiebfest,
sondern nahmen einfach einen Amerikaner nach dem andern
beim Kragen und warfen ihn ins Meer.
Neuerdings haben sich wiederholt Kenner des Dschiu-Dschitsu
in Amerika mit dortigen Boxern gemessen und auf Grund
der Resultate dieser Kämpfe hat man die Überlegenheit der
japanischen Athleten allgemein anerkannt.
Selten gebraucht der Japaner die geballte Faust; das gilt nicht
als kunstgerecht. Schon seit Jahrhunderten haben die Samurai
erkannt, daß man mit der Kante der Hand nicht nur einen
Schlag besser abzuwehren vermag, sondern daß auch ein
Hieb mit ihr die Muskeln und Knochen des Gegners in einen
schmerzhaften Zustand versetzt.
Sehr oft läßt der Boxer seine rechte Hand der linken so schnell
folgen, daß die beiden Fäuste scheinbar in gleicher Zeit in
Aktion treten. Aber für diesen Fall ist der japanische Kampf -
künstler gewappnet. Seine beiden Arme fliegen, wie wir auf
Bild 3 sehen, den Armen des Boxers entgegen und dieser
letztere ist, von den schnellen Gegenschlägen verwirrt, seiner -
seits in Verlegenheit, wie er den Kampf erfolgreich fortsetzen
44
Parade gegen beide Fäuste des Boxers.
Der Rockärmel-Trick. Ein Mittel, den Gegner hilflos zu machen.
soll, denn er sieht schon, daß er einem so gewandten
Gegner in der gewöhnlichen Weise gar nicht beikommen
kann.
Auf Bild 2 ist der Rockärmel-Trick abgebildet, der einer
genauen Beschreibung bedarf. Wer ihn ausüben will, faßt
seinen Gegner oben am Rockkragen und zieht den Rock nach
unten (natürlich unter der Voraussetzung, daß der Rock nicht
zugeknöpfelt ist). Hiebei muß besonders darauf geachtet
werden, daß man beide Hände auf der Innenseite der Arme
des Gegners hält; die Sache liegt viel weniger günstig, wenn
auch nur eine Hand außerhalb liegt, da der Angegriffene dann
durch einen kräftigen Ruck nach außen viel mehr Aussicht
hat, sich den Einzwängungen zu entziehen. Hat man den
Rock oben fest und richtig gepackt, so zieht man das Kleidungs -
stück augenblicklich nach unten, so daß die Ärmel die Arme
des Angegriffenen dicht an den Körper pressen, bis unmittelbar
über den Ellbogen. Dann heißt es festhalten. Handelt es
sich um Abwehr eines wirklichen Angriffes, so kann der,
welcher den Rockgriff anwendet, falls ihm das Beinstellen
nach den Umständen nicht liegt, dem Gegner noch durch
einen heftigen Stoß des Knies gegen den Unterleib sc wer
zusetzen. In Japan wird dieser letztere Stoß selten angewendet,
denn er ist gefährlich und läßt sich nur durch das dringen e
Gebot der Verteidigung rechtfertigen.
Einen weiteren kunstgerechten Kehlgriff bringt Bi 4 ^ur
Anschauung. Hier kreuzt der Angreifer seine Arme, mit er
linken Hand greift er den linken Kragen des Gegners ziemlich
weit vorn und mit der rechten den rechten Kragen, aber hier
weiter hinten. Durch diesen beiderseitigen kräftigen Griff
werden die Fäuste nach der Kehle des Angegriffenen zu -
gedrängt, in der Weise, daß der rechte Vorderarm des
Angreifers einen schweren Druck gegen die rechte Kehlseite
gerade hinter dem Kehlkopf ausübt. Nach einiger Übung
wird man mit diesem Trick über einen außerordentlich
wirksamen Kehlgriff verfügen.
Zugleich kann der Angreifer dem Gegner durch einen Stoß
mit dem Knie in den Unterleib noch wirksamer zusetzen,
während der andere natürlich, wenn er gleich behend ist,
durch Heben des Knies seinerseits den Stoß parieren kann.
Gegen die Kehlgriffe gibt es nur eine praktische Abwehr.
Sie erfordert Geistesgegenwart und unverzügliches Vorgehen
und darum muß sie sehr gründlich geübt und schließlich
blitzschnell ausgeführt werden, bis man sie sozusagen auto -
matisch ausübt. Es handelt sich um einen Stoß gegen den
Magen oder auch gegen den Unterleib. Bringt man diesen
Stoß richtig und kräftig genug an, so kann man sicher sein,
der Gegner löst den Kehlgriff.
Um einem Mißverständnis vorzubeugen, sei ausdrücklich be -
merkt, daß Dschiu-Dschitsu nicht etwa ausschließlich ein
System gymnastischer und athletischer Kniffe oder Kunstgriffe
ist. Diese uralte Wissenschaft umfaßt auch eine gründliche
Kenntnis der Anatomie, der rationellen Ernährung, des Wertes
der äußeren und inneren Anwendung des NVassers wie der
Luft.
45
Ein kunstgerechter Dschiu-Dschitsu^Kehlgriff.
VERNÜNFTIGE, NATURGEMÄSSE LEBENSWEISE
— damit ist alles gesagt. Alle Körperkraft beruht auf richtiger
Ernährung als fester Grundlage und in diesem wichtigen
Punkte sind uns die Japaner weit voraus. Den ersten Schritt
zum Aufbau eines kraftvollen Körpers bildet die Wahl einer
gesunden, vernünftigen Kost.
Aus den folgenden zwei Musterspeisezetteln ist zu ersehen,
was etwa das erwachsene Mitglied einer japanischen Familie,
in der die Kosten für den Lebensunterhalt nicht in Betracht
kommen, genießt.
Im Sommer:
ERSTES FRÜHSTÜCK: Obst, eine Schale Reis, eine kleine
Portion gekochter Fische und eine Schale Tee.
ZWEITES FRÜHSTÜCK: Sehr oft ißt man nur Obst, hin
und wieder ein bißchen Reis, oder man genießt ein wenig
Gemüse mit oder ohne Reis.
HAUPTMAHLZEIT: Reis mit frischem Fisch und zweierlei
oder dreierlei Gemüse, wie Tomaten, Zwiebeln, Möhren,
Rettige, Sellerie, Salat, Rüben, Kohl (roh) und Spinat, gekocht
oder auch ungekocht. Tee darf natürlich nicht fehlen.
Im Winter:
ERSTES FRÜHSTÜCK: Reis mit frischem oder häufiger
mit gedörrtem Fisch; vielleicht ein oder zwei hartgekochte
Eier, dazu Reisküchlein und Tee. — Gedörrte Fische roh
oder gekocht, erscheinen oft.
ZWEITES FRÜHSTÜCK: Reiskuchen oder gekochter Reis
nebst gedünstetem Obst und Tee.
HAUPTMAHLZEIT: Gekochter Reis und Fisch, gekochtes
Dörrobst, hartgekochte Eier, dazu Reiskuchen und Tee.
Wenn man stets im Auge behält, daß es sich bei dieser
Kunst noch mehr um geistige Übung als um körperlichen
Drill handelt, wird man die besten Erfolge erreichen. Im
Dschiu'Dschitsu ist mehr als alles andere die Zucht des
Geistes Erfordernis und Ergebnis zugleich.
EINFACHE KÜCHE.
Weichholz, weiß und blau
lackiert.
CHARAKTERISTIK EINES
GUTEN KÜCHENMÖBELS:
Glatte Flächen, festaufstehende
Formen, zweckmäßige Ein^
teilung von Kasten und Laden,
weißer Anstrich. Daher leichte
Reinbarkeit, keine Staub-
länger, keine unkontrollier -
bare Schmutzwinkel.
Entwurf und Ausführung
Exler, Wien.
Siehe auch Artikel Heft 25, 26
I. Jg. „WIENER TISCHLER"
KUNSTAUSSTELLUNGEN.
KIRCHLICHE KUNST IN DER WIENER SEZESSION.
ch bin nicht erstaunt, daß diese Ausstellung den Beifall sogar jener
Hasser gefunden hat, die gewohnt waren, jede Ausstellung der
Sezession mit Spott und Schimpf zu überschütten. Das Christusmono-
gramm, kirchliche Kunst, Mönche als Aussteller — das entwaffnet die
kunstfeindlichsten Mächte. Was jahrelange ernste Arbeit nicht vermocht
hat, ein mehr politischer als künstlerischer Akt hat anscheinend den
Wandel bewirkt. Kunst, den meisten bloße Streitsache, wird plötzlich
Glaubenssache. Die Ketzer von gestern, sonst tobend aus Unverstand
oder Bosheit, ziehen heuchlerisch den Hut, wenn auch nicht vor der
Kunst, doch vor dem Zeichen. Sonst konnte irgend ein hämischer
Witzling die Kunst, die er nicht verstand, als babylonisch oder ägyptisch
abtun, ohne fürchten zu müssen, wegen seiner Unwissenheit oder
Unlauterkeit der Verachtung seiner Mitmenschen anheimzufallen. Solche
Blasphemie wird nun nicht geschehen können, da die Beuroner Mönche
ausgestellt haben. Es hat sich zwar schon viel höhere Kunst in der
Sezession befunden als diesmal, niemals aber war der Beifall so laut
und allgemein. Die künstlerische Bildung unseres Publikums ist nicht
größer geworden, das ist leider ganz gewiß; daß es diesmal nicht schimpft
und daß die Wortführer entzückt sind, ist lediglich Tartüfferie. Mit
Kunstfreude hat dieses Entzücken nicht notwendig zu tun.
Ich will damit nicht sagen, daß eine Kunstausstellung im Dienste reli -
giöser Ideen nicht gutzuheißen wäre. Da wir nun einmal Kirchen-
gemeinschaften haben, so ist es Aufgabe der Kunst, sich auch der
formalen Angelegenheiten des religiösen Lebens anzunehmen, umso -
mehr, als gerade der künstlerische Ausdruck der Kirche heute der
starren Konvention eines geistlosen Handwerks verfallen ist. Die niedere
Alltags- und Gewerbekunst, deren sich die heutige Kirche für ihre
Aufträge bedient, hat nichts Emportragendes. Es ist zu wünschen,
daß die Kirche sich der höchsten und besten Kunst bediene, über die
unsere Zeit verfügt. Die Andacht stellt sich immer nur ein, wenn das
Höchste und Beste getan ist. In jedem so beschaffenen Kunstwerk
ahnen wir das Göttliche — wie sollten wir es sonst ahnen?
Es ist zu begreifen, daß die Künstler sich gern mit diesem Gedanken
tragen und daß eine solche Ausstellung kommen muß. Die Sezession
hatte in ihrer früheren Tätigkeit die künstlerischen Vorarbeiten geleistet,
die auf die Lösung einer solchen Aufgabe hoffen ließen. Die Minne-
Ausstellung, die Beethoven-Ausstellung waren die großen raumkünst-
krischen Versuche, die einerseits das Zusammenfassen aller bildenden
Künste zum Gesamtkunstwerk, anderseits die monumentale Wirkung
erhabener Einfachheit und Strenge zeigten. Auch in der Kunst für die
Kirche geht der Künstler voran und nicht der Theologe, und es war
zu erwarten, daß die Künstler ihre raumkünstlerischen Erfahrungen
nun benützen würden, um die Idee eines Gotteshauses, eines Weihe -
raumes, eines Ortes der seelischen Erhebung und Andacht mit rein
künstlerischen Mitteln hinzustellen, soweit es in einem Ausstellungs -
gebäude möglich ist. Der Grundriß des Sezessionsgebäudes läßt sogar
eine dreischiffige Anlage sehr gut möglich erscheinen, wie aus der
Beethoven-Ausstellung bekannt ist. Die theologische Wissenschaft käme
nur in Betracht, liturgische Fehler vermeiden zu helfen. Die moderne
Kunst aber will zeigen, welche Tiefen und ergreifende Wirkungen ihr zu
Gebote stehen, wenn sie in einheitlicher Komposition den Gottesgedanken
ausdrücken und die Andachtsstimmung im Menschen auslösen will.
Wenn die Sezession diesen Gedanken in der ursprünglichen reinen
Absicht künstlerisch verwirklicht hätte, dann hätten auch die Beuroner
Mönche daheim bleiben können. Die Künstler hätten alles aus eigener
Kraft bestritten und gezeigt, was möglich ist. Es wäre zwar wieder
in unerhörter Weise geschimpft worden, aber das Geleistete wäre
darum nicht verloren gegangen.
Eine solche Ausstellung mit strenger künstlerischer Konsequenz wie
bisher durchzuführen, hat die Sezession in ihrer heutigen Verfassung
leider nicht die Kraft gehabt. Vielleicht auch nicht den Willen. Nach
dem Austritt der führenden Mitglieder war das nicht zu wundern;
warum macht sie nun doch wieder eine Programmausstellung? Das
künstlerische Verdienst, das die Sezession in den früheren Jahren er -
worben hat, legt jeder neuen Leitung eine ungeheure Verantwortungs-
Pflicht auf; es ist durchaus nicht gleichgültig, was geschieht. Die ver -
hältnismäßige hochbedeutende Vergangenheit des Hauses läßt sich nicht
einfach wegreden. Nicht auf Schlagworte, ob naturalistisch oder stilistisch,
kommt es an, sondern lediglich auf die künstlerische Qualität, also
auf die Wertigkeit; um keinen Preis hätte die Sezession dem Haus -
geist untreu werden und ein elendes Kompromiß mit der Minderwertigkeit
schließen dürfen. Was die „Deutsche Gesellschaft für christliche Kunst“
ausgestellt hat, ist zum großen Teile Minderwertigkeit. Der einzelne
ist gewiß nicht zu tadeln; zu tadeln ist die Führung, die sich ihrer
Verantwortlichkeit bewußt sein sollte.
Kommt es denn darauf an, zu zeigen, was dieser oder jener Maler,
Bildhauer etc. für kirchliche Zwecke einmal gemacht hat? Kommt es
nicht vielmehr darauf an, die einheitliche Lösung eines Problems zu
zeigen? Liegt darin die künstlerische Lösung, die Wände einfach von
oben bis unten zu behängen, mit Mehoffers Entwürfen für Glasfenster
eine ganzeWand zu tapezieren, unbekümmert darum, daß jedes dieser Glas-
fenster eine isolierte Stelle beansprucht? Sollen die unruhigen farbigen
Effekte in der Stirnwand monumentale Kunst bedeuten? Die ver -
gangenen Ausstellungen haben einen geläuterten Begriff von Monu'
mentalkunst gegeben. Unwillkürlich denkt man wieder an die Beethoven-
Ausstellung, die immer größer erscheint und deren Bedeutung einmal
laut und allgemein verkündet werden wird. Diese Tat war damals
nicht umsonst geschehen. Ohne sie hätte die heutige Sezession die
Kirchenausstellung nicht unternehmen können. Trotz aller Vergröberung
merkt man an Andris Posaunenengeln, daß Klimts Kunst einmal in
dem Hause gewohnt hat. Zugleich stellt sich heraus, daß die Künstler,
die unter der früheren strengen Führung zum Teil eine rasche Ent -
wicklung ihres eigenen Könnens gezeigt hatten, an der vergangenen
gemeinsamen Arbeit nichts gelernt haben. Es ist fast tragisch. Sie
haben den Gedanken, an dessen Verkörperung sie früher mitschufen,
nicht begriffen. Denn sonst hätte diese Ausstellung entweder ein ganz
anderes Gesicht bekommen oder sie hätte unterbleiben müssen. Die
Sache ist darum so betrübend, weil sie der Ausdruck einer Denkungs -
art ist, die unkünstlerisch und darum verwerflich -erscheint. Die
Programme mögen immerhin wechseln, je nach den Forderungen der
Zeit, fest begründet und umwandelbar muß aber die vornehme Ge -
sinnung sein, die auf die PROPAGANDA DER BESTEN KÜNSTLE -
RISCHEN LEISTUNG gerichtet ist, vor der persönliche Empfindungen
zu schweigen haben. Diese wahrhaft künstlerische Gesinnung hat sich
früher in der Vereinigung behaupten können, sie ist die Grundlage
jedes gedeihlichen Zusammenarbeitens, ein Fundament, das nicht aus -
zulösen ist. Wenn das Ungeheuerliche eines solchen Gesinnungswechsels
nun dennoch geschieht, so wird die Sezession daran zu gründe gehen.
Es wird zwar behauptet, daß diese Ausstellung das Beste sei, die
monumentalste, die je da war. Das ist einfach nicht wahr. Ein ganzes
Museum abgelehnter Staats- und Kirchenaufträge könnte mit erlesenster
Kunst angefüllt werden, seit einigen Jahren wurde in Wien eine
Edelmetallkunst entwickelt, wie sie heute keine andere Stadt aufzu -
weisen hat — und die Sezession importiert Durchschnittsware, damit
ein Vorbild „religiöser Kunst“ zu geben.
Die Neuheit dieser Ausstellung ist die Kunst der Beuroner Mönche.
Es ist nicht einzusehen, was sie für uns bedeuten soll. Die Mönche
machen wirklich „kirchliche Kunst“ an sich. Berechnete, ausgeklügelte,
archaische Formen, Bilder, Plastiken, Meßgewänder, Gerätschaften,
Architekturen. Der eine oder andere mag künstlerisch empfinden, die
Gesamtheit ihres Schaffens, soweit es in der Ausstellung zu überschauen
ist, trägt den Stempel mönchischer Erstarrung, kirchlich historisch -
stilistische Befangenheit. Die einzige Vitrine von Ashbee, dem Londoner
Architekten, enthält mehr künstlerisches Leben als alle Beuroner Werke
zusammengenommen.
„Kirchliche Kunst“ — daran ist nicht zu glauben. Es gibt keine Kunst,
die an sich kirchlich ist. Mit Ruskin gesprochen, ist die Kunst in der
Kirche nichts anderes als die monumentale Verwendung der gegebenen
lebenden Kunst. In der Gotik waren nicht nur die Kirchen gotisch,
sondern auch die Wohnhäuser, wie bekannt. In der Barocke war alles
barock. Und heute? Heute werden die modernen Künstler mit ihren
Mitteln das Göttliche sichtbar machen. Das hätte die Sezession zeigen
müssen. Die Beuroner Mönche sind keine modernen Künstler. Sie
leben mit ihren Gedanken in einer archaischen Formenwelt, die sie
allerdings mit großer künstlerischer Konsequenz anwenden. Was aber
dagegen unsere modernen Künstler auszudrücken vermögen, wird einmal
gezeigt werden. Was die Sezession zu tun vorgegeben hat, muß eigentlich
erst getan werden. Ganz von neuem. Und dann als Ausfluß wahrhaft
künstlerischer Gesinnung.
47
KUNSTSALON MIETHKE.
eit einem Jahre hat sich der Schwerpunkt der Wiener Kunstpflege
in aller Stille erheblich verrückt. Die Künstlervereinigungen wirken
zwar noch immer durch Quantität und ziehen dadurch das Tages-
interesse an; die erlesene Kunst, die Qualität hat die intimere Stätte
des Kunstsalons aufgesucht. Sie findet dort verständigere Pflege; Moll
als künstlerischer Ratgeber hat in dem einen Jahre für das Kunst -
leben und die Kunstbildung mehr getan als eine ganze große Ver -
einigung, wo schließlich doch die Unvernunft der Majorität obsiegt, zu
tun im stände ist. Kunstpflege ist Pflege der Qualität, der erlesensten
künstlerischen Leistung, gleichviel welcher Richtung. Aber Erlesenheit
gefällt doch nur einer Minorität und ist Majoritäten gegenüber schlecht
bestellt. Durch diese würde heute eine so wunderbare Erscheinung
wie George Minnes plastische Kunst auch in den großen Künstler -
vereinigungen an die Wand gedrückt. Nun sind bei Miethke in den
oberen Räumen der Galerie einige herrliche Schöpfungen des belgischen
Künstlers zu sehen, eine Frauenbüste, in der steilen Kontur und
Haltung des Kopfes seinem Rodenbach-Denkmal ähnlich und wie
dieses an Lieblichkeit und Strenge einem nordischen Gebirge ver -
gleichbar, wie ein Kunstkenner einmal äußerte. Eine andere Marmor -
plastik ist da ursprünglich als Ideenskizze für ein Denkmal der
Arbeiterschaft in Brüssel bestimmt, zwei Gestalten, sich auf schwankem
Brett das Gleichgewicht haltend, eine gedankentiefe Symbolik für die
soziale Idee, die in einem plastischen Kunstwerk nicht einfacher und
ergreifender auszudrücken ist. Aber fast rührend ist die kleine aus
Holz geschnitzte Plastik, die er „Lutteurs“ (Kämpfer) nennt. Ein
kniendes Greisenpaar, Mann und Weib, von dürftiger Körperlichkeit,
mühselige Kämpfer ums tägliche Brot, fast naturalistisch wie Meuniers
Kunst und doch wieder streng und stilvoll, herb und innig zugleich,
meisterlich wie ein Stück mittelalterlicher Holzschnitzerei. Bei Minne
wage ich gar nicht an unsere großbürgerliche Gesellschaft zu denken,
die ihren Bedarf an Plastik beim Figurinihändler deckt und dafür oft
unerhörte Preise zahlt. Herrlicher Minne! Seine Kunst ist wie ein
heiliger Hain, den kein Publikum heimsucht, den aber eine Gemeinde
betreten wird.
se nen „Tegetthoff“. Nirgends ist die Qualität zu missen; er ist immer
meisterlich in der Zeichnung, oft genial im Wurf, was anziehender
ist als der stoffliche Inhalt. Groß in Vorzügen und Schwächen, im
Wagen und Versagen, interessant wie alle Übergangserscheinungen,
das ist Romako.
URTEILE UBER DIE „HOHE WARTE“.
DR. PAZAUREK IN DEN „MITTEILUNGEN DES NORD -
BÖHMISCHEN GEWERBEMUSEUMS.“ REICHENBERG.
H OHE WARTE“ betitelt sich eine neue, in Wien erscheinende Zeit -
schrift, die zweimal im Monate erscheint und nach den bis jetzt
vorliegenden Heften Anspruch auf ernste Beachtung und freundliche
Förderung erheben kann. Ein nach vornehmen Gesichtspunkten
redigiertes, reich und nicht mit abgelegten oder ausgeliehenen Klischees
illustriertes und dabei doch wohlfeiles Blatt hat uns in Österreich
geradezu gefehlt, zumal es bei uns fast eine Spezialität geworden ist,
daß einige der vornehmsten Zeitschriften auch die langweiligsten zu
sein pflegen. — Hier herrscht frisch zugreifendes Leben und rühmliche
Mannigfaltigkeit und hoffentlich gelingt es dem Begründer und Redakteur
JOSEPH AUGUST LUX, sich auch gegen manche Philister mit Erfolg
durchzusetzen. Daß sich auch auf nicht glänzendem, vielmehr angenehm
wirkendem Papier sowohl die deutlichen Drucktypen als auch nament -
lich die Autotypien sehr gut ausnehmen, möge bei dem allgemeinen
Lobe nicht vergessen werden. (Fortsetzung folgt.)
Jahrgang I der „HOHEN WARTE“, I. und II. Halbjahr, ist in
einigen gebundenen Exemplaren noch zum alten Preis zu haben.
Später Preiserhöhung!
Einbanddecken für den I. Jahrgang werden auf Bestellung
nachgeliefert.
Seit einem Jahre weiß unser Publikum auch, daß es eine ältere
heimische Kunst gegeben hat, die als Ausfluß eines ziemlich allgemeinen
Kulturstandes gelten kann. „Waldmüller“ und „das Porträt in der
ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts“, zwei retrospektive Ausstellungen,
die für Wien zum Teil schon gezeigt haben, was die kommende
Jahrhundertsausstellung in Berlin für ganz Deutschland zeigen wird;
bürgerliche Kunst der Vergangenheit. Zum Unterschied von der
heutigen Bürgerlichkeit, die keine Kunst kennt oder pflegt. Moderne
Individualitäten, die in den Ausstellungsreigen der Öffentlichkeit
bisher bekannt wurden, Beardsley und selbst Somoff, sind aus ganz
anderem Milieu entwachsen. Wie ungeheuer der Abstand ihrer Ent -
wicklung scheint, gemeinsam ist allen die künstlerische Wertigkeit,
welcher Zeit oder welchem Temperament immer entstammt. Hier soll
es keinen anderen Zulassungsgrund geben. Darum konnte in dieser
Reihe ein anderer Vergessener aufstehen, ein Österreicher natürlich,
ROMAKO, dessen Werke den Ausstellungssaal in der Dorotheergasse
füllen. Der Katolog berichtet eine romanhafte ungeheuerliche Lebens -
geschichte, die keinen Schlüssel zu den Werken bietet. Aber eine
Moral hat sie doch. Er ist an der Unmoral der Majorität zu gründe
gegangen. Obgleich er der größere Könner war, ist er Makart unter -
legen, in dessen Bann Wien damals stand. Sein Leben wie sein Schaffen
muß großen Schwankungen unterworfen gewesen sein, selbst der
kleine Ausschnitt seines Lebenswerkes, den die Ausstellung sehen läßt,
ergibt ein sehr ungleiches Bild. Vieles erscheint schrullenhaft, heutigem
Empfinden fremd, manches, was bei ihm Ansatz ist, hat man bei
anderen Künstlern in Vollendung gesehen. Seine Farbenskala von
Goldbraun bis zum Perlmutterschimmer wird man besser verstehen,
wenn man sie mit dem Kolorit der Wohnräume der damaligen Zeit
zusammenhält, einem Gemisch von Schwarz, stumpfem Rot und Braun
bis zum fahlen Gelb. Die Ausstellungsleitung hat daher vollkommen
recht getan, die weißen Wände diesmal zu verhängen und den Bildern
eine gelbe Unterlage zu geben. Aber der Künstler gibt auch Beweise,
daß ihn das neue Farbenproblem berührt hat. Er war ein Sucher,
nicht immer Finder, zuweilen aber Vollender, namentlich im Hinblick
auf seinen „Pius IX“, auf einige entzückende Kinderbildnisse und auf
□ INHALT □
DES VORLIEGENDEN 3. HEFTES
DER „HOHEN WARTE“, JAHRG. II:
An unsere Freunde und Leser! — Die Volkswirt -
schaft des Talentes. (Fortsetzung.) — Wien und
die künstlerischen Gemeindeaufgaben. IV. Plan
eines allgemeinen Ausstellungsbaues für Wien.
(Fortsetzung.) — Das Haus des Bürgers. (Mit Ab -
bildungen.) — „Sonnenschule“. Ein Wiener Probe -
jahr von Johann Friedrich. — Dschiu-Dschitsu die
Quelle japanischer Kraft. (Mit Abbildungen.) —
Abbildungen einer einfachen Küche. Siehe auch
Artikel Heft 25, 26, I. Jahrg., „Wiener Tischler“. —
Kunstausstellungen. Kirchliche Kunst in der Wiener
Sezession. — Kunstsalon Miethke.
ANMERKUNG: Wegen Raummangel mußte die Fortsetzung „Gold -
schmiedekunst“ für das nächste Heft neuerdings zurückgestellt werden.
NACHDRUCKVERBOT für sämtliche in den Heften der „HohenWarte“
erscheinenden Artikel und Illustrationen.
Alle Zuschriften und Sendungen Wien I. Wallfischsasse No. 4- Telephon 5461.
Verlag „Hohe Warte“ (Lux & Lässig). Für die Redaktion Joseph Aug. Lux.
Druck von Christoph Reisser's Söhne, Wien V.
Papier von der Neusiedler Aktiengesellschaft für Papier fahr ikation, Wien.
An unsere Freunde
und Leser!
Fördern Sie die Interessen der künst"
lerischen Bildung!
Empfehlen Sie die „Hohe Warte“ in
Ihren Kreisen, in den Lokalen, die Sie
besuchen, in den Vereinen, denen Sie
angehören.
Senden Sie Adressen Ihrer Bekannten
zur Beschickung mit Probenummern.
Werben Sie Anhänger für die „Hohe
Warte“, die für alle Interessen der
künstlerischen Kultur arbeitet.
Arbeiten Sie in diesem Sinne mit uns,
senden Sie Photographien, Berichte etc.
zur Förderung der heimatlichen Kultur/-
Interessen.
Fühlen Sie sich als Mitglied der freien
Kulturgesellschaft, zu der alle Am
hänger der „Hohen Warte“ gehören.
Bilden Sie im Anschluß an die „Hohe
Warte“ Ortsverbände zur Förderung
heimatlicher Kulturinteressen, im Sinne
unseres Aufrufes in Heft 14, Jahr/
gang I, Seite 241.
DIE VOLKSWIRTSCHAFT DES
TALENTES.
(Fortsetzung aus den Heften 21 und 22, 23 und 24, 25 und 26,
Seite 353, bezw. 377, bezw. 401, Jahrg. I, und Heft 1, 2 u. 3,
Seite 2, bezw. 17, 33, Jahrg. II.)
Es scheint, daß wir heute schon an einen Punkt gelangt sind,
wo die Unkultur unerträglich erscheint. Die künstlerische
Bildung und die fortschreitende Demokratisierung, die die
Entwicklung des Individuums fördern, werden die Arbeit
und den schöpferischen Wert des Talentes, den dieses für
jene bedeutet, erkennen lassen und in diesem Erkennen
werden die drei Begriffe Arbeit, Talent, Kunst, wieder zur
ursprünglichen Einheit verschmelzen. Dann werden die Kunst
und die Arbeit kein getrenntes Leben führen, sondern die
notwendigen Äußerungen aller Betätigungen sein, wofern
diese nicht erzwungen, sondern der natürlichen Regung em>
falteter Talente entspringen. Heute ist die Kunst außerhalb
der Dinge, bestenfalls eine Zutat, ein Aufputz. In richtigen
Verhältnissen wird sie an den Dingen selbst sein, notwendig
mit ihnen gegeben wie der Stoff, das Maß, die Verhältnisse
und der sie belebende Geist. Mit der Sache so notwendig
und organisch eins, als sie es in den ältesten Zeiten war,
da die Töpferscheibe erfunden wurde, bis fast in die Zeit
unserer Großeltern, die an dem schlichten Biedermeier^
Hausrat noch etwas von ihrem belebenden Hauch verspüren
konnten.
Dann wird sich aber auch zeigen müssen, was für ein demo^
kratisches Wesen die Kunst ist. Sie war eigentlich immer
ein Kind des Volkes, trotz der aristokratischen Allüren, die
sie zu Zeiten als ein Vorrecht bevorzugter Stände erscheinen
ließ. Alle Schlüsse, die aus solchen Vorrechten gezogen
werden, sind Fehlschlüsse, vor allem jene, die daher eine
grundsätzliche Scheidung und Ausschließung der Kunst von
der Arbeit des Volkes als natürlich erkennen wollen.
Wenn die Kunst je von der Arbeit geschieden wurde, wie
es in der Entwicklung des XIX. Jahrhunderts der Fall war,
so geschah es zum Nachteil der Arbeit und des Volkes,
das auf diese Art entwertete Arbeit hervorgebracht hatte,
was aber nur unter dem Zwang unmenschlicher Zustände
hatte geschehen können. Wenn es auf natürliche Weise zu^
geht, dann ist die Arbeit des Volkes von Kunst nicht zu
trennen. Sie waren eins in der gotischen Städtekultur, in
den Tagen Dürers, wie in allen Zeiten einer hochentwickelten
Kultur. Ja sogar im XVIII. Jahrhundert, wo sie ausschließlich
Sache des Hofes und der Kirche schien, war sie so sehr mit
der Sache des Volkes verwachsen, daß kein Bürgers^ und
kein Bauernhaus war, das nicht ihr das Beste verdankte,
und bis in die Gegenwart, soweit das Volk am Lande das
eigene Kostüm, die Spitzen, Stickereien, Schnitzereien, den
Hausbau und alle formalen Angelegenheiten auf Grund
alter Überlieferung;selbst herstellt, ist die Kunst mit am
Werk, wie sie bei den ältesten und primitivsten Völkern bis
zu den heutigen Japanern zu tun gewohnt war. Denn kein
Volk [ist ohne Kunst, und ohne Volk ist keine Kunst.
Immer ist die Kunst bei der Arbeit, wenn die Arbeit gedeihen
und den Wohlstand des Volkes im einzelnen und im ganzen
fördern soll.
Also, was man meinem Buche als Fehler anrechnen möchte,
daß ich Künstler und Arbeiter in einem Atem nenne, gerade
das ist seine Stärke. Wie hoch oder wie niedrig man den
Künstler auch stellen mag, man betrachte ihn als Arbeiter,
und alle Irrtümer werden schwinden. Man wird sich unbedingt
wieder daran gewöhnen müssen, den Künstler als Arbeiter
zu betrachten, wenn auch als einen sehr entwickelten, der
alles überschaut, alle Zusammenhänge sieht und aufs Ganze
dringt, während die Geringeren ihre Emsigkeit mehr auf
das Kleine, auf die Bestandteile konzentrieren mögen, aber
auch dann noch, wie gering ihre Arbeit sein mag, noch
immer von dem Geiste, der das Ganze leitet, erhellt und
erhoben werden. Der Geist ist die Menschlichkeit.
In nichts erweist sich die Kunst so sehr als Demokratin,
als darin, daß sie dem Menschen gibt, was des Menschen
ist. In der Industriearbeit des XIX. Jahrhunderts war sie
ausgeschieden und die natürlichen Folgen, als Verelendung,
Niedergang der Gesittung, Zerrüttung des Hauswesens, der
Lebensfreude und Arbeitslust als Zeichen der Unkultur,
stellten sich alsbald in bedrohlichem Umfang ein. In einzelnen
Fällen wurde der Künstler berufen, der äußeren Trostlosig^
keit ein Ende zu bereiten, und wenn schon nicht die Arbeit
bei der Maschine zu beleben, so doch das Familienleben in
der Arbeiterkolonie auf eine höhere Daseinsstufe zu bringen.
Der Künstler übte den Akt menschlicher Gerechtigkeit,
indem er dem Menschen und der Familie gab, was sie nach
dem Stande der modernen Kultur brauchte. Er brach mit
der Schablone, die in den Arbeiterhäusern früherer Jahr^
zehnte Monumente der Trostlosigkeit errichtet hatte, und machte
die Individualität frei. Er gestaltete das Haus nach den Be^
dürfnissen der Familie, gab ihr in formaler Beziehung die
Möglichkeit zur ungehinderten Entwicklung und Betätigung,
gab dem Hause die natürliche Schönheit im Anschluß an
die heimatliche Bauweise und den Seelen, die es bewohnten,
den Stolz und die Freude, die solche Schönheit gewährt, er
versah sie mit allen modernen, hygienischen und praktischen
Einrichtungen, die das Leben leicht und behaglich machen
und das Gefühl der Armut und Entbehrung ausschließen.
Es ist nur ein kleiner Anfang, in den englischen industriellen
Gartenstädten unternommen, aber er zeigt schon die Richtung
einer Kulturentwicklung, die zum Segen des Volkes ein-
treten wird, wenn die Kunst nicht nur die äußere Arbeit,
soweit es das Wohnen und die Bildung betrifft, sondern
auch die Produktion in den Werkstätten und Fabriken der
Industrie führen, d. h. mit dieser Arbeit eine geistige Einheit
bilden wird.
Ja, selbst in jenen Epochen, in denen sich die Kunst, vom
Leben ausgeschlossen, ganz in sich selbst zurückzog und
den Begriff l’art pour l’art ausbildete, hat sie, wenn auch
nicht „populär“, nicht gemeinverständlich, — wie gemein
hätte sie werden müssen, um bei der herrschenden Kunst -
blindheit verständlich zu bleiben! — ihren natürlichen
demokratischen Charakter keineswegs verleugnet. Kein Vor -
rang der Geburt, keine gesellschaftliche Stellung, kein Reich -
tum der Welt berechtigte zu ihrer Gemeinschaft, als einzig
und allein das Talent. In Zeiten, wo alles sich verschanzte,
als Regierung, als Kirche, als Gilde und Zunft, als Organi -
sation und aus Standesvorrechten, Gesellschaftsmoral und
Klassenbewußtsein Schutz- und Trutzburgen bildete, hielt
sie Freiheit der Persönlichkeit hoch, die Entwicklung der
Individualität als das höchste menschliche Gut, das als
Zielpunkt aller Kulturarbeit erscheint. Fähigkeiten zu ent -
wickeln, ist der Sinn dieser Arbeit. Kultur ist die Ent -
faltung der Individualität. Kulturarbeit in diesem Sinn liegt
im demokratischen Prinzip, das die Befreiung der Massen
bezweckt. Wenn einmal die Trutzburgen erstürmt und ge -
schleift sind, wenn die Massen sich aus dem Zustand der
Unmündigkeit, der Schwäche und Hilflosigkeit erhoben, also
wenn die Massen sich befreit haben werden, dann wird sich
die freie und ungehemmte Entfaltung der Individualität mit
allen ihren Fähigkeiten und Anlagen, ihren Talenten also,
als ihr wahrer Inhalt und Zweck herausstellen. Massen -
demonstration ist nur das Kampfmittel; der Kampfzweck
aber ist keineswegs das ertötende Alles-gleich-machen, das
Nivellieren, das Ersticken der Persönlichkeit in Schablone,
Nummer und Masse, sondern der Kampfzweck ist der
Individualismus, der die schlummernden Kräfte des Volkes
fruchtbar macht und in Kultur verwandelt. In jenen Zeiten
also, da die Kunst so allein stand, daß sie nur für sich
schuf, l’art pour l’art, hat sie wenigstens das Prinzip des
Individualismus gerettet.
In solchen Epochen des XIX. Jahrhunderts, die nur von der
Schablone und Nachahmung lebten, erhielt sie in dieser
Form das schöpferische Moment lebendig. Die Unfrucht -
barkeit und Schwäche, die sich in die festen Wälle ihrer
Schutz- und Trutzburgen geflüchtet, mochte sich durch die
Hochmütige beschämt fühlen, der sie nicht nur den Mangel
an „Popularität“ sondern als vielgebrauchtes Schmähwort
„Dekadenz“ zum Vorwurf machte. Es ist den Zeiten der
Unfruchtbarkeit und des Eklektizismus gegeben, jede
Regung der persönlichen selbständigen Schaffenskraft, wenn
sie sich auf künstlerischem Gebiet betätigt, als „Dekadenz“
zu empfinden. „Der Künstler ist nie dekadent, er drückt
alles aus“ (Oskar Wilde). Wenn man die Leute betrachtet,
die das Wort „Dekadenz“ als Schmähung im Munde führen,
und jene, denen es gilt, dann kommt man zur Überzeugung,
daß der Titel eine Ehrung ist. In Wahrheit dekadent ist
nur der Schwächling. Schwächlinge in der Kunst sind jene,
die von der Wiederholung leben, von dem Schaffen anderer
Zeiten, anderer Völker oder einfach anderer Künstler, nicht
von dem eigenen Schaffen. Die offizielle oder populäre
Kunst seit mehr als fünfzig Jahren ist eine Kunst der
Wiederholung. Sie ist die eigentliche Dekadenz. Dekadent
sind also immer nur die Epigonen, niemals jene in unserer
Zeit noch wenig zahlreichen Künstler, die ganz neue Werte
schufen und die Freiheit der schöpferischen Persönlichkeit
aufrecht hielten, wie ungünstig die Zeit auch für den
Individualismus sein mochte. Die geringe Popularität solcher
schöpferischen Künstler ist kein Vorwurf für diese, sondern
für den Pöbel, ich meine den Pöbel in den sogenannten
gebildeten Ständen. Was die Epigonenkunst populär macht,
ist nicht das Wesen der Kunst, nicht das Zweckbewußtsein
ihres Ausdrucks, ihres Stoffes, ihrer Herstellungsweise, ihrer
Anwendung, sondern etwas ganz Unwesentliches, in der
Regel Unkünstlerisches, wie etwa die Befriedigung des Unter -
haltungsbedürfnisses, des geschichtlichen oder literarischen
Interesses. Wie an dem Bild gewöhnlich nicht die Malweise,
die Lösung der Farben- und Lichtprobleme, sondern die
Anekdote, der literarische Inhalt allein empfunden wird, und
das Bild, wenn es künstlerisch genug ist, solchen Inhalt
nicht zu besitzen, unverstanden bleibt, so erschöpft sich das
Interesse der Baukunst gegenüber in der Frage nach dem
Stil (einer ganz unwesentlichen Sache, die besser weg bliebe);
auf analoge Weise ist der Bildungspöbel befriedigt, alle
Gebrauchsdinge mit einem Plunder von Zieraten „ge -
schmückt“ zu sehen, namentlich wenn diese Zieraten einem
der fünf historischen Stile ähnlich sind, unbekümmert darum,
so
daß in den meisten Fällen eine maschinenmäßige Nach'
ahmung und geistlose Anwendung einstiger wertbarer Hand'
arbeit vorliegt. So wie das Wesen der Kunst verkannt wird,
so wird das Wesen der Arbeit, ihr Verhältnis zum Material
und zur menschlichen Kultur verkannt. Scheinkunst dagegen,
ihre geistlose Wiederholung und formlose Anwendung ist
populär, weil sich die Durchschnittsbildung, an Wieder'
holung gewöhnt, dabei was denken kann, d. h. etwas Litera'
risches oder Geschichtliches oder eine Phrase von „Stilart“.
Jeder wohlgeschulte, nicht verrohte und nicht durch Halb'
wissenschaftelei verbildete Arbeiter, vor allem der bessere
Kunsthandwerker, steht dem Wesen der Kunst, soweit es
eine menschliche Beziehung in irgend einem Material zweck'
und sachgerecht verkörpert, vermöge des gleichgearteten oder
verwandten Wesens jeglicher formalen Arbeit von Natur aus
näher als der große Durchschnitt gelehrtenhaft oder literarisch
Gebildeter oder Halbgebildeter, die sich heute als die Kultur'
träger wähnen. Ihr Wissen überwiegt bei weitem ihre leben'
dige Anschauung. Ja, die Fähigkeit der Anschauung ist
meistens in dem Ballast des toten Wissens erstickt, zum
Schaden des gesamten heutigen Kulturbildes. Ein großer
Teil unserer heutigen Kulturschäden oder, besser gesagt,
unserer Unkultur ist auf die Verkümmerung dieser Fähig'
keit zurückzuführen, mit der Sehen und Fühlen, künstlerisch
und menschlich betrachtet, so ziemlich verdorben ist. Der
Deutsche, auf den in allen Lebensäußerungen schroff und
erkältend hervortretenden Mangel der Kultur aufmerksam
gemacht, wird sich in der Regel auf die Geistesbildung, die
Kultur des Denkens berufen. Er wird es immer übersehen,
daß dieser Kultur des Denkens keine Erfüllung in der
Wirklichkeit entspricht. Seine Kultur des Denkens bleibt
Phrase. Das verschuldet sicherlich die heutige Schule, zum
erheblichen Teil wenigstens. Sie entwickelt nicht Fähigkeiten,
sondern sie häuft Wissensstoff auf. Sie gibt mit ihren Zeug'
nissen den Anspruch auf die leitenden oder einflußreichen
Lebensstellungen nicht den schöpferischen Naturen, den
Talenten, sondern jenen, die sich das vorgeschriebene Wissen
angelernt haben, eine Sache, für die zwar Fleiß, aber keines'
wegs unbedingt Talent gehört. Im Gegenteil, die Erfahrung
lehrt, daß die ursprünglichen Begabungen in der Schule
scheitern, und das brave, ausdauernde Untalent mit Vorzug
besteht. Wenn schon in der Schule die Talente nicht ent'
wickelt, sondern unter dem toten Wissenskram eher erstickt
worden sind, in der Praxis sonach werden sie sich juxh
weniger entwickeln, namentlich dann nicht, wenn sie über'
haupt nie vorhanden waren oder vielleicht eine ganz andere
Betätigungsart verlangt hätten.
Die Praxis bedeutet für diesen braven Bildungsdurchschnitt
die Anwendung und Wiederholung des in der Schule Geiern'
ten, und so dürfte man sich eigentlich nicht mehr wundern,
im Leben und in den Anschauungen der gebildeten Welt
soviel Unfreiheit, Verknöcherung, Vorurteile und Schablone
zu finden. Diese Braven sind es, die über das Wesen der
Handarbeit gewöhnlich sehr niedrige Begriffe haben und in
der Kunst alles, was in ihrem mageren Wissen schon a s
bekannt gegeben und dort zu ihrem Tröste wiederholt ist,
als „dekadent“ oder unsittlich in Verruf bringen. Auch die
Freiesten unter ihnen werden, wenn es heißt die Augen zu
gebrauchen, ihre Zuflucht zu ein paar Phrasen ihrer geistigen
„Kultur“ nehmen und anstatt zu sehen, reden. »Eben wo
die Begriffe fehlen...“ Es ist nicht ganz ihre Schuld; sie
haben eben nie gelernt, die Augen zu gebrauchen. ie
Schule hat es an ihnen verabsäumt, sie ist ihnen viel schuldig
geblieben, wovon ein späteres Kapitel handeln wird. Immer
wieder fällt mir die Begegnung bei Tisch mit einem so c er'
art gebildeten Manne, einem Advokaten, ein, der in einer
ethischen Gesellschaft einen großen Vortrag über Ethik ge'
halten hatte. Er aß wie ein Schwein und war, wie aus seinen
Gesprächen hervorging, im Leben ein schnöder Filz. Was
für einen Wert konnte die Ethik haben, die er den Leuten
vorgetragen und die ihm selbst für sein eigenes Leben so
wenig Nutzen gebracht hatte? Die Kultur des Denkens ohne
sichtbare Erfüllung oder Anwendung, ein bloßer Dunst, Worte
und Hirngespinst.
Das Wissen, das gelehrte und das literarische, soll damit
nicht unterschätzt werden. Es ist wichtig und Bestandteil der
Bildung, aber das Wissen allein ist noch nicht alle Bildung.
Der heutige Begriff von allgemeiner Bildung bedarf einer
gründlichen Modifikation. Das Wissen, soweit es angelernt
ist, berechtigt zu keinem Vorzug oder besonderem Anspruch
im Leben; das Wissen, ist bloße Selbstverständlichkeit, eine
Voraussetzung, der jeder zu seinem eigenen Besten zu
genügen hat, die aber als kein Verdienst, sondern als eine
Pflicht aufzufassen ist. Wenn sich nun gar das angelernte
Wissen, die Vielleserei und Vielwisserei zum Ding an sich
erhebt, zu einer „Kultur des Denkens“, die von der Wirk'
lichkeit ausschaltet und Voreingenommenheit züchtet, dann
ist die Sache schier bedenklich. Alle wollen in Goethe
leben, die wenigsten tun es. Alle glauben, das WISSEN um
Goethe, das Wissen um die Dinge tut es; die wenigsten ver'
stehen die Anwendung. Goethes Beispiel ist ein fortwährendes
Anwenden, er bezeichnet in der deutschen Entwicklung einen
Höhepunkt der Kultur. Was ist geistige Kultur, wenn sie
nicht im Leben fruchtbar wird? Wenn man sagen hört, daß
sich um diese oder jene kleine Schreiberstelle vierzig Doktoren
und ungezählte Hunderte von sonstigen studierten Menschen
beworben haben (vielleicht sind es Tausende), oder daß in
Amerika eingewanderte Advokaten als Stiefelputzer oder
Schankknechte ihr Brot verdienen müßten, so sagen die Leute,
daß es ungesunde Zustände sind. Ich glaube vielmehr, daß
diese Zeichen der Zeit einen Umschwung bedeuten, eine
Änderung der sozialen Struktur, die man genau untersuchen
muß. Die Welt will sich von einer veralteten Wahrheit er'
holen, die überlebt und einseitig, als Vorurteil verworfen wird.
Alle überlebten Wahrheiten, die nicht mehr ganz zutreffen,
sind Vorurteile, die wie eine verdorrte Hülle abfallen, wenn
die neue Wahrheit geboren ist. Im ganzen XIX. Jahrhundert,
dem eigentlichen Jahrhundert der Gelehrsamkeit, stand der
Satz als unerschütterliche Lebenswahrheit fest: WISSEN IST
MACHT.
Der ungeheure Jammer des Bildungsproletariats zeigt mit
erschreckender Deutlichkeit die Unzulänglichkeit dieses einst
sieghaften Wahrspruches. Wissen ist längst keine Macht
mehr, es ist das bloß unbedingt Notwendige, das rein Selbst'
verständliche, ein unerläßliches Gemeingut, in jedermanns
Bereich wie Luft und Wasser, dem Durstigen mit um
beschränktem Reichtum zu Gebote, als eine alltägliche Voraus'
Setzung, auf die allein keine Machtansprüche, keine Vorrechte
geltend gemacht werden können. Das Leben hat eine andere
Wahrheit als Königin auf den Thron erhoben, die nach einer
anderen Formel regiert: KÖNNEN IST MACHT.
Aber die entthronte Wahrheit führt ein ketzerisches Regiment
als Vorurteil weiter, dem der blinde Haufe anhängt. Mit Ent'
rüstung pflegen die meisten Eltern, auch der ärmsten Klassen,
die Zumutung zurückzuweisen, die Kinder einem anderen als
einem halbgelehrten Bildungsziel zuzuführen, dessen Schwer'
punkt im dürftigen Wissen liegt, weitab von dem praktischen
Können, gar nicht zu reden von einer handwerklichen Be'
schäftigung, die in den meisten Fällen als eine Art Er'
niedrigung empfunden wird. (Fortsetzung folgt.)
51
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Seiten- und Vorderansicht.
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MORRIS'STUHL IN EINFACHER KONSTRUKTION
Einfachste
Konstruktion
eines Stuhles.
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ü
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Vorder- u. Seitenansicht.
EINFACHE TISCHLERMOBEL:
ARMSTÜHLE.
W er einen Nagel eintreiben, ein Brett sägen kann,
muß solche Möbel hersteilen können. Man braucht
dazu Stabholz und als Werkzeug Hacke, Hand -
säge, Hobel und Hobelbank, Meißel, Hammer
und Bohrer. Es handelt sich um einfach tischlermäßige
Arbeit, in jedermanns Bereich. Aus Weichholz hergestellt,
gebeizt oder mit guter und kräftiger Farbe gestrichen, an -
ständig gearbeitet, in angemessener Größe ausgeführt, wird
das Möbel gut und billig sein. Der Morris-Stuhl, den man
oft in Ausstellungen gesehen, ist meistens mit Ornamenten
überladen auf Kosten der Festigkeit und Bequemlichkeit.
Der Morris-Stuhl in unserer Abbildung aber, ein behagliches
Möbelstück, erscheint einladend und bequem, auf reichlich
große Sitzfläche und breiten Armlehnen sich darauf gut zu
stützen, ist Bedacht genommen.
Die Seitenteile, untere Latte, senkrechte Stäbe und Stuhl -
arm, werden zuerst zusammengefügt, verzapft und geleimt.
Die unteren Latten links und rechts bestehen aus zwei auf -
einandergenagelten Brettern, davon das innere tiefer liegt,
um das Sitzbrett zu halten. Die Seitenteile und die Beine
alsdann zusammengenagelt, Vorder- und Hinterbrett laut
Zeichnung in Zapfen eingelassen und geleimt, die Lehne in
Scharnieren an das Hinterbrett befestigt und beweglich, um
an den nach rückwärts verlängerten Stuhlarmen in beliebiger
Ausladung eingestellt zu werden — und ein bequemer ein -
facher Stuhl mit Polstern zu belegen ist fertig. Die Hinter -
beine sollen etwas kürzer sein als die vorderen, was zu
beachten ist.
Noch einfacher und von ersichtlich primitiver Konstruktion
ist der zweite Stuhl; breit angelegt, braucht er nur der
ergänzenden Kissen, um Behaglichkeit zu gewähren.
Ländliche Wohnungen, die Möbel des Kleinbürgers, des
Arbeiters sollen auf diesen Prinzipien, die wir an allen
Möbeln aufzeigen wollen, aufgebaut werden, jeder Hand -
werker kann sie für seinen Gebrauch selbst zimmern, jeder
Landtischler nach einfacher Angabe oder Zeichnung ohne-
weiters hersteilen und für billiges Geld liefern. Es muß
erwähnt werden, weil diese kleinen Leute mit unbegreiflicher
Vorliebe die verlumpte Barocke oder Gotik schlechter Möbel -
basare vorziehen.
Nicht unechter Aufputz macht es aus, sondern zu wissen,
was das Leben nötig hat und dieses Notwendige schlicht
und sachlich zu erfüllen. Auch der Reiche, der den Luxus
sich gönnen will, kann nicht mehr und nichts Besseres haben
als dieses Organische; das einzige, was er tun kann, besteht
in der Wahl des Stoffes; er kann kostbares Material ver -
wenden, aber das Konstruktive nicht anders als ebenso
sachlich und organisch haben wollen, wenn er ein Mensch
von Vernunft und Geschmack ist. Das Gemeinsame des
Sachlichen und Organischen ist aber, wie angedeutet, nicht
so sehr Geldbeutelsache, sondern Kultursache. Es sollte
Gemeingut sein. Es gilt auch für unsere Tischler und „Fach -
männer“, die immer gern über sich hinaus wollen, anstatt im
organischen Sinne gute Möbel, lieber schlechte Kunst machen.
JEDER KNABE, DER DIE WISSENSCHAFTEN
STUDIERT, SOLLTE DANEBEN EIN HAND -
WERK LERNEN, DAMIT ER SICH DOCH
AUCH EINMAL GEISTIG BETÄTIGEN
KANN. OUCKAMA KNOOP.
53
HAUS UND GARTEN.
VON GERTRUD JE KYLL, LONDON.
I.
WIE DAS HAUS GEBAUT WURDE.
ommt cs wohl oft vor, daß Menschen, die sich erst
anderthalb Jahre in einem neuen Hause befinden,
das Gefühl haben, sie hätten niemals irgendwo
anders gewohnt? Ich weiß nicht, ob es auch andern
so geht, aber mein eigenes, neu erbautes Haus ist so behaglich,
so freundlich und sympathisch und gewährt mir eine solche
Befriedigung, daß es mir so vorkommt.
Das Haus kann eigentlich in einem gewissen Sinne nicht
für neu gelten, trotzdem sich an seiner Stelle nie zuvor ein
Gebäude befunden hat. Doch ich hatte soviele Jahre daran
gedacht und sein Grundriß und sein ganzer Charakter waren
meinem geistigen Auge so vertraut geworden, daß, als es
dann etwas Reales wurde, ich das Gefühl hatte, als hätte ich
es schon eine lange Zeit bewohnt. Es ist auch auf die Art,
wie es gebaut wurde, zurückzuführen, daß es durch seine Neu -
heit nicht auf fällt; es ist nicht auf jene Weise neu, die das
Auge stört, es hat weder etwas Unausgereiftes noch etwas
Unentwickeltes an sich. Es ruft im Gegenteil fast jenen an -
genehmen Eindruck von Reife hervor, wie es bei Dingen,
die einige Jahrhunderte alt sind, der Fall zu sein pflegt. Und
doch gibt es daran nichts, das sich für alt ausgeben möchte;
es ist mit keinerlei Emblemen gefälschten Altertums aufge -
putzt; es machen sich dabei keinerlei Ansprüche geltend, etwas
zu scheinen, das es nicht ist, es ist nichts Affektiertes daran.
Sowohl sein Entwurf als auch seine Ausführung sind aber
von dem geraden, ehrlichen Geist der guten Bauten alter
Tage erfüllt und sein Körper scheint trotz all seiner Neuheit
und Frische die Seele eines viel älteren Wohnhauses zu
enthalten. Das Haus ist aber durchaus keine Kopie eines
alten Gebäudes, trotzdem es das allgemein Charakteristische
der älteren Bauten der Gegend, in der es sich befindet, aufweist.
Alles daran ist fest und gediegen und schaut aus und erweckt
das Gefühl, als könnte es eine Ewigkeit halten und benützt
werden. Alle weniger dauerhaften Teile sind so gut durch -
dacht und so tadellos ausgeführt, daß wohl kaum die Möglich -
keit besteht, etwas daran könnte beschädigt werden; das Haus
ist deshalb vor den kleinen Unannehmlichkeiten und Un -
bequemlichkeiten gesichert, die so oft durch die Unzulänglich -
keit und Unverläßlichkeit der weniger sichtbaren Teile und
durch die ofte Störung entstehen, die durch das Kommen
der mit den Reparaturen beschäftigten Handwerker ver -
ursacht wird.
Die inneren Ausstattungsteile, die immer gesehen und
gebraucht werden, wie Fensterriegel, Scharniere, Angeln
und Türklinken, sind eigens gezeichnet und hergestellt worden,
so daß dieselben, was Größe, Gewicht und Widerstands -
fähigkeit anbelangt, den Holz- und Metallteilen, zu denen
sie gehören, genau angepaßt sind. Diese kleinen Ausstattungs -
stücke sind nicht auf Grund einer zufälligen Wahl aus dem
Musterbuche eines Eisenhändlers angeschafft worden und
weisen kein Gemisch verschiedenartiger Stile, keine über -
flüssigen Ornamente, keine Vorspiegelung von ehrlicher
Handarbeit durch Gußeisen und keine skrupellose Nach -
lässigkeit auf. Das ist wohl bedeutend zeitraubender und
schwieriger, dafür ist alles aber auch gediegen, und es ist
täglich eine Belohnung und eine unerschöpfliche Quelle
der Befriedigung, das zu sehen und zu wissen.
Gutes Eichenholz bildet den konstruktiven Teil des inneren
Hauptgebälkes des Hauses. Pfosten, Tragebalken, Streben,
ebenso wie Türen und Türrahmen, Pfosten, Stiegen und
manche Fußböden sind aus guter englischer Eiche her -
gestellt, die in der Nachbarschaft wächst. Ich glaube, daß
kein noch so großer Londoner Baumeister solche Arbeit
liefern könnte. Er geht nicht in den Wald, um sich das
Holz solange es wächst zu kaufen, er läßt es nicht jahre -
lang in einem geräumigen Hof langsam trocknen, um dann
mit der Zeichnung des Architekten hinzugehen und das
Stück auszusuchen, das dessen Absichten genau entspricht.
Der alte Baumeister auf dem Lande geht, wenn er sich
einen geschweiften Balken oder eine gebogene Verstrebung
verschaffen will, durch seinen Hof und sucht sich den Holz -
klotz aus, der in der gewünschten Form gewachsen ist und
nachdem er die äußeren Schichten mit der Säge entfernt
hat und ihm durch das Behauen mit der Axt ungefähr
die nötige Gestalt gegeben hat, arbeitet er ihn mit dem
Breitbeil endgültig aus, so daß das vollendete Werk, welches
eine mit der Natur und der Art des Materials vollkommen
in Einklang stehende Behandlung aufweist, stets von der
Geschicklichkeit zeugen wird, mit der sein Meister die
großen alten Werkzeuge handhabt.
Trotzdem die Arbeit des Londoner Baumeisters technisch
vollendeter ist, hat sie doch nicht die kraftvolle Lebendigkeit
und das individuell Interessante des alten Bauern an sich
und muß unfehlbar jeden Zusammenhang mit den lokalen
Traditionen verloren haben. Der Londoner muß die großen
Ladungen von auswärts gesendeten Holzes, wie es von den
Stapelplätzen der Kaufleute kommt, kaufen und es mit
seiner unbarmherzigen Dampfsäge umformen, das Holz -
werk geht dann durch verschiedene Hände, wobei es in jedem
Stadium seiner Verwandlung von einer anderen Maschine be -
arbeitet wird. Schon die Atmosphäre des engen Londoner
Hofes mit dem lärmenden Dampfauspuff, den dröhnenden,
rasselnden und kreischenden Maschinen, den verschiedenen
Abstufungen der Behandlungsarten scheint darauf berechnet
zu sein, in den verfertigten Dingen alles Lebendige und
Charakteristische zu vernichten. Und was ist das Resultat?
Eine Arbeitsleistung, die trotz des Verdienstes der mechanischen
Genauigkeit jedes menschliche Interesse verloren hat; dieselbe
hält sich mit blinder Treue an die Zeichnung des Architekten,
ist aber leblos, reizlos und ganz unsympathisch. Es liegt mir
fern, die Genauigkeit oder die technische Vollkommenheit
der Arbeit herabzusetzen; wenn es sich aber um ein zum
inneren Bau gehörendes Holzwerk handelt, das den Teil eines
Hauses bilden soll, welches zu der großen Klasse der Cottages
gleich dem meinigen gehört und sich in einer Gegend befindet,
die noch immer im Besitze der wertvollen Erbschaft einer
Tradition ist, wie die Häuser zu bauen und zu benützen sind,
ist eine solche mechanische Vollkommenheit gar nicht am
Platze.
Dann empfindet man ja auch ein lebhaftes, natürliches Inter -
esse dafür, zu wissen, wo die Bäume, aus denen das Haus
gebaut ist, wirklich wachsen. Die drei großen, zehn Quadrat -
zoll starken Balken, die durch die Decke des Wohnraumes
gehen und außerdem noch einen großen Teil des oben be -
findlichen Schlafzimmers zu tragen haben (sie sind 28 Fuß
lang), wuchsen vor 15 Jahren in einer Entfernung von
i 1 ^ Meilen an der Lichtung des Föhrenwaldes, gerade über
dem mit Haselnußstauden eingefaßten Hohlweg, dessen steile,
sandige Seitenabhänge hie und da doch eine Pflanzengruppe
hervorzubringen vermögen und wo große Farnkräuter, hoher,
roter Fingerhut und die schönsten Glockenblumen, die ich je
gesehen habe, wachsen. Diese großen Eichen standen auf dem
Gipfel des dem Westen zugekehrten Hügels, ihre Wurzeln
waren im Sommer in einem kühlen Bett von großen Farnen
versteckt und im Winter in die behagliche Wärme der mo -
dernden Blätter gehüllt; im Frühling breitete sich vor ihnen
ein Teppich von wilden, blauen Hyazinthen aus; einer oder
zwei ihrer Kameraden stehen noch immer dort. Ich lief von
meiner frühesten Kindheit an oft durch diesen Weg und war
es gewohnt, dort diese großen, grauen Bäume zu sehen, die
sich in der Dämmerung fast gespenstisch von dem geheimnis -
vollen, dunklen Hintergrund der düsteren Föhren abhoben.
Ich erinnere mich immer darüber gestaunt zu haben, wie
gerade und groß sie waren, denn diese sandigen Anhöhen
können nicht so leicht solche große Eichen hervorbringen,
wie man sie auf dem lehmigen Waldboden einige Meilen
südlicher und am Fuße unserer besonnten, gut gedüngten
Hügel findet. Es freut mich aber zu wissen, daß meine Pfosten
dieselben alten Freunde sind, und daß das Vergnügen, welches
mir ihr Grünen und Wachsen bereitete, nicht zerstört, sondern
nur verändert ist, wenn ich sie sich als große Balken aus
gediegener englischer Eiche über mir strecken sehe.
Die Erinnerung an einen seltsamen Vorfall, der sich vor
vielenjahren abspielte und den ich nicht genügend begründen
kann, der mir aber unvergeßlich bleibt, steht mit demselben
Hohlweg in Zusammenhang; er spielte sich nur wenige
Meter tiefer und im Umkreis der niedrigsten Eiche ab.
Ich ritt auf einem großen und etwas nervösen Pferd den
Hohlweg hinab, der zwar nicht direkt abschüssig genannt
werden kann, aber doch recht steil nach abwärts geht. Da
prasselt plötzlich ein starker Sommerregenschauer nieder,
und ich war gerade aus dem geschützten Bereich einer dicht -
belaubten Eiche herausgeritten, als ich einen zweirädrigen
Landwagen über den schmalen Weg hinter mir recht schnell
rollen hörte. Als er näher kam, konnte ich dem Geräusch
nach annehmen, daß es ein schwerer Lastwagen war, wie
sie die Farmer zur Fahrt auf den Markt benützen, wenn
sie zwei, drei Schweine unter einem festen Netz hinter sich
liegen haben. Ich konnte das Rasseln und Klirren des Pferde -
geschirres und der herabhängenden Wagenkettenenden hören.
Als der Mann gerade an mir vorbeifahren wollte, schlug er
das Pferd mit den Zügeln auf den Rücken, wie es rohe
Kutscher, die keine Peitsche haben, zu tun pflegen, und der
klatschende Laut des nassen Leders drang zu mir herüber;
in diesem Augenblick rief er dem Pferde auch „hüh“ zu,
um es anzutreiben. Ich war gerade damit beschäftigt, mein
Pferd möglichst dicht nach der nächsten Seite des Weges
hinzulenken, als es den Mann hörte und einen ungeduldigen
Seitensprung machte, der von einem ziemlichen Stoß gefolgt
war. Der vorüberfahrende Wagen befand sich so nahe, daß
ich glaubte, die Beine des Pferdes müßten die Räder be -
rühren, das war aber nicht der Fall und ich zog das Tier
so nahe ich konnte zum Straßendamm hin. Als der Wagen
nicht vorüberkam, wandte ich mich um; die von mir vor -
her vernommenen Laute hörten auf und es war nichts anderes
als einige hunderte Meter leeren Raumes den Hohlweg ent -
lang zu sehen. t- 0 r j 4
In der Nähe meines Hauses befindet sich ein Fußpfad, der
von einer ruhigen, schattigen Allee eingefaßt ist un er
durch eine solide Gartenpforte abgeschlossen ist. Der a r-
weg geht nicht bis zur Haustür. Ich liebe es, wenn die
nächste Umgebung des Hauses möglichst ruhig und e-
scheiden ist, und dieser Pfad soll es zum Ausdruck ringen,
daß er zu einer kleinen Behausung auf waldigem Grunde
führt. Man gelangt auf dem Pfade zu einem Bogen in der
Ostmauer des Hauses, der in einen langen, gedeckten ang
oder eher in einen sich an das Haus anlehnenden ge ec en
Vorsprung übergeht. Das hat den Zweck, den Eintreten en
noch vor dem Erreichen der Haupttür vor Unwetter zu
schützen und zugleich einen bequemen Ruhepunkt für die Süd -
seite des Hauses zu schaffen, der auch an der Vorderseite in der -
selben Gestalt wiederkehrt. Seine niedrigere westliche Seite
weist flache Bogen aus schwerem Holzwerk auf, die an die
höhere östliche Mauer mittels größerer Bogen befestigt und
gespannt sind. Jeder sieht beim Eintreten das Gartenbild
mit Rasen, Bäumen, breiten Wegen und der von einer
schottischen Hagebuttenhecke gekrönten Mauer vor sich. Da
das Haus auf einem nach dem Norden hin leicht abfallenden
Terrain steht, befindet sich der Rasen der südlichen Seite
auf einem höheren Niveau. Die Abbildung zeigt, wie der
Gang von der Frontseite im Spätsommer aussieht, wenn
die Hydrangea in voller Blüte steht. Die Haupttür führt in
ein geräumiges Vorzimmer und dann durch einen kurzen
Gang an dem links gelegenen kleinen Speisezimmer vorüber
in das Wohnzimmer. Das Wohnzimmer ist niedrig und recht
groß, es ist 27 Fuß lang und 21 Fuß breit und mißt 8 Fuß
vom Boden bis zur Decke. Eine lange, niedrige Fensterreihe
beleuchtet es an der Südseite und am Nachmittag strömt
eine Flut westlichen Lichts durch ein anderes großes, auf
dem mittleren Treppenabsatz befindliches Fenster in das
untere Stockwerk. Die Treppe mündet in dem Zimmer und
nimmt zugleich mit dem gedeckten, steinernen Kamin den
westlichen Teil des Zimmers ein. Die Fenster sind von der
Art, wie man sie in den guten alten Gebäuden der Gegend
antrifft: ihre Mittelpfosten aus Eichenholz liegen in gleicher
Ebene mit der Außenseite der Mauer, und da diese recht
dick ist, hat jedes Fenster ein breites Fensterbrett, das 18 Zoll
tief ist. Die Wände sind 22 Zoll dick, und da die Steine der
Gegend, wenn sie in frischem Zustande gebraucht werden,
einige Jahre lang nicht wasserdicht sind, mußten die Mauern
hohl gebaut werden, so daß die äußere Steinwand etwa 15 Zoll
im Durchschnitt hat, worauf eine Luftschicht von 3 Zoll und
dann eine innere Ziegelmauer folgt, die mit der äußeren
durch eiserne Stützen fest verbunden ist.
Die Treppenstufen sind niedrig und breit. Die Stiege setzt
sich aus vier kurzen Aufstiegen und drei viereckigen Ab -
sätzen zusammen; der erste Treppenabsatz führt in einen
kleinen Bibliotheksraum, der keine Tür hat und bei dem
ein Bogen mit einem Vorhang den Eingang bildet. Es ist
ein nettes, kleines Zimmer, das zum Arbeiten und Lesen
wohl geeignet ist. Es erinnert mich immer an St. Hieronymus’
Klause in der Nationalgalerie; nicht weil es auch nur die
geringste Ähnlichkeit damit hat, sondern weil es dasselbe
köstliche Gefühl der Ruhe hervorruft, das den Geist zur Arbeit
anregt. Die südliche Wand besteht fast aus lauter Fenstern,
während die westliche ganz mit Büchern bedeckt ist; an der
Nordseite befindet sich der Eingangsbogen und steht ein
Schreibtisch aus Eichenholz, die vierte Seite wird von einem
Bücherschrank und einem Kamin eingenommen.
Die Stiege macht einen angenehmen soliden Eindruck; die
Hauptpfosten an den Ecken gehen gerade nach unten und
ruhen auf einer Ziegelmauer. Die größte Stiege mißt dreizehn
Fuß und es war für den Baumeister eine schwere Aufgabe,
dieselbe gediegen auszuführen, denn nichts in diesem Hause
ist nur irgendwie angebracht und er konnte etwas so Langes
nicht mit einer Drehbank bearbeiten; da es für einen ge -
schickten Tischler aber keine unlösbaren Aufgaben in bezug
auf die Behandlung von Holzwerk gibt, hatte er die Sache
gleich heraus und bearbeitete das Ganze mit der Hand.
Die Galerie aus Eichenholz, zu der die Stiege führt, ist
60 Fuß lang und 10 Fuß breit. Es kostet einige Über -
windung, sein Eigentum zu loben, dieser Teil des Hauses
bereitet mir aber so viel Freude und findet bei allen, deren
Verständnis und Geschmack ich am meisten achte, so viel
55
Beifall, daß ich ihn in bewundernden Ausdrücken zu be^
schreiben wage. Es ist das Verdienst meines guten Architekten,
der den Raum ganz so gestaltet hat, wie ich es wünschte,
aber nicht beschreiben könnte, und des tüchtigen alten
Tischlers, der die Zeichnungen in einer den Absichten des
Architekten ganz entsprechenden Weise ausgeführt hat, wenn
ich sagen darf, daß diese Galerie ein gutes Beispiel dafür
ist, wie englische Eiche in einem einfachen Hause verwendet
werden kann, das keine anderen Ansprüche macht, als gut
ausgeführt zu sein und aus einem seiner Natur und dem
verfolgten Zwecke entsprechend verwendeten Material zu
bestehen, wobei auch auf die Schönheit der Verhältnisse und
die Einfachheit der Wirkung Rücksicht genommen wurde.
Und dank dem Umstand, daß das Haus in diesem Geiste
geplant und ausgeführt wurde, weist diese Galerie sowie
das ganze Gebäude eine Eigenschaft auf — die meinem
Ermessen nach die wertvollste ist, die ein Haus oder irgend
ein Teil davon besitzen kann — es fördert das Gefühl der
Ruhe und die Heiterkeit des Gemütes. Es ist in einer ge^
heimnisvollen Weise von dem Ausdruck eines freudigen,
lieben Willkommenheißens erfüllt, verspricht der Seele und
dem Körper Ruhe und bietet Auge und Hirn die vollste
Befriedigung.
Das sind gerade jene wünschenswerten Eigenschaften, die in
einem modernen Gebäude so selten gefunden werden und
die man an den uns hinterbliebenen Beispielen der Haus-
architektur unserer Tudor^ und Jakobinischen Epoche und
noch häufiger an den Klosterbauten des Auslandes so sehr
schätzt. Einer der Wünsche, den ich meinem Architekten
gegenüber äußerte, bestand tatsächlich darin, daß ich gerne
etwas von der Stimmung eines Konventes bei mir haben
wollte, und da ich das durch nichts anderes als durch eine
gediegene Bauweise und ehrliche Einfachheit zu erreichen
wußte, hat er meinen Wunsch zu erfüllen verstanden.
Die Galerie hat an der linken Seite in einer langen Reihe
nördlich gelegener und nach dem Garten gehender Fenster
eine reichliche Lichtquelle. Rechts befinden sich tiefe Schränke
mit Türfüllungen aus Eichenholz, die nur durch getäfelte
Nischen unterbrochen werden, in welchen sich die Türen
zu den drei Schlafzimmern befinden. Ein Raum von acht
Fuß ist von einem weniger tiefen Schrank eingenommen,
der eine verglaste, mit Schiebefenstern versehene Vorderseite
hat und in dem allerlei kleine Schätze aufgehoben werden,
die auf Anmut oder persönliches Interesse Anspruch erheben
können und die von jedem, der einen Hang zu sammeln
hat, fast unbewußt angehäuft werden. Alle diese Dinge sind
mit dem Bestreben, eine malerische Wirkung hervorzubringen,
aufgestellt und der Schrank erfüllt den doppelten Zweck,
mich den Anblick meiner ganzen, sich aus verschiedenartigen
kleinen Dingen zusammensetzenden Habe genießen zu lassen
und mir zugleich die Gewißheit zu geben, daß dieselbe vor
den gefährlichen Sprüngen der jungen Katzen und vor der
gut gemeinten, aber oft verhängnisvollen Betätigung des
Staubwedels gesichert ist. Es sind darin Erinnerungen an
manche Länder und manche Menschen enthalten: an Gegenden,
die ich nie wieder sehen werde, denn die Zeit zu reisen ist
für mich vorüber; es befinden Sich auch liebe kleine Gaben
von Freunden dabei, die nicht mehr unter den Lebenden
sind. Einige der kleinen Gegenstände haben keinen anderen
absoluten Wert, als ihre Anmut, die sich gar nicht abschätzen
läßt, wie die schöner Muscheln und Federn.
(Fortsetzung folgt.)
Zur
Reform
der weib'
liehen
Hand'
arbeiten.
(Siehe
Seite 63.)
56
Modernes Geschmeide aus der
Wiener Werkstätte.
Halsschmuck. Entwurf Prof.
Kolo Moser. Ausführung in
Gold; die Schließe aus Silber,
mit Perlschale.
Vergleiche Text über Gold-
schmiedekunst. Heft 20, Jg. I,
Seite 343 und Heft 1, Jg. II,
Seite 8.
GOLDSCHMIEDEKUNST.*
VON ALFRED LICHTWARK.
Die Auslage eines vornehmen Goldschmiedes verrät mehr
von dem Zustand unseres Geschmacks und gibt eine zu^
treffendere Vorstellung von der wirklich vorhandenen Ge^
sinnung und den wirklichen Bedürfnissen der Gesellschaft
und des ausführenden Technikers, der in früherer Zeit
Künstler war, als irgend eine Weltausstellung.
Da alle Goldschmiedsladen der Großstädte nach demselben
Schema angelegt sind, muß etwas wie der Ausdruck des
Gesetzes vorliegen.
Sie haben durchweg zwei Abteilungen. Oben, im besten
Licht und in bequemster, der durchschnittlichen Augenhöhe
angepaßter Sichtigkeit, breiten sich auf weißem oder rosigem
Sammet die Perlketten, Diamantsterne und Rubinringe aus.
Unten liegen zwischen silbernen Zigarettendosen, Streichholz^
schachteln, Zigarrenabschneidern und anderen nützlichen
Dingen — man muß sich bücken, sie zu sehen allerlei
Gürtelspangen und Broschen aus vergoldetem oder oxydiertem
Silber mit Steinen, deren Namen niemand kennt und die
auch Glasflüsse sein könnten.
Die Schmuckgedanken dieser Ware erinnern an Blumen,
an Knochengelenke oder verschiedenartige Naturformen,
die etwas so Ungreifbares an sich haben wie tanzende Licht-
flecke auf bewegtem Wasser.
Oben wohnt der wirkliche Geschmack der vornehmen Welt.
Unten liegt die neue Kunst, die man Kindern und Bonnen
schenkt, auch wohl zur Tennis- oder Picknicktoilette tragt.
Oben herrschet die solide Technik der Goldschmiedswer
statt und das edelste Material, unten die billige neue Kunst
stammt aus Fabriken und bekommt weder echte Diamanten
und Rubinen noch Smaragde oder Saphire zu kosten,
kaum einmal Gold. Oben brüstet sich die Überlieferung
im guten und bösen Sinn, unten schimmert ein Abg anz
der neuen Formen und Kunstmittel, die sich einige fuhren e
Künstler ausgedacht haben.
* Siehe „Der Deutsche der Zukunft“, Seite 59-
Dies alles kann man feststellen, wenn man im Gespräch
vorbeigeht, zögernden Schrittes einen Bogen nach dem Fenster
schlägt und ohne Gespräch oder Gang zu unterbrechen,
den Blick einen Husch auf die Suche schickt.
Wer stehen bleibt — und es lohnt sich immer — kann an
der obersten Auslage einVerzeichnis der Gedanken, Techniken
und Materialien aufnehmen, die der heutigen Goldschmiede -
werkstatt eigen sind. Mit dem Umfang der künstlerischen
oder technischen Gedanken unserer Goldschmiede können
wir keinen Staat machen. An ornamentalen Gedanken gibt
es den Stern, den Halbmond, den Blumenzweig, den Schmetter -
ling, die Libelle, zeitweilig auch die Spinne, man weiß nicht,
wie ein Goldschmied auf dies abstoßende Tier verfallen ist,
vielleicht war etwas Aberglaube dabei, da der Schmuck ja
abends getragen wird. Dazu natürlich die einfachen Rei -
hungen der Halsbänder und Perlschnüre und einige ganz
unorganische oder völlig unverständliche Schnörkelformen.
Ich glaube, ich habe nichts vergessen. Diademe, Kämme,
Armbänder pflegen mit noch geringerem Aufwand an Er -
findung hergestellt zu werden.
Und die Gestalten der Blätter, Blüten, Schmetterlinge und
Libellen sind ohne jegliche Anlehnung an eine erkennbare
Naturform gebildet. Sie stellen das Blatt, die Blüte, den
Schmetterling an sich dar.
In der Silhouette, den Umrissen, als Fleck und Linie sind
diese Formen durchweg sehr wenig gefühlt. Es scheint, als
ob man nach Möglichkeit vermeiden will, irgend etwas
außer dem Material selbst wirken zu lassen und sich vor
jedem Element Kunst ängstlich hütet.
Dies Material besteht nun fast ausschließlich aus Brillanten
(die schon fast ordinär wirken) und Perlen. Farbige Edel -
steine wie Smaragd, Rubin, Saphir kommen seltener vor
und man nutzt ihre Eigenschaften fast niemals aus. In den
letzten Jahren begegnet man namentlich in Ringen wieder
den rundgeschliffenen farbigen Edelsteinen. Zunächst sind
sie wohl aus praktischen Rücksichten glatt beliebt. Aber an
diesen wenigen Versuchen wird man lernen, daß der farbige
Edelstein seine besten Eigenschaften aufgibt, wenn man ihn
57
zwingt, mit vielen Facetten den Diamanten nachzuahmen.
Das Gold ist an dem vornehmen Schmuck fast ganz ver^
schwunden. Es hält sich eigentlich nur noch an Armbändern
und Ringen, wo man es nicht entbehren kann. Man wird
es wohl nicht wertvoll genug halten. Ich habe nirgend
beobachtet, daß man die künstlerischen Mittel, die der Stoff
des Goldes bietet, irgendwie ausgenutzt hätte. Ein modernes
Schmuckstück, das sich auf eine Mondferne dem herrlichen
Goldschmuck der späten Bronzezeit in Kopenhagen, dem
Goldschmuck aus der Zeit Alfreds des Großen, wie es
vergangenes Jahr im British Museum ausgestellt war, dem
etwas jüngeren Schmuck der deutschen Fürstin im Besitz
des Freiherrn v. Heyl nähern dürfte, ist mir nicht bekannt.
Die technische Arbeit in diesen neuzeitigen Auslagen vor'
nehmsten Schmucks ist mehr die des Mechanikers, der für
die größtmögliche Sicherheit der Befestigung zu sorgen hat,
als die des Künstlers, der alle besonderen Eigenschaften
seines Materials zur Geltung zu bringen wünscht.
Es hat etwas Erschreckendes, wenn einem zum erstenmal
die Einsicht kommt, daß beim vornehmsten Schmuck unserer
Zeit nicht der schmückende Wert zuerst und zuletzt gesucht
wird, sondern ohne Rücksicht auf die künstlerische Wirkung
der rein materielle.
Seit vielen Jahren haben wir dies eingesehen und Künstler
und Kunstfreunde haben immer wieder auf die unberührten
Möglichkeiten schmückender Wirkungen hingewiesen, die
in aufgegebenen alten und neuen Techniken und tausend
edlen ebenso vernachlässigten Stoffen liegt.
* *
*
Vor einem Jahrzehnt schien dann mit einem Schlage eine
neue Zeit anzubrechen, da die Künstler anfingen, sich mit
Entwürfen für Schmucksachen zu befassen. Und was sie
brachten, hat weite Gebiete völlig umgewandelt. Aber vor--
läufig nur die Niederungen. Das unterste Fach der Gold'
schmiedladen faßt die Ergebnisse zusammen.
Hier lassen sich eine ganze Anzahl Techniken entdecken,
die der vornehme Schmuck verschmäht, hier breitet sich ein
Formenschatz aus, an den der Hersteller kostbaren Schmuckes
gar nicht denkt.
Die ersten Anregungen stammen aus England. In Paris hat
sich ein Künstler und Techniker gefunden, der mit äußerstem
Raffinement alle verfügbaren edlen und halbedlen Stoffe und
alle Techniken — oder doch die meisten — die eine
schmückende Wirkung verbürgen, in den Dienst der künst'
lerischen Erfindung gestellt, sein Name hat Weltruf, es ist
Lalique. In Deutschland hat man sehr rasch das Wesentliche
aufgegriffen. Zahlreiche Künstler haben Schmuck entworfen,
die Fabriken sind wohl sämtlich in die neue Richtung hinein'
gegangen, die nun einmal Mode ist.
Da die Entwicklung sehr rasch und ganz ohne die wünschende
oder kritische Beteiligung des Publikums vor sich gegangen
ist, darf man sich nicht wundern, daß die neue Richtung
sich um das Bedürfnis nicht viel gekümmert hat. Es kam
ihr zu gut, daß wieder Gürtelschließen, hohe Kämme und
Halsketten getragen wurden, und für diese Schmuckstücke
hat sie sich sehr leistungsfähig gezeigt. Weniger glücklich
war sie jedoch durchweg beim Brustschmuck.
Vor ihren Gehängen und Broschen mußten von der ersten
Stunde an gewichtige Bedenken auftauchen.
Ein Ring, ein Halsgehänge, ein Gürtel, ein Diadem sind für
verschiedene Standpunkte berechnet. Der Ring allein kann
vom Träger selbst betrachtet und zur Betrachtung hingehalten
werden. Er verträgt deshalb das höchste Maß technischer
und künstlerischer Feinarbeit. So ist er auch zu allen naiven
Zeiten aufgefaßt worden. Heute will man auch von ihm
nur Kostbarkeit. Der Halsschmuck, der beim ausgeschnittenen
Kleide getragen wird, hat eine ganz andere und sehr zarte
Aufgabe. Es soll das höchste Maß von Schmuck gewähren,
ohne, wie der Ring, zur genauen Besichtigung herauszufordern.
Was eine Dame bei ausgeschnittenem Kleide auf dem Halse
trägt, darf wohl unter keinen Umständen so angelegt und
ausgeführt sein, daß der Wunsch entsteht, es aus der Nähe
zu sehen. Darin versieht es nach meinem Gefühl Lalique
und darin haben die alte Perlenschnur und das Diamant'
haisband recht, deren schmückende Kraft auf einer Art Aus'
Strahlung beruht und die nicht im einzelnen besehen sein
wollen.
Sie werden dem Sturm von seiten der künstlerischen Um'
gestaltung des Schmuckes noch lange trotzen, und wenn
auch die Diamanten einmal vom Hals verdrängt werden —
wenigstens in der brutalen Fassung, die bei uns beliebt ist —
die Perlenschnur durch ein Werk der Menschenhand zu er'
setzen, das gleich hohen und gleich neutralen Wert hat,
wird wohl sobald nicht gelingen.
Auf alle Fälle hat es die jüngste Bewegung noch nicht ver'
mocht, Brust' und Halsschmuck von derselben Gültigkeit
und Neutralität zu schaffen.
Wird sie es noch vermögen, wo sie es nicht in der ersten
Stunde gekonnt hat?
Denn ihre Zeit dürfte bald dahin sein. Sie hat eine unver'
hoffte und überaus fruchtbare Anregung gegeben. Aber nun
ist sie bis in die Fabriken gedrungen und nach menschlicher
Erfahrung ist das der Anfang vom Ende.
* *
*
Was wird kommen, die Stelle der Gürtelschließen und
Broschen im untern Bort der vornehmen Goldschmiedsladen
einnehmen und vielleicht diesmal die Festung des oberen
stürmen?
Der naturalistische Schmuck, der heute die Herrschaft in
den niederen Gebieten und im Surrogat besitzt, wird zweifei'
los einem stilistischen weichen.
Schon beginnt der Zug dahin an vielen Stellen fühlbar zu
werden. Mögen nun die Bedingungen seiner Entwicklung
günstiger sein, als sie es im letzten Jahrzehnt für den natura'
listischen Schmuck gewesen sind!
Vor allem wäre es nötig, daß die vornehme Welt, die die
höchsten Anforderungen an den Schmuck stellt, von der
ausschließlichen Bevorzugung des Rohmaterials, die heute
herrscht, zurückkäme und künstlerische Gestaltung auch
minder wertvoller Stoffe dem Prunken mit der materiellen
Kostbarkeit vorzöge. Es hat wohl noch nie eine Kultur ge'
geben, deren kostspieligster Schmuck so durchaus jeder
künstlerischen Veredlung durch die Menschenhand entbehrt
wie der unserer Tage.
Die neue Bewegung kann nicht vom Goldschmied geleitet
werden. Er steht der KUNST seines Faches im allgemeinen
so fern wie der heutige Landschaftsgärtner der Gartenkunst.
Es kann zu nichts Vernünftigem kommen, wenn nicht der
Besteller, der Künstler — vor allem die Maler — und der
Kaufmann dem Goldschmied, der nur noch Techniker ist,
die Wege weisen.
Wer Schmuck trägt oder verschenkt, sollte sich eine genaue
Kenntnis der veredelnden Techniken verschaffen. In den
europäischen Museen gibt es überall zerstreut die kostbarsten
Arbeiten von den Anfängen der ägyptischen Kultur durch
die griechische und alle folgenden Kulturen und Zeitalter
bis auf den Schmuck unserer Bauern. Er wird sich bald
überzeugen, daß von den technischen und künstlerischen
58
Wirkungen, die eine feinfühlige Behandlung des Goldes und
Silbers ermöglicht, heute fast nichts mehr in unseren Werk'
statten bekannt ist. Der neuere und neueste Goldschmuck
könnte in seiner blanken Blechwirkung aus irgend einem
anderen Metall ebenso gut hergestellt werden. Der klassische
Goldschmuck älterer Epochen vermeidet jede solche Brutalität.
Er sucht in der granulierten Oberfläche, im Filigran Wir'
kungen von Schimmer und Duft zu erzielen, die dem
Charakter des Goldes wesentlich eigen sind. Und in diese
schimmernden, nicht blanken Flächen fügt er Perlen, Edel'
steine und Schmelzarbeiten ein, daß die Wirkung eine ge'
radezu dichterische Schönheit erlangt. Wer diese köstlichen
Dinge einmal gesehen und gefühlt hat, wird, wenn er in die
Lage kommt, die Schaffung modernen Schmucks anzuregen,
Wirkungen von derselben Vornehmheit wünschen. Was die
dichtende Seele des Künstlergoldschmiedes hervorzubringen
vermag, ist tausendmal schöner als das kostbarste Rohmaterial,
mit dem wir unseren Sinnen schmeicheln.
Auch der Künstler, der Entwürfe für Goldschmiede macht,
dürfte gut tun, sich, mehr als bisher erkennbar ist, mit den
technischen Problemen zu beschäftigen, die das Material nahe'
legt, vor allem das Gold. Und er müßte, was die Voll' und
Halbedelsteine anlangt, unterstützt werden von dem eim
sichtigen Kaufmann. Wer dem Künstler, den die Schaffung
von Schmuck reizt, die Wege ebnen will, müßte das Roh'
material der wenig bekannten und selten verwendeten Halb'
edelsteine in großen Massen vor ihm ausbreiten, daß seine
Hände darin wühlen können und seine Phantasie unmittel'
bar von dem Stoff angeregt wird, indem sie arbeiten soll.
Er müßte diese Steine nicht als farbige Nachahmungen des
Brillantschliffs zurichten lassen, sondern in glatten Formen
(en cabochon), die der schmückenden Wirkung eine Fülle
jetzt fast unbekannter Motive an die Hand geben. Er würde
sich im Lager eines solchen einsichtigen Händlers mit dem
Kunstfreund, der sich für den Schmuck seiner Frau inter'
essiert, treffen und beraten können.
Mir scheint die Annehmlichkeit, daß Künstler und Kunst'
freund sich bei einem Kaufmann von Geschmack begegnen
könnten, ohne daß der Goldschmied in ihre Unterhaltung
hineinreden darf, überaus fruchtbar zu sein. Ich kann zwar
nur aus der Analogie schließen, bin aber ziemlich sicher, daß
wenn der „Fachmann“ diesen Beratungen des Liebhabers,
Künstlers und Kaufmanns beiwohnte, der Rauhreif des fach'
männischen „es geht nicht“ viele neue schöne Gedanken im
Keim töten würde.
In der Beschaffung und Zugänglichmachung des in ungeahnter
Fülle vorhandenen Rohstoffes liegt jedenfalls eins der Pro'
bleme der künftigen Entwicklung der Goldschmiedekunst.
Man könnte sich auch vorstellen, daß, wie das Berliner'
Gewerbemuseum schon einmal versucht hat, die wertvollsten
Werke des Schmuckes aller Zeiten zu einer Ausstellung
vereinigt würden. Aber in großem Stil ist dieser Plan lei er
nicht ausführbar, denn den Museen, die die Kostbarkeiten a s
einzelne Wertstücke besitzen, kann nicht zugemutet wer en,
daß sie ihre Schätze auf eine Karte setzen. Könnte es aus'
geführt werden, so würde mit einem Schlage auch dem blödesten
Auge klar werden, daß wir trotz aller großen erfreulichen
Anstrengungen der letzten Jahre mit unserm Schmuc noc
in tiefer Barbarei stecken. „
Ich höre schon den Einwurf, für das Wohlbefinden un e'
deihen der Nation sei es ziemlich gleichgültig, ob ein e erer
Geschmack die Ausbildung des Schmuckes leite. we! e os
kann es dem einzelnen Arbeiter herzlich einerlei sein, ob die
einzelne vornehme Frau künstlerischen oder brutalen c m1 * c
trägt. Aber darf die Frage so gestellt werden? Es hangt alles
in sich zusammen. Wie viele Geschmacksfragen von dem
einen Punkt der künstlerischen Gestaltung des Schmuckes
in Fluß gebracht werden, wieviel für die edlere Ausbildung
des Auges, das dann nicht über den Schmuck allein richtet,
geleistet wird, kann leicht jeder nachrechnen. Jede Wirkung
strahlt nach allen Seiten aus.
DER DEUTSCHE DER ZUKUNFT.
Vorstehende Arbeit gehört einem neuen Werke Lichtwarks
an. Der Buchtitel „Der Deutsche der Zukunft“ klingt wie
eine fröhliche Botschaft. Die deutsche Bildung, einseitig dem
Wissen, dem Verstandesmäßigen zugetan, hat die Entwicklung
und Ausbildung der Fähigkeiten, die für das Leben fruchtbar
sind, zum Schaden der Kultur vernachlässigt. Trotz großer
Erreichungen in zivilisatorischer Hinsicht ist in jener Richtung
ein erschreckender Rückgang fühlbar. Aber wir leben in einer
Zeit, die vieles gut zu machen verspricht. Zu den Leitern des
modernen Kulturganges gehört Alfred Lichtwark. In seinen
Büchern, die wie dieses neue fast alle bei Bruno Cassirer, Ber'
lin, erschienen sind, werden die Grundlagen der künstlerischen
Bildung entwickelt. Auch in dem genannten jüngsten Buch
ist die deutsche Gegenwart in den Hauptgebieten der formalen
Kultur verglichen mit der tröstlichen Erscheinung des Deut'
sehen der Zukunft, Verirrungen und Versäumnisse mit
entwicklungsfähigen Keimen und möglichen Entfaltungen.
Bedeutsame Persönlichkeiten, vor allem Justus Brinkmann,
von der ausstrahlenden Kraft eines Vorbildes, sind in sorg'
faltiger, liebevoller Charakterzeichnung geschildert. Die Dar'
Stellung in Lichtwarks Büchern ist von seltener Klarheit und
Sachlichkeit, die einem oberflächlichen Urteil unpersönlich
erscheint, in der Tat aber in hohem Maße persönlich ist.
Sie ist der Ausdruck eines Geistes, der Form und Inhalt
mit vollendeter Sicherheit beherrscht. Sie ist Kultur. Nicht
weil dieses Wort zum Gegenstand seiner Bücher geworden,
sondern weil es in der Persönlichkeit lebendig geworden, so
ist es auch an den Werken. Eine Stunde mit Lichtwark ist
sicherer Gewinn.
JEDER ERZIEHER SOLLTE SICH BESTALL
DIG VOR AUGEN HALTEN, DASS BILDUNG
MEHR IST ALS WISSEN UND KULTUR
MEHR ALS BILDUNG.
WENN DIE SCHULE MEHR TUN WOLLTE,
DEN KÜNSTLERISCHEN SINN ZU ENT'
WICKELN, SO KÖNNTE SIE DAS NATUR'
LICHE KAPITAL AN LEBENSFREUDE
DURCH ZINS UND ZINSESZINS BALD VER'
VIELFÄLTIGEN.
DAS LEBEN MIT KUNST ZU DURCH'
DRINGEN, IST ETWAS ANDERES, ALS ES
MIT KUNSTPRODUKTEN ZU BEHÄNGEN.
OUCKAMA KNOOP.
59
LITERATUR.
JAPANISCHE LYRIK.
em japanischen Farbenholzschnitt ist diese Lyrik künst^
lerisch verwandt; Empfindungen oder Natureindrücke
in Linien oder Worten mit wundervoller Einfach'
heit gebildet, blühen hervor als zarte, flüchtige
Impressionen, aber von einem ganz bestimmten feinen Stilge^
fühl beherrscht. In den leichten Linien und Flächen der Holz'
schnitte oder in den rhythmischen Zeilen klingen Stimmungen
aus wie ein Ton, der weithin ausschwingt und fern alle Glocken
lebendig macht. In dem kleinsten Werk liegt eine ganze
Welt, die Natur, die Landschaft, blühende Bäume und vor
allem — Seele. Die folgende Auslese entstammt der älteren
Periode japanischer Literatur von iio bis 1180 n. Ch. Wir
verdanken die Kenntnis dieses älteren Abschnittes dem
Professor Dr. Karl Lorenz, an der Universität zu Tokio,
der den duftigen Blütenkranz japanischer Dichtkunst mit
deutscher Gründlichkeit zerlegt und in seiner „Geschichte
der japanischen Literatur“, C. F. Amelangs Verlag, dem
deutschen Publikum darbietet. Ein verdienstliches Werk,
das die Wißbegierde reichlich befriedigt. Für das Genießen
aber erscheint es ratsam, diese zarten Poesien von dem
schweren Rüstzeug der Gelehrsamkeit zu befreien. Wir fügen
den Proben nur die notwendigsten Angaben bei.
Als der Dichter Yamatodake (iio n. Ch.) sein am Fuße einer
Kiefer vergessenes Schwert bei seiner Wiederkunft noch
liegen fand:
Du einsamer Kiefernbaum,
Der du dem Land Owari
Zugewandt stehst.
Ach, du einsamer Kiefernbaum!
Wärst du ein menschlich Wesen,
Ein Kleid würd’ ich dir anziehen.
Mit einem Schwert dich gürten.
Ein Mann, namens Susukori, braute trefflichen Reiswein
und überreichte ihn dem dichtenden Kaiser Ojin. Der wurde
davon bezecht und sang:
Von Susukoris
Gebrautem herrlichem Wein
Bin ich ganz trunken worden.
Vom tröstenden Wein,
Vom Lächelwein
Bin ich ganz trunken worden.
Liebeswerbung des Dichters an ein Mädchen auf dem Lande:
Mit dem Korb da.
Dem schönen Korb in der Hand,
Mit dem Grabscheit da,
Dem schönen Grabscheit in der Hand,
Auf diesem Hügel
Kräuter pflückendes Kind!
Dein Haus möcht’ ich erfahren,
Deinen Namen nenne mir!
Das Himmelsgefundene
Land Yamato —
Im ganzen
Bin ich’s, der da wohnt,
Im ganzen
Bin ich's, der da residiert,
Ich bin es, der
Sich gerne nennte dein Gemahl.
Nenn mir dein Haus, den Namen dein!
Lob des Weines in folgenden beiden Gedichten von Otomo
no Tabito:
Was die alten
Sieben weisen
Männer auch
Am liebsten hatten,
Soll der Wein gewesen sein.
Edelsteine selbst,
Die nächtlich leuchtend flimmern,
Wie könnten sie
Dem Reiswein sich vergleichen,
Des Trunk die Sorgen bricht?
Gefühlslyrik, in der die Naturbetrachtung die Hauptrolle
spielt; beide folgenden Gedichte von Akahito um 724 n. Ch.
Auf die Frühlingsflur
Blauveilchen zu pflücken,
War ich gekommen;
So reizend war’s, daß ich blieb
Die Nacht dort zu verschlafen.
Dem Liebsten mein
Gedacht ich sie zu zeigen,
Die Pflaumenblüten.
Nun schneit’s — und ich vermag nicht
Blüten und Schnee zu scheiden.
Der Dichter Yakamochi (746) an seine Frau:
Wann werden wohl
Die Nelken, die ich pflanzte
An meinem Hause,
Erblühn, daß ich in ihnen
Dein lieblich Bild erschaue?
Aus den Improvisationen von Otomo no Tabito (Vater des
obigen Dichters).
Sind’s Pflaumenblüten,
Die in den Garten wehen?
Sonst müßten wahrlich
Schneeflocken niederfallen
Am sonnenglänzenden Himmel!
Fujiwara no Hirotsugu, als er einer Maid Kirschblüten
schenkte:
In jedem Blatte
Der Blüten dieses Zweiges
Ist hundertfältig
Ein Herzenswort enthalten.
Mögst du sie nicht verschmähen!
60
Klassische Lyrik aus der Zeit 901—922, davon die folgenden
fünf:
Auf die Blumen der Astern,
Von denen die einen in lichter,
Die andern in satter Farbe
Erscheinen, setzet der Tau sich,
Teilend sein Herz zwischen beiden,
Da Blütenzweige,
Auf denen sitzend sie sänge,
Sie nicht mehr findet,
So ist die Nachtigall
Zuletzt ganz traurig worden,
Im allgemeinen
Mag ich den Mond nicht leiden,
Denn diese Monde
Sind’s gerade, die sich häufend
Des Menschen Alter machen.
Des Bergdorfs Leute,
Sie versprachen, zu künden.
Wenn blühn die Blüten,
Just sandten sie den Boten:
Nun sattelt mir schnell mein Roß!
Im dichten Wald dort
Nicht könnt ich ihn erkennen,
Des Kirschbaums Wipfel —,
Jetzt aber hat ihn endlich
Sein Blütenschmuck verraten.
Nacht überfällt mich;
So will ich unterm Baume
Herberge nehmen,
Und Kirschbaumblüten sollen
Für heute nacht mein Wirt sein.
*
Aus Tsurayukis (930) Reiseschilderung (Tagebuchliteratur.)
Ihr Himmelswinde,
Weht und verschließt die Straße
Zwischen den Wolken,
Um länger festzuhalten
Der Jungfrau’n Reizgestalten.
Seht, wie auf jedem Wipfel
Der Kiefern dort am Strande
Kraniche nisten,
Befreundet mit den Bäumen
Von tausend Menschenaltern!“
Noch wie in alten Zeiten.
Die Leute? Ach, ich weiß nicht,
Was jetzt ihr Herz erfüllet.
Die Blüten aber
Des Heimatdorfs, die duften
„Man weiß nicht, wie viele Kiefernbäume sind, wie viele
Tausende von Jahren sie hinter sich haben. An jedem Fuß-'
ende branden die Wogen, branden die Wogen, von Zweig
zu Zweig fliegen Kraniche hin und her. übermannt von
dem reizenden Anblick dichtete ein Mann auf dem Schiffe.
Als sich im Frühling die Höflinge nach dem Fluß Shirakawa
begaben (Dichter Fujiwara no Kinto 967 1041).
Du einsam Bergdorf,
Dem nur im Lenz die Leute
Besuch abstatten:
Die Blüten deiner Bäume
Sind’s, die zu Gaste laden.
Aus des „Langen Herbstes Liedersammlung die folgenden
drei:
Ach, auf der Welt ist
Kein Weg, wo ich dem Kummer
Der Welt entflöhe.
Selbst in den tiefen Bergen,
Der Stätte meiner Sehnsucht,
Tönt Klagelaut der Hirsche.
Auch den volkstümlichen Kultliedern, bei Götterfesten ge -
sungen, unseren älteren Naturfestspielen vergleichbar:
Im tiefen Gebirg,
Im tiefen Gebirg
Scheint Hagel gefallen zu sein.
Denn der Vorgebirgs
Rankende Wetterpflanzen
Haben sich schon gefärbt,
Haben sich schon gefärbt.
Einem Schulliederbuch der Gegenwart entnommen; vom
Priester Jichin (1220) gedichtet:
Wenn ich beim Morgengrauen im dritten Monat des Lenzes
Ringsumher überschaue die Berglandschaft (was gewahr’ ich?).
Siehe, da ist kein Gipfel, wo weiße Wolken nicht hingen,
Gleich als ständen die Bäume der Berge in üppigster Blüte.
6l
Dresdener Spielzeug.
VERSCHIEDENE
KULTURANGELEGENHEITEN.
NEUES DRESDENER SPIELZEUG.
as Dresdener Spielzeug, von den Dresdener Werkstätten für Hand -
werkskunst hergestellt, ist heute weltbekannt. Der Kreis der
Schöpfung scheint nun in diesen Sächelchen geschlossen, sollte man
meinen; allein es bringt immer wieder Neues und Überraschendes,
so daß man gern aufs neue davon spricht. Diese beiden Städte, hier
abgebildet, sind eine sehr erfreuliche Spielsache. Das Charakteristische:
auch die kleinen Formen im Verhältnis möglichst groß und somit
monumental zu machen, das Wesentliche der sinnfälligen Erscheinung
zu betonen, unwesentliche Details zu vermeiden, also die Erscheinungs -
form zu vereinfachen, ist diesen wie allen anderen Dresdener Spielsachen
gemeinsam. Sind es Menschen oder Tiere, so liegt das Wesentliche in
der Bewegungslinie und in ein paar Hauptzügen der Physiognomie.
Sind es Gebäude, wie in diesen zwei Städten, so ist alle Wirkung auf
richtige Verhältnisse und einfache große Formen angelegt, und so
wirkt es immer trefflich. Bei aller Niedlichkeit ist das Monumentale
monumental, das Groteske grotesk, das Primitive naturwahr, zum
rühmlichen Unterschied von dem sonstigen naturalistischen Spielzeug
der Basare, das alle Wirkung versagt, kleinlich, ängstlich und uninter -
essant erscheint. Das heute allgemein mangelnde Architekturverständnis
zu erziehen, das heißt das Verständnis für räumliche Größe und
Gliederung, ohne das ein Mensch nicht einmal anständig ein Blatt
Papier beschreiben kann, das ist eine große Bildungssorge. Dieses
Spielzeug in die Kinderstube gebracht, ist vielleicht ein, wenn auch
bescheidenes, aber immerhin wertvolles Mittel, entsprechende Anlagen
junger Seelen zu fördern.
UNSERE HEIMATSCHUTZ-BEILAGE.
er in der Beilage geschilderte Fall behandelt das ganz krasse Bei -
spiel einer Stadtverhunzung, die unter der Herrschaft der „Ver-
schönerungs'‘kommissionen, der Bauämter, Stadtregulierungsvorschläge,
der Kunst- und Baudenkmalerhaltungs-Kommissionen an der Tages -
ordnung ist. Wenn auch der Entwurf für die sogenannte Restaurierung
vom Dombaumeister; Schmidt (1863!) herrührt — sie nach diesem Ent -
wurf auszuführen, kommt einer KUNSTSCHÄNDUNG gleich. Einen
ECHTEN Barockaltar zu verschleppen und eine falsche Gotik hinzu -
setzen, ist KIRCHENSCHÄNDUNG. Es ist ein verbrecherischer An -
schlag auf eine Sache, die Gemeingut ist, eine gewissenlose Ausnützung
der Bürgerschaft, die, schlecht beraten, sich in Unkenntnis über den
Wert der verschleppten und zerstörten Dinge befindet. Darüber wird
Rechenschaft verlangt werden. An alle beteiligten Kreise sowie an
Stadt und Regierung geht die Aufforderung, diese Art Zerstörung, die
man „Restaurierung" nennt, zu verhindern, und zu erhalten, was noch
zu erhalten ist.
Zwei Städte.
WIE VERSCHÖNERUNGSVEREINE VERHUNZEN:
as schildert im „Simplicissimus“ (Nr. 33) Dr. Owlglass in einer
köstlichen Satire „Jack der Aufschneider".
„Fünfzehn Jahre ändern heutigentags viel, selbst im kleinsten Städtchen.
Und ausgerechnet so lang war ich nicht mehr in Zwerengraben
gewesen, wo man mir seinerzeit die unregelmäßigen Verba mehrerer
Sprachen nebst anderen Künsten einzujagen bemüht gewesen war.
Was hatten die Leute, die Alldahiesiegen, nicht alles fertig gebracht in -
zwischen ! Ein Elektrizitätswerklein war entstanden, zwei Fabrikschlote
stänkerten und die liebe alte Stadtmauer hatten sie glücklich nieder -
gerissen, den Graben ausgefüllt und „Anlagen“ hineingepflanzt.
Zunächst gab’s da eine Allee verstümmelter Akazien. Dann reihten
sich viele kleine Blumen- und Grasbeete aneinander, die abwechselnd
mit defekten Sodawasserflaschen und alten Austernschalen sehr pein -
lich und gewissenhaft umsteckt waren. Mitten in jedem Beet war
etwas Malerisches untergebracht: hier ein Grüpplein romantisch auf-
einandergepappter Kieselbatzen, mit Farnkraut bepflanzt und von
einem blau angestrichenen, kretinhaft grinsenden Gnom oder Wiesen -
zwerg gekrönt; da und dort ein dürftiges Bäumlein, darunter eine
Stadtschultheißeneiche und eine Schiller-Linde, wie angeheftete Blech -
täfelchen besagten, mit Stacheldraht umgeben und geschützt; auch fehlte
nicht ein Pissoir aus Wellblech, das übel roch und sehr zugänglich
war, ein Automat, der Schokoladeplätzchen und Zigaretten von sich
gab, sowie ein läppischer Springbrunnen mit drei Goldfischen drin.
Aber das war noch nicht das Schlimmste: man hatte durch diese öde
Kinderei ein schmales, langweiliges, trübes Gewässer geleitet, in vielen
Schlangenwindungen, und zwar, wie es schien, einzig zu dem Zweck,
um zahlreiche Brücken oder vielmehr geländerte Stege aus „Natur -
holz" anbringen zu können, das heißt aus kaum bearbeiteten knorrigen
und abenteuerlich verzackten Stämmen und Birkenästen. Aus dem
gleichen Material waren mindestens zwei Dutzend Bänke verfertigt,
die sich allenthalben in der Sonne herumtrieben wie alte träge Gassen -
köter und bei jedem Furcht oder Mitleid, je nachdem, erwecken mußten,
der etwas auf Bequemlichkeit und propre Kleidung hielt. An allen
Bänken war eine Porzellanplatte befestigt, darauf war geschrieben
„Verschönerungsverein Zwerengraben“. Und wo man ging und stand,
erhoben sich Tafeln:
Diese Anlagen werden dem Schutze des
Publikums empfohlen.
Hunde müssen an der Leine geführt werden.
Blumen abzureißen, ist verboten.
Ich unterließ denn auch alles, was die Behörden nicht wünschten,
wandelte nachdenklich und betrübt in das Nest zurück und ging
meinen Geschäften nach."
62
ZUR REFORM DER WEIBLICHEN HANDARBEITEN.
(Zu den Bildern auf Seite 56).
Tn den sogenannten Handarbeiten die Schablone, das geistlose Aus-
1 nä hen vorgedruckter alberner Muster zu verdrängen und die kirnst'
lerische Selbständigkeit in diesen Dingen zu entwickeln, ist ein An-
liegen der weiblichen Bildung: Was die Modezeitungen und Haus'
frauenblättchen als Vorlage für „weibliche Handarbeiten“ liefern, gehört
fast ausnahmslos in das Gebiet des groben Unfugs. Sie sind zu lächerlich,
um als Gegenbeispiel gebracht zu werden, der Vergleich stellt sich wohl
jedem bei Betrachtung der guten Beispiele auf Seite 56 ein, die eine
Bändchenarbeit von Paula Roth und eine Schnürlarbeit von Mizzi Roth
aus der Abteilung Prof. Böhm an der Kunstschule für Frauen und
Mädchen zeigen. Es sind Arbeiten, die in Material empfunden sind,
Muster, die aus der Technik und den stofflichen Eigenschaften der
Mittel abgeleitet wurden. Es wird hier nicht zur Nachahmung gegeben,
sondern als ein Merkziel, auf das die Bestrebungen der künstlerischen
Bildung ebenfalls gerichtet sein muß: auch in diesem Zweig weiblicher
Betätigung, von wo zum erheblichen Teil die Kunst im Hause aus-
geht, das erloschene Verständnis und den guten Geschmack zu beleben.
Was die „Bauernkunst“ an weiblichen Handarbeiten früher hervor-
brachte, war ausnahmslos gut; die schweren Hände, die Sonntags die
Nadel meisterten, schufen fast immer künstlerisch; die Städterin hat
trotz aller vermeintlichen Kultur nichts Ähnliches aufzuweisen. Hier
wird das Beispiel einzelner vorangehen und die Reform beginnen;
die Masse wird folgen. Das Reformkleid wird vielleicht den ent -
scheidenden Anstoß geben: wir werden diesem wie den sonstigen
Handarbeiten, Stickereien etc. in unseren Heften unausgesetzt unsere
Sorge widmen.
DIE AUSSTELLUNG BILLIGER LANDHÄUSER
(Cheap Cottages Exhibition), die in diesem Sommer auf dem Grund -
stück der ENGLISCHEN GARTENSTADT stattfand, ist nach zwei
Richtungen als ein großer Erfolg zu bezeichnen. Da die Ausstellung
in einer aufblühenden Stadt veranstaltet war und gleichzeitig der
Befriedigung eines sich entwickelnden starken Wohnbedürfnisses dienen
konnte, so war für die Aussteller kein großes Risiko mit der Ausstellung
verbunden, und die Häuser konnten für die Dauer erbaut werden. Nach
den vorliegenden Bildern auf Seite 52 waren über 80 Landhäuser als
Ein-, Zwei- und Vierfamilienhäuser ausgestellt. Der Ausstellungszweck
war die Förderung billigen Landhausbaues und die Wettbewerbs -
bedingungen waren Herstellung fünfräumiger Landhäuser unter Ein -
haltung bestimmter Größenmaße für 3000 Mark oder Bau mehrraumiger
Häuser mit einem Grundpreis von 700 Mark pro Zimmer. Mehr als die
Hälfte der Häuser entsprach den gestellten Bedingungen. Die Bll ig ei
der Baupreise erklärt sich zum Teil aus dem gleichmäßigen englischen
Klima, wo man eines Kellers entraten und das Dachgeschoß für
Wohnzwecke intensiver ausnutzen kann. Gleichwohl ist alles mögliche
in bezug auf Wohlfeilheit geleistet worden. Auch in ästhetischer Hin -
sicht liegen beachtenswerte Leistungen vor. Die Ausstellung war von
über 20.000 Personen besucht und hat wertvolles Material sowie reges
Interesse für billigen Landhausbau und für die Stadterweiterungsfrage
gezeitigt. Dies wurde auch ausdrücklich auf einer Versammlung der
führenden englischen Organisation für Wonungsre orm a _
Housing Reform Council), die in der Ausstellung stattfand, anerkann.
Eine besondere Förderung hat aber die englische Gartenstadtbewegung
durch die Ausstellung erfahren. Die Idee der Gartensta un
Verwirklichungsstadium wurde in weitesten Kreisen auc
Augenschein bekannt und hat ihr große Sympat len gewec
Deutsche Gartenstadtgesellschaft Schlachtensee, Berlin, sowie unser
Hohe Warte arbeiten an der Verwirklichung der Gartenstadtidee in
Deutschland und Österreich.
KUNST IM BUCHE.
In der Wiener Wage sagt F. Farga über moderne B uchkunst U . a n
1 folgendes: „Es gibt eine erlesen feine Spezies in der artenreichen
Familie der Sammler: die Bibliophilen. Von ihnen gil nie
scherzhafte Wendung, man brauche, um jemanden zum am
machen, demselben nur einen alten Kupferstich zu sc en en.
anlage und echte Begeisterung sind bei ihnen gleicherwetse mit gründ
lieber Fachkenntnis und einem feinschmeckerhaft ausgebild
ständnis für ihre Liebhaberei gepaart, und dies Verständnis pflegt
um so tiefer zu sein, je mehr es sich vor der Außenwelt ängstlich
verbirgt.
Es ist selbstverständlich, daß die Bibliophilen bei der bloßen Anhäufung
alter Bücher nicht stehen bleiben, daß besonders seit dem ungeahnten
Aufschwünge des Kunstgewerbes die letztmodernen Errungenschaften
sich mit archaistischen Prinzipien seltsam mischten. J. K. Huysmans
hat in seinem bizarren Roman ,Gegen den Strich* einen solchen Typ
geschildert, den Herzog Jean des Esseintes, der sich seine Lieblings -
autoren in besonderen Luxusausgaben anschafft, Bücher, die nur ur
ihn hergestellt werden. Er läßt aus England und Amerika neue Lettern -
formen kommen und da ihm das bisherige Papier nicht mehr gefallt,
er der silbernen Chinas, der perlmutterfarbenen und goldigen Japans,
der Whatmans, Turkeys und Seychal-Mills überdrüssig ist, bestellt er
eigenartig gestreiftes Papier aus den alten Fabriken von Vire, wo man
sich noch der Stampfe bedient, dann Ripspapiere aus London und
auch ein deutsches Preßbalkenpapier, von bläulichem Ton, dessen
Fasern durch Goldblättchen, wie sie in dem Danziger Goldwasser
schimmern, ersetzt sind. Die Bücher haben ein ungewöhnliches Format,
so die Werke von Baudelaire, die Meßbüchern gleichen, mit steilen
Buchstaben auf japanischem Filz gedruckt. Die Einbände sind von
Künstlern hergestellt, in alter Seide, in geprägtem Ochsen- und Coy-
leder, manche mit oxydierten Silberbeschlägen und hellem Emai
ausgelegt. Diese Einzelerscheinung, so exklusiv sie auch scheinen mag,
deutet doch die allgemeine Linie an, worauf es bei der modernen
Buchkunst ankommt.“
„KUNST IM HAUSE“ — AM CHRISTKINDLMARKT.
B ude Nr. 26 am Wiener Christkindlmarkt gehört der Künstler -
vereinigung „Kunst im Hause“, die Arbeiten ihrer Mitglieder dort
verkauft, sehr niedliche Dinge für Geschenkszwecke, die den Stempel
künstlerischer Originalerfindung tragen und in Anbetracht dessen
außerordentlich billig erscheinen. Ich möchte allen Gutgesinnten emp -
fehlen, die Bude Nr. 26, die von dem großen Kram der anderen Buden -
besitzer ein wenig versteckt ist, aufzusuchen und allfallige Christkmdl-
einkäufe dort zu machen, wo auch in bescheidenen Dingen Kunst -
regungen zu spüren sind.
Daß sich die jungen Künstlerinnen und Künstler unter den Kramer -
buden installieren mußten, ist nicht allein der Ausfluß heiterer Un -
bekümmertheit und zupackender Frische, die ihre Kunst gleich au
den Markt, mitten ins Volk stellt. Es ist vielmehr ein Akt schüchterner
und unzureichender Selbsthilfe, ein Wahrzeichen, wie schwer selbst
die begabte heutige künstlerische Jugend zu ringen hat. Ich habe sehr
lebhaft an unser Unterrichtsministerium denken müssen, an die Leute,
die angeblich organisieren, die Holzbearbeitungs-Fachschulen und
Heimarbeiter mit schlechten Mustern versorgen und die bei dieser
destruktiven Beschäftigung ganz darüber vergessen, daß so begabte
junge Menschen keine Gelegenheit finden, ihr Talent in einer für das
eigene persönliche und künstlerische Fortkommen und für die Kunst -
industrie fruchtbringenden Art anzuwenden. Die Fachschulen und
Spielzeug-Heimindustrie mit guten Mustern zu versorgen, geben die
jungen Künstlerinnen und Künstler Gelegenheit; man kaufe ihre Modelle
zu anständigen Preisen, lasse sie in den bestehenden Heimindustrie -
bezirken hersteilen und bringe sie im großen auf den Markt zu billigen
Preisen, was immerhin gut möglich und wobei alle Beteiligten reich -
liches Auskommen haben müßten. Die Sache käme in die Massen,
Arbeiter und Künstler hätten in gleicher Weise anregende und er -
sprießliche Beschäftigung. Was z. B. den Dresdener Werkstätten mit
dem Spielzeug gelungen ist, das sollte mit dem großen Vorrat an
Talent in Arbeitskraft in Österreich nicht gelingen? Wie aber bisher
die Lage beschaffen ist, fertigen die jungen Entwurfskunstler selbst
die paar Originale, die sie verkaufen, und die, wie billig sie in
Anbetracht aller Umstände auch sind, von dem Straßenpublikum aus
übrigens leicht zu begreifenden Gründen noch immer zu teuer ge -
funden werden. Jedoch die Herren „Organisatoren** im Amte, die an -
geblich Kunst fördern, laufen der Mode nach und fördern in Stickerei,
Spitzenindustrie Spielsachen etc. das „Gangbare“, anstatt sich an
schaffende Talente zu halten, Schulen, Werkstätten und Markt mit
guten Leistungen zu versorgen, um zu zeigen, daß trotz der vermeint -
lichen „Mode“ nichts so gangbar ist als das Gute, wenn es nur richtig
gepflegt wird.
BÜCHER, DIE MAN LESEN SOLL.
ARNO HOLZ. „Buch der Zeit, Lieder eines Modernen“. Neue Ausgabe,
i.—io. Tausend. R. PIPER & CO., MÜNCHEN. Preis M i.—.
/Geistreich, frech, amüsant, grob, zynisch, originell, gallig, grob-
* schlächtig, wahrhaft, tiefempfunden, oberflächlich, unsauber,
lebensvoll, ernst, spöttisch, niederträchtig und herzerquickend, alles
was man will, sind diese Gedichte — nur langweilig sind sie nicht!
Diese achte Todsünde ist ihnen nicht zum Vorwurf zu machen — die
andern wird man dem Dichter verzeihen, wenn nur seine Verse gut
sind, und das sind sie, köstlich! Derb wie ein deutscher Holzschnitt,
gemütvoll und launig ist das Gedicht „Firma Zirpel“, das aus der
Sammlung herausgegriffen als Leseprobe hier abgedruckt ist.
FIRMA ZIRPEL.
P r trug ein Schurzfell und roch nach Kleister.
Er war nur ein einfacher Buchbindermeister.
Doch verstand er vortrefflich das Einmaleins,
und das kleine Haus, drin er wohnte, war seins.
Um seinen Tisch saßen sieben Rangen,
und war’s auch meist knapp, es mußte langen,
Mutter verteilte, die Freude war groß,
Mann pro Mann ein’ Kartoffelkloß!
Zwar schrecklich verschmirgelt war oft die Pfeife,
auch roch es im Laden sehr wenig nach Seife,
doch all sein Wochenärger verstob
am Sonntag, wenn er Kegel schob.
„Diener, Herr Neese,“ man sah sich wieder,
über die Bahn hin Goldregen und Flieder,
Grenadier und Bataillon,
dem Kegeljungen durschtert schon!
Und kam erst der Abend, er ließ sich nicht lumpen,
dann saß er, neben sich seinen Humpen,
in Hemdärmeln unter der Haustür da
und spielte die Handharmonika.
Sein Rücken hing krumm, schneeweiß seine Haare,
so ging sein Leben die siebzig Jahre,
auf seinem Sarg lag ein Kranz von Jasmin,
Kinder und Kindeskinder um ihn.
Zuletzt, als sie gestern ihn endlich begruben,
da schmetterten Pauken, Trompeten und Tuben,
und deutlich bliesen Blech und Zink:
Ein fröhlich Herz, ein köstlich Ding!
ROMAIN ROLLAND, PARIS ALS MUSIKSTADT.
Sammlung „Die Musik“, Verlag BARD, MARQUARDT & CO., BERLIN.
Preis M. rzs.
■VJicht alle Bändchen dieser Sammlung stehen auf der Höhe; von
1 ^ den vorliegenden ist „Die russische Musik“ oberflächliche Repor -
tage, die bei Kennern russischer Musik bedauerndes Lächeln erregt.
Dagegen gibt „Paris als Musikstadt“ ein zutreffendes Bild, eine Über -
sicht, aus der wir Bemerkenswertes hervorheben. Das musikalische
Leben beginnt in Paris mit dem Jahre 1870. Die bis dahin herrschende
Indifferenz in bezug auf Musik äußert sich in Aussprüchen von
Balzac, Hugo, Dumas, Goncourt, Gautier etc. Nach dem Kriege von
1871 beginnt das Interesse für Musik zu erwachen und Wagners
Einfluß macht sich geltend. Mit dem Jahre 1880 entsteht aber
eine Reaktionsbewegung und die französische Musik sucht sich
von Wagner zu befreien und selbständig zu werden. Der bisher nicht
anerkannte Berlioz kommt jetzt zur Geltung und César Franck verhilft
der französischen Musik durch seine Werke und seine Schule zur
Schaffung eines individuellen Gepräges. DTndy, Bruneau und Charpentier,
die Komponisten der letzten Zeit, weisen jedoch noch starken Wag -
nerischen Einfluß auf und erst „Pelleas et Mélisande“ von Claude
Debussy hat sich davon freigemacht und beginnt somit die selb -
ständige Ära der französischen Musik. Von den Musikschulen in
Frankreich ist besonders die Schola Cantorum hervorzuheben, die
vor allem alte Musik, den gregorianischen Gesang und die Kirchen -
musik von Palästrina, die italienischen und deutschen Meister des
XVII. Jahrhunderts, Bach, Gluck, Rameau etc. pflegt.
ANNA MEDER. Märchen. Verlagsanstalt FRAUENERWERB, DRESDEN.
Preis M 2'5o.
pvie Gabe, gute Märchen zu erzählen, ist eine seltene“ — sagt das
Vorwort. Gewiß, aber Anna Meders Buch enthält diese Gabe nicht.
„Kabinettstücke kindlicher Erzählungskunst“ — wie das Vorwort
wissen will — nein, das sind diese Märchen durchaus nicht. Kindliche
Erzählungskunst, das ist vor allem Kindlichkeit im Ausdruck, Bild -
lichkeit und Schlichtheit. Fast alle Märchen — auch diese — müssen
umgelesen werden, wenn sie von den horchenden Kinderseelen er -
faßt werden sollen. Süßlichkeit tut es nicht; daß die süße Ware den
Kindermagen verdirbt, soll man auch den Märchen gegenüber nicht
vergessen. Das Schlimmste aber ist die moralisierende Tendenz: das
gute Kind, das schlechte Kind, hie Lob, hie Strafe, Schulmeisterei und
Pedanterie, die als grober, schmutziger Hemdzipfel unter dem duftigsten
Märchengewand hervorschauen. Die Erwachsenen, die Anwandlungen
zum Kindischsein haben, mögen den Märchen frönen; die Kinder
verschone man lieber damit oder erzähle ihnen solche, die alte reine
Volkspoesie sind. Kinder schauen und erzählen das Geschaute, die
Natur, als Märchen; wer feinhörig genug, erkennt den Unterschied
und weiß sich zu helfen. Es hat wenig Sinn, für das Kind zu dichten,
die Großen kommen dabei an den Kleinen zu schänden und die meisten
neuen Märchenprodukte — schier alle — davon der Leser entzückt
ist, wecken kein Echo in den jungen Seelen. Wenn diese unberührt
bleiben, ist’s dann meistens noch ein Glück.
Immerhin sind Meders Märchen besser als die meisten der zahlreichen
Märchenversuche unserer Zeit; einige in der Sammlung, geschickt um -
gewertet, können wirklich Nährstoff liefern.
NACHDRUCKVERBOT für sämtliche in den Heften der „HohenWarte“-
erscheinenden Artikel und Illustrationen.
Alle Zuschriften und Sendungen Wien, XIX, Grinzingerstrafle No. 57. Telephon 5461.
Verlag „Hohe Warte“ (Lux & Lässig). Für die Redaktion Joseph Aug. Lux.
Druck von Christoph Reisser's Söhne, Wien V.
Papier von der Neusiedler Aktiengesellschaft für Papierfabrikation, Wien.
64
UNBEKANNTER CHINESISCHER MEISTER (PAPIER).
Sammlung Alexis Rouart, Paris.
Kunstbeilage i, „HOHE WARTE'
(Text in einem späteren Heft.)
limaiawsKW
VIEL GLÜCK ZUM NEUEN
□ JAHRE! □
LASSEN SIE UNS DIESES
ZUBRINGEN, WIE WIR
DIE VORIGEN GEENDET
HABEN, MIT WECHSEL -
SEITIGER TEILNAHME
AN DEM, WAS WIR LIE-
□ BEN UND TREIBEN. □
WENN SICH DIE GLEICH -
GESINNTEN NICHT ER -
FASSEN, WAS SOLL
AUS DER GESELLSCHAFT
UND DER GESELLIGKEIT
□ WERDEN. □
DD (GOETHE AN SCHILLER.) 0 0
DIE VOLKSWIRTSCHAFT DES
TALENTES.
(Fortsetzung aus den Heften 21 und 22, 23 und 24, 25 und 26,
Seite 353, bezw. 377, bezw. 401, Jahrg. I, und Heft 1, *, 3 «• 4,
Seite 2, bezw. 17, 33, 49, Jahrg. II.) Eine Familie, die
mehrere „studierte“ Kinder hat, schämt sich in der Regel des
Sohnes, der ein Handwerk erlernt hat. Dem Handwerk werden
die Söhne meistens nur dann zugeführt, wenn sie sich für alle
anderen Berufe als vollkommen untauglich erwiesen haben.
Der törichte Ehrgeiz der Eltern wird einigermaßen entschul -
digt und gerechtfertigt durch den Bildungsdunkel der Klassen,
der die körperliche Arbeit geringschätzt und eine gewisse
Art von Kastengeist züchtet. ., , ,
Aber nebst der Züchtung der Standesvorurteile hat der ein -
seitige Bildungsdünkel noch viel beklagenswertere Folgen
gehabt. Das ist vor allem der Verfall des Könnens. Die
Verachtung der manuellen Arbeit hat der Schönheit unserer
Erde und folglich unseres Lebens den schwersten ^baden
zugefügt. Es ist für das XIX. Jahrhundert bezeichnend daß
es künstlerisch von der Nachahmung früherer Zeitstile lebte,
weil es ihm an eigener formschöpferischer Kraft gebrach,
und daß es in seiner allgemeinen und persönlichen Kultur
tiefer steht als alle früheren Jahrhunderte. In allen formalen
Äußerungen unseres Lebens, von den elenden Mietskasernen
angefangen bis zum Unrat eines lächerlichen, auf bloßen
Schein berechneten Luxus, rächt sich der Mangel einer wahr -
haft künstlerischen Weltanschauung, derzufolge die beseelte
Handarbeit, die den höchsten Einsatz des Könnens und der
Arbeitsfreude fordert, den richtigen und einzigen produktiven
Wert bildet und zugleich eine Vermehrung der Schonhei
des Weltantlitzes und der Daseinsfreuden bedeutet Die
Maschine als Helferin des Fortschritts ändert nichts an dieser
Tatsache, sie bestätigt sie vielmehr. Die beseelte Handarbeit
ist zugleich der stärkste wirtschaftliche Faktor, nicht so sehr
im Sinne der ziffernmäßigen Handelsstatistik, sondern viel -
mehr eines gerecht verteilten Volkswohlstandes, der um so
größer ist, je mehr solche gediegene Handarbeit geschaffen
wird, so daß man von diesen Gütern gar nicht genug hervor -
bringen kann. Heute liefert nur mehr Japan ein Beispiel
dafür, in der europäischen Entwicklung ist es die gotische
Kultur, die ein einheitliches wunderbares Bild einer auf aus -
gebildeter Handwerklichkeit beruhenden Volkskunst und
Volkswirtschaft darbietet. Auf diesem Hintergrund mag die
Erinnerung verständlich sein, die sich im alten Nürnberg
heute noch an der Stätte befindet, wo einst ein Künstler,
ein Schuster und ein Weltumsegler gemeinsam den Abend -
schoppen tranken und keinen andern Standesunterschie
kannten als den zwischen Könnern und Nichtkonnern.
Richard Wagners Mahnung: „Verachtet nicht den Meister
und ehrt mir seine Kunst“, ist von ewiger Gültigkeit. S>ie
ist am dringendsten in einer Zeit wie heute, da sich einer -
seits für eine armselige Schreib erstelle oder einen kleinen
Beamtenposten Hunderte und Tausende von studierten oder
halbstudierten Menschen melden und anderseits ein durch-
aus tüchtiger, geschulter Handarbeiter zu den Seltenheiten
gehört.
Der enorme Andrang zu den sogenannten gebildeten Ständen
hat natürlich die weitere Folge gehabt, daß dem Handwerker^
stand die intelligenten Kräfte, die er nicht entbehren kann,
größtenteils entzogen wurden und dadurch dem herrschenden
Vorurteil ein Schein von Berechtigung zukommt. Die be^
obachteten Fälle von Roheit, Mißbrauch der Lehrlingskraft,
Verrohung der Sitten und andere Mißstände halten vielfach
die Eltern gegen ihre bessere Meinung davon ab, ihre Söhne
ein Handwerk ergreifen zu lassen. Aber diese Mißstände
sind nicht von Dauer und verschwinden in dem Augenblick,
wo sich unser Verhältnis zur schöpferischen Arbeit ändert.
Seit Jahren sieht man den besseren Teil der Arbeiterschaft
mit Erfolg tätig, alle Bildungsmittel zu ergreifen und aus
ihrem Stande Elitemenschen zu erziehen, und überdies ent^
wickelt sich aus dem kunstgewerblichen Arbeiter eine Klasse,
die berufen ist, die Mauern des lächerlichen Standes vor ur^
teils niederzuschleifen. Indessen veraltete Konventionen als
leere Daseinsformen vorderhand noch bestehen, hat sich das
Gefüge der Lebensmächte allmählich zu gunsten jener ver -
ändert, die am Weltbau werktätig mit produktiver Arbeit
mittun, und die mit der Zeit auch eine gänzliche Umwertung
der gesellschaftlichen Begriffe herbeiführen werden.
Ein Beweis für diese Verschiebung des Schwerpunktes und
die Heerscharen der Enttäuschten, die zielverloren über eine
verfehlte Existenz klagen, und als Warner die ausgetretenen
Straßen füllen. Der Strom des Lebens geht in anderer Richtung.
Die Scharen der Nachzügler werden umkehren, wofern sie
die Gelegenheit nicht versäumt haben, und jene Arbeits -
berufe füllen, die der Intelligenzen dringend bedürfen.
Die drängenden Massen haben allerdings eine nicht zu unter -
schätzende Kulturarbeit geleistet: die Verallgemeinerung des
Wissensmaterials. Nachdem alle Kreise damit gesättigt werden
können und Wissen als kein Verdienst, sondern als Selbst -
verständlichkeit gilt, drängt die Zukunft auf Entwicklung
des Könnens. Wissen allein ist toter Ballast, wenn es nicht
aus dem Können fließt oder unmittelbar für das Können
fruchtbar gemacht werden kann als Vermehrung der Lebens -
güter. Lernende müssen wir bleiben bis ans Lebensende,
nicht Lernende um des Lernens, sondern um des Könnens
willen. Vor 150 Jahren hat Jean Jacques Rousseau das
moderne Erziehungsideal in seinem „Emile“ entworfen,
darin er einen Menschen zeichnet, der durch Erfahrung und
Notwendigkeit sein reiches Wissen erlangte und gleichzeitig
ein Handwerk verstand, sein Leben damit zu bestreiten.
Rousseaus Ideen werden lebendig in dem künstlerischen
Jahrhundert, an dessen Anfang die Worte stehen: KÖNNEN
IST MACHT. Kunst ist von Arbeit schon deshalb nicht
zu trennen, weil beide sich aus dem Können entwickeln;
Wissen hat nur Sinn um des Könnens, um des Schöpferischen,
um des Lebens willen; Kultur ist daher immer auf Können
gegründet und eine Kultur des Denkens oder des Geistes,
die nicht dieses Ziel der Verwirklichung hat, ist nicht mehr
als ein schöner Betrug. Kunst aber ist die höchste Vollendung
aller Arbeit; jegliche Arbeit kann künstlerisch betrieben,
d. h. zur höchsten Vollendung gebracht werden. Sie wird
es nie auf dem Wege des Zwanges und der Unlust; eine
Arbeit künstlerisch betreiben heißt, ihr menschliche Züge
zu geben, sie zum Ausdruck der Lebensfreude und der
gesteigerten Fähigkeiten zu machen; wenn die Hervor -
bringungen auch dadurch allein nicht Kunst werden, so
vermögen sie dadurch ein abgestuftes Verhältnis, einen
Zusammenhang mit ihr auszudrücken, eine reine und har -
monische Menschlichkeit, die, wenn sie allen Dingen abzulesen
ist, mit dem Worte Kultur bezeichnet werden kann. Darin
zeigt sich die Kunst als wahre Demokratin, als Sache des
Volkes, weil sie eine Sache der Arbeit ist, von der sie nie
hätte getrennt werden dürfen. Als sie von ihr getrennt
wurde, hat die Arbeit des Volkes unberechenbaren Schaden
erlitten, hat die Volkswirtschaft den Charakter der Ausbeutung
angenommen. Ausbeutung liegt nicht im künstlerischen
Gedanken. Der Ausbau der Menschlichkeit in allen Dingen,
die ihr Dasein umkleiden und vollenden, ist der Inhalt des
künstlerischen Gedankens, während Unterdrückung und Ver -
nichtung der Menschlichkeit zu gewinnsüchtigen und ego -
istischen Unternehmerzwecken der Inhalt der heutigen Volks -
wirtschaft ist. Den künstlerischen Gedanken, d. h. die wert -
bildende Kraft des Talentes, die Entfaltung der Menschlichkeit
in den Mittelpunkt der Volkswirtschaft zu rücken, ist Auf -
gabe der Kulturentwicklung. Die Volkswirtschaft muß diesen
Inhalt haben, wenn sie ihrem Zwecke genügen, d. h. Kultur
bilden soll. Anderseits werden wir zu keiner Kultur gelangen,
wenn die Volkswirtschaft nicht diesen Inhalt bekommt. Wir
haben heute keine festbegründete allgemeine Kultur, so
wenig wir eine wahre Volkswirtschaft haben und ebensowenig
finden wir in der Arbeit des Volkes das künstlerische Moment,
d. h. das freudige, beglückende Streben nach Vollendung in
allen Gebieten des menschlichen, sichtbaren Schaffens. Denn
alles das hängt innerlich zusammen. Wir sehen die arbeitende
Bevölkerung heute gegen die kapitalistische Ausbeutung der
Menschlichkeit kämpfen, es ist ein Kampf um die primärsten
Menschheitsrechte, um Forderungen des nackten Daseins.
Es ist ein Kampf um den Lohn und um Verkürzung der
Arbeitszeit, nicht ein Kampf um die Vollendung und Ver -
edlung der Arbeit. Auch das ist ein starkes Zeichen der
Zeit. Von der Lohnarbeit ist zunächst gar nicht die Hingabe
zu verlangen, wie sie der Künstler an seine Arbeit hat,
denn die Lohnarbeit ist zum größten Teil in künstlerischer
oder menschlicher Hinsicht (hier ist ein Zusammenhang zu
merken) so entwertet, daß sie gar keine Befriedigung ge -
währen kann, als die etwa, nach den trostlosen Arbeitsstunden
den Lohn zu erhalten. Diese Hingabe wird auch gar nicht
verlangt, der Arbeiter wird in der Regel der Maschine gleich -
gestellt. Wegen der künstlerischen oder menschlichen Wert -
losigkeit ist die meiste Lohnarbeit für die Kultur unfruchtbar,
sowohl für die Kultur der Gesamtheit, für die solche Arbeit
geschieht, als auch für die Kultur des einzelnen, der solche
Arbeit verrichtet.
Wenn einmal der künstlerische Gedanke für die Arbeit wieder
zurückerobert sein wird, dann wird die Hingabe an die Arbeit,
der Wettstreit um die Vollendung selbstverständlich sein.
In der kunstgewerblichen Arbeit finden wir eine solche Kultur,
die auf Qualität gerichtet ist, in den Anfängen entwickelt.
Die kunstgewerbliche Arbeit ist aus diesem Grunde von be -
sonderer Bedeutung; sie wird den Anfang einer Volkswirt -
schaft des Talentes bilden, die vorhanden sein wird, wenn
das wirtschaftliche und soziale Dasein des arbeitenden Volkes
gesichert und alle Kulturmittel seinem Leben dienen. Dann
wird nur Arbeit getan, die wieder Kultur ist und den Aus -
druck der Freude und Hingebung trägt, und dann wird Kunst
bei der Arbeit sein.
Ich unterschätze keineswegs die Leistungen des XIX. Jahr -
hunderts, soweit sie Kulturmöglichkeiten erschließen. Natur -
wissenschaft und Technik haben eine Entwicklung herbei -
geführt, die ans Wunderbare grenzt. Berlin ist in den letzten
fünfzig Jahren gewachsen und ebenso viele Städte, wie früher
nicht in Jahrhunderten. Diese Menschenmassen zu versorgen,
ihren Verkehr zu regeln, ihr Zusammenarbeiten zu fördern,
hat es Einrichtungen geschaffen, die in organisatorischer Hin-
66
sicht erstaunlich sind. Forschung und Erfindung haben Werte
zutage gefördert, deren Tragweite unabsehbar ist. Alles dies
betrachtet, erscheinen früher Epochen armselig im Vergleich
zu diesen Schöpfungen. Wenn man davon absehen könnte,
daß ein großer Teil der Menschheit heute trotzdem tiefer in
Barbarei und Unkultur steckt, als unter viel bescheideneren
Verhältnissen vor etwa hundert Jahren, müßte man sich
glücklich fühlen in einer Zeit zu leben, die über einen so
ergebnisreichen Schaffenstrieb verfügt. Und alle diese bedeut'
samen Ergebnisse, sind sie nicht Hervorbringungen des
Talentes? Sind sie nicht die unleugbare Bestätigung dieser
Erkenntnis, daß das Talent die einzige wertbildende Kraft
ist, unerschöpflich und unversieglich wie eine elementare
Naturmacht und selbst dann noch unerhört fruchtbar, da die
Volkswirtschaft ihrer Entfaltung hemmend wird und von Irr-
tümern befangen, die Quelle des Wertes überall sucht, im
Grund und Boden, im Merkantilismus, in der Industrie, im
Kapitalismus, nur nicht dort, wo sie einzig und allein ist, im
Menschen und der wertbildenden Kraft seines Talentes? Die
großen Fabriksbetriebe, im einzelnen das erstaunliche Werk
erfindungsreicher Ingenieurkunst, entwickelt aus Mathematik
und Naturwissenschaft, im ganzen technische Kolosse, die
in den weitaus häufigsten Fällen minderwertige Produkte
hervorbringen, befinden sich augenscheinlich in schlechten
Händen. Wem kommt die ungeheure Arbeit zu gute? Den
Herstellern, das sind die Arbeiter, nicht, und den Käufern, den
Konsumenten in der Regel auch nicht. Denn, von Ausnahmen
abgesehen, werden nur schlechte Produkte mit anscheinender
Billigkeit hergestellt. Der kolossale moderne Erfindungs-
reichtum wird in den meisten Fällen dazu mißbraucht,
Billigkeit auf Kosten der Qualität und auf Kosten der ArbeitS'
kraft zu erzeugen. Der Kapitalismus in der heutigen Unter'
nehmungsform ist ein schlechter Herr. Er nützt den ErfindungS'
und Arbeitsgeist, die ArbeitS' und Geisteskraft der Menschheit
zu einem ganz nichtsnutzigen Geschäft aus, nämlich zu dem
der eigenen materiellen Bereicherung. Jener unfruchtbare
Reichtum, der Geld ist, hat die Menschheit zur Verarmung
gebracht. Die Ausnützung jeglicher Arbeit, geistiger und
manueller, zu dem Zwecke, Geld anzusammeln, hat die Arbeit
ihres künstlerischen Gedankens entkleidet und über den
größten Teil (der Bevölkerung Entbehrung und Barbarei
gebracht, die zu den großen Fortschritten in einzelnen ArbeitS'
gebieten im seltsamen Widerspruch steht. Wären alle diese
Fortschritte, die das XIX. Jahrhundert auszeichnen, zur
Vervollkommnung des menschlichen Daseins anstatt zur Am
häufung materieller Reichtümer verwendet worden, dann
müßte die Kultur im XIX. Jahrhundert eine Blüte erlebt
haben, die in früheren Zeiten undenkbar war. Dann müßten
diese Fortschritte vor allem den mitarbeitenden Menschen
zu gute gekommen sein und das Weltbild würde eine wunder'
bare Harmonie zeigen. Dann aber würde jegliche Arbeit eine
Seelenstärkung sein und um ihrer selbst willen getan werden,
nicht zu dem unfruchtbaren Zweck, Geld in irgend jemandes
Besitz zu häufen.
Die nichtswürdigste, geistloseste und gemeinschädlichste
Tätigkeit, die getan werden kann, ist jene, die auf den
alleinigen Zweck ausgeht, materielle Reichtümer anzuhäufen.
Denn diese Tätigkeit setzt voraus, daß die Arbeit nicht um
ihrer selbst willen getan wird, daß sie nicht im künstlerischen
Sinne zur Vollendung gebracht wird und eine Seelenstärkung
für den Urheber und alle Mitgenießenden bedeutet und daß
sie nicht den Urhebern oder Verfertigern zu gute kommt.
Diese Tätigkeit setzt ferner voraus, daß die erzeugte Arbeit
nicht fruchtbar werde, durch ihr Beispiel, ihre Vollendung,
ihre Gebrauchsfähigkeit und dadurch andere Kräfte und
Talente ansporne, entwickle und weiterhin fruchtbar mache,
sondern daß sie sich in unfruchtbares Geld verwandle, also
daß sie nicht Gebrauchswert, sondern Tauschwert sei. (Siehe
Kapitel Sparsamkeit und Verschwendung.) Endlich setzt diese
Tätigkeit voraus, daß ein großer Teil der Menschheit elend
und hilflos sei, um sich jedem Zwang zu fügen und für
geringes Entgelt Arbeit zu tun, die für sie keine Freude
und keine Seelenstärkung sein kann, sondern nur getan wird,
ein armes und trauriges Leben zu fristen. Diese Tätigkeit
setzt schließlich eine Volkswirtschaft voraus, wie wir sie
heute noch haben und eine Ethik, wie sie in der heutigen
Gesellschaft herrscht. Der sittliche Gehalt der Gesellschaft
— und folglich auch der Rechtsanschauung, der Politik und
der Gesetzgebung — ist wesentlich von jener Tätigkeit
bestimmt, die auf das Anhäufen, nicht auf das Anwenden
des Geldes abzielt. Der Mensch gilt in ihren Augen nicht
nach seiner Arbeit, nach seinem Talent, nach seinem Können,
sondern nach seinem Vermögen. Dieses allein bestimmt
seinen Wert in der Gesellschaft. Sie nimmt jeden bereitwillig
auf, der auf angemessenen materiellen Besitz pochen kann,
mag auch sein Lebenswandel noch so verwerflich, seine
Geistes' und Herzensbildung noch so niedrig, die Herkunft
seines Vermögens noch so makelhaft sein. Diese Gesellschaft
kennt keine Erniedrigung so tief und entwürdigend, als die
persönliche Arbeit, das Verdienen des eigenen Lebensunter'
haltes. Soziale Bildung ist ihr fremd, ebenso wie das Unter'
scheidungsvermögen zwischen guter und schlechter Arbeit
und die Fähigkeit des guten Geschmackes, der sich nur aus
diesem Unterscheidungsvermögen entwickeln kann. Die
Forderung des guten Geschmackes als eine sittliche Forderung
gilt für die Gesellschaft nicht, weil es nicht in ihrer sittlichen
Anschauung liegt, die Arbeit als Selbstzweck, als organische
Funktion des Volkes zu betrachten und sie nach dem Grade
der Menschlichkeit und der Seelenfreude, die sie verkörpern
soll, zu beurteilen, d. h. mit andern W^orten, das künstlerische
Moment zu suchen, das jeglicher Arbeit zu gründe liegen soll.
Sie begnügt sich mit Surrogaten und findet diese schön,
namentlich wenn sie die Formen alter Stile kopieren, darin
sich ihr Parvenugeist gefällt. Gewohnt, in jeder Arbeit ein
Ausbeutungsmittel und eine Unternehmersache zu sehen,
hat sie aufgehört, an ihre äußere Umgebung Ansprüche zu
stellen, die nur aus einer künstlerischen Auffassung der
Arbeit und deren hoher sittlicher Bedeutung entwickelt werden
können. Wie aber die unfruchtbare einseitige Beschäftigung
des Geldanhäufens statt Anwendens blind macht für die Ent'
Würdigung der Arbeit und Entwertung der Leistung, so
macht sie blind für Entwürdigung, d. h. Entsittlichung und
Erschöpfung des arbeitenden Volkes. Daß der gute Geschmack
eine sittliche Forderung und Ungeschmack eine Unsittlichkeit
ist, zeigt sich schon darin, daß die Gesellschaft und mit ihr der
Staat das Elend in den Arbeiterbezirken und die überhand'
nehmende Verhäßlichung des allgemeinen Lebensbildes gleich'
mütig ansehen, ohne alles — auch den unfruchtbaren Reichtum
— anzuwenden, um eine glückliche Wendung herbeizuführen.
Wenn der Einfluß im sozialen Leben oder die Anwartschaft
auf ein Ministerportefeuille, auf Sitz und Stimme in den gesetZ'
gebenden Körperschaften, die Berufung zum Richteramt oder
auf die Geschworenenbank von der sozialen Bildung, von der
praktisch erworbenen Kenntnis der Leiden, Bedürfnisse, Fähig'
keiten und Leistungen des niederen Volkes abhängig gemacht
würde, wie wenige, die heute eine entscheidende Rolle spielen,
dürften es wagen, ihre Stimme zu erheben? Die Gesellschaft
lebt für sich, sie hat ihre Aufgabe nicht erkannt. In ihren
Kreisen begegnet man selten dem Künstler, nie dem Arbeiter.
(Fortsetzung folgt.)
67
Altbelgisches Kastell (Bruges) und Normannenschloß.
Altbelgische Bauweise.
MODERNE KUNST.
D ie einzige im guten Sinne moderne Kunstausstellung,
die wir jetzt in Wien haben, befindet sich in dem
neueröffneten Lokal Graben Nr. 17 der Galerie
Miethke. Was künstlerische Qualität ist, kann man
dort kennen lernen. Neben der Wiener Werkstätte mit
ihrem bekannten künstlerischen Stab tauchen für die Alk
gemeinheit neue ungeläufige Namen auf mit ungewöhnlichen
Arbeiten. C. A. Reichel mit farbigen Holzschnitten, Minia^
turen, Bildnissen. Ein kunstempfängliches Auge wird ohne'
weiters die seltene künstlerische Kultur erkennen, die im
Hintergrund dieser Schöpfungen steht. Die empfundenen
und gestimmten Farbenwerte, die einfache und sehr edle
Konzeption, noch mehr aber der verinnerlichte Ausdruck,
hier mehr, dort weniger, als die greifbaren bildmäßigen
Elemente, bilden die verwirrende Schönheit dieser Arbeiten.
Bei ihnen fühlt man sich dem Feinsten nahe; man kann
an Giotto denken, an erlesene altchinesische und japanische
Bildnisse, aber man wird bei Reichel nicht die leise Am
deutung an Vorbilder finden; er behauptet sich ganz selb'
ständig als Künstler, der auf intuitivem Wege zu seinem
Schaffen gelangt, darin er eben mit dem Besten, das die Kunst
hervorgebracht, verwandt erscheint. Wer daraus auf einen
eigentümlichen Entwicklungsgang schließt, hat recht; der
junge Künstler unterscheidet sich von vielen dadurch, daß
er weniger das Fremde, als vielmehr das Eigene gesucht
hat; sein Schaffen ist im weitesten Sinne SELBSTDAR'
STELLUNG, also eigentlich das, was im höchsten Begriffe
Kunst ist. Als Suchender war er auf dem Wege nach dem
Außerordentlichen; es ist natürlich, daß dieses nun zu seinem
Wesen gehört und sich in seinem Schaffen darstellt. Das
Gesagte behandelt Dinge, die nur von willigen und gut'
gesinnten Menschen ergriffen werden können. Andere glauben,
der Kritiker müsse auch da, wo seine Überzeugung warm
für eine Sache spricht, dennoch ein kritisches Wort übrig
haben. Diese Gemütvollen! Nun denn! Der Künstler wird
den Umfang seines zeichnerischen Könnens noch erweitern
und vielleicht den Kreis seiner Darstellungen; mit der
Intensität seiner Kunst hat das aber gar nichts zu tun. Zum
Beweis: das Mittelbild ober dem Gaskamin, ein Frauenwesen
mit gefalteten Händen, übt eine gnadenvolle Wirkung aus.
eine Ausstrahlung, die mächtig ist und glauben macht, daß
das Bild eine Seele hat. Die Frau mit dem Kinde, in unserer
Kunstbeilage gezeigt, einige Miniaturen gehören gewiß auch
mit zu dem Kostbarsten; aber in einer gewissen Hinsicht
besonders interessant ist das Bild einer Mannesfigur mit dem
bedeutsam herausgebildeten Schädel. Jedes ursprüngliche Werk
trägt die mehr oder weniger sichtbare Wesenheit des Zeugers;
das Köstliche an dem Bild liegt besonders in dem auffallend
starken, wenn auch unbewußten Hervorheben persönlicher
Züge, wobei natürlich an nichts weniger als an ein Selbst'
porträt zu denken ist. Reichel wird sein Publikum finden oder
vielmehr wird das Publikum, wenn auch nur ein ganz er'
lesenes, zu dem Künstler finden. Mit pfründnerhafter Nörgelei
wird man seinen Schöpfungen nicht nahe kommen; sie
wollen nicht mit dem platten Verstand, sondern mit der
Seele ergriffen sein. Das Kunstwerk ist nur mit der Seele
zu erfassen. Bei dem ganz jungen Maler Zuelow, der in
dieser Ausstellung zum erstenmal in die Öffentlichkeit
tritt, haben es die Leute wohl viel leichter. Was der junge
Mensch als sein Eigenes gibt, ist durch die bäuerlich primi'
tive Art seiner Malweise vielen aus dem Begriff Volkskunst
geläufig.
Seine naive Darstellungsweise ergötzt jedes kindliche Am
schauungsvermögen. Wandbilder für Schule und Haus,
Bilderbücher, Kunst fürs Kind oder für das unverbildete
Volk — keiner könnte es besser darin als der junge Zuelow.
Auch Frau ELENE LUKSCH MAKOVSKA, FANNY
ZAKUCKA und Professor MOSER haben buntbemalte
Schränke ausgestellt. Es gibt Leute, die auch hier das Schlag'
wort imitierte Bauernmalerei bei der Hand haben. Es sind
eben bemalte Schränke, basta. Keine Spur von Bauernmalerei,
daher noch weniger von einer imitierten! Mosers Schrank ist von
ausgesuchter Noblesse, eine schöne Arbeit, Frau Luksch hat
ihren Schrank auf sehr geistvolle Art bemalt, reich an lustigen
Einfällen und an Farbenfreude. Es ist durchaus folgerichtig,
daß, wie daran gezeigt, die Künstler den Kreis ihrer Aufgaben
erweitern; alles, was gut gemacht ist, hat Berechtigung; alles ist
zweckvoll und notwendig, wenn es um der Schönheit willen
geschieht! Auch das Spielzeug aus gedrechselten Formen,
von den Künstlerinnen ZAKUCKA und PODHAYSKA
erdacht, ist sehr ergötzlich; es will durchaus nicht Bauern'
Spielzeug sein, sondern einfach die Form, in der sich derartige
68
Modell für ein belgisches Schloß,
Prof. Joseph Hoffmann. Der Garten mit geschorenen Laubwänden von der Terrasse aus.
künstlerische und sehr witzige Einfälle ausleben. Als solche
Formen sind sie ganz anders zu bewerten; Bauernspielzeug,
soweit es nicht ausgestorben und daher Rarität und Sammeh
gut oder Studienmodell ist, mag man in die Kinderstube
geben; jene wird man als Originalarbeiten in die Vitrine
stellen. Wir werden nächstens auch davon einige Illustrationen
bringen.
Sogar große Plastik enthält der Saal, weibliche Akte vom
Bildhauer LUKSCH für das vom Professor Hoffmann erbaute
Purkersdorfer Sanatorium. Durchaus im Material empfunden,
sind sie dennoch bewegt und von Leben erfüllt, und bei
aller Strenge sozusagen von femininer Grazie umschlossen.
Es ist nichts Unedles in den Linien. Kontrastwirkungen
sind in diesen \C^erken mit großem künstlerischem Feingefühl
verdichtet; es ist ganz überraschend, welchen beschleunigten
Entwicklungsgang der Künstler einschlägt.
In den zahlreichen Vitrinen befinden sich Edelmetallarbeiten,
vor allem Schmuck von den Professoren HOFFMANN,
MOSER, CESCHKA entworfen und von dem außerordentlich
tüchtigen und geschulten Arbeiterstand der Wiener W^erk^
Stätte hergestellt, davon die Leser der „Hohen Warte“ treffliche
Beispiele kennen. Was die Vereinigung von Künstlern und
Arbeitern hervorzubringen im stände ist, gehört zu den wert'
vollsten und feinsten Dingen einer künstlerischen Kultur,
die in der heutigen Gesellschaft leider nicht Gemeingut ist.
Was die Leute heute am Schmuck schätzen, ist nicht die
schöne, edle Arbeit, auch nicht das, was künstlerisch daran
ist, denn beides entzieht sich ihrem Verständnis und darum
ihrem Interesse; sie schätzen viel eher den rohen Material'
wert und nehmen maschinenmäßige Pressungen für Juwelier'
kunst hin. Die Goldschmiedekunst ist darum so auf den
Hund gekommen. In früheren Jahrhunderten hat sie Wunder'
volles hervorgebracht; daß ihr künstlerischer Geist und, von
diesem untrennbar, ihre Technik, die uralt und bei allen
Völkern übereinstimmend ist, nun heute eine Pflegestätte
gefunden hat, sollte uns eigentlich freuen.
Die Leistungen zu schätzen, sind immerhin nur jene im stände,
die Achtung vor der Arbeit haben und namentlich vor einer,
die sich mit so viel Liebe und Kunst verbindet. Diese Arbeit
ist der höhere Wert des Schmuckes, vor dem der bloße
Modell
für ein
belgisches
Schloß
Professor
Joseph
Hoffmann
R. Luksch: Plastik (Steinzeug).
Materialwert verschwindet; demgemäß drückt sich
auch im Schmuck der Grad von Kultur oder Barbarei
eines Menschen aus. Das XVIII. Jahrhundert, künst^
lerisch hochstehend, besaß noch diese Kultur, auch
im Bürger^ und Bauerntum allgemein verbreitet; heute
aber herrschen unechte, schlechte Surrogate vor, falsche
Gotik, falsches Barock, falsche Sezession, Ausbeutungs«-
Produkte mißbrauchter Arbeitskraft, mißbrauchter
Talente. Auch Leute, die sich’s leisten könnten, finden
angemessene Preise, die einen angemessenen ArbeitS'
lohn verkörpern und einer anständigen Sache ent'
sprechen, unbegreiflich hoch. Das ist für die Lage
bezeichnend. Solche Gesinnung ist für das äußere
Lebensbild unserer Zeit bestimmend, im Großen wie
im Kleinen, weil alles in sich irgendwie zusammen'
hängen muß. Um es in einer einzelnen kleinen Sache
konkret auszudrücken: wer möchte für einen guten
Bucheinband das bezahlen, was die gediegene Her'
Stellung kostet? Ein anderes Beispiel zu wählen, er'
wähne ich die ausgestellten entzückenden Fächer von
Moser, Ceschka und Frau Luksch. Man soll sich
erinnern, daß aus dem XVIII. Jahrhundert kostbare
Fächer herrühren, die einmal an einem großen Festtag
des Lebens geschenkt und verwendet, als Familiengut
aufbewahrt und vererbt wurden und einen bleibenden
künstlerischen Wert bilden. Sie haben ihren ursprüng'
liehen Erstehern sicherlich weitaus mehr gekostet als
diese neuen Arbeiten heute kosten, die nicht minder
einen Dauerwert repräsentieren. Es sollte auch nicht
vergessen werden, daß die künstlerische Kraft und eine
Produktion, die auf Qualität hinarbeitet, eine Wert'
quelle ist, die auch volkswirtschaftlich in Betracht
kommt. Ich weiß nicht, ob in unserer Öffentlichkeit
eine Empfindung dafür vorhanden ist, daß künst -
lerische Interessen, die hierzulande erst verteidigt
werden müssen, die Teilnahme des Auslandes ge'
wonnen haben. Daß Herr Stoclet in Brüssel ein statt'
liches Schloß vom Professor Hoffmann bauen und ein -
richten läßt, ist ein solcher Fall. Das Modell des Schlosses
mit Gartenanlage ist in unseren Bildern zu sehen.
In den dortigen Herrensitzen, ja selbst in den Meier'
höfen und Dörfern, ist aus der Normannenzeit her der
kastellartige Baucharakter als lokale Tradition ent'
wickelt. Es ist geradezu bewundernswert, wie der Bau'
künstler sein Werk auf nationaler Grundlage aufgebaut
und in eine Form gebracht hat, die sich in die Heimat
des Brüsseler Bauherrn organisch einfügt. Es ist auch die
Heimat Maeterlinckscher Dichtung. Das Bild nach dem
Garten hin, von der Terrasse aus, offenbart es; so ist
das Werk des Baukünstlers bei aller Sachlichkeit selbst
eine Dichtung geworden. Noch wissen wir nichts über
den Grundriß, der nicht ausgestellt ist; es ist aber
vorauszusehen, daß die angelsächsische Halle, die sie
dort ebensogut wie in England behauptet, der Ausgangs'
punkt der Anlage ist. Schon an dem niedlichen Modell
läßt sich die Wirkung des Bauwerkes absehen; jede
Form ist so groß als möglich genommen und auf jene
monumentale Erscheinung abgezielt, die dem Ernst
des landschaftlichen Charakters und ihrer lokalen Bau'
formen entspricht. Es soll nur echtes und edles Material
verwendet werden, als Schmuck ist erlesene Kunst
gedacht, Arbeiten von Klimt, Minne u. a. Auch darin
ist das Modell interessant, daß es das Haus und den
regelmäßigen geschnittenen Garten als architektonische
Einheit hinstellt.
R. Luksch: Plastik (Steinzeug).
70
□ □ □ □ HAUS UND HEIM □ □ □ □
HAUS UND GARTEN,
VON GERTRUD JE KYLL, LONDON.
I.
WIE DAS HAUS GEBAUT WURDE.
(Fortsetzung.) Es sind unter
anderem auch kleine, alte Tränenfläschchen dabei, deren
irisierende matte Oberfläche effektvoll und vornehm zugleich
wirkt; ein kleiner, silberner Buddah; zarte Venezianer Gläser;
vom Alter grüne Bronzemünzen; alte Kirchenstickereien in
Bunt und Gold auf weißer Seide, die jetzt schon verblichen
und farblos sind; Straußeneier von der Farbe des Elfem
beins und Emueier von einem blassen, matten Grün. Unzählige
kleine Sachen, die den Raum von „acht Fuß auf vier" eim
nehmen, wie sich der Tischler ausdrücken würde, eine Lebens -
geschichte in Hieroglyphenschrift, die nur von einem einzigen
Menschen entziffert werden kann, die aber auch allen übrigen
Besuchern einen hübschen Anblick bietet.
Auch die getäfelten Schränke sind voller Schätze, die in
handlichen dunkelgrünen Schachteln mit losen Kappen unter -
gebracht sind, wie man sie in Geschäften für Bänder und
zarte Ware benützt. Man findet hier alte venezianische und
florentinische Stoffe; Wandbehänge, Meßgewänder, Brokate,
Damaste, Stickereien, Franzen, Schnüre und große Seiden -
quasten.
Es sind Schachteln mit algierischer und anderer Stick -
seide, mit persischer Wolle, mit Chenille und mit bunter
Stickbaumwolle dabei; eine Schachtel enthält alte englische
Flickendecken und eine zweite hübsche bunte französische
und italienische Bauerntücher. Ab und zu kommen viele
dieser Vorräte in Gebrauch, während die übrigen mir das
Vergnügen, darin herumwühlen und sie den meinen Ge -
schmack teilenden Freunden zeigen zu können, bereiten. Es
befinden sich auch Stoffsäckchen darin, in denen Seide-,
Leinen- und Baumwollreste liegen und das alles erfüllt mich
mit der angenehmen Empfindung, daß jeder Gegenstand in
diesen großen Schränken rein und sicher aufgehoben wird
und ich meine Schätze gleich bei der Hand habe.
Ein kleinerer Teil des Schrankes enthält eine Sammlung
von Gegenständen, die ein lokales Interesse haben, und die
jetzt zum größten Teile nicht mehr im Gebrauch sind. Es
ist eine Anzahl von Kopfstücken für Pferdegeschirre aus
Messing dabei, die den Stolz eines strammen Fuhrmannes
bilden und noch immer verwendet werden; darunter befinden
sich auch die jetzt nicht mehr vorkommenden Ohrglocken,
die von dem über den Kopf des Pferdes bis zu den Ohren
gehenden Riemen paarweise an jeder Seite herabhingen und
an die Seitenteile des Kopfstückes befestigt wurden. Der
mittlere Teil des Riemens war überdies mit einem drei -
teiligen Büschel aus gefärbtem Roßhaar geschmückt, der
aus einer schmucken Messingeinfassung in die Höhe stand.
Man findet auch die bunten Rosetten aus farbigen wollenen
Borten darunter, mit denen das Gespann an Markttagen auf -
geputzt wurde. Der verschiedenartige Inhalt dieses Schrankes
wird auch durch solche seltene Stücke vervollständigt, wie
es Lichtscheren und Löffel aus Messing, Pfefferbehälter,
hölzerne Schnitterflaschen, Feuerzeuge, einige der ersten
flachen Zündhölzchen und von den Matrosen ausgehöhlte
Kokosnüsse sind; es sind außerdem noch ein schöner, alter
Schäferstab und verschiedene Arten alter Nachtlichtbehälter
dabei.
Die Galerie ist nicht mit Möbeln angefüllt, sondern ent -
hält nur einen langen Tisch aus Eichenholz, von schöner,
einfacher Form, Wäscheschränke und ein paar Stühle. Auf
dem großen Tisch wird zugeschnitten und wird das Näh -
zeug hergerichtet. Ich wählte mir für mein eigenes Schlaf -
zimmer einen am Ende der Galerie gelegenen Raum, damit
ich möglichst oft das Vergnügen habe, die ganze Länge des
Ganges zurückzulegen, und jeden Morgen, wenn ich hungrig
und für das Tageswerk gerüstet aus meinem Zimmer zum
Frühstück gehe, bin ich darüber froh, daß mein Heim in
seinem oberen Stockwerk eine so geräumige und hübsche
Galerie besitzt.
Der Bau des Hauses wurde infolge des völligen Einver -
nehmens zwischen dem Architekten, dem Baumeister und
dem Besitzer auf die beste Art vollzogen. Ich fürchte, daß
ein solches Zusammentreffen glücklicher Umstände beim
Bau eines Hauses selten vorkommt. Es geschieht häufig,
daß entgegengesetzte Wünsche miteinander in Streit geraten;
es scheint vor allem etwas ganz Gewöhnliches zu sein, daß
der Baumeister und der Architekt einander in gewissem
Maße feindlich gegenüberstehen. Daraus ergibt sich für den
Architekten die Notwendigkeit, bei Bauten von einiger Be -
deutung einen teuer bezahlten Aufseher anzustellen, der auf -
passen muß, daß der Hausbesitzer vom Baumeister nicht
übervorteilt wird.
Wenn alle drei aber vernünftig und ehrlich sind und den
Wunsch, eine gute Arbeit zustande zu bringen, teilen, ist
diese Extraausgabe überflüssig, und das ganze Unternehmen
verursacht nicht, wie es oft vorkommt, Trubel, Unruhe und
Besorgnisse während des Entstehens und möglicherweise
Enttäuschungen bei seiner Vollendung, sondern erinnert an
ein interessantes Spiel, das ernstes, gänzlich absorbierendes
Interesse hervorruft, dessen verschiedene Stadien von jedem
einzelnen bestimmte Leistungen erfordert und bei dem
jeder Fortschritt ganz folgerichtig mit der stufenweisen
Vollendung des ganzen Baues in Zusammenhang steht.
Wir waren während der ganzen Zeit durch keinerlei Kon -
trakte gebunden. Die üblichen Preise wurden von einer
Londoner Firma bestimmt, die den Kostenanschlag machte
und der diese Summe diejenige, die für das Haus festgesetzt
worden war, nicht beträchtlich überstieg, wurde die Arbeit
dem Baumeister übergeben, der den Auftrag erhielt, sich wo
es ging einzuschränken; außerdem wurde mit ihm ausgemacht,
daß er alle Rechnungen am Ende eines jeden Monats über -
senden sollte und bei der Begleichung außer der zu be -
zahlenden Summe zehn Prozent des ganzen Betrages zu
bekommen hatte.
Der Architekt besaß genaue Kenntnisse der lokalen Methode
der Verwertung des in unseren Hügeln lagernden Sandsteines,
der viele Jahrhunderte lang das einzige Baumaterial der
Gegend war; er war auch mit den Details vertraut, welche
einen gewissen Zweck mit gewissen Mitteln zu erreichen
lehren und durch welche die ganz bestimmte Bauart einer
Gegend entsteht, so daß das von ihm Erbaute auf natürliche
Weise aus dem Boden zu wachsen schien. Ich bedaure es
immer, wenn an irgend einem Ort die individuellen Besonder -
heiten eines anderen zum Ausdruck gebracht werden. Jeder
Teil des Landes besitzt seine eigenen Traditionen und der
71
Umstand, daß dieselben sich im Laufe langer Jahrhunderte
zu irgend einer bestimmten Form kristallisiert haben, kann
uns die Sicherheit geben, daß dafür irgend eine ganz be^
stimmte Ursache besteht; es folgt also daraus, daß der Ver^
such, die Methoden und Eigenheiten irgend einer entfernten
Gegend zu verwerten, mit Sicherheit den Eindruck von
etwas unbehaglich Exotischem, im geographischen Widern
Spruch Stehenden und von etwas, das an und für sich
vielleicht richtig ist, sich aber am Unrechten Platz befindet,
hervorruft.
Denn ich stelle für die Architekten die Regel auf, daß man
es jedem Gebäude ansehen muß, was es ist. Wie gut hat der
feine alte Architekt George Dance das verstanden, als er das
Gefängnis von Newgate baute! Hat denn nicht jeder intelligente
Mensch das Gefühl einer Dissonanz, wenn ein Gebäude eine
breite Front gleich einem griechischen Tempel hat und man
darin statt der feierlich hinschreitenden Andächtigen in
klassisch drapierten Gewändern und einem Zug blumenge'
schmückter, weißgekleideter Priester und geweihter Opfertiere
wie man zu erwarten berechtigt wäre, eilende Wagen mit
Bergen von Reisegepäck und Fahrrädern auf deren Gipfeln
an trifft!
Wenn doch auch in den Gebäuden nur ein wenig
Wahrheit und Ehrlichkeit enthalten wäre, wie in allem
anderen, was das Auge sieht und was das alltägliche Leben
ausmacht!
Viele meiner Freunde, die wissen, daß ich auf dem Gebiete
der Architektur und der verschiedenen Handwerke herum -
stümpere, fragten mich, weshalb ich mein Haus nicht selbst
entworfen habe. Ich habe diese Frage, trotzdem dieselbe gut
und schmeichelhaft gemeint war, energisch verneint. Ein
Amateur, der architektonische Einfälle hat, kann ein Haus
nach seinem Belieben entwerfen und bauen, was ihm und
den Seinigen voraussichtlich sogar in ganz berechtigter und
ehrlicherweise eine Quelle höchster Befriedigung sein wird.
Es werden dem Haus aber die Eigenschaften fehlen, welche
die Wissenschaft und das feste Zugreifen des entwickelteren
Ausdrucksvermögens verleihen. Es werden stümperhafte und
mißlungene Stellen vorhanden sein und es wird innen und
außen an einer behaglichen Einfachheit mangeln. Wenn
irgend etwas angebaut werden soll, wird es an einen ver^
schämten Flick, der auf ein Kleid genäht worden ist, erinnern;
dieser Flick ist sich immer seiner störenden Gegenwart be'
wußt. Dagegen hat ein von einem guten Architekten
entworfener Anbau etwas von jener vornehmen Flickarbeit
an sich, die von genialen Italienern vor zweihundert Jahren
hergestellt wurde. Das Kleid benötigte einen Flick und bekam
einen solchen, statt aber einen plumpen Versuch, ihn zu ver^
bergen zu machen, verherrlichte man ihn, verwandelte ihn in ein
Ornament und eine graziöse Arabeske von Blättern, Blumen
und Ranken, die durch geschicktes Benähen mit Zwirn,
Schnur oder zarter Goldborte entstanden, so daß der unan -
sehnliche Riß sich unter den geschickten Fingern und dank
den geistreichen Einfällen eines fruchtbaren Hirns in etwas
Schönes und Herzerfreuendes verwandelte.
Als es so weit war, daß die Pläne zu meinem Haus her -
gestellt werden sollten — ich hatte schon vor einem oder
zwei Jahren fälschlich angenommen, daß ich mit dem Bau
beginnen könnte — besprach ich mit dem Architekten die
Lage des Hauses und auch mehr oder weniger die Einteilung
der Zimmer. Ich sagte ihm, daß ich ein kleines, aber recht
geräumiges Haus haben wollte — es enthält alles in allem
sieben Schlafzimmer — und daß ich weder kleine, schmale
Gänge noch sonst irgend etwas zu Enges, Zusammen -
gedrängtes und schlecht Beleuchtetes möchte.
Er entwarf einen Plan und wir waren bald zuerst bezüglich
des Grundrisses und dann bezüglich der Details einig. Jede
Kleinigkeit wurde sorgfältig besprochen und ich muß ge -
stehen, daß ich in den meisten der wenigen Fälle, da ich den
Architekten zu beeinflussen suchte, seine Ansicht zu gunsten
meiner Wünsche zu ändern, besser daran getan hätte, den
Dingen ihren Lauf zu lassen. Der größte Irrtum, den ich
in dieser Beziehung beging, bestand in der Änderung der
Fensterflügel, d. h. der an Scharnieren auf- und zugehenden
Fensterscheiben. Er hatte in jeder langen Fensterreihe nicht
die untersten, sondern die darüber liegenden Scheiben zum
öffnen bestimmt. Ich glaubte, die untersten würden, besonders
in den Schlafzimmern, infolge der vor den Fenstern befind -
lichen ungewöhnlich langen und breiten Toilettentische, die
ich liebe, leichter zu erreichen sein. Die Fensterflügel wurden
meinem Wunsche entsprechend angebracht. Späterhin fand
ich diese Änderung, die das Naßwerden der Vorhänge bei
Regenwetter und das Hin- und Herfliegen des als Rouleau
dienenden dünnen Leinenstoffes verursachte, so unbequem,
daß ich die Fenster noch im Laufe desselben Jahres, wie es
ursprünglich bestimmt war, einrichten ließ. Im Laufe unserer
Besprechungen gab es natürlicherweise oft freundschaft -
lichen Streit und ich kann mich nur an einen einzigen Fall
erinnern, da man davon sprechen konnte, daß wir uns „in
den Haaren lagen“. Die Details der in Frage stehenden
Angelegenheit sind mir jetzt entfallen, ich weiß nur, daß es
sich um etwas handelte, das die Ausgaben für die äußere
Ausschmückung erheblich erhöht hätte; ich faßte meine
Entgegnung in folgende Worte zusammen, die ich mit
einigem Eifer sagte: „Mein Haus soll gebaut werden, damit
ich darin wohne und es liebe, es soll aber keine Ausstellung
nutzloser Architektonik sein!“ Ich habe sonst nicht die Ge -
wohnheit, lange Reden zu halten und während aber diese
durch die Furcht der gesteigerten Unkosten hervorgerufenen
Worte sich gleich einem brausenden Strom ergossen, sah
ich es der gedrückten und etwas erschrockenen Miene des
Architekten an, daß lange Reden manchmal doch von Nutzen
sind und zuweilen als Kampfmittel in der Art der Belagerungs -
geschütze dienen können.
Wie habe ich mich über den ganzen Prozeß des Bauens von
dessen Beginn an gefreut! Ich konnte irgend einem geschickten
Arbeiter stundenlang zuschauen. Selbst das Schaufeln und
Ebnen des Bauplatzes gewährt einen interessanten Anblick,
wenn es aber von einem sehr erfahrenen Arbeiter besorgt
wird, der die Werkzeuge so gebraucht, daß sie ein Teil
seiner selbst geworden zu sein scheinen, ist das Schauspiel
von solchem Reiz, daß ich mich nur schwer zum Fortgehen
entschließen konnte. Welcher Hochgenuß war es, dem Werk -
führer beim Bauen der Mauer zuzuschauen! Er war der
Leiter des Bauunternehmens und Maurer vom Beruf, be -
herrschte aber anscheinend alle Werkzeuge. Wie schön war
es, ihn bei der Arbeit zu sehen und seine absolute Genauigkeit
und vollkommene Vertrautheit mit dem Werkzeuge und
dem Material zu sehen und die Freude, die er daran hatte,
sein lächelndes Gesicht, die raschen, fast tanzenden Bewe -
gungen und die überschwengliche, wenn auch gar nicht
affektierte Äußerung seiner flinken Emsigkeit zu beobachten;
die Arbeit selbst erscheint mit kleinen, graziösen Ornamen -
ten geschmückt, die sich in halbbewußten Berührungen der
Maurerkelle äußern und wie zarte Verzierungen des voll'
endeten Könnens erscheinen, dabei sieht das Ganze so leicht
aus, daß die Tätigkeit des Arbeiters nicht an diejenige eines
sein Tagewerk erledigenden Mannes, sondern an die Lust -
äußerungen eines vor lauter Lebensfreude springenden,
kräftigen, jungen Wesens erinnert. (Fortsetzung folgt.)
72
Von einem Hemd (Nationaltracht).
Polnische Bauernstickerei.
□ □□□□□□□□□□□□□□ E nnD[=ll=ll=1[:]l=1,=1[:]
VOLKSKUNST UND HEIMATSCHUTZ
□ □□□□nDönnnoDUDnciönnDniiinn
POLNISCHE BAUERNSTICKEREI.
ch kenne in der Stickerei nichts Herrlicheres als diese
Bauernarbeiten; sie in der gleichen Schönheit zu empfinden
und zu verwirklichen, konnte nur Menschen gelingen,
die entweder völlig naiv und unbewußt künstlerisch
schaffen, oder die das feinste künstlerische Bewußtsein be-
73
h
Schultertuch (Nationaltracht.)
sitzen. In diesen Extremen berühren sich beide, sie schaffen
organisch. In der Tat, es gibt nur wenige Künstler auf dieser
Höhe, um Gleichwertiges und so Organisches zu schaffen,
wie diese Bauernarbeiten, die eine fast verschollene Kunst
unseres Volkes darstellen. Sie sind organisch, weil sie aus
dem Wesen der Technik hervorgegangen; das Werkzeug
und das Material formen den Ausdruck naiver Bildlichkeit
so treffsicher und raffiniert, daß wir es stilistisch nennen
würden, wenn dieser schematische Begriff hier gelten dürfte.
Diese Formen sind nicht naturalistisch in dem schlimmen
Sinne von heute, aber sie sind naturwahr; die Bäuerinnen
des Nordens und des Südens, die russischen, polnischen,
mährischen und kroatischen, arbeiten mit ähnlichen künst'
krischen Ergebnissen.
Die hier in unseren Bildern und die wir in den nächsten
Heften fortsetzen, sind auf Dörfern in der Umgebung
Krakaus gesammelt; die Fülle der Ausdrucksformen inner'
halb der Stickereitechnik, der Reichtum der Motive in
jedem einzelnen Stück ist etwas ganz Unerhörtes. Nun denke
man: es sind Stücke aus der Bauerntracht, Schultertuch,
blusenartiges Hemd. Das Bild einer ungewöhnlichen volks'
künstlerischen Kultur, die nun fast verloren ist, tritt
augenblicklich vors Auge. Man muß sich aber auch sofort
fragen, was denn der Staat und die Gesellschaft getan, daß
74
solcher wunderbarer Reichtum verschwunden ist. Es ist wie
ein Märchentraum, diese erlesenen Stücke zu sehen und
alles zu ergänzen, was zu ihrer Entstehung gehört, die
Menschen, die sie geschaffen und getragen, denn es waren ge^
v/öhnlich dieselben, und die dazugehörige passende Umgebung,
Haus und Hausrat, Tracht, Lieder, Musik. Denn irgendwie
paßt alles zusammen und sicherlich gab es eine künstlerische
Einheit in dieser bäuerliclvkünstlerischen Kultur. Die hoch--
verdiente Vereinigung Polna Sztuka, die diese und sonstige
polnische Volkskunst in ihren prachtvollen Materialienheften
veröffentlicht, hat eine solche Einheit innerhalb der polnischen
Volkskunst gezeigt. Es kann jenen, die an der Möglichkeit
und Natürlichkeit einer künstlerischen Kultur zweifeln, im
Rahmen eines vergangenen Bildes als Beispiel dienen. Auch
im Wiener Kunstgewerbemuseum ist dank unseres Dr. M.
Haberlandt eine Volkskunstausstellung möglich geworden,
die ein solches einheitliches Bild gibt. Wir werden darüber
im nächsten Heft ausführlich zur Sprache kommen und
namentlich hervorheben, was an dem Talent des Volkes
versäumt, was verdorben und was vielleicht wieder gut zu
machen ist. Denn die Kraft, die so herrliche Leistungen hervor -
gebracht, kann doch nicht in den Brunnen versunken sein?
Die Frage wird immer ernster und folgenschwerer, wie der
Staat das Talent pflegt. Die einzige und mächtigste Wertquelle.
75
□ □□□□□ DICHTUNG □□□□□□
HARU.
VON LAFCADIO HEARN.*
H aru war im Elternhause erzogen worden, nach jener
altvaterischen Weise, die den lieblichsten Frauem
typus hervorbringt, den die Welt je gesehen hat.
Diese häusliche Erziehung bildete besonders Schlicht'
heit des Herzens, natürliche Anmut des Benehmens, Gehorsam
und Pflichtgefühl aus und entwickelte sie zu einem Grade,
wie er außerhalb Japans nirgends erreicht wird. Das moralische
Resultat wäre für jede andere Gesellschaftals die alte japanische
allzu fein und schön gewesen. Es war aber keine angemessene
Vorbereitung für das härtere Leben der neuen Zeit. Das
Mädchen aus guter Familie wurde dazu erzogen, sich von
ihrem Manne vollständig abhängig zu fühlen. Man lehrte
sie, niemals Eifersucht, Kummer oder Zorn zu zeigen, selbst
nicht unter Verhältnissen, die diese Gefühle rechtfertigen
konnten; man erwartete von ihr, daß sie die Fehler ihres
Gatten und Herrn nur durch die Waffe der Sanftmut besiege.
Kurz, man mutete ihr zu, fast übermenschlich zu sein und
wenigstens äußerlich das Ideal der vollkommenen Selbst'
losigkeit zu verkörpern. Dies konnte sie erfüllen in dem
Zusammenleben mit einem Gatten, der ihr ebenbürtig war,
von feiner Unterscheidungsgabe, zart in der Empfindung,
fähig, ihre Gefühle zu erraten und sie nie zu verletzen.
Aber Haru entstammte einer weit vornehmeren Familie als
ihr Gatte; und sie war ein wenig zu gut für ihn, weil er
nicht das richtige Verständnis für sie haben konnte. Man
hatte sie sehr jung verheiratet. Zuerst waren sie sehr arm
gewesen und ihre Verhältnisse hatten sich allmählich zum
Besseren gewendet, da Harus Gatte ein tüchtiger Geschäfts'
mann war. Manchmal schien es ihr, daß er sie mehr geliebt
* LAFCADIO HEARN, Professor der englischen Sprache und Literatur
an der Universität in Tokio, war vielleicht der einzige Europäer, der
die Kultur des japanischen Volkes zur seinigen zu machen und sie
künstlerisch zu verwenden wußte. Seine Werke: japanische Kultur-
bilder in novellistischer Form, haben die Vorzüge japanischer Literatur.
Er ist in Europa erst ein Jahr nach seinem Tode weiterhin bekannt
geworden; der russisch-japanische Krieg hat die allgemeine Aufmerk -
samkeit auf seine Schilderungen und Dichtungen gelenkt. Seine in
englischer Sprache verfaßten Werke haben bis dahin selbst in Eng -
land keine besondere Beachtung gefunden. Nachher freilich, meinte
mancher, einen Freund an ihm verloren zu haben. Deutschland lernt
ihn durch die Übersetzung seines Buches „Kokoro“ („Herz“) kennen.
„Haru“ ist aus diesem Werk. Es sind sehr zarte und feine Dichtungen,
die das Wesen der japanischen Volksseele enthüllen. Die Menschen
und die Natur in Japan sind immerhin mit europäischen Augen
gesehen, was von den europäischen Lesern als großer Vorzug empfunden
werden mag. Die ursprünglich japanische Dichtung erschiene diesen
allzu fremd. In den reichen und wundervollen Gärten der japanischen
Dichtkunst jedoch kommt Lafcadio Hearns Werken wohl nicht jene
überragende Geltung zu wie in Europa. Aber wer von uns ist je ganz
in diese wundervollen Gärten Japans eingedrungen? Indem ich also
frage, erkläre ich die große Bedeutung, die Lafcadio Hearn, wenn nicht
für Japan, so doch für uns hat. Die deutsche Ausgabe ist in einem
schönen Bande im Verlag von RÜTTEN & LOENING, FRANKFURT
AM MAIN (geh. M. 5'—, geb. M. t—) erschienen, vom Professor Emil
Orlik reich mit Buchschmuck versehen. Daß Orlik mit dieser Aufgabe
betraut wurde, beweist feinen künstlerischen Takt. Orlik ist in gewissem
Grad Hearns künstlerisches Widerspiel. Wie Hearn, schöpft auch er
aus dem Geiste japanischer Kunst — als Europäer. Bei Orlik ist es
so: schöne japanische Kunst von der Art, wie sie zwar nicht in Japan,
aber in Europa bedeutend ist. All diese Dinge haben hohen relativen
Wert.
hatte, als sie sich noch in bescheideneren Lebensumständen
befanden; und in solchen Dingen irrt sich eine Frau selten.
Sie verfertigte noch alle seine Kleidungsstücke und er pries
stets ihre Geschicklichkeit. Sie kam all seinen Wünschen
zuvor, half ihm beim An- und Auskleiden; machte ihm in
ihrem schönen Heim alles behaglich; sagte ihm in lieb -
reizendster Weise Lebewohl, wenn er des Morgens an seine
Geschäfte ging, und bewillkommnete ihn bei seiner Rückkehr;
sie empfing seine Freunde in der tadellosesten Weise; führte
seinen Haushalt mit bewunderungswürdiger Ökonomie und
verlangte selten von ihm eine Aufmerksamkeit, die Geld
kostete. Tatsächlich brauchte sie so etwas auch nicht zu ver -
langen; denn er war nie geizig und liebte es, sie zierlich
gekleidet zu sehen, so daß sie einer schönen Silberlibelle
glich, die sich in die Falten ihrer eigenen Flügel hüllt.
Und er nahm sie gerne in Theater und andere Vergnügungs -
lokale mit. Sie begleitete ihn zu Ausflugsorten, die berühmt
wegen ihrer blühenden Kirschbäume im Frühling waren,
wegen des schimmernden Glanzes ihrer Leuchtkäfer zur
Sommerszeit oder wegen ihrer sich purpurn färbenden Ahorn -
blätter im Herbste. Und manchmal brachten sie zusammen
einen Tag in Maiko auf dem Meere zu, wo die Fichten sich
zu wiegen schienen wie tanzende Mädchen; oder einen
Nachmittag in Kiyomidzu, in dem uralten Lusthaus, wo
alles wie ein Traum aus ferner Zeit ist. Da ruhen große
Wälder in tiefem Schatten, und ein murmelndes Bächlein
entquillt kalt und klar dem Felsen, und man hört immer
die Klage unsichtbarer Flöten, die lieblich in der alten Weise
ertönen, ein liebkosender Laut, aus Friede und Wehmut
gemischt, sowie das goldene Licht einer sterbenden Sonne
im Blau verhaucht.
Abgesehen von diesen kleinen Vergnügungen und Aus -
flügen ging Haru selten aus. Ihre einzigen Verwandten und
auch die ihres Mannes lebten weit weg in anderen Provinzen;
und sie hatte nur wenig Besuche zu machen. Sie liebte es,
zu Hause zu sein, Blumen für die Nischen der Götter zu
ordnen, die Zimmer zu schmücken und die zahmen Gold -
fische des Gartenweihers zu füttern, die schon die Köpfchen
empor streckten, wenn sie sie kommen sahen.
Noch hatte kein Kind neue Freude oder neue Trauer in
ihr Leben gebracht. Sie sah ungeachtet ihres Frauenkopf -
putzes wie ein ganz junges Mädchen aus; und sie war noch
so naiv wie ein Kind, trotz ihres praktischen Sinns in häus -
lichen Angelegenheiten, den ihr Mann so bewunderte, daß
er sich oft dazu herbeiließ, sie in ernsten Dingen zu Rate
zu ziehen. Vielleicht urteilte dann ihr Herz besser für ihn
als ihr hübsches Köpfchen; aber ob nun intuitiv oder nicht,
ihr Rat erwies sich immer als gut. Fünf Jahre lebte sie
glücklich mit ihm, und in dieser Zeit benahm er sich so
rücksichtsvoll gegen sie, wie nur ein junger japanischer
Kaufmann gegen eine Frau von vornehmerer Abkunft als
seine eigene sein konnte.
Dann aber begann er plötzlich zu erkalten, so plötzlich, daß
sie überzeugt war, daß der Grund seines veränderten Be -
nehmens nicht derjenige war, den eine kinderlose Frau mit
Recht befürchten konnte. Unfähig, die wahre Ursache heraus -
zufinden, suchte sie sich zu überreden, daß sie es vielleicht
in der Erfüllung ihrer Pflichten an irgend etwas hatte fehlen
lassen; sie durchforschte vergebens ihr unschuldiges Gewissen
und bemühte sich, ihm alle Wünsche von den Augen ab -
zulesen. Aber er blieb ungerührt. Er sagte kein unfreund -
liches Wort, aber sie fühlte hinter seinem gezwungenen
Schweigen die unterdrückte Lust, zu verletzen.
Ein Japaner der besseren Klasse wird nicht leicht in Worten
gegen seine Frau unfreundlich sein. Es gilt als vulgär und
76
brutal. Der gebildete Mann von normaler Charakteranlage
wird selbst den Vorwürfen seiner Frau mit sanften Worten
begegnen. Nach der japanischen Etikette verlangt die ge^
wohnlichste Höflichkeit diese Haltung von ihm; überdies
ist sie auch die einzig ratsame. Eine verfeinerte und sensitive
Frau wird sich nicht lange einer rohen Behandlung untere
werfen; eine temperamentvolle könnte sich wegen eines im
Moment der Leidenschaft ausgestoßenen Wortes sogar töten
und ein solcher Selbstmord entehrt den Gatten für den Rest
seines Lebens.
Aber es gibt eine stillschweigende Grausamkeit, die schlirm
mer als Worte ist und sicherer trifft, beispielsweise eine so
ausgesprochene Vernachlässigung und Gleichgültigkeit, daß
sie Eifersucht erregen muß. Eine japanische Frau ist frei'
lieh dazu erzogen worden, niemals Eifersucht zu zeigen; aber
das Gefühl ist älter als alle Erziehung, so alt wie die Liebe
und wohl auch von so langer Dauer wie diese. Unter ihrer
leidenschaftslosen Maske fühlt die japanische Frau ebenso
wie ihre abendländische Schwester, wenn sie, während sie eine
fashionable Abendgesellschaft bezaubert, sich in ihrem innersten
Herzen nach der Stunde der Befreiung sehnt, die ihr gestattet,
in der Einsamkeit ihrem Schmerz freien Lauf zu lassen.
Haru hatte Anlaß zur Eifersucht; aber sie war zu sehr Kind,
um den wirklichen Grund sogleich zu erraten, und ihre
Diener waren ihr zu sehr ergeben, um sie darüber aufzu'
klären. Ihr Gatte hatte die Gewohnheit gehabt, seine Abende
in ihrer Gesellschaft daheim oder auswärts zu verbringen.
Aber nun ging er Abend für Abend fort. Zuerst hatte er
Geschäfte vorgeschützt; später suchte er nach gar keinem
Vorwand und sagte ihr nicht einmal, wann er zurückzukehren
beabsichtige. In letzter Zeit begegnete er ihr sogar mit still -
schweigender Unhöflichkeit. Er war ein anderer geworden;
„als ob ein böser Geist sein Herz behext hätte“, sagten die
Diener. Tatsächlich hatte er sich in einer geschickt gestellten
Falle fangen lassen. Das Flüstern einer Geisha hatte seinen
Willen gelähmt, ihr Lächeln seine Augen verblendet. Sie war
weit weniger hübsch als seine Gattin; aber sie war sehr ge -
schickt in der Kunst, Netze zu spinnen, die betörenden Netze
der Sinnlichkeit, die schwache Männer umgarnen und sie
immer enger und enger umstricken, bis schließlich die Stunde
der Enttäuschung und des Zusammenbruchs naht. Haru wußte
nichts. Sie argwöhnte nichts Böses, bis das seltsame Benehmen
ihres Mannes zur Gewohnheit geworden war, und auch dann
nur, weil sie merkte, daß sein Geld in unbekannte Hände
verschwand.
Er hatte ihr nie gesagt, wo er seine Abende zubrachte. Und
sie scheute sich zu fragen, damit er sie nicht für eifersüchtig
halte. Statt ihren Gefühlen in Worten Ausdruck zu geben,
begegnete sie ihm mit so gewinnender Freundlichkeit, daß
ein klügerer Gatte alles erraten haben würde. Aber außer in
seinen Geschäften war er nicht scharfsichtig. Er fuhr fort,
seine Abende auswärts zu verbringen; sein Gewissen regte
sich immer weniger und sein Fortbleiben dehnte sich immer
länger aus. Man hatte Haru gelehrt, daß eine gute Gattin
immer des Nachts auf bleiben müsse, bis ihr Gatte und Ge -
bieter heimkäme. Und dadurch, daß sie dies tat, begann sie
an Nervosität zu leiden, an den fieberhaften Zuständen, die
durch Schlaflosigkeit hervorgerufen werden und von den
düsteren Gedanken der langen einsamen Wartestunden, nach -
dem sie die Diener zur gewohnten Zeit entlassen hatte.
Nur einmal, als ihr Gatte besonders spät zurückkam, sagte
er zu ihr: „Es tut mir leid, daß du meinetwegen so lange
aufgeblieben bist. Bitte, warte nicht wieder auf mich!“ In
der Befürchtung, daß er sich wirklich um ihretwillen Sorgen
gemacht habe, lächelte sie freundlich und sagte: „Ich war
nicht schläfrig und ich bin nicht müde; ich bitte, Hochgeehrter,
nicht an mich zu denken!“ Und so hörte er auf, an sie zu
denken, nur zu froh, sie beim Wort nehmen zu können;
und kurze Zeit darauf blieb er die ganze Nacht fort. Die
nächste Nacht machte er es ebenso — und auch die dritte. Nach -
dem er die ganze dritte Nacht fortgewesen war, kam er nicht
einmal zur Morgenmahlzeit nach Hause. Und nun wußte
Haru, daß die Zeit gekommen war, wo ihre Pflicht als Gattin
ihr zu sprechen gebot.
Sie wartete den ganzen Morgen, in Angst um ihn, in Angst
um sich selbst, endlich sich des Unrechtes bewußt, durch
das das Herz einer Frau am tiefsten verwundet werden kann.
Ihre treuen Diener hatten ihr einiges gesagt; das übrige
konnte sie erraten. Sie war sehr krank, aber sie merkte es
nicht. Sie wußte nur, daß sie sehr erzürnt war, selbstsüchtig
erzürnt wegen des Schmerzes, den man ihr zugefügt hatte,
ein grausamer, erstickender, vernichtender Schmerz. Die
Mittagsstunde kam heran und noch immer dachte sie darüber
nach, wie sie das, was ihr jetzt die Pflicht zu sagen gebot,
in der wenigst selbstsüchtigen Weise sagen könne, die ersten
Worte des Vorwurfs, die je über ihre Lippen kommen
sollten. Mit einem Male erzitterte ihr Herz so plötzlich, daß
alles vor ihren Augen schwarz wurde, denn sie hörte das
Rollen von Kurumarädern und die Stimme eines Dieners,
die rief: „Der Ehrenwerte ist heimgekommen.“
Sie schleppte sich zum Eingang, um ihn zu empfangen,
während ihr schlanker Körper in Fieber und Schmerz erbebte
und in Angst, diesen Schmerz zu verraten. Und der Mann
erschrak, als sie, anstatt ihn mit dem gewöhnlichen Lächeln zu
begrüßen, mit ihrer zitternden kleinen Hand seinen Seiden -
mantel erfaßte und in sein Gesicht blickte mit Augen, die
bis auf den Grund seiner Seele blicken wollten, und zu
sprechen versuchte, aber nur das einzige Wort „Anata“?
(du?) hervorzubringen vermochte. Fast im selben Augen -
blick löste sich ihr sanfter Griff, ihre Augen schlossen sich
mit einem seltsamen Lächeln; und ehe er noch die Arme
ausstrecken konnte, um sie zu stützen, fiel sie zu Boden.
Er versuchte sie emporzuheben. Aber das Leben war aus
dem zarten Körper entwichen. Sie war tot.
Natürlich herrschte große Bestürztheit, man lief um Ärzte,
man weinte, wehklagte und rief verzweifelt ihren Namen.
Aber sie lag bleich, regungslos und schön da, aller Schmerz
und Zorn war aus ihrem Antlitz gewichen und sie lächelte
wie an ihrem Hochzeitstage.
Die Leute wunderten sich, daß er nicht Priester wurde, um
seiner Reue Ausdruck zu geben. Nun sitzt er tagsüber
zwischen seinen Ballen von Kyotoseide und seinen Osaka -
götterbildern, ernst und schweigsam; seine Bediensteten halten
ihn für einen gütigen Herrn; er spricht nie harte Worte zu
ihnen. Oft arbeitet er bis tief in die Nacht. In das hübsche
Haus, wo einst Haru lebte, sind Fremde eingezogen und der
Besitzer sucht es niemals auf. Vielleicht weil er fürchtet,
dort einen schlanken Schatten zu erblicken, der Blumen
ordnet oder sich mit der Anmut eines Irisstengels über die
Goldfische in seinen Weiher neigt. Aber wo er auch ruhen
mag, so taucht doch in stillen Stunden dieselbe lautlose Ge -
stalt an seinem Kopfkissen auf, nähend, glättend, liebreich,
bemüht, die schönen Kleider zu schmücken, die er einst an -
legte, um sie zu verraten. Und zu anderen Zeiten — in den
geschäftigsten Augenblicken seines geschäftigen Lebens —
verstummt der Lärm seines großen Ladens; die Ideogramme
an seinen Wänden verblassen und verschwinden; und eine
klagende kleine Stimme, die die Götter nie verstummen
lassen, ruft in sein einsames Herz gleich einer Frage das
einzige Wort „Anata“? (du?)
77
p> A c DPPORTVTK'T Fin Die Idee des heutigen Reformkleides entsprang einer natürlichen und künstlerischen
Notwenc ijgk e it. _ Das Reformkleid ist künstlerisch durch die richtige Konstruk'
tion und die erfinderische edle Handarbeit. Obige Kleider sind aus Tuch, das Jäckchen links Handweberei aus Schaf'
wolle und Perlen von Frau Guttmann. Die Oberteile der unten stehenden Seidenkleider sind Handweberei von
Fräulein Jutta Sicka aus Gold und Lilaseide; Ausführung sämtlicher Kleider durch den Salon Schwestern Flöge, Wien.
78
□ □ □ KUNST UND KULTUR □ □ □
PROFESSOR FRANZ METZNER.
NEUE MONUMENTALPLASTIK,
BERLINER GESELLSCHAFTSHAUS.
/ er die in Deutschland und Österreich in den letzten Jahren ent-
W gtandenen Denkmal' und Brunnenplastiken beachtet hat, all die
genrehafte, im schlechten Sinne naturalistische Effekthascherei, wird
sich freuen, zu hören, daß Professor Franz Metzner, dessen Arbeiten
eine künstlerische plastische Monumentalität anstreben, nun mit einer
Reihe von großen Aufträgen über bedeutende Denkmalplastiken, die
in deutschen und österreichischen Städten aufgestellt werden sollen,
ausgezeichnet worden ist. Er wird im Verein mit dem Architekten
Bruno Schmitz, Berlin, das Völkerschlacht'Denkmal in Leipzig schaffen,
für Teplitz ein Kaiser'Josef'Denkmal, für Reichenberg einen Monumental'
brunnen, für Linz, wie unseren Lesern bereits bekannt ist, ein Stelz-
hamer-Denkmal, für Prag ein Mozart-Denkmal, für die vom Ober-
baurat Wagner erbaute neue Kirche Heiligenfiguren, für ein von der
Aktiengesellschaft Aschinger in Berlin zu erbauendes Gesellschaftsbaus
den gesamten plastischen Schmuck. Was doch, nebenbei bemerkt, in
Berlin für ein frisches, zupackendes Leben ist, verglichen mit der
Schlafmützenhaftigkeit Wiens. Dort baut man mit einem Millionen-
kapital ein sogenanntes Gesellschaftsbaus mit Festhallen für allerlei
Festlichkeiten, große Aufführungen und für alles, was man zeigen,
ausstellen und feiern will. Bei uns kostet es unendliche Schwierigkeiten,
die leitenden Kreise auf die platte Notwendigkeit eines zentralen Aus-
Stellungsbaues, auf die wir in unserem letzten Heft ausführlich hin-
gewiesen, zu überzeugen. Und selbst wenn es gelingt, sie zu überzeugen,
ist die Ausführung der Idee eine Sache, die bei uns im weiten Felde
liegt. Auf Professor Metzner zurückkommend, soll einfach konstatiert
werden, daß das Ausland über die produktiven Kräfte in Österreich
weitaus besser informiert und in der Lage ist, daraus Nutzen zu
ziehen, als unsere Leute.
Professor Metzner ist an der Wiener Kunstgewerbeschule tätig; mit
dem Kunstbedarf des Auslandes verglichen, steht unsere offizielle
Wiener Kunstförderung noch immer allzu sehr auf dem Standpunkte
des Almosengebens. Vielleicht lernen auch unsere „Offiziellen“, diesen
Künstler ein bißchen mehr schätzen.
KUNST UND KUNSTKRITIKER.
WHISTLER GEGEN RUSKIN.
D ie Zeitschrift „Kunst und Künstler“ bringt einen amüsanten Bericht
über den Prozeß, den WHISTLER gegen Ruskin geführt und in
seinem Buche „The gentle art of making ennemies“ niedergelegt hat.
Whistler klagte Ruskin wegen der folgenden kritischen Äußerungen:
„Im Interesse Herrn Whistlers selbst, geschweige denn zum Schutze
der Käufer hätte Sir Couth Lindsay nicht Werke zulassen sollen, in
denen die bildungslose Eitelkeit des Künstlers einem beabsichtigten
Betrüge so ähnlich sah. Mir ist schon viel von der Frechheit Londoner
Straßenjungen zu Ohren und zu Gesicht bekommen; aber ich hätte nie
erwartet, 200 Guineen fordern zu sehen, um dem Publikum einen
Topf voll Farbe ins Gesicht zu schmeißen.“
Der Prozeß ist nicht arm an ergötzlichen Zwischenfällen.
Einige der Bilder Whistlers, die diese allzu scharfe Kritik hervor-
gerufen, wurden dem Generalanwalt vorgestellt. Zuerst ein Nokturno
in Schwarz und Gold, das Feuerwerk von Cremorne darstellend.
Der Generalanwalt fragt: „Also, Herr Whistler! Können Sie mir sagen,
wie lange Sie gebraucht haben, um diesen Nokturno herunterzu-
hauen?“
„Wie meinen?“ (Gelächter.)
Generalanwalt nach längerem Verhör: „Die Arbeit von zwei Tagen ist
es, für die Sie 200 Guineen fordern.“
„Nein; — ich fordere sie für die Erfahrung eines Menschenlebens.“
(Applaus.)
Im weiteren Verlaufe des Gerichtsaktes wurde ein Bild, das als Nok-
turno in Blau und Silber gezeichnet ist, auf den Gerichtstisch gestellt.
Der Generalanwalt stellt die Frage: „Was ist hier rechts auf dem
Bild dieser goldene Stempel, der wie ein Wasserfall aussieht?“
„Der Wasserfall ist ein Feuerwerk.“
Ein Nokturno in Schwarz und Gold wird ebenfalls hochnotpeinlich
untersucht.
Der Generalanwalt stellt an Herrn Whistler die Frage: „Sie wollen
sagen, Herr Whistler, daß die Eingeweihten unschwer ihre Arbeiten
verstehen könnten. Aber glauben Sie zum Beispiel MICH befähigen
zu können, die Schönheit dieses Bildes zu sehen?“
Auf diese Frage schwieg zunächst der Zeuge, besah sich aufmerksam
das Gesicht des Generalanwaltes und das Bild und sagte dann, nach -
dem er sich die Frage anscheinend genau, während das Gericht schweigend
da saß, überlegt hatte: „Nein! Wissen Sie, ich fürchte, das wäre ebenso
hoffnungslos, als wenn ein Musiker seine Töne einem Tauben ins
Ohr bläst.“ (Gelächter.)
Der Generalanwalt sucht zu beweisen, daß Ruskin im Recht war, denn
was diese Bilder anlange, so könnten die Kritiker nur zur Überzeugung
kommen, daß sie seltsame prätentiöse Phantastereien seien, die den
Namen Kunstwerk nicht verdienten.
Herr Ruskin hege die höchste Bewunderung für FERTIG AUSGE -
FÜHRTE BILDER, er verlangt eben vom Künstler mehr als ein paar
geniale Einfälle!
Auch die Zeugen, vor allem Burne Jones (berühmter Maler), Frith
(Maler, Mitglied der königlichen Akademie) und Thomas Taylor (Kunst -
kritiker, Herausgeber des „Punch“) erklären, daß das Nokturno kein
fertig ausgeführtes Kunstwerk und daher keine 200 Guineen wert sei.
Sie halten es nicht für ein ernstes Kunstwerk.
Hiemit beschloß die Beweisaufnahme für den beklagten Kunstkritiker
John Ruskin.
Der Beklagte wurde verurteilt, einen Farthing (2 Pfennig) Schadenersatz
zu zahlen.
Diese Geschichte, dazu angetan, Hörer und Leser zu erheitern, hat
nichtsdestoweniger einen ernsten Hintergrund. Der berufene aus -
gezeichnete Kunstapostel John Ruskin hat die ungewöhnliche im -
pressionistische Kunst Whistlers nicht zu schätzen vermocht. Das ist
das Seltsame und Befremdende an dem komischen Vorfall, in dem eine
leise tragische Andeutung liegt. Das tragische Moment jeder schöpfe -
rischen Kunst, die immer das Neue, Ungewöhnliche ist, von der Gegen -
wart fast immer verkannt und verhöhnt, von der Nachwelt über die
Maßen verherrlicht als das Klassische, mit dem jede kommende schöpfe -
rische und daher wieder neue und ungewöhnliche Kunst von neuem
das tragische Moment bereitet wird, Verkennung und Verhöhnung
nachmalige Überhebung und so fort ins Unendliche.
Ruskin behauptet, er liebe FERTIG AUSGEFÜHRTE Bilder; nun,
Whistlers Bilder waren fertig nach den ersten Strichen. Sie wären
durch keinerlei Art von Detailarbeit jemals fertiger geworden. Ruskin
vergleicht Whistlers Bilder mit dem, was er für klassisch hielt. Darin
liegt alles Gerechte und Ungerechte.
Vielleicht geht daraus hervor, daß die Klassiker zu etwas Besserem
als zum Vergleichen da sind.
VOM WESEN DER HIERATISCHEN KUNST.
EIN VORWORT ZUR AUSSTELLUNG DER BEURONER KUNST -
SCHULE IN DER WIENER SEZESSION. VON P. ANSGAR PÖLLMANN,
BEURON.
D a hat die Wiener Sezession ein ansehnliches Kuckucksei ausgebrütet.
Benediktinische Kunst, von der die Beuroner sagen, sie habe
Kritik weder zu fürchten noch zu hoffen, „denn sie arbeitet ja für
Gott“. Die Demut waffnet sich mit Hoffart, denn wie es nach dieser
Reklameschrift des Beuroner Mönches Pöllmann scheint, sind die
Mönche um ihren weltlichen Ruf allzu besorgt; ja, die verpönte Kritik
üben sie auf ganz gottlos unduldsame Weise aller Kunst gegenüber,
die nicht beuronisch ist, und am fanatischsten den Künstlern gegen -
über, in deren Hause sie zu Gaste sind. „Wer hat die heutige Porno -
graphie großgezogen und diese stinkende Kloake eröffnet, die mit
ihren Aktstudien unser deutsches Volkstum verpestet? Wer anders,
als der neuzeitliche Naturalismus, die Anbetung des warmen Fleisches?“
Damit quittieren die Mönche für genossene Gastfreundschaft ihren
Dank der Wiener Sezession. Aber das kommt davon! Erst Stil, dann
Naturalismus, heute — als Trumpf — Beuroner Kunst, und morgen?
79
Morgen wird sie sich zum drittenmal verleugnen müssen, ihre
naturalistische Kunst zeigen, die von ihren frommen Gästen eben als
die „stinkende Kloake“ verketzert wurde. Nun hat der liebe Gott eben
nicht nur die Beuroner erschaffen, sondern auch die Naturalisten und
er hat sicherlich auch seine Freude an diesen, namentlich wenn sie
recht schön malen; nur seine niederen Diener sind übereifrig, die
grundgütige Schöpferabsicht mit unreiner Gesinnung zu schänden und
die Erschaffung als „stinkende Kloake“ zu verlästern. Ihr Gottgefälligen!
Jene „weibliche Rückenpartie“, über die die Beuroner Schrift schlecht
zu sprechen scheint, ist doch auch Gottes Schöpfung, und ich lobe
mir den Künstler, der „ihr etwas abzugewinnen“ weiß. Ich meine
sogar, Gott, der die weibliche Rückenpartie schuf, wird dem Künstler
nicht gram sein, dessen Kunst auch darin die Schöpfung preist; da -
gegen erscheint die von den Beuronern erfundene „traditionell ge -
heiligte Körperhaltung“ als eine ebenso langweilige als unheilige Ver-
pfuschung des Ebenbildes. Die Geständnisse des kunstliebenden
Klosterbruders sind übrigens nicht arm an Pikanterien. Er hält es
zwar nicht für rätlich in seiner Schrift auseinanderzusetzen, „was in
puncto puncti die irdische Plastik zuwege gebracht hat“; aber er
schwärmt verzückt über „die holdselige Schamhaftigkeit, die über
nackte Glieder auf Beuroner Bildern ausgegossen ist“. Man wird zwar
aus seinen Erklärungen über diese ausgegossene Schamhaftigkeit nicht
recht klar, aber man sieht immerhin, daß dem frommen Bruder
Pöllmann nichts Irdisches fremd ist. Es gibt also nackte Glieder, die
auch ihn entzücken können. Für ihn handelt es sich allerdings darum,
ob sie zu Beuron enthüllt worden sind. Dann preist er sie mit den
Worten „deutsche Holdheiten geistlicher Minne“. Ist aber die Nacktheit
in Werken unserer Künstler verkörpert und in den üblichen Aus -
stellungen zu sehen, dann nennt er’s „Pornographie“, „gedankenarme
Kleinigkeit“, „lüsterne Kitschmalerei“, „stinkende Kloake“. Und welch
ein bewanderter Kenner aller „Pornographien“ der fromme Kloster -
bruder ist! Er kennt sogar „das innerste Lager der Sexualisten“, er
hat die „tändelnden Laszivitäten“, die „schwülen Lieder“ des „lasziven“
Otto Julius Bierbaum durchgenommen und nichts findet Gnade vor
dem Beuroner Richterstuhl, kein Künstler findet Gnade von Holbein
bis Uhde, und diese Modernen natürlich schon gar nicht. Alles, was
Gott so lieblich gemacht, der finstere Mönch erkennt’s als Schweinerei.
Na, jeder auf seine Art.
Wenn ich nun aus dem Wust von Worten den Gedankenkern auslöse,
der in der Kapuzinade liegt, die Erklärung einer hieratischen Kunst
so ergibt sich jene Selbstverständlichkeit, die im beziehungsreichen
Zusammenwirken aller Künste zum Gesamtkunstwerk, zur Raumkunst
ausgesprochen ist. Immer drängt die Entwicklung zu diesem symphoni -
schen Aufbau hin, alle Epochen sind ein Beleg für diese Über- und
Unterordnung zu einem einheitlichen Ganzen, ob es sich nun um die
Gottes-, die Staats- oder sonst eine Idee handelt, die künstlerisch und
monumental darstellbar ist.
Die Beuroner haben dasselbe versucht, mit bewußtem Archaismus
und auf Grund ihrer künstlich konstruierten Formenanschauung.
Wenn sie in dieser Broschüre erklären, ihre hieratische Kunst scheint
das einzige Heilmittel unserer Zeit, so gibt es dafür jene Entschuldigung,
die jeder Anpreiser für seine Übertreibungen gebrauchen darf. Man
lobt seine Ware. Die Welt hat eine ganz andere Kunst als Heilmittel
nötig. Sie muß aus dem Volke und seinen großen Zielen wachsen und
die Künstler, die aus dem Volke hervorgehen, werden sie verwirklichen.
Alles, was je mit Liebe gemacht und aus Eigenem geschöpft, ist ein
Baustein. Diese Kunst wird nicht aus dem Mönchkloster hervorgehen,
womit nicht geleugnet wird, daß nicht auch in der Weltentrücktheit des
Klosters erhebende Kunstwerke entstehen können; aber die erlösende
Macht werden jene Kunstwerke haben, in denen sich die lebendige
schöpferische Kraft des Volkes wie in einem Symbol ausdrückt. Das
Göttliche der Kunst war nie durch den religiösen Gegenstand an sich
gegeben, sondern es gehört zu ihrer Wesenheit, als dem Besten und
Vollkommensten, dessen sich der Mensch entäußern kann. L.
° Nächstes Heft SONDERNUMMER! °
l RUDOLF VON ALT °
□ mit vielen Bildern des Meisters. □
DER FÄCHER.
ie „NEUE RUNDSCHAU“ bringt Henry van de Veldes Conférence
über den Fächer, die bei der Eröffnung der Berliner Fächeraus -
stellung abgehalten wurde und eine geistreiche Plauderei über die Ge -
schichte und das Wesen des Fächers ist. Es wird darin unter anderem
folgendes gesagt: Der Fächer gehört seit uralten Zeiten zum Rüstzeug
der Frau und wird in den verschiedenen Legenden bald von Eva, bald
von der Chinesin Lam-Li und von der Psyche erfunden, jedenfalls
wird der Ursprung des Fächers darin einstimmig auf die Frau zurück -
geführt. Dem widersprechen weise Geschichtsschreiber, die die Er -
findung dem Manne zuschreiben. Dieser Widerspruch ist aber dadurch
berechtigt, daß es in Wirklichkeit zwei Arten Fächer gibt: solche, die
den Damen gedient haben, sie verführerisch zu machen und von der
Frau erfunden wurden, und solche, die auch von den Männern ge -
braucht wurden, um ihnen Kühlung zu schaffen, die Mücken abzu -
wehren und, wie es bei den japanischen Generälen Sitte ist, den Feldherrn -
stab zu vertreten. Dieser Fächer kann auch vom Mann erfunden
worden sein. Sobald der ekranförmige Fächer im XV. Jahrhundert
in Europa erschien, begann der sichere weibliche Instinkt die primi -
tive Nutzform umzuwandeln. Der Fahnenfächer, der wie eine Klapper
gehandhabt wurde, ging bald in ein flaches Gestell über, in dessen
Mitte verstohlen ein Spiegel angebracht wurde. Trotz alledem ist der
Fächer mit dem Stiel mehr zum Abwehren als zum Angreifen be -
stimmt. Diese passive Langsamkeit stand aber den Frauen aus den
Anfängen der Renaissance wohl zu Gesicht und paßte zu ihrer robusten
Schönheit. Der undurchsichtige Fächer erlaubte jedoch nicht, den
Effekt der Komödie, d. h. die Zuckungen des Opfers, zu beobachten.
Wenn der Faltenfächer nicht zu gelegener Zeit, am Ende des XVII. Jahr -
hunderts, aus China importiert worden wäre, hätten die Frauen des
XVIII. Jahrhunderts ihn erfunden. Er wurde ein wahres Symbol für
das ganze Dasein seiner Träger. Wie lose Schmetterlinge flogen die
Fächer im Dix-huitième, bis sie unwiderstehlich von der Revolution
angezogen wurden und an der großen Flamme elend verbrannten.
Die Malereien auf den Fächern des XVIII. Jahrhunderts sind eine Art
von Versprechungen und Schecks, die von den Frauen den Kavalieren
wurden, während die Hand die Blicke und Worte mit einem nervösen
Öffnen und Schließen des Fächers begleitete. Und es wird wohl nie
gelingen, den Fächer dem Tode zu entreißen, wenn er in den Händen
der Frau nicht wieder zum Zauberstab der Koketterie, der Liebe, der
Schönheit und der Grausamkeit wird. Das starre Hofkleid, das ihm
das Empire wirkte, ließ ihn die erduldete Schmach, ein bloßes Nutz -
ding geworden zu sein, nicht vergessen und man sieht noch trotz des
Goldes und der Perlen durch die Seide und den Tüll seine frierende
Seele zittern. Im XIX. Jahrhundert liegt er in den letzten Zügen. Es
gab da solche Epidemien von Dummheiten und Banalitäten, an denen
nicht nur Menschen, sondern auch Fächer sterben. Einst liebte die
Frau sie wie der Virtuose seine Geige liebt, seitdem hat der Fächer
aber keinen Sinn mehr, da die Zeit nicht nach süßen Aventuren steht
und er droht nicht mehr „Mode“ zu werden oder nur Mode zu bleiben,
ohne seine holde Bestimmung zu erreichen.
□ INHALT □
DES VORLIEGENDEN 5. HEFTES
DER „HOHEN WARTE“, JAHRG. II:
Glückwunsch. — Die Volkswirtschaft des Talentes. (Fortsetzung.) — Moderne
Kunst. — HAUS UND HEIM: Haus und Garten. Von Gertrud Jekyll, London. —
VOLKSKUNST UND HEIMATSCHUTZ: Polnische Bauernstickerei. — DICH -
TUNG: Haru. Von Lafcadio Hearn. — DAS REFORMKLEID. — KUNST UND
KULTUR: Professor Franz Metzner. Neue Monumentalplastik, Berliner
Gesellschaftshaus. — Kunst und Kunstkritiker. Whistler gegen Ruskin. —
Vom Wesen der hieratischen Kunst. — Der Fächer. — ZWEI KUNST-
BEILAGEN.
NACHDRUCKVERBOT für sämtliche in den Heften der „Hohen Warte“
erscheinenden Artikel und Illustrationen.
Alle Zuschriftennnd Sendungen Wien, XIX. Grinzingerstrafle No. 57, Telephon 21.847.
Verlag „Hohe Warte“ (Lux & Lässig). Für die Redaktion Joseph Aug. Lux.
Druck von Christoph Reisser’s Söhne, Wien V.
Papier von der Neusiedler Aktiengesellschaft für Papierfabrikation, Wien.
80
ERKLÄRUNG.
D ieses Heft als Sondernummer RUDOLF VON
ALT soll allein dem Andenken des Künstlers
gewidmet sein. Darum wurden alle unsere
laufenden Angelegenheiten für das nächste Heft zurück'
gestellt; die Alt-Nummer soll für sich ein geschlossenes
Ganzes sein. Unsere Freunde und Leser werden uns Dank
dafür wissen. Sie seien daran erinnert, daß im Kunst-
salon Miethke, Wien, I. Graben 17, eine große Nachlaß-
ausstellung des Künstlers während des ganzen Monats
Jänner 1906 zu sehen ist, und daß anfangs Februar eine
Auktion des Nachlasses in demselben Lokale stattfindet.
Dieses Heft enthält eine Würdigung des Künstlers und
zwölf Blätter mit vierzehn Bildern nach Werken des
verewigten Meisters.
In der hier eingehaltenen Reihenfolge sind es:
Kunstblatt 3: Architektur Studien, Triest, Bleistiftzeichn.
„ 4: Der Neue Markt, Wien, „
„ 5: Haus in Bruck a. d. Mur, „
„ 6: Casa piccola u.Josefsplatz,Wien, „
„ 7: Schönbrunn u. Michaeler-
platz, Wien, „
„ 8: Alter Frachtwagen, „
„ 9: Alter Hof, Wien, „
„ 10: Votivkirche, Wien, Aquarell
„ ii: St. Peter, Wien, „
„ 12: Salzburg vom Mönchsberg, „
„ 13: Altes Haus in Luzern, „
„ 14: Platz in Gastein, „
Auch die Hohe Warte-Notizen am Ende dieses Heftes
verdienen Beachtung.
Den unterbrochenen Faden mit dem vorigen Heft wieder
aufzunehmen, halten wir es für nötig, den Inhalt des
nächsten Heftes (Nr. 7) hier anzukündigen.
Das nächste Heft (Nr. 7) wird der Hauptsache
nach enthalten: Volkswirtschaft des Talentes.
Amerikanische Möbel immer). Edle
Plastik steinzeug). Polnische Bauern^
Stickereien. Künstlerische Reform^
trachten. Haus und Garten. Verschiedene Kultur -
angelegenheit und eine Musikbeilage mit
seltenen Liedern aus dem XIV. und XV. Jahr -
hundert.
Rudolf von Alt.
M an hat Alt mit Menzel verglichen — — —
es mag in einigen Zügen seine Richtigkeit
haben ... Auch Alt war eine „kleine Exzel -
lenz“ in der Kunst, mit Menzel vergleichbar nicht
bloß im Hinblick auf den Altersrang. Dieselbe Ob -
jektivität, dieselbe Einseitigkeit, mit dem Unter -
schied, daß Alt ein beträchtliches einseitiger war; die -
selbe Unermüdlichkeit und Schaffenslust, die beide
jung erhielt bis ans Ende eines kanonischen Alters;
derselbe sprichwörtlich gewordene [Bienenfleiß des ge-
bornen Arbeitsmenschen, dem beide den größten Teil
ihres Genies verdanken. Für Alt ist die Anekdote
bezeichnend, die von ihm erzählt, daß er gelegentlich
des Besuches bei einer befreundeten Familie auf dem
Lande, als die Hausfrau beim Abschied meinte, es sei
doch schade, daß der Tag so verregnet gewesen, gesagt
habe: „Aber ich bitt’ Sie, gnädige Frau, ich bin froh,
daß es so ist, sonst müßte ich mir doch den Vorwurf
machen, einen ganzen Tag lang nichts gearbeitet zu
haben.“ Wenn es von Menzel heißt, daß er sogar im
Schlafwagen, während der Badekur und auf der Prome -
nade das Zeichnen nicht lassen konnte, so muß man
von Alt sagen, daß er sich selbst im Krankenbett keine
Ruhe gönnte. Aufsitzend, das Malbrett vor sich, zielte
er mit dem Pinsel in der zitternden Hand — bums!
da saß das Farbenpünktchen just am rechten Platze,
Die ausgesprochene Einseitigkeit ist bei Alt ebenso
wie bei Menzel nicht anders als im Sinne einer Tugend
zu verstehen, als einer weisen Erkenntnis der Grenzen
des eigenen Genies und als einer strengen künstlerischen
Selbstzucht; auch Alt zeigt sich als Meister in der
Beschränkung, der keine Entwicklung in der Zickzack-
linic, ja eigentlich überhaupt keine Entwicklung kennt,
sondern der mit bauernhafter Wurzelfestigkeit an der
Scholle hing und vom Anfang bis ans Ende gleich'
mutig und unermüdlich blieb als SCHILDERER DER
HEIMAT.
In diesem Worte erschöpft sich seine ganze Charakter
ristik. Seine große Verwandtschaft mit Menzel liegt
darin, aber eben deshalb auch alles Trennende, das
noch größer ist. Menzel war Norddeutscher, Alt ein
Österreicher; der Unterschied der Stammesart macht
alles aus. Beide waren von der gleichen Gewissenhaftig'
keit und von der gleichen Freude am Dasein und an
der Natur erfüllt und wie ungeheuer sind beide durch
ihre stammliche Eigenart differenziert! Von dem
kritischen, analytischen, sichtenden und ordnenden
Forschergeist des norddeutschen Künstlers unter'
scheidet sich Alt vor allem durch die beschauliche Ge'
mütlichkeit seines Schlages, die in der Beobachtung
und Darstellung nicht so sehr die exakte Wissenschaft'
lichkeit als vielmehr die poetische Empfindung hervor'
kehrt. So ist es ganz naturgemäß, daß bei Menzel das
Verstandesmäßige, bei Alt das Empfindungsmäßige
überwiegt.
Bei aller Sachlichkeit seiner Arbeitsweise und seines
Darstellungsgebietes hat Alt doch das Wesen eines
stillen Poeten, das sich in der Wahl seiner Stoffe aus'
drückt und das angesichts der unerschöpflichen heimat'
liehen Schönheit nicht weiter verwunderlich. Man
könnte sich eher verwundern, wenn es anders wäre.
Lange, bevor das Schlagwort „Heimatkunst“ oder
„Heimatkultur“ geprägt war, hat sich Alt als echter
und rechter Heimatkünstler aufgetan, der nicht allein
der Schönheit der landschaftlichen Natur nachging,
sondern auch vor allem dem Menschenwerk, das der
Gegend, wo es organisch entstanden, eine bestimmte
Physiognomie verleiht und das gleichzeitig Ausdruck
der landschaftlichen Natur und ihrer Menschen ist.
Auf diese Weise hat Rudolf von Alt die ganze archi'
tektonische Vergangenheit des Volkes, ein in Wahrheit
verständnislos und leichtsinnig verschleudertes Erbe,
gewissenhaft gesichtet, das zum erheblichen Teil, vom
Erdboden verschwunden, durch Alts Kunstdem Gedächt'
nis erhalten blieb und nur mehr ein papierenes und
bildliches Dasein führt, weil es allzusehr an vcn
ständigen Hütern des alten Volksschatzes gefehlt hat.
In diesem Sinne ist Alt ein Erzieher, dessen Werk
die Augen öffnet über die zahllosen naheliegenden
Schönheiten, die mitten im Alltag liegen und die
Charakteristik ihrer Umgebung bilden, die Bauern/
häuser, Kirchhöfe, Stuben, Stadthäuser, Architektur/
details, Schlösser und Schloßinterieurs, Blumen, Marterln,
Stadtplätze, alte Gassen, Kirchen, Tore, Türme, Baikone,
Pferde, Lastwagen, Frachtschiffe und nicht zuletzt
Menschen und Trachten. Solcherart hat er eine Legion
Blätter geschaffen. Wenn es gelänge, das wenige aus
der modernen Galerie, der Harrachschen Sammlung
und den unmeßbaren Vorrat aus privatem Besitz zu
einer Gedächtnisausstellung zu vereinigen, es müßte
ein unvergleichliches Bilderbuch der Heimat mit all
ihren charakteristischen Schönheiten, den noch vor/
handenen und den untergegangenen, ergeben, in einem
Umfang und einer Geschlossenheit, wie es kein an/
deres Land auf diesem Gebiet in gleicher Herrlichkeit
aufzuweisen hat, vielleicht mit Ausnahme Englands,
wo das Kulturinventar von jeder Generation mit
großer künstlerischer Gewissenhaftigkeit gebucht wird.
Der anmutige, sachliche Inhalt, an sich schon höchst
wertvoll, empfänge von der meisterlichen Darstellung
seine besondere künstlerische Weihe. Die altgewohnte
Übung hat Alt zur erstaunlichen virtuosen Herrschaft
über die Aquarelltechnik gebracht. Die Aquarellmalerei
war seine eigentliche künstlerische Heimat, in der er
zu Hause war wie keiner. Aber im geheimen quälte
ihn die tief menschliche Sehnsucht nach dem, was
ihm versagt war. „Wenn ich noch mal auf die Welt
komme, so werde ich wieder Maler, aber ein Ölmaler
und mache nur große Sachen.“ Daß er sich’s versagte
und beim Kleinen blieb, ist ein Teil seiner Größe.
JOSEPH AUG. LUX.
82
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Kunstblatt 3, „HOHE WARTE“.
Sondernummer RUDOLF VON ALT.
Kunstblatt 4, „HOHE WARTE“.
Sondernummer RUDOLF VON ALT.
—
Kunstblatt 6, „HOHE WARTE“.
Sondernummer RUDOLF VON ALT.
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Kunstblatt 7, „HOHE WARTE“.
Sondernummer RUDOLF VON ALT.
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Einige Proben aus den zahlreichen Anerkennungen der „HOHEN WARTE“.
„NEUE FREIE PRESSE.“ WIEN.
S o wirkt die „HOHE WARTE“, eine Halbmonatsschrift, mit ausge -
sprochen moderner Tendenz, allein nicht einseitig und sehr ver -
nünftig. Manche der darin enthaltenen Aufsätze sind ganz ausgezeichnet.
WIENER WOCHENSCHRIFT. „DER WEG.“
ir haben eine Zeitschrift, die auch positive Vorschläge zu bringen
weiß. So sollst du bauen, Stadt! So soll dein Zimmer aussehen,
Arbeiter! Nicht nur theoretische Erörterungen; in erster Linie ein
festes, praktisches Zugreifen. Was die „HOHE WARTE“ will, ist sicher
ein Vorwärts, kein Zurück. Die prachtvoll gedruckten fünfundzwanzig
gelben Hefte, die vor mir liegen, haben gehalten, was das erste Heft
versprach. Ein kräftiges Wirken für die künstlerischen, geistigen und
wirtschaftlichen Interessen der modernen Kultur. Denn auch die Be -
strebungen der Hygiene und der Wohnungsreform kommen zu Wort.
Und sonst mancherlei. Auch Künstler und Dichter, die nicht lehren
wollen. Überhaupt eine Menge bedeutender Leute.
„MÜNCHENER NEUESTE NACHRICHTEN.“
G anz besonders hervorgehoben zu werden verdient, daß die Mit -
arbeiter dieser Zeitschrift in unsere deutschen Gaue hineingehen,
in die großen, kleinen und kleinsten Städte, in die Marktflecken,
Dörfer, Weiler und dort durch exakte Aufnahmen die greulichen
Verwüstungen feststellen, welche der Bau-Bureaukratismus, die Bau -
unternehmer-Schablone und die professorale Stilfexerei in unserem
deutschen Vaterlande anrichten. Anderseits zeigt die Zeitschrift jedoch
auch an guten Beispielen, wie es besser zu machen sei und wie man
den modernen Bedürfnissen und Materialien entsprechend bauen
könne, ohne deshalb unsere Städte und Landschaften zu schänden.
Wir können die Zeitschrift allen Freunden deutscher bodenständischer
Kultur und Kunst, vor allem aber den Architekten nur angelegentlich
empfehlen. Namentlich sollte sie auf unseren Bauämtern und Bau-
gewerbeschulen sowie bei den Studierenden der technischen Hoch -
schulen fleißig gelesen werden!
PROFESSOR DR. KÄMMERER-POSEN AM
VI. STÄDTETAG DER PROVINZ POSEN:
ei der Zeitschrift „HOHE WARTE“, die ich zur Verteilung an die
Mitglieder des Städtetages zu überreichen mir erlaubte und die
sich speziell die Aufgabe gestellt hat, für die geistigen, künstlerischen
und wirtschaftlichen Interessen der städtischen Kultur einzutreten,
glaube ich, wird eine ruhige Lektüre daheim eher befruchtend wirken,
als die kurzen Worte meiner Darlegung.
FELIX POPPENßERG IN DER „NATION“. BERLIN.
ie sehr instruktiven Bücher Schultze-Naumburgs über Hausbau
und Gärten, die verdienstvolle JUNGÖSTERREICHISCHE ZEIT -
SCHRIFT „HOHE WARTE“ treiben anregende Geschmackspädagogik
durch das Konfrontieren von Beispiel und Gegenbeispiel, von gelungenen,
natürlichen Lösungen der Vergangenheit und mißratenen der Gegenwart.
„ALLGEMEINE ZEITUNG“ IN MÜNCHEN.
s ist in jüngster Zeit an allen Enden eine starke Bewegung zur
Pflege des „ästhetischen Lebens“ eingetreten. Diese Bewegung nimmt
die „HOHE WARTE“ auch auf, will sie in weite Kreise tragen und betont
nicht den Gegensatz zwischen „modern“ und „unmodern“, sondern
„gut“ und „schlecht“. Die ganze formale Kultur, die keineswegs eine
bloß äußere, sondern zugleich eine innere ist, hängt von der Fähig -
keit ab, diesen Unterschied wahrzunehmen. „Das Gute kann nicht
häßlich sein, aber das Häßliche ist immer schlecht.“ Um das auf den
ersten Blick sinnfällig zu machen, stellt die „HOHE WARTE“, wo es
angeht oder notwendig ist, Beispiel und Gegenbeispiel einander gegen -
über in der erziehlichen Art, die Professor Schultze-Naumburg in seinen
Kulturarbeiten erprobt hat. Bereits liegen 8 Lieferungen vor, die wirklich
vornehm ausgestattet sind und als besonderen Vorzug zahlreiche, über -
aus klare und schöne Illustrationen aufweisen. Der Text ist frisch und
mit jenem heiligen Eifer geschrieben, der beim Eintreten für eine
„Kulturmission“ erforderlich ist. Eine stattliche Reihe interessanter
Aufsätze zieht sich durch die bisher erschienenen Hefte.
„WÜRTTEMBERGISCHE BAUZEITUNG.“
STUTTGART.
ie „HOHE WARTE“, die von Wien aus sehr energisch ästhetische
Kulturarbeit leistet und die wir um ihrer festen Haltung willen
ganz besonders schätzen und aufs beste empfehlen können, bringt im
letzten Heft folgendes: Städtestudium vom Standpunkt der heimatlichen
Kultur: „Der Stadterweiterungsplan von St. Pölten“; „München“, von
Alfred Lichtwark; „Gegenreform im Zeichenunterricht“, von Prof. A.
Roller; „Goldschmiedekunst“; „Die Bestrebungen der englischen Gesell -
schaft zur Erhaltung alter Bauwerke“; „Kunst und Erziehung“, von
Albert Dresdner; „Der Ledererturm in Wels“; „Alpenfrühling“; „Städte -
berichte“. Die Ausstattung der Zeitschrift ist künstlerisch gediegen.
DR. PAZAUREK IN DEN „MITTEILUNGEN DES NORD -
BÖHMISCHEN GEWERBEMUSEUMS“. REICHENBERG.
OHE WARTE“ betitelt sich eine neue, in Wien erscheinende Zeit -
schrift, die zweimal im Monate erscheint und nach den bis jetzt
vorliegenden Heften Anspruch auf ernste Beachtung und freundliche
Förderung erheben kann. Ein nach vornehmen Gesichtspunkten
redigiertes, reich und nicht mit abgelegten oder ausgeliehenen Klischees
illustriertes und dabei doch wohlfeiles Blatt hat uns in Österreich
geradezu gefehlt, zumal es bei uns fast eine Spezialität geworden ist,
daß einige der vornehmsten Zeitschriften auch die langweiligsten zu
sein pflegen. — Hier herrscht frisch zugreifendes Leben und rühmliche
Mannigfaltigkeit, und hoffentlich gelingt es dem Begründer und Redakteur
JOSEPH AUGUST LUX, sich auch gegen manche Philister mit Erfolg
durchzusetzen. Daß sich auch auf nicht glänzendem, vielmehr angenehm
wirkendem Papier sowohl die deutlichen Drucktypen als auch nament -
lich die Autotypien sehr gut ausnehmen, möge bei dem allgemeinen
Lobe nicht vergessen werden.
„WIENER BAUINDUSTRIE-ZEITUNG.“ (8. Jänner 1905.)
D ie Zeitschrift stellt sich die Aufgabe, der durch Afterkunst und
Unverstand verursachten Verschandelung der heimischen Kunst
unserer Vorfahren entgegenzuwirken. Die prächtigen Beispiele alter
Kunst zeigen, im Gegenhalt zu analogen Bauführungen der jüngsten
Zeit, so recht deutlich die schweren Vergehen, die Talentlosigkeit und
Unverstand sowohl auf Seiten der Auftraggeber als der Beauftragten
mit sich bringen. Wir verfolgen das ausgezeichnete Blatt, dessen Ver -
öffentlichungen von hoher künstlerischer und kultureller Bedeutung
sind, mit großem Interesse und wünschen ihm die Verbreitung und
Anerkennung, die es verdient.
MAX WINTER IM „VORWÄRTS“, BERLIN.
ür die künstlerischen, geistigen und wirtschaftlichen Interessen der
städtischen Kultur ist diese apart ausgestattete und zugleich illu -
strierte Schrift begründet, und schon die vorliegenden Hefte zeigen uns,
daß es da ein reiches Feld zu bebauen gilt. Einige Sätze aus dem
Programmartikel werden uns sagen, was die „HOHE WARTE“ sein
will. Vor allem „keineswegs eine Kunstzeitschrift mehr“, aber sie will
der starken Bewegung zur „Pflege des ästhetischen Lebens“ ein Sprach -
rohr sein, sie betont nicht den Unterschied zwischen modern und un -
modern, sondern zwischen GUT und SCHLECHT. Sie dient, das zeigen
die bisherigen Hefte, im besten Sinne der Heimatkunst, sie wirbt neue
Freunde, sie erweitert den Blick der alten.
Die wichtigsten Programmpunkte der „HOHEN WARTE“ sind: Künst -
lerische Stadtpflege in bezug auf die öffentlichen und privaten Bauten,
Denkmäler, Brunnen, Gärten; Preisausschreiben; Wohnungspflege und
Wohnungsausstattung; Villenbau; Kunstpflege im Hause. Volks -
bildungsbestrebungen, Hygiene, Konsum, Wohlfahrtseinrichtungen,
städtische Wirtschaftspolitik; künstlerische und gewerbliche Organi -
sationen, Ausstellungswesen, Volkskunde und Volkskunst, Heimat -
schutz; Beispiele aus skandinavischen, englischen, amerikanischen
Städtekulturen. Literatur; Städteberichte aus allen Ländern und Pro -
vinzen.
Bisher hat die „HOHE WARTE“ gehalten, was sie versprochen, und
die Gemeinde, die sie um sich versammelt, wird von Tag zu Tag größer,
zur Freude aller Freunde der ästhetischen Kultur, die uns in der
Erwerbshast und den harten Kämpfen unserer Tage wenn schon nicht
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verloren gehen wollte, so doch zu verkümmern drohte. Hier Halt ge^
boten zu haben und von neuem aufzubauen, was in der Zeiten Lauf
zerstört wurde, ist ein verdienstliches Werk. Das wollte ich einmal sagen.
„PRESSBURGER ZEITUNG.“
iese für jeden Stadtbewohner sehr lehrreiche Zeitschrift hat nun
den zweiten Jahrgang bereits begonnen und es steht zu erwarten,
daß ihr derselbe ebenfalls zahlreiche neue Freunde gewinnen wird,
wie des ersten Werbung von vielem Erfolg begleitet war. Auch dies'
mal ist der Inhalt sehr reich und interessant. Gleich zu Beginn finden
wir die Fortsetzung der gediegenen Ausführungen des Herausgebers
unter dem Titel „Die Volkswirtschaft des Talents“, sodann den Artikel
„Wien und die künstlerischen Gemeindeaufgaben“, während Architekt
ÖRLEY die moderne Anlage eines künstlerisch'schönen Hausgartens
beschreibt. Sodann werden pädagogische und baukünstlerische Fragen
eingehend behandelt. Auch an schönen Illustrationen ist dieses neueste
Heft reich und dürfte dasselbe, wie seine Vorgänger, wieder mit Ver'
gnügen von Freunden aller Städtefragen, die das künstlerische Gebiet
berühren, begrüßt werden.
„SCHWEIZER BAUZEITUNG.“ ZÜRICH.
W enn auch in den letzten Jahren fast alle Fachzeitschriften für das
Bauwesen die verschiedenen Gebiete städtischer Kunstpflege in
den Kreis ihrer Besprechungen gezogen haben, so ist das immerhin
nur eine Behandlung der betreffenden Fragen in Fachkreisen geblieben.
Für Laien wurden derartige Gebiete wohl hin und wieder durch den
„Kunstwart“ oder eine andere, ähnliche Zeitschrift behandelt; aber ein
Organ, das die großen Bewegungen und Ziele städtischer Kultur zu-
sammengefaßt und so die zur frischen Weiterentwicklung jeder neuen
Idee unentbehrliche Verbindung zwischen Fach' und Laienwelt her'
gestellt hätte, fehlte bis jetzt noch immer. Diese Lücke sucht die
„Hohe Warte“ auszufüllen, die bis jetzt mit sorgsamem Verständnis
und in vorzüglicher Ausstattung bereits so viel Interessantes zu bringen
wußte, daß man hoffen kann, die Zeitschrift werde das nötige Zusammen'
arbeiten verständiger Laien in den Stadtverwaltungen und erfahrener
Künstler bei der Planierung von städtischen Bauarbeiten befördern
und mehren. Da sich das Blatt nicht allein auf das Gebiet der Straßen'
kunst und Platzgestaltung beschränkt, sondern auch den Hausbau
sowie den Schmuck des innern wie äußern Hauses in den Kreis seiner
Betrachtungen zieht, durch zahlreiche treffliche Illustrationen für das
nötige Anschauungsmaterial zu sorgen bestrebt ist und die ersten
Autoritäten des Städtebaues zu seinen Mitarbeitern zählt, kann nur
gewünscht werden, daß die Zeitschrift die verdiente, weiteste Ver'
breitung finde.
„DER ARCHITEKT.“ WIENER MONATSSCHRIFT.
D ie neue Zeitschrift „hohe warte“ will nun ein treuer
ECKART, IN ALLEN FRAGEN KÜNSTLERISCHER, GEISTIGER
UND WIRTSCHAFTLICHER ENTWICKLUNG EIN FÜHRER, ER'
KLÄRER, WARNER UND BERATER SEIN. NACH DEN ERSTEN
VIER LIEFERUNGEN ZU URTEILEN, SCHEINT DIESES UNTER'
NEHMEN ZIELBEWUSST IN ANGRIFF GENOMMEN ZU SEIN UND
LIEGT ES GEWISS NUR MEHR AN DEM ENTGEGENKOMMEN
UND INTERESSE DES PUBLIKUMS FÜR DIE SO LÖBLICHE SACHE,
WENN SIE GEDEIHEN SOLL. IN TREFFLICH GEWÄHLTEN
BEISPIELEN UND GEGENBEISPIELEN WERDEN SCHLECHTE UND
GUTE LÖSUNGEN IN BILDERN GEGENÜBERGESTELLT UND DA-
DURCH DIE ANSCHAULICHKEIT DER JEWEILIGEN FRAGE UND
IHRER BEANTWORTUNG ZUR HANDGREIFLICHEN GEMACHT.
AUTORITÄTEN ERSTEN RANGES BESPRECHEN IN KLARER UND
ANZIEHENDER WEISE TEILS ALLGEMEINE, TEILS LOKALE
FRAGEN UND DIE LITERARISCHE QUALITÄT DER AUFSÄTZE
ALLEIN GESTALTET DIE LEKTÜRE DER ZEITSCHRIFT ZU EINER
ANREGENDEN UND HOCHINTERESSANTEN.
ALLEN JENEN, DENEN DIE FORTSCHREITENDE VERWÜSTUNG
IM ANGESICHTE UNSERER VATERSTADT, DER UMGEBUNG UND
DES LANDES ZU HERZEN GEHT, DIE AN IHRER KÜNSTLERISCHEN
BILDUNG WEITERARBEITEN WOLLEN, DIE SICH INFORMIEREN
WOLLEN, WIE KÜNSTLERISCHE UND SOZIALE, SOWIE AUCH
GEISTIGE UNKULTUR ANDERWÄRTS BEKÄMPFT WERDEN, UND
MIT WELCHEM RESULTATE DIESES BEREITS GESCHEHEN IST,
SEI DIE ZEITSCHRIFT BESTENS EMPFOHLEN. GERADEZU UNENT'
BEHRLICH IST SIE ABER FÜR STATDBAUÄMTER, GARTEN-
INSPEKTORATE, FLUSSREGULIERUNGSKOMMISSIONEN UND VER -
SCHÖNERUNGSVEREINE.
„STREET RAILWAY JOURNAL.“ NEW YORK.
H OHE WARTE“; Published semi-monthly by Lux & Lässig, Wallfisch-
gasse, i., Vienna, Austria; annual subscription, M. 18 ($4.50).
This is a new German publication devoted to the advancement of the
artistic, intellectual and economic interests of municipal life by disse-
minating among all classes a better understanding of art that will
result in a higher and better form of civic patriotism. Its object may
be stated as the desire to attain the city and house beautiful along
the lines suggested by Ruskin.
„THE BUILDER.“ LONDON.
A NEW GERMAN ART PAPER. — A new German publication,
entitled “HOHE WARTE“, has just appeared. This paper, the title
of which is best rendered by the English Watch Tower, is perhaps
equivalent to the Studio, though smaller and not so copiously illus-
trated; but the scope is more limited, and seems only to include what
may be termed the “household arts“, from external architecture, in-
teriors, furniture, and decoration, to embroidery and photography. In
an introductory note the editor announces his intention of showing,
where possible, examples of the artistic and inartistic side by side,
thus contrasting the good and bad, and leaving the reader to draw his
own conclusions. This idea is effectively carried out in the first number
by illustrations of model workmen’s houses at “Port Sunlight“ and
“Bournville“, as contrasted with a typically-hideous row of small
dwelling-houses of the old-fashioned kind. There is also an article on
“Old Furniture in Modern Houses“, by the architect, Franz Messner,
illustrated by photographs of a room, the furniture of which dates from
the beginning of the XIXth Century. Herr Paul Schultze-Naumburg, in
an article entitled “Villages“, writes an urgent appeal to modern Ger -
man architects to return to the simple, beautiful, and practical style so
prominent in the old German farmhouses, and to leave the more Or -
nate designs for more suitable occasions. Interesting, as showing a
return to this simplicity of outline, are the designs by the architect,
Professor Joseph Hoffmann, for furniture suitable for use in small
modern dwellings. The object of this new magazine is given in the
closing words of the editor’s introductory note: — “Everywhere are
indications of an eager desire for true artistic culture; and, in our
opinion, this inclination only needs to be constantly guided and turned
in the right directions.“
LE COTTAGE, REVUE MENSUELLE, BRUXELLES.
out comme les livres, certaines expressions ont leur bonne ou leur
mauvaise fortune. „Esthétique des villes“ a fait son chemin, bien
que le terme soit assez solennel; il est aujourd’hui consacré, classé.
L'Esthétique des villes est une Science qui a de nombreux adeptes,
tant en Amérique, en Australie que dans notre vieille Europe, avec cette
réserve qu’en Amérique, eile étudie surtout les villes nouvelles, tandis
que chez nous eile ne s’applique guère qu’â la Conservation de la
beauté de nos anciens quartiers (et ici eile a suffisamment â faire pour
lütter contre l’enlaidissement progressif, la vulgarité submergeante de
notre soidisant civilisation!) L’ Esthétique des villes a mëme ses Organes
spéciaux comme la „HOHE WARTE“, la nouvelles publication de notre
excellent correspondant viennois JOSEPH AUGUST LUX; les grandes
revues américaines lui consacrent souvent des articles extrëmement
curieux et documentés, comme par exemple Tétude sur les parcs des
grandes villes qui parait actuellement dans House and Garden de
Philadelphie etc. etc.
NACHDRUCKVERBOT für sämtliche in den Heften der „Hohen Warte“
erscheinenden Artikel und Illustrationen.
Alle Zuschriften und Sendungen Wien, XIX. Grinzingerstralle N0.57. Telephon 21.847•
Verlag „Hohe Warte“ (Lux & Lässig). Für die Redaktion Joseph Aug. Lux.
Druck von Christoph Reisser’s Söhne, Wien V.
Papier von der Neusiedler Aktiengesellschaft für Papierfabrikation, Wien.
84
L :
An das
Hohe k»k* Unterrichtsministerium
WIEN.
D ie Unterzeichneten Künstler, Architekten, Maler, Kunst'
gewerbler und Künstlerinnen drücken ihr Befremden
darüber aus, daß die bildsamen Kräfte auf allen
Gebieten der angewandten Kunst zur Mitwirkung an der
diesjährigen österreichischen Ausstellung in London BISHER
NICHT BERUFEN WORDEN SIND.
Auch was die heurige österreichische Ausstellung in Mailand
betrifft, ist nichts geschehen, die im zeitgemäßen Sinne
Schaffenden zu einer Beteiligung an dem Ausstellungswerk
zu veranlassen. T . ,
Die Unterzeichneten richten an das hohe k. k. Unterrichts'
ministerium die höfliche Anfrage, wie es kommt, daß bei
den öffentlichen Veranstaltungen, Bauten, Ausstellungen etc.
die modernen Künstler und Kunstgewerbler unberücksichtigt
bleiben, obzwar deren Leistungen für das Kunstleben und
auch in volkswirtschaftlicher Hinsicht derzeit eine ungleic
höhere Bedeutung zukommt, als etwa den offiziellen Bilder'
ausstellungen.
Es wird daran erinnert, daß andere Länder und Staaten, wie
etwa das Deutsche Reich, auf den offiziellen Ausstellungen
in Turin, St. Louis und anderwärts ihre besten und frischesten
Kräfte ins Vordertreffen schicken, von der richtigen Erkenntnis
geleitet, daß die selbständige, formschöpferische, d. h. kunst'
lerische Leistung den Sieg im Wettbewerb der Nationen
entscheidet und die Kaufkraft ins Land zieht, die nicht durch
den Grundsatz von „Billig und Schlecht“ festgehalten wer en
kann. Eine hohe volkswirtschaftliche Einsicht bestimmt die
kulturell vorgeschrittenen Länder und Staaten, den heimisc en
Kräften auch im eigenen Lande die größtmögliche Gelegen'
heit zur Entfaltung und Entwicklung ihres Könnens zu geben,
sei es durch künstlerische Landesausstellungen oder urc
Beschäftigung der schöpferischen Talente an öffentlichen Ar'
beiten aller Art. Das deutsche Kunstgewerbe hat durch diese
umsichtige Fürsorge nicht nur künstlerisch, sondern auc
wirtschaftlich einen imponierenden Vorsprung gewonnen,
der immer wieder dem eigenen Lande und dem Vo swo
stände zu gute kommt. Die zahlreichen deutschen ^ovinz'
ausstellungen der letzten Jahre, bei denen nicht der Händler
und Unternehmer, sondern der Künstler bestimmen wir ,
man denke an Darmstadt, Oldenburg, München, Dresden u.s.l.,
die zahllosen öffentlichen Aufgaben, die der deutsche btaat
an die im modernen Sinne Schaffenden stellt, die Einric ung
der Kriegsschiffe Sr. Majestät des deutschen Kaisers durch
moderne Kunstgewerbler etc. beweisen dies ebenso, as
Beispiel aller anderer Kulturstaaten, wo jede Art von eu
anlagen, Städtebaufragen, Staatsgebäuden, Schulen, o ent ic en
Anlagen etc, einer künstlerischen Lösung entgegenge u r
werden.
Das Vorbildliche des fremden Beispiels besteht darin, daß
der wertbildenden Kraft des Talentes die reichste Möglichkeit
der Entfaltung und Betätigung gegeben und die unermeßliche
volkswirtschaftliche Tragweite einer solchen freien Entfaltung
und Betätigung erkannt wird.
Gerade auf dem Gebiete der angewandten Kunst wäre Oster'
reich im Hinblick auf seine qualifizierten Kräfte berufen, eine
führende Stellung einzunehmen und Kulturarbeit zu leisten.
Werden die aufstrebenden Künstler, die für das Leben schaffen,
hierzulande in einer eise gefördert, die auch nur annähernd
dem fremden Vorbilde entspräche? Wenn eine höhere volks'
wirtschaftliche Einsicht in diesen Kräften eine Wertquelle
sieht, wird diese Wertquelle der hohen Einsicht gemäß be'
nutzt, daß sie die ihr innewohnende künstlerische und volks'
wirtschaftliche Bedeutung gewänne? Stehen wir nicht hinter
dem Beispiel des Auslandes auf beklagenswerte Weise zuruck?
Österreich veranstaltet Ausstellungen im Auslande, von
denen diese produktiven Kräfte ausgeschlossen sind; es werden
im Inlande Staatsbauten, Krankenhäuser, Schulen und eine
Unzahl anderer öffentlicher Bauten errichtet, aber, von einigen
sehr seltenen Fällen abgesehen, sind alle schöpferischen
Talente, die auf jedem Gebiete der angewandten Kunst — jede
Art von Kunst ist irgendwie angewandt! — Vorzügliches
zu leisten im stände sind, von der ersprießlichen Mitwirkung
so gut wie ausgeschlossen.
Alles, was diese Kräfte schaffen, die auf Qualität und oiv
ganische Formgebung gerichtete Leistung, ist geeignet, die
angewandte Kunst Österreichs auch im Auslande erfolgreich
zu repräsentieren; volkswirtschaftlich ist es insoferne be'
deutsam, als der Absatz und der Export an künstlerischer
oder kunstgewerblicher Produktion sich immer nur auf
Grund einer unerhörten Qualität, gleichsam als die Prämie
der besten Leistung einstellt. Diesen Wert hat niemals der
Merkantilismus gebildet, der immer in erster Lime berufen
wird; den Wert haben immer die Künstler gebildet, die fast
nie berufen werden, und deren Fähigkeiten daher kaum im
ganzen Umfange bekannt werden konnten.
Die künftige österreichische Ausstellung in London ist nur
einer jener vielen Fälle, in denen die hohe k. k. Regierung
eine Pflicht den heimischen schaffenden Kräften gegenüber
zu erfüllen haben wird.
Die Unterzeichneten erklären sich in den ausgesprochenen
Gedanken solidarisch und bitten um gütige Entscheidung
zunächst in Bezug auf die Londoner Ausstellung. Die Schrift'
führung liegt in den Händen des Hohe Warte'Verbandes,
Wien Döbling, Grinzingerstraße Nr. 57.
(Über 50 Unterschriften mit Namen der hervorragendsten
Künstler.)
85
DIE VOLKSWIRTSCHAFT DES
TALENTES.
(Fortsetzung aus den Heften 21 und 22, 23 und 24, 25 und 26,
Seite 353, bezw. 377, bezw. 401, Jahrg. I, und Heft 1, 2, 3,
4 und 5, Seite 2, bezw. 17, 33, 49, 65. Jahrg. II.)
Die Reform wird sich durchsetzen, trotz der Gesellschaft.
Die Umwälzung der Anschauungen und folglich auch der
ethischen Verfassung ist eigentlich schon im Gange, und sie
wird die Barbarei unserer Zivilisation sicherlich überwinden.
Das wird der Fall sein, wenn die Kunst wieder zur Arbeit
kommt, wenn beide, die heute ein getrenntes Leben führen,
wieder eine Einheit bilden. Der Anfang zu dieser Entwich'
lung ist heute schon in dem modernen Kunstgewerbe ge'
macht. So vereinzelt diese Fälle und auf gewisse Gebiete
beschränkt, heute auch sind, so wird sich doch der Anstoß,
der von hier ausgeht, auf allen Gebieten fortpflanzen müssen.
Kunstgewerbe und Hausbau sind bestrebt, an Stelle der
früheren Schein' und Schmuckkunst Sachlichkeit und Qualität
zu setzen; Sachlichkeit und Qualität wird von hier aus von
allen Gewerben verlangt werden, weil es kein Gewerbe gibt,
dies nicht irgendwie mit dem Hausbau und der Hausein'
richtung, der Baukunst und dem Kunstgewerbe, zu tun hat.
Der künstlerische Gedanke wird nicht nur von außen kommen,
von den leitenden Künstlern, die das Ganze überschauen
und zu einem Organismus verschmelzen, sondern der künstle'
rische Gedanke wird aus dem Inneren der Arbeit, jeglicher
Arbeit, auch der geringsten, kommen müssen, weil das Ver'
langen ausschließlich nach vollendeter Arbeit gehen wird und
vollendete Arbeit bei dem Arbeiter ein entfaltetes Talent und
Arbeitsfreude voraussetzt. Also wird jegliche Arbeit und
Kunst das gemeinsam haben, daß sie einer reinen und har'
monischen Menschlichkeit entspringt, den Arbeitsgeist des
Herstellers und sein Ringen nach Vollendung als menschlichen
Ausdruck trägt und in dieser Hinsicht eben künstlerisch
betrieben wird. Nur solche Arbeit, die auf Persönlichkeit
und Menschlichkeit gegründet ist, besitzt wahren Wert, so'
wohl für den Hersteller als für den Käufer oder Kom
sumenten, dagegen kann erzwungene, gedankenlose, Schleuder'
hafte, also ihrem ursprünglichen Wesen nach unkünstlerische
Arbeit weder dem Hersteller noch dem Konsumenten Nutzen
oder Freude bringen. Wie billig sie auch sei, sie wird
dann immer noch zu teuer sein, die Sparsamkeit, die
sich darin betätigen will, wird immer Verschwendung
sein. Der Landmann, der sein Äußerstes daran setzt, die
Feldfrucht ergiebiger und gehaltvoller zu machen, der
Gärtner, der alle Sorgfalt aufwendet, die schönsten Blumen,
die herrlichsten Früchte, die besten Gemüse zu ziehen, der
Baukünstler, der die bequemsten, gesündesten und dem
Leben der Familie organisch angemessensten Häuser baut,
den Garten als Fortsetzung des Hauses organisch anlegt,
der Künstler mit allen Handwerkern und Arbeitern, die
das Innere des Hauses auf das vollkommenste, solideste
und sachlichste ausstatten, der Schriftsteller, der aus seinem
Buche eine Quelle fruchtbarer geistiger Genüsse für den
Leser macht, der Buchbinder, der das Buch auch äußerlich
zu einem ganzen Kunstwerk erhebt, der Zeichner, der das
Innere mit bedeutsamen Linien schmückt, sie alle arbeiten
in jener künstlerischen oder menschlichen Weise, die die
Arbeit als organischen Ausdruck ihres Wertes, ihres Talentes,
ihrer Kräfte, ihrer Bildung und ihrer Seelenfreude erscheinen
läßt und sie für das Leben fruchtbar macht. Aber mehr als
neun Zehntel der Industrie bringen Arbeit hervor, die nichts
von dieser Qualität hat, mehr als neun Zehntel der Waren,
die der Handel auf den Markt bringt, lassen erkennen, daß
die Barbarei noch weitaus vorherrscht und daß die Kultur'
arbeit, durch welche Kunst und Arbeit wieder zur ursprüng'
liehen Einheit werden, erst auf ganz kleinen Gebieten getan
ist und noch alles zu erobern hat.
Sie wird alles erobern und es läßt sich schon der Weg
erkennen, den der Eroberungsgang gehen wird. Ungefähr
fünfhundert oder tausend Menschen, die nach Maßgabe ihres
Talentes tätig sind, können sich aus eigener Schaffenskraft
reichlich erhalten. Eine Organisation solcher Menschen, die
auf dem Talent als Grundlage der Wirtschaftsordnung auf
gebaut ist, kann eine kleine Musterstadt oder einen kleinen
Musterstaat bilden. Das Experiment wird geschehen. Eine
solche Anzahl von Menschen wird sich vereinigen, eine
neue Stadt zu bauen, darin die neue Ordnung, die neue
Gesittung, die neue Volkswirtschaft des Talentes zu befestigen.
Die Bildung englischer Gardemcities mag als schwacher Anfang
gelten. Es wird von künstlerischer Seite mit dem Bewußt'
sein des Talentes als der eigentlichen wertbildenden Kraft
in noch zielbewußterer Weise geschehen und andere werden
dem Beispiel folgen. Ob es nun in dieser manifesten Weise
geschehen oder ob die Entwicklung in weniger demonstrativer
Form vor sich gehen wird, soviel ist sicher, daß die Uber'
windung der heutigen Barbarei vom Volke ausgehen muß,
von der Arbeit des Volkes, sobald sie nicht mehr von der
Kunst durch eine Scheidewand getrennt, sondern mit ihr
eine organische Verbindung darstellt. Der Entwicklungsgang
wird eine zweifache und parallele Bewegung zeigen, eine
ethische und eine praktische, davon die eine die Erfüllung
und das Spiegelbild der anderen ist. Für die Volkswirtschaft
der Zukunft, die eine Volkswirtschaft des Talentes sein und
Kultur schaffen wird, muß der Boden in zweifacher Beziehung
vorbereitet werden: im ethischen Sinne durch Abschaffung
des Pöbels, im praktischen Sinne durch Abschaffung der
Armut. Was die ergänzende Tätigkeit des Staates und der
Erziehung für diese Entwicklung tun kann oder vielmehr
tun muß, wird in den betreffenden folgenden zwei Kapiteln
(V. Der Staat und das Talent, VI. Von den Aufgaben der
Erziehung) behandelt werden.
Die neue Sittenlehre verlangt die Abschaffung des Pöbels,
nicht allein des Pöbels auf der Straße, als auch besonders
des Pöbels im Salon. Pöbel ist alles, was nicht befähigt ist,
den Wert einer guten Arbeit zu schätzen, deren Beziehung
zur Menschlichkeit und zur Kunst zu erkennen und das
Vorrecht des Talentes gelten zu lassen. Die Wahrheit wird
herrschen, daß nicht Vermögensbesitz zur Würde berechtigt,
sondern die Leistung des Talentes, die Fähigkeit und Volk
bringung vollendeter Arbeit. Dann wird auch die Erkenntnis
gelten, daß der Zweck der Arbeit nicht Häufung von Ver'
mögens' oder Geldbesitz sein kann, sondern daß ihr Zweck
die Entfaltung und Entwicklung der Menschlichkeit ist. Die
Entfaltung der Menschlichkeit in allen Lebensdingen ist
Kultur. Sie kann nur durch die Arbeit manifestiert werden.
Die beste Arbeit wird nicht durch Not oder Zwang erzielt,
sondern durch innere Bereitwilligkeit, durch Hingebung und
Arbeitsfreude, die sich nicht im mechanisch schaffenden
Menschen, sondern in der entwickelten Persönlichkeit vor'
findet. Die beste Arbeit wird nur durch den Individualismus
geleistet. Nur die Arbeit auf dieser persönlichen, menschlichen
und künstlerischen Grundlage gibt einen wirklichen Gebrauchs'
und Nährwert für beide, den Hersteller und den Verwender.
Nur die Persönlichkeit entwickelt Kultur. Die Aufgabe also
ist, daß jeder sich zur Persönlichkeit entwickle und Kultur
bekomme. Die Anlage ist vorhanden. Das Talent ist im
unerschöpflichen Maße vorhanden. Kultur ist zugleich Ge'
Das Speisezimmer im amerikanischen Wohnhause. (Text Seite 97.)
sittung und entwickelte Fähigkeit. Ein Mensch, der Kultur
im vollen Sinne des Wortes hat, ist durchaus gesittet. Nicht
bloß äußerlich, denn Kultur ist mehr als Schliff, auch innerlich.
Er hat die Form. Er besitzt die Herrschaft über sich und
seine Mittel. Ein Mensch, der diese Kultur hat, kann nicht
schecht sein.
Schlechtigkeit ist Dummheit, Schwäche oder Krankhaftigkeit.
Entweder hat die Erziehung nachzuholen oder der Arzt.
Aber ein Mensch, der die vollkommene Bildung seiner Kräfte
erlangt hat, der also Kultur besitzt, hat kein Interesse etwas
zu tun, was gegen seine Art ist. Er lebt von dem Guten,
das er der Welt gibt und je mehr der Individualismus ent'
wickelt ist, desto mehr wird die Welt empfangen und geben
können. Sie wird umsomehr für alle besitzen, wenn es
keinen Sinn haben und moralisch verwerflich erscheinen wird,
die Kräfte zum Anhäufen von unfruchtbarem Vermögen,
von Reichtum, der nicht Leben ist, zu mißbrauchen, wenn
also auch diese Kräfte für die gemeinsame Arbeit fruchtbar
werden.
Dann werden auch die gefährlichsten Feinde der Kultur'
entwicklung fallen müssen, die Spekulation in den ver'
schiedenen Bewucherungsformen, als Bodenwucher, Lebens'
mittelwucher, Kornwucher und endlich die BewucherungS'
arten der Arbeitskraft in industrieller Form. Es braucht nicht
erst bewiesen werden, daß diese Spekulationen die schlimmsten
Hemmnisse des Fortschrittes sind, sie saugen an dem Mark
der Volkskraft und erzeugen die schroffen sozialen Mißstände,
die von der bestehenden Volkswirtschaft als gesetzmäßig
erkannt und — verteidigt werden.
In die Praxis übertragen, bedeutet diese neue Sittenlehre die
Abschaffung der Armut, zumindest der Armut in jener
beleidigenden, schmutzigen Form der Entbehrung von allen
Notwendigkeiten des Lebens. Wenn sich die Kräfte und
Talente des Volkes zu wahrhaft fruchtbringender Arbeit ent'
wickeln sollen, dann kann es nur unter dieser Voraussetzung
geschehen. Es wird geschehen, indem die Billigkeit atu Kosten
der Arbeitskraft unmöglich gemacht werden wird. Die
Arbeiterschaft, die sich organisiert, wird es dahin bringen —
einzelne künstlerische Betriebe und Werkstätten haben die
Idee bereits verwirklicht — daß die berechtigten Ansprüche
der Arbeiter nach Maßgabe der Kulturhöhe und Kulturmittel
unserer Zeit die Grundlage für die Preisbildung abgeben
werden. Wenn diese Forderung verallgemeinert sein wird —
sie wird es sein — wird jede Billigkeit auf hören müssen,
die den Deckmantel für die Minderwertigkeit der Produkte
abgeben mußte. Es wird sich nicht mehr verlohnen, schlechte
Produkte herzustellen, wenn die Arbeit bezahlt werden muß,
als ob gute Produkte erzeugt werden, und man wird schließlich
die Zuflucht zur Qualität nehmen müssen, die heute schon
den Sieg in der Konkurrenz davonträgt.
Dann aber wird die Zeit gekommen sein, da sich das Gesetz
der Kunst an den Dingen des Lebens erfüllt, da Arbeit und
Kunst wieder zur alten Einheit vermählt sind und Würde
und Ansehen im öffentlichen Dasein nicht von den zweifeh
haften und anrüchigen Erfolgen der Plusmacherei, nicht vom
Vermögensbesitz, sondern von der Arbeit, von der Fähigkeit,
dem Talent, also von der hochkultivierten Persönlichkeit
des schöpferischen Menschen abhängen wird. Die Arbeit
wird dann der Ausdruck entwickelter Menschlichkeit sein,
der Betätigung des Klassenbewußtseins wird die Entfaltung
des fruchtbaren Individualismus folgen und der widerwillige
Staat wird daran glauben müssen, daß dem Talent die
Führung gebührt. Die Erziehung (siehe Kapitel VI) wird
dieser Tatsache Bestand und Dauer verleihen, durch die
Bildung des kommenden Geschlechts, das diesem Glauben
großgesäugt ist und eine wahre Volkswirtschaft des Talentes
heraufführt.
Die Erde mit allem, was sie birgt und trägt, mit ihren ge'
heimen Kräften und Trieben, ihren Schätzen und ihrem
Wachstum, ferner alles Kapital sind roher Stoff, niemandem
gehörig und allen; sie sind nichts, wenn nicht der Mensch
ist, sie zu beleben und in Kulturgüter umzuwandeln. Die
einzige und wahre Wertquelle ist daher der Mensch und
die bildende, schöpferische Kraft seines Talentes; er ist das
höchste und wertvollste Gut, dessen Pflege und Entfaltung
die wichtigste Aufgabe im Leben ist; er ist mit der wert'
bildenden Kraft seines Talentes der eigentliche Inhalt der
Volkswirtschaft. (Fortsetzung folgt.)
87
Das Speisezimmer
im amerikanischen
Wohnhause.
(Text Seite 97.)
■ ■
Polnische Bauernstickerei. Schultertuch (Nationaltracht)
VOLKSKUNST UND HEIMATSCHUTZ
POLNISCHE BAUERNSTICKEREI.
W ir setzen in diesem Hefte die Publikation der polnischen Bauern-
Stickereien fort, die aus der Sammlung des polnischen Ethnographen
Herrn SEWERYN UDZIELA stammen und im VII. Materialheft im
gemeinsamen Verlag des Herrn S. Udziela und des Vereines „Polska
Sztuka stosowana“ erschienen sind. Es sind wie in unserem vorletzten
Hefte auch diesmal herrliche Arbeiten, durchaus im Material empfunden
und daher stilvoll. Ein Reichtum von Erfindung ist auch in diesen
Beispielen, die bei aller Strenge organisch wirken wie ein Stück Natur.
Es gehört mit zum Besten, was Volkskunst an derartigen Dingen
hervorgebracht.
ÖSTERREICHISCHE VOLKSKUNST
ZUR AUSSTELLUNG IM KUNST.
GEWERBEMUSEUM.
n allen Abteilungen der Ausstellung befinden sich herrliche
Kunstschöpfungen des Volksgeistes. Wenn die Herren
vom Unterrichtsministerium, die sich von Amts wegen
mit der Kunst befassen, diese Ausstellung auf ihren wahren
Wert erkennen, müßten sie mit ihrem bisherigen System,
nach dem die Fachschulen und Kunstgewerbeschulen ein.
gerichtet sind, gänzlich brechen. Dieses System bezweckt
angeblich, die volkskünstlerische Hausindustrie „gangbar"
zu machen, sie mit neuen Mustern zu versehen, oder wie
eine Variante lautet, sie konkurrenzfähig zu machen. Der
Vorgang ist dabei der, daß man fremde Muster, Möbel,
Topfereien, Holzschnitzereien, Stickereien etc. in die Provinzen
92
schickt, wo sich Fachschulen befinden, und diese Dinge euv
fach kopieren läßt. Zugleich sorgt das sogenannte Lehr'
mittelbureau im k. k. österreichischen Museum für 8 Vorlageiv
blätter, jene berüchtigte Art papierener Kunst, deren Schäd'
lichkeit ich häufig genug nachgewiesen habe und_ die
gleichfalls den Schülern zur Nachahmung in die Hand
gegeben werden. Ein ganzer großer Apparat von Lehr- und
Arbeitskräften funktioniert, den natürlichen künstlerischen
Gestaltungstrieb des Volkstumes, so in dieser Ausstellung
an glänzenden Beispielen illustriert, zu vernichten und an
Stelle dieser edlen schöpferischen Regungen die Schablone
zu setzen und die Unfähigkeit groß zu ziehen. Neben den
unmeßbaren Schätzen vergangener und halbvergangener Vo S'
kunst befinden sich in dieser Ausstellung allerdings auch Proben
jener Verbesserung durch die kunstämtlichen Hebammen'
dienste. Sie wirken neben den guten Beispielen als Karikatur.
rseiner'Kunst schafft das unverbildete Volk primitiv und
schaulich wie das Kind. Das Kind, bevor es zur Schule
mmt, trägt in der Regel eine vollkommene Bildung schon
er die ersten Keimansätze hinaus entwickelt in sich. Es
rsteht seine Anschauungen zeichnerisch auszudrücken, es
rmt, malt mit ausgesprochener Freude am Farbigen und
it richtigem; Sinn für Farbenverhältnisse, so wie es m der
:gel richtig singt; die Schule, anstatt die entwickelten Keime
pflegen und weiter zu entfalten, setzt diesen Entfaltungen
i tödliches Ende, indem sie mit etwas ganz anderem, ganz
•emdartigem und;Neuem beginnt. Sie verwandelt den keim'
irken Boden zuerst in eine Wüste, um das magere Reis
r schematischen Durchschnittsbildung dem jungen Stamm
ifzupfropfen. Anstatt Fähigkeiten entwickelt sie ein be'
irftiges Wissen. Es verhält sich ganz ähnlich mit der
olkskunst. Sie ist einer lebendigen Anschauung einfacher
93
Polnische Bauernstickerei.
Schultertuch (Nationaltracht
Gemüter, einem naturfrisehen, unverbildeten Gestaltungstrieb
entsprungen und unbeholfen, wie sie scheinen mag, ist sie
dennoch durchaus organisch, den einfachen Werkzeugen und
wohl im Laufe der Zeit hochausgebildeten Techniken gemäß.
Sie ist naiver Naturalismus, indem sie alles dem Empfinden
gemäß ausdrückt. Sie ist aber zugleich Symbol, indem sie
in irgend einer Beziehung Liebe oder Verehrung ausdrückt.
Diese beiden Elementarkräfte liegen im Grunde aller dieser
Dinge. Sie sind darum gut, weil sie das Beste ausdrücken,
dessen der naive Künstler fähig war. Die meisten dieser
Sachen wurden eben geschenkt oder für das eigene Haus
und die eigene Festtracht hergestellt. Der Antrieb war also
gegeben, das Beste auszudrücken. Diese Arbeiten sind aber
auch aus einem dritten Grund absolut gut und vorbildlich,
weil sie die Werkzeug' und Materialsprache sprechen; die
Dinge zu verkünsteln, konnte der bäurische Künstler zu
wenig; um sie anders als treffend sicher zu gestalten, wi
sein künstlerisches Empfinden zu mächtig; so sind sie gi
worden als das, was diese Art Kunst immer sein soll, di
Ausdruck einer lebendigen volksmäßigen Kultur und ur
verbildeter, gestaltungsfroher Sinne.
Diese Kultur gehört allerdings schon der Halbvergangenhe
an, aber die Fähigkeiten sind darum nicht ganz erlöschet
wenn auch von äußeren Umständen gehemmt, die Ausübur.
vielfach unterbrochen worden ist. Nun setzt die Schule eil
die systematische Züchtung sogenannter Volkskunst durc
die erwähnten schulämtfichen Institutionen. Es ist der analog
Fall wie mit dem Kinde. Anstatt dort anzuknüpfen, wo ehe
aufgehört wurde, anstatt die Fähigkeiten, die entwicklung
fähigen Keime zu pflegen und weiter zu entfalten, wird mit gar
anderem, ganz Fremdartigem und Neuem begonnen, mit „kor
kurrenzfähiger“ Schundware, mit schwächlichen Stilerfindur
Polnische Bauernstickerei.
gen papierener Kunst und mit der Nachahmung fremder
ungewohnter Erzeugnisse.
Die Absatzfähigkeit, das wirtschaftliche Moment spielt, selbstver^
ständlich auch in der Volkskunst eine sehr wesentliche Rolle. Was
ursprünglich für den eigenen Bedarf im Hause und am Kleide
von kunstfleißigen Händen im Volke hergestellt worden ist,
hat sich nach und nach als Handwerks- und im beschränkten
Maße als Handelszweig herausgebildet, es wurde Hausindustrie.
Aber immer noch lebt in der Hausindustrie der ungemessene
Schatz technischer, handwerklicher und künstlerischer über'
lieferungen, der durch Generationen getreulich überliefert
worden ist. Es ist nun allerdings eine wichtige und keines'
wegs mühelose Aufgabe, dieser Heimindustrie das zu geben,
was sie zum Leben braucht, nämlich einen angemessenen
Marktpreis. Es gehört aber ein unglaubliches Maß von Talent'
losigkeit dazu, zu glauben, daß dieser volkskünstlerischen
Heimarbeit dadurch zu helfen ist, daß man sie künstlerisch
ruiniert und die schlechte Schablone sogenannter gangbarer
Massenartikel an ihre Stelle setzt.
Es gibt nur die eine Art von Entwicklung zur Konkurrenz'
tüchtigkeit: die Pflege der Qualität. Die Qualität ist nicht zu
erreichen durch Nachahmung fremder Muster, sie kann nur
geschöpft werden aus den vorhandenen lokalen Voraus'
Setzungen, aus den bodenständigen, durch Generationen ent'
wickelten Veranlagungen der ursprünglichen Volkskratt,
davon diese Ausstellung so überaus eigenartige, für die ver'
schiedenen Provinzen und Gegenden charakteristische Proben
ablegt Man erinnert sich dabei unwillkürlich an Japan. Japan,
das aus einer ähnlichen Entwicklung volkstümlicher Kräfte
seine eigenartige Kunst, die durchaus Volkskunst ist, entwickelt
hat, die dem Lande seine Weltmarktstellung sichert.
Es sind in dieser Ausstellung auch Proben von Nachahmungen
lokaler und künstlerischer Arbeiten, namentlich in der Holz'
bearbeitungsindustrie. Vielleicht will dieser Teil, den eine
Fachschule ausstellt, zeigen wollen, daß man nun auf dem
Wege sei, das Heimatliche zu pflegen. Beim Vergleich
zeigt sich, daß die neuen, anscheinend verbesserten Sachen in der
Tat weitaus schlechter sind als die primitiven alten Vorbilder.
Es ist klar, daß man auch hierin den falschen Weg be^
treten hat. Es wird nichts fruchten, daß man nach Jahr^
zehnten der Entfremdung von einer eingewurzelten hefr
mischen Arbeit nun plötzlich zu den verlassenen Gebieten
zurückkehrt und mit der Nachahmung der abgestorbenen
Formen beginnt, denn wie gesagt, der größte Teil dieser
Formen ist eine verschollene Überlieferung und längst unzeit*
gemäß geworden. Es ist ganz natürlich, daß die Arbeitskraft
im Volke neuer künstlerischer Belebung bedarf. Dies kann
nicht durch die Nachahmung weithergeholter, fremder oder
vergessener eigener Muster geschehen, sondern einzig und
allein durch sorgfältige Wiederaufnahme lebensfähiger Tech'
niken und verborgener Fähigkeiten und darauf gegründete
neue Formensprache. Das letztere aber ist nicht Sache des
Amtes oder ämtlich angestellter Organe, sondern Sache junger
Künstler und Künstlerinnen, die, zum Verständnis für derlei
Dinge erzogen, berufen wären, diese Aufgabe zu leisten. An
der Kunstgewerbeschule und einigen modernen Schulen werden
eine Menge solcher Talente, die für solche Aufgaben befähigt
sind, ausgebildet. Die Spielsachen, von Fräulein Uchatius
entworfen und in der Chrudimer Holzbearbeitungsschule
hergestellt, sind ganz entzückend. Man mache es sich
zum System, diese jungen Talente in Verbindung mit dem
kolossalen Apparat von Fachschulen der arbeitenden Be--
völkerung im Umkreise der Fachschulen wirken zu lassen und
manche werden nach einer Reihe von Jahren den alten Stamm
wieder neue Früchte tragen sehen, nicht minder köstlich viel'
leicht als die vergangenen, davon die Ausstellung ein Bild liefert,
und man wird sicher die Erfahrung machen, daß, wie schon an
anderer Stelle gesagt, nichts so gangbar ist als das Gute.
HAUS UND GARTEN,
VON GERTRUD JE KYLL, LONDON.
I.
WIE DAS HAUS GEBAUT WURDE.
(Fortsetzung.)
Ich wohnte in einem kleinen Cottage in demselben Ort,
nur achzig Ellen von dem Bau entfernt. Wie gut lernte ich
da, alle Laute unterscheiden! Das Aufschlagen und Klatschen
der Kelle, mit der die sie füllende Mörtelladung vom Brett
genommen wird, den dumpfen Ton, der das Auflegen der
feuchten Masse begleitet, welche das Bett des nächsten Ziegels,
der jetzt an die Reihe kommt, bilden soll; das wohlklingende
Hämmern des vorsichtig gehandhabten Axtblattes, das einen
gut gebrannten Ziegel entzweiteilt, und das dumpfere Schlagen
auf dessen Kante, um ihn auf seinen Platz zu setzen, wobei
die Fingerspitzen der linken Hand durch festes Herabdrücken
mithelfen; das Gleiten und Kratzen der Kelle, beim Weg'
nehmen des überflüssigen, aus den Fugen hervorquellenden
Mörtels und das genaue Aufträgen desselben in die sich
kreuzenden Spalten; das zweimal wiederholte Aufschlagen
auf das Mörtelbrett, als Signal, daß kein Material mehr vor'
handen sei. Von der Stelle, an welcher der Mörtel gemischt
wurde, tönte das dumpfe Klatschen des gelöschten Kalks
herüber, der ganze Dampfwolken aufsteigen ließ; das Arbeiten
der Kelle in dem von Sandhügeln umgebenen weißen See
ergibt einen angenehmen Laut, der in seltsamer Weise an
das Geräusch eines sich auf den kurzen Wellen des Hafens
schaukelnden kleinen Bootes erinnert; auch das Klatschen der in
dem nassen Mörtel wühlenden Schaufel, die denTCalk und den
Sand miteinander verbindet, hat einen gewissen Rhythmus.
Die Töne der Tischlerarbeit sind mir ebenso geläufig, wenn
sie auch weniger wohllautend sind. Das Geräusch der Säge
und des Hammers ist an und für sich nicht angenehm, wenn
das Bewußtsein, daß das Werk fortschreitet, auch Befriedigung
gewährt und das Schärfen einer Säge in der Nähe ist für
ein zartes Ohr eine Qual. Anderseits liebe ich das leise
Geräusch des gut geschliffenen Hobels, wenn er an der Kante
eines Brettes hingleitet und lange, angenehm riechende Hobel'
späne hinterläßt; ich liebe auch das Niedersausen der Axt
und das Klopfen des Schlägers auf das Stemmeisen zur Er'
zeugung von Fugen, denn diese Geräusche enthalten trotz
des Gewirres der Töne doch eine geheime Musik, die am
genehm zu hören ist. Ein anderer nicht unangenehmer Laut
wird durch das Bearbeiten der mit dem Bewurf der Mauern
vermengten Kuhhaare, um sie besser damit zu vereinigen,
erzeugt, wobei derselbe Zweck wie bei den alten Ägyptern,
verfolgt wurde, die Ziegel mit Stroh mischten. Das aus den
Säcken geschüttete Haar kommt in dicken Klumpen heraus.
Ein Mann sitzt an einem Brett und schlägt mit biegsamen
Stöcken so lange auf das Haar, bis die Klumpen sich teilen.
Die Luft ist von Staub und kurzen Härchen erfüllt, und
diese Arbeit gehört trotz ihrer Einfachheit wohl kaum zu
den angenehmsten; es sieht, besonders wenn zwei Männer
nahe voneinander arbeiten, aber doch so aus, als ob sie mit
irgend einem amüsanten Spiel beschäftigt wären.
Man sammelt bei einem Bau viele Brocken nützlicher Kennt'
nisse und das Entstehen eines Hauses ist für jeden vernünftig
beobachtenden Menschen'außerordentlich belehrend. Um ein
Beispiel aus der Menge des Gelernten anzuführen, will ich
erwähnen, daß man dabei erfährt, warum die Ziegel naß
verwendet werden müssen. Ein nur feuchter Ziegelstein hat
eine trockene, sandige Oberfläche; der aufgelegte Mörtel kann
darauf schlecht haften und fällt leicht herab, wobei er den
roten, lose sitzenden Sand mitreißt, der ihn am Haftenbleiben
hindert, ebenso wie der Sand, mit dem der Arbeiter den
Mörtel in dem Trog bestreut, das Kleben des nassen Materials
an der hölzernen Maurerkelle unmöglich macht. Wenn der
Ziegel jedoch naß ist, verbindet sich die Feuchtigkeit des
Mörtels sofort mit derjenigen des Ziegels, der den Mörtel
tatsächlich in seine Poren einsaugt. Man könnte Dutzende
von solchen Beispielen anführen, um die Eigenheiten des
Baumaterials vorzuführen. Und dann lernt man seltsame
lokale Bezeichnungen dabei und hört von den älteren Ar'
heitern viele eigentümliche Aussprüche und weise Worte, wobei
bekannte Ausdrücke im Munde der Handwerker in ganz
neuen Formen wieder erstehen. Ich mußte auch konstatieren,
daß demHersteller einesnützlichenBaumaterials der Geruchsinn
abging, denn als ich an einen eben erst abgeladenen Haufen
von weißen Rollen herantrat, die einen durchdringenden Kreo'
sotgeruch verbreiteten, und fragte: was dieses übelriechende
Zeug sei, erfuhr ich, daß es patentierter geruchloser Filz sei!
So schlenderte ich, ohne eigentlich müßig zu sein, da ich
durch die Beobachtung von Ursache und Wirkung immer
etwas Neues dazu lernte, um den Bau herum, bis die
Kirchenuhr der fernen Stadt zwölf schlug und der Werk'
führer auf seine Uhr schaute. Darauf ertönte sein lustiger' Ruf,
das Arbeitsgeräusch verstummte und die Handwerker brachen
zum Essen und zur Mittagsrast auf. (Fortsetzung folgt.)
96
Amerikanischer Küchenschrank, offen und geschlossen, praktisch und zweckmäßig gebaut.
DAS SPEISEZIMMER IM AMERIKANISCHEN
WOHNHAUSE. (Siehe Seite 87—89.)
AMERIKANISCHE KÜCHENMÖBEL (siehe obige Bilder).
D ie Grundsätze, die im Bau und in der Einrichtung des
amerikanischen Hauses gelten, sind der Niederschlag
einer ziemlich entwickelten Volkskultur, die das NOT'
WENDIGE VOLLKOMMEN zu erfüllen trachtet. Der
Amerikaner hat ein gutes Wort dafür: KOMFORT, das ist
Behagen. Dieser Komfort, der strenge Sachlichkeit, Gediegen'
heit und Behaglichkeit in einem ist, gehört zu den Selbst'
Verständlichkeiten seines Lebens. Es ist nicht Sache der
Reichen, es ist jedermanns Sache. Ob es sich um das Speise'
zimmer eines Arbeiterhauses oder eines vornehmen Land'
hauses handelt, ist einerlei; die praktische auf Komfort
gerichtete Gesinnung ist in beiden Fällen am Werk. Das
Speisezimmer hat einer bestimmten Funktion zu dienen,
darum wird sich in der Ausstattung desselben kein Element
finden, das nicht zur Sache gehörte und störend empfunden
werden könnte. Außer den absolut notwendigen EinrichtungS'
stücken wird sich dort kein Möbel vorfinden. Selbst Bild'
werke sind dort überflüssig; wenn die Wände gut gegliedert
und zweckmäßig ausgenützt, der Raum koloristisch angenehm
ist, kann dort kein Verlangen nach Bildern bestehen. Die
Glanzlichter von Kristallglas, Silberzeug und Metallgeräten
an den Buffets, Gesimsen und am Kamin sind der beste und
natürlichste Schmuck eines Speisezimmers. Ein gut angelegtes
Haus beruht auf dem Grundgedanken, das Leben so leicht
und behaglich zu machen als möglich. Es gilt daher als selbst'
verständlich, daß das Speisezimmer eine gute Verbindung
mit der Küche habe. Um Zeit und Arbeit zu sparen, ist der
Geschirr schrank häufig in die Mauer eingebaut, mit Türen
nach beiden Seiten, damit die Geschirre auch von rückwärts,
wo sich die Küche befindet, nach dem Waschen in den Schrank
eingestellt werden können, ohne das Speisezimmer betreten
zu müssen. Zur Schönheit des Speiseraums gehört ein gut
angelegtes Fenster und ein schöner Ausblick, eine Fülle von
Licht und guter Luft. Nirgends mehr als in diesem Raum ist
die Sichtbarkeit der Struktur notwendiger. Die ganze dekorative
Eigenschaft des Zimmers hängt davon ab. Gutangelegte, breite
Fenster, eingebaute Buffets, Schränke, Vitrinen, Fensterbänke
und Fenstersitze und vor allem ein weiter, anheimelnder
Feuerplatz bilden das unerschöpfliche Um und Auf eines
wirklich schönen Speisezimmers. Einige Beispiele der wich'
tigsten Strukturen sind in diesen Illustrationen geliefert.
Der Amerikaner liebt es, sein Speisezimmer mit einer offenen
Terrasse verbunden zu haben, um bei guter Jahreszeit halb im
Freien zu essen. Die Terrasse ist in diesem Falle eingebaut,
im Winter verglast und als Frühstückzimmer verwendet. In den
einfachen Landhäusern sind, wie in den Arbeiterheimen, Küche
und Speisezimmer zu einem einzigen Raum vereinigt, was den
ältesten angelsächsischen Hausbauüberlieferungen nahekommt.
Der Herd ist wieder Mittelpunkt des Hauses. Es ist nicht zu
zweifeln, daß ein solcher Raum alle Gemütlichkeit besitzt, die
zu erdenken ist. Dazu gehört allerdings die Einrichtung einer
eigenen Spülküche, die hierzulande ziemlich unbekannt ist.
Die Art der amerikanischen Küchenmöbel, Konstruktion
und Zweckmäßigkeit, die es zu einem wohldurchdachten
organischen Gebilde machen, ersehe man aus obigen Bildern.
97
] KUNST UND KULTUR [
WENN DIE TÄNZERIN TANZT.
eladenen Gästen in Miethkes Kunstsalon zeigte sich eine Tänzerin,
Fräulein Sachetto aus München. Als ich unterwegs war, ich hatte
sie noch nicht gesehen, durfte ich alles mögliche erwarten. Ich durfte
erwarten, daß das, was sie brachte, geeignet wäre, die landläufigen
Begriffe vom schönen Tanze zu enttäuschen und zugleich zu über-
treffen. Kein Kunsttanz und doch wäre ihr Tanz Kunst. Keine über'
nommene Fertigkeit, keine Routine, nichts von Fußspitzentanz, keine
Spur von Akrobatik. Sie tanzte sich selbst, mit passiver, leiden'
schaftlicher Empfindung. Das Wesen ihres Tanzes wäre nicht das
Erlernte, sondern Selbstdarstellung. Auch wenn sie von einem be-
stimmten Thema ausginge, so ist es doch immer die Darstellung dessen,
was ihrer Empfindung gemäß ist. Es ist darum ursprünglich und
künstlerisch, schöne Form, die Rhythmus und Harmonie ist, wesens'
verwandt mit allem, was rein aus gesteigertem menschlichem Empfinden
geschöpft ist. Den Gedanken weiterzuspinnen, dachte ich, man könnte
dasselbe sagen von den gefühlten Verhältnissen einer idealen Ar'
chitektur, von dem Aufbau sublimer Worte und Gedanken, von
einer edlen Geste oder einer edlen Tat, von der wundervollen Möglichkeit,
Farbe zu empfinden und bildmäßig zu gestalten, oder das Empfundene
in rhythmischen Tönen musikalisch auszudrücken.
Alles hängt irgendwie zusammen, alles Ursprüngliche, Schöpferische,
Künstlerische berührt sich in dem Empfindungsmäßigen als der gemein'
samen Wurzel. Selbst das Genießen ist in dieser Art ein Schaffen;
Kunst will nicht besprochen, sondern empfunden sein.
Die Frage geht zunächst nicht nach dem höheren oder geringeren
Grade von Fertigkeit — auch das Unfertige kann Kunst und insoferne
fertig sein — sondern nach der Unmittelbarkeit und Innigkeit des
menschlichen und empfindungsmäßigen Ausdrucks. Darum kann man
japanische Kunst, griechische Antike und eine scheinbar unbeholfene
gotische Skulptur oder ein Stück primitiver Volkskunst, wie alles,
derselben Quelle entstammte Heutige in gleicher Weise lieben.
Ich dachte an dieses und anderes unterwegs zur Tänzerin. Als ich sie
gesehen hatte, war ich offen gestanden, ein wenig enttäuscht. Es war
aber meine Schuld. Ich hätte nicht das Unmögliche erwarten dürfen.
Sie hatte den besten Willen, und manches Schöne war ihr gelungen.
Man konnte deshalb leicht über das Fehlende hinwegsehen. Der
Abend hatte den Charakter einer Improvisation und ließ glücklicher'
weise alles offen, Wunsch und Hoffnung.
DIE TRAGISCHE MUSE.
Bilder auf Seite 90—91.
D rei Relief bilder aus glasiertem Steinzeug, das Mittelstück Melpomene,
die beiden Seitenstücke die tragischen Chöre darstellend, wurden
von Frau ELENA LUKSCH'MAKOWSKA für das neue Wiener Bürger-
theater geschaffen. Sie sind ein besonderer Schmuck des neuen Baues,
an dessen Stirn sie als Symbol des Wesens aufleuchten, dem das Haus
gewidmet sein sollte. Leider stehen weder die Architektur noch der
Geist dieses Theaters auf der künstlerischen Höhe dieses plastischen
Schmucks. Ohne irgend eine historische Nachahmung zu suchen, sind
die Reliefs aus dem Geist der tragischen Stimmung geschöpft; das all-
gemein Menschliche dieser Empfindung ist in einer Form verkörpert,
die namentlich im Hinblick auf Melpomene fast lokale Züge trägt,
einen Einschlag der Lebensluft und örtlichen Überlieferung. Der
Künstler, der aus dem Eigenen schöpft und sich persönlich ausdrückt,
macht diese unsichtbaren Einwirkungen, die sein Wesen bestimmen,
künstlerisch sichtbar und das ist, wie hier, von ganz erlesenem Reiz.
Was ein modernes Wiener Bürgertheater sein sollte oder sein könnte,
ist an diesen Plastiken offenbar, aber leider nur hier.
ALMANACHE, KALENDER UND KATALOGE.
er „INSEL'ALMANACH AUF DAS JAHR 1906“ gibt einen guten
Überblick über die führenden Gedanken und Leitsätze der deutschen
Buchkultur. Sehr beherzigenswerte Dinge sind da zu lesen über Buch-
schmuck, Buchdruck und Bucheinband. Ich lese und schlage eine andere
Stelle auf, da fällt der Almanach entzwei — so schlecht geheftet ist er.
Das ist Schicksalstücke. Der Insel-Verlag hat die deutsche Buchkunst
wiederbelebt, man braucht ihn nicht ermahnen, die Worte in Taten
umzusetzen; daß aber just dem predigenden Sendapostel der kleine
Sündenfall passieren mußte, ist doch ergötzlich, nicht? Es tut nichts,
der „Insel-Almanach“ ist dennoch sehr hübsch. Er ist ein artiges Lese-
und Bilderbuch mit erlesenem Inhalt. Den SIMPLIZISSIMUS-KALENDER
(A. Langen, München) wegen seines witzigen Inhalts zu loben, ist schier
überflüssig, er ist beliebt als ein fast Selbstverständliches und hoffent-
lieh ist das auch von den Sammelausgaben „DER KÜNSTLER“, „DER
PFAFFE“ und Thönys „VOM KADETTEN ZUM GENERAL“ aus dem
Inhalt des abgelaufenen Jahrganges der Wochenschrift zu sagen, die
als die schärfsten und gerechtesten künstlerischen Kritiken der heutigen
Kultur, oder richtiger gesagt Kulturlosigkeit, Geltung haben, eine
satirische Geschichtsklitterung, ein Zeitspiegel für Schimpf und Scherz,
heilsam durch das befreiende Lachen, das er gewährt. Zwar nicht als
Kalender oder Almanach, aber doch als Neujahrsgaben wollen sie in
diesem Zusammenhang nicht vergessen sein.
Dagegen ist der GOETHE-KALENDER AUF DAS JAHR 1906, von
Otto Julius Bierbaum bei Theodor Weicher in Leipzig herausgegeben,
ganz goetheisch. Als Kalender ist er ein Hausbuch und will Goethe als
Lebendigen zeigen, einen Verkehr mit ihm vermitteln und allerlei Vor-
bildliches offenbaren. Es ist ein gutes Beginnen. Ein Almanach und ein
Kalender sind dazu da, Verheißungen und Herzenswünsche anzubringen.
Alter, süßverlogener Sitte gemäß wollen sie alles in Liebe und
Freundschaft verbinden, und dieser Kalender weckt die Ahnung
wieder von den zierlichen entzückenden Almanachen vor etwa rund
hundert Jahren, die in Bezug auf Ausstattung und Buchkultur für
unsere verwahrloste Zeit vorbildlich werden.
Aber am Ende, was heißt „in Goethe leben“? Die eigene Zeit nützen
und das Beste aus ihr zu machen. Was an Goethes Geist heute fehlt,
kann man im Anbeginn jedes Jahres an den üblichen Kalendern der
Geschäftsleute und den Wunschkarten ersehen. Welchen erbärmlichen
Schund die angesehensten Firmen und Buchdruckereien zu bieten
wagen, ist unerhört. Einen wirklich künstlerischen KALENDER, VON
DER MOSER'SCHULE gezeichnet, gibt die Wiener DRUCKEREI
CH WA LA ihren Kunden. Aus dem Kalenderwust der letzten Jahre
sind nur wenige ihrer künstlerischen Qualitäten wegen hervorzuheben,
ich erinnere an den wirklich ausgezeichneten HOLZSCHNITTKALENDER
des einstigen VER SACRUM der WIENER SECESSION. Heuer hat
PROF. CZESCHKA einen schönen Kalender angefertigt, der in der
WIENER WERKSTÄTTE vervielfältigt wurde, ebenso wie eine schöne
NEUJAHRSKARTE desselben Künstlers, die von der Wiener Werk-
Stätte ihren Arbeitern und Hausfreunden überreicht wurde. Die alte
Sitte der Neujahrswunschkarten der Familien und der verschiedenen
Gewerbeleute hatte früher eine gute Beziehung zur Kunst gehabt.
Wir haben im Vorjahre den Lesern der „HOHEN WARTE“ eine Reihe
solcher guten alten Wunschkarten gezeigt. Was heutzutage auf diesem
Gebiete geleistet wird, ist ein Skandal von Geschmacklosigkeit. Es war
darum sehr zeitgemäß, daß die Wiener Werkstätte auch in dieser Be-
Ziehung ein künstlerisches Beispiel gibt. Familien, die Wunschkarten
versenden, sollten diese wieder von einzelnen Künstlern als Holzschnitt,
Radierung etc. entwerfen und ausführen lassen; künstlerisch wertvolle
Wunschkarten sind immer eine Freude für den Empfänger; schlechte
Wunschkarten sind eine Beleidigung und sollen zum Bruch der Freund-
schaff führen. Das sollten sich auch die CAFETIERS merken, deren
Neujahrsgaben an die Gäste immer erbärmlicher werden. In den
Zwanzigerjahren überreichte der Cafetier einen kleinen entzückenden
Kupferstich; die heutige Neujahrsgabe, Brieftaschen aus imitiertem
Leder, mag ich nicht einmal meinem Diener weiterschenken. So wird Sitte
zur Unsitte, die abgeschafft werden soll. Außer dem besagten Insel-
Almanach weiß ich nur zwei Kataloge zu nennen, die zu rühmen sind.
Es ist der VERLAGSKATALOG von EUGEN DIEDERICHS ZU JENA und
der von S. FISCHERS VERLAG IN BERLIN. Sie enthalten ein gewähltes
Stück moderner Literaturgeschichte; sie sind jedermann wärmstens zu
empfehlen als Berater und Jahresregent der Hausbücherei.
98
] BILDERAUSSTELLUNGEN [
VINCENT VAN GOGH.
V on den sechs modernen Bilderausstellungen, die im Laufe dieses
Monats in Wien zugänglich sind, ist jene VINCENT VAN GOGHS
bei Miethke (Graben 17) die weitaus interessanteste. Sie ist die wert'
vollste, weil sie das Werk einer durchaus eigenartigen Persönlichkeit
zeigt, eines Künstlers, der nichts Überliefertes, Handwerkliches, Fremdes
übernommen, sondern durchaus sich selbst gab, sein persönliches
Schauen und Naturempfinden in einer ganz persönlichen Darstellung.
Van Goghs Schaffen ist von einer Unmittelbarkeit, die überrascht und
entzückt, es ist eine phänomenale Erscheinung, das Vollbringen eines
Menschen, der fieberheiß nach dem künstlerischen Ausdruck seines
Wesens gerungen hat. Wir wissen nicht, wie weit das Geleistete ein
Vollbringen war; es sind Briefe von ihm bekannt, Briefe an einen
Freund, die einen ungeheuren Reichtum des Wollens offenbaren, über-
stürzend vielleicht, ein Wollen immerhin, das aufs Ganze gerichtet
ist und weiter hinaus will, als auf bloß malerische oder bildmäßige
Gestaltung seiner Eindrücke und Gesichte. Seine Art, sich künstlerisch
zu entäußern, war eine verzehrende, sein Kapital an Lebenskraft
erschöpfte sich in diesem Ringen und darum blieben viele Hoffnungen
seiner Briefe unerfüllt.
Vielleicht war die Ungunst seines äußeren Schicksals schuld daran.
Zum Teile sicherlich. Es war ein Martyrium. Er ging durch viele
Berufe, war nacheinander Kaufmann, Schullehrer, Prediger, Kunst -
händler, war über dreißig Jahre alt, ehe er sich fand und anfing,
sich darzustellen. Dann ging die Vollendung mit unheimlicher Ge -
schwindigkeit, mit Raserei. Was er malte, zählte in wenigen Jahren
über tausend Bilder. Man kennt nicht alles. Im Hospital zu Arles,
wo er zeitweilig Zuflucht nahm — ein paar ausgezeichnete Bilder
davon sind in der Ausstellung — sah man Irre, mit blödsinnigem
Lächeln, damit beschäftigt, van Goghs Bilder zu zerschneiden; nie -
mand kümmerte sich darum, kaum er selbst. Er hatte nur zu geben.
Was er gab, war ganz gegeben. Aus den Bildern, durch das Material
hindurch ist der zitterndheiße Lebensdrang zu spüren, das bebende,
zuckende Loslösen der sichtbaren Form aus der Sphäre seiner künst -
lerischen Empfindung, die fast schmerzlich noch wirkende physische
Gewaltsamkeit des Gebärens. Aber bei aller eruptiven Heftigkeit des
Hervorbringens strahlt im Grunde seines Werkes die ruhige Schön -
heit aus, die der Künstler empfand und sichtbar zu machen strebte,
die Natur in den einfachsten und ergreifendsten Zügen und die wunder -
bare Harmonie der Farben. So wurden seine Bilder ein seltenes kost -
bares Gewebe kühner, leuchtender Farben, kräftig zwar, aber auf die
Komplementärwirkung hin mit ungewöhnlichem Raffinement gesucht
und darum mild und kühl, mattschimmernd wie Seide, organisch wie
die Natur und flächig wie Gobelins.
Vincent war 1853 in Groot-Zunders, Holland, geboren. Am 28. Juli 1890
gab er sich den Tod; es war seiner Umgebung völlig unverständlich.
Er war aufgerieben; er wußte jedenfalls, daß er ein zu schwaches
Gefäß für die Überfülle und den Drang seines inneren Lebens war.
Seine Art Schaffen war Selbstvernichtung.
DIE KUNST DRÜCKT NIEMALS ETWAS
ANDERES AUS, ALS SICH SELBST.
OSCAR WILDE.
„DIE SCHOLLE“.
in schweres Rätsel ist die Kunst. Eine Sphinx, Weib, Löwe, Adler,
Fisch, vieldeutiges Symbol, ist Hauszeichen der dermaligen Aus -
stellung der Sezession und Plakat. Was soll's bedeuten? „Ein schweres
Rätsel ist die Kunst“. Der Künstler als Maler beantwortet es gemäß der
Kraft und Eindringlichkeit des eigenen Schauens, das „Eigengeschaute“
möglichst treu und unmittelbar zum Ausdruck zu bringen, „Jeder
bebaue seine Scholle“. Es ist kein Programm und zugleich das beste
Programm, das die nun hier ausstellende Münchener Künstlergruppe
zusammenhält, die sich also „Die Scholle“ nennt. Durch die Re -
produktionen der „Jugend“ sind die Mitglieder der Gruppe weithin
bekannt; glücklicherweise erscheinen die Originale viel jugendlicher
als in der „Jugend“. „Die Scholle“ will nicht Heimatkunst bedeuten,
aber eine gemeinsame künstlerische Atmosphäre gibt ihr das lokale
Gepräge, die örtlichen Züge, die Physiognomie der künstlerischen
Heimat, um so schärfer ausgesprochen, je eigener und ursprünglicher
das Geschaute und Dargestellte ist.
Münchener Kunst, wenngleich nicht alle Mitglieder bajuvarischen
Schlages sind. Die modernen Kunstanschauungen sind heute überall
die gleichen; jedoch der Niederschlag ist, abgesehen von dem Mehr
oder Weniger an Fähigkeit, naturgemäß überall anders. Aber gerade
das ist das Köstlichste der Kunst, daß sie irgendwie lokalisiert und
wurzelhaft ist. Trotz aller Differenzierung im einzelnen und Persönlichen
und trotz vieler Verwandtschaft: Münchener Kunst und Wiener Kunst,
das sind zwei sehr unterschiedliche Dinge. Je mehr der Unterschiede
wahrgenommen und festgestellt werden können, desto größer kann die
gegenseitige Schätzung sein. „Die Scholle“ ist Münchener Elite, es muß
logischermaßen sein, daß die Wiener Elite ganz anders ist. Man spürt
das Lokale recht deutlich, wenn man „Die Scholle“ nicht in München,
sondern, wie eben jetzt, in Wien sieht. Soviel zupackende Frische
und ungestüme Freude an Licht und Farbe, soviel Lebenslust und
Naturburschentum als „Die Scholle“ verkörpert, kann nur in der
Bauernhauptstadt eines Bauernstaates lebendig bleiben.
Münchener Kunst, das Wort wirkt wie eine Fanfare. Es ist nicht leicht,
die Gefühle auszusagen, die sich in Deutschland mit diesem Wort ver -
binden. Ein Lächeln geht um die Lippen, wie in Erwartung von etwas
sehr Lustigem, sehr Originellem, sehr Künstlerischem. Man sieht nur
sorgloses, genußfrohes Lebensbehagen. In der Tat steht in München
die Kunst dem Alltag näher als in irgend einer anderen Stadt. Sie ist
eine Reagenz des Lebens, und bis zu einem gewissen Grade mag die
Erwartung gerechtfertigt sein. Die Grundstimmung des Münchener
Lebens steckt naturgemäß auch in der Münchener Malerei. Daß es
gerade Bilder sind, den ungestümen Lebensdrang künstlerisch auszu -
drücken, hat sein eigenes Bewandtnis. Es erklärt sich aus der besonderen
Stellung der Akademie und der Kunst in München zum Leben: der
„Herr Kunstmaler“ ist dort eine Persönlichkeit, die in der Öffentlichkeit
mitspielt. .
Die Kunst ist dort eine sozial ausgleichende Macht wie das Bier.
Sicherlich besteht zwischen diesen beiden Elementen eine geheime
Beziehung. Das Münchnerische kommt in der „Scholle“, die nun in
der Wiener Sezession eine Kollektiv-Ausstellung gemacht hat, sehr
eindringlich zum Ausdruck.
Aber Derbheit und Kraftmeierei sind keine wesentlichen künstlerischen
Eigenschaften. Nicht nur in München, auch in anderen Kunstzentren
haben die Künstler die eigene Scholle bebaut und es sind teilweise
Erreichungen gewesen, die künstlerisch weitaus höher stehen. So ist
es zu erklären, daß „Die Scholle“ in Wien nicht den Eindruck des
Außergewöhnlichen macht.
Die übergroßen Formate wirken leer; dem zuweilen’kann man die
Vorstellung einer dekorativen Wirtshausmalerei nicht loswerden. Bei
allem Temperament, die Gewöhnlichkeit, oft zur Geschmacklosigkeit
gesteigert, hauptsächlich was die zahlreichen Aktstudien betrifft, ist
der bleibende Eindruck. Selbst Fritz Erler, der unter den Leuten der
„Scholle“ die größte künstlerische Zucht hat, ist nicht ganz frei.
Seine Neigung zum Stilistischen ist ein etwas äußerliches Kompliment.
Es geniert ihn noch nicht, daß er ein Bild unorganisch in drei Teile teilt,
indem er zwei Rahmenstäbe durchlegt und eine Art Triptychon bildet.
Auch der Stil will erlebt sein. In Wien ist er Erlebnis, das ist der Unter -
schied gegen München, vielleicht mehr als Unterschied, auch Vorsprung.
Immer ist die; Natur der Ausgangspunkt; der Naturalismus ist eine
Form, aber der Stil ist eine höhere Form.
99
BÜCHER, DIE MAN LESEN SOLL.
WALT WHITMAN.
oviel auch in den letzten Jahren über die Vereinigten Staaten von
Amerika geschrieben, soviel Treffendes auch im einzelnen gesagt
worden ist — den Geist des Landes und seiner Bewohner hat noch
kein deutscher Schriftsteller dem deutschen Publikum erschlossen.
Wer sich nur sechs Monate lang in Amerika aufhält, wie Polenz, oder
wie Münsterberg als Akademiker mit dem Durchschnittsvolk gar nicht
in Berührung kommt, kann den Kern des amerikanischen Wesens
nicht erfassen. Und was nützen alle Einzelbeobachtungen, wenn das
Prinzip ganz oder zum größten Teil unverstanden geblieben ist? Der
deutsche Leser erfährt wohl etwas über New York und Boston, Niagara
Falls, Chicago und St. Louis, über Hochbahnbetrieb, industrielle Unter'
nehmungen, Rockefeiler und Standard Oil Compagny, Carnegie und
Volksbibliotheken, allenfalls aber auch über die „Psychologie“ der
oberen Zehntausend: in das Leben der großen Masse bekommt er keinen
Einblick. Zweck und Ziel der demokratischen Union bleiben ihm
verschlossen.
Walt Whitman ist von den besten Amerikanern als der Genius der
amerikanischen Nation erkannt worden. Kein anderer hat so wie er
in die Tiefen der Volksseele geschaut, kein anderer hat so wie er den
Ausdruck gefunden für die Ideale der werdenden Neuen Welt.
In Europa ist Walt Whitman durch Federns Übersetzung der „Gras -
halme“ einigermaßen bekannt geworden. Die Leser der Hohen Warte
haben Proben dieser Dichtungen kennen gelernt, in denen der Rhythmus
der neuen Zeit atmet. Bei R. Piper & Co. in München erscheinen Whit-
mans Prosaschriften, in Auswahl übersetzt und eingeleitet von O. E.
Lessing, „DIE FRUCHTSCHALE“, eine Sammlung, die Tagebücherliches
enthält und kleine Aufsätze, ein reiches und oft wundervolles Erleben.
Ein solches ist „Beethovens Septett“, im folgenden wiedergegeben, das
Buch und die Seele, die es schuf, anzudeuten.
BEETHOVENS SEPTETT.
I n einem guten Konzert, im Foyer des Opernhauses
Philadelphia — das Orchester klein, aber ersten Ranges.
Niemals ergriff, besänftigte und erfüllte mich Musik
mehr, niemals erwies sie so ihre seelenerhebende Gewalt,
ihre Unaussprechlichkeit wie heute abend. Besonders bei
der Wiedergabe eines der Meisterseptette Beethovens durch
die trefflich gewählten und vollkommen kombinierten In -
strumente (Violinen, Viola, Klarinett, Horn, Cello und Kontra -
baß) wurde ich hingerissen und schaute und nahm ich viele
Wunder in mich auf. Liebliches Schwärmen, manchmal als
lachte die Natur an einem Hügelabhang; ernste und an -
haltende Eintönigkeiten wie von Winden; Hörnerklang im
Waldesdickicht und ersterbender Widerhall; kosendes Fluten
von Meereswogen, die aber plötzlich als Brandung empor -
schnellen, schwer, mit zornigem Peitschen und Murren; durch -
dringendes Gelächter dazwischen; dann und wann gespenstisch,
wie die Natur selbst in gewissen Stimmungen — meistens
jedoch spontan, leicht, sorglos — oft eine Empfindung wie
von Gestalten nackter Kinder, die spielen oder schlafen. Es
tat mir schon wohl, den Geigern zuzusehen, wie sie ihre
Bogen so meisterhaft führten — jede Bewegung Kunst. Ich
ließ mich, wie so manchesmal, ganz gehen. Ich hatte die
Vorstellung von einem üppigen Hain voller Singvögel, und
in ihrer Mitte ein einfaches, harmonisches Paar, zwei mensch -
liche Seelen im ruhigen Genuß ihres Glücks und ihrer Träume.
] HAUSMUSIK [
UNSERE NOTENBEILAGE.
ie von uns gebrachten Lieder entstammen der im
Verlag der Gebrüder Hug & Co., Leipzig und Zürich,
erschienenen Sammlung „Aus des Knaben Wunder -
horn“. Die Texte der Lieder sind in dem unter diesem
Namen erschienenen Volksliederbuch von Arnim und Bren -
tano zu finden, während die ursprünglichen Melodien nach
den Quellenwerken der ältesten Liedermusik wiedergegeben
werden. Die erste Blütezeit des deutschen Volksliedes beginnt
nach dem Versiegen der höfischen Minnesängerkunst am
Ende des XIV. und zu Beginn des XV. Jahrhunderts.
Während des XV. Jahrhunderts, nach Erfindung der Buch -
druckerkunst, wurden die ersten Volkslieder Sammlungen
herausgegefcen. Vom Ende des XVI. Jahrhunderts an
scheint das Volk viel von seiner Sangesfreudigkeit einzu -
büßen und während der Schrecknisse des Dreißigjährigen
Krieges tönen durch die verwüsteten deutschen Lande neben
den inbrünstigen geistlichen Gesängen nur die rohen Lieder
einer heimatlosen Soldateska. Erst zu Ende des XVII. Jahr -
hunderts fängt das Volkslied wieder zu blühen an. Der
Weg zu ihm war aber verwildert und verwachsen und nie -
mand wollte sich so recht ins Dickicht hineinwagen, bis nach
weiteren hundert Jahren einige große Deutsche, Herder und
vor allem Goethe, dringlich zum Nachforschen nach dem alten
Wunderbaum aufforderten. Dem nun anhebenden eifrigen
Ausspähen nach dem Paradiese der Volksliederkunst war
bald Erfolg beschieden und in den Jahren 1806—1808 konnten
zwei mit dichterischem Seherblick begabte Pfadfinder, Bren -
tano und Arnim, ihre Volksliedersammlung „Aus des Knaben
Wunderhorn“ herausgeben, die eine wesentliche Grundlage
alles Wissens von der altdeutschen Volkslieddichtung ist.
Das „Heideröslein“ erinnert in Form und Aufbau sehr an
Gedichte des Mittelalters und an Sprüche Walthers von der
Vogelweide. Die Tabulaturregel:
Ein Gesätz besteht aus zweien Stollen,
Die gleiche Melodei haben sollen.
Der Stoll aus etlicher Vers gebaut
Der Vers hat seinen Reim am End.
Darauf erfolg der Abgesang,
Der sei auch etlich Verse lang
Und hab’ sein besonder Melodei
Als nicht im Stollen zu finden sei,
ist nicht ganz genau und streng eingehalten, da Stollen und
Abgesang den gleichen Abschluß in der Melodie aufweisen.
Das Lied war wohl auch schwerlich als Meistersingerlied gedacht.
Die Begleitung ist der schlichten Melodie wunderbar angepaßt.
Das Lied „Der schwere Traum“ steht, was seinen Bau betrifft,
unserer Zeit viel näher: eine einfache achttaktige Periode ist
die einzelne Strophe, die dreimal wiederkehrt; in der Mitte
ist die Liederstrophe von einer durch den Takt bedingten
Cäsur unterbrochen.
Diesem Hefte ist eine vierseitige Musikbeilage beigeheftet.
U nregelmäßigkeiten in der Zustellung wollen dem Verlag der „HOHEN
WARTE“ gefälligst sofort bekanntgegeben werden.
NACHDRUCKVERBOT für sämtliche in den Heften der „HohenWarte“
erscheinenden Artikel und Illustrationen.
Alle Zuschriften und Sendungen Wien, XIX. Grinzingerstrafle No. 57. Telephon 21.847.
Verlag „Hohe Warte“ (Lux & Lässig). Für die Redaktion Joseph Aug. Lux.
Druck von Christoph Reisser’s Söhne, Wien V.
Papier von der Neusiedler Aktiengesellschaft für Papierfabrikation, Wien.
Jahrgang I der „HOHEN WARTE“, I. und II. Halbjahr, ist in
einigen gebundenen Exemplaren noch zum alten Preis zu haben.
Später Preiserhöhung!
Einbanddecken für den I. Jahrgang werden auf Bestellung
nachgeliefert.
100
1
17 Heideröslein.
1545.
Zart bewegt
‘Sèb. #
GH.3017
2
PP
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221
wie 1 das Mün - de - lein. Liebst du mich, so lieb ich
weiß_ wohl, wen ich mein: Sie ist ge - recht von gu . tem
an - ders neh - men an, ein schöns, ein jungs, ein reichs, ein
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dich, RÖs - lein auf
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4. Das Röslein,das mir werden muß,
Röslein auf der Heiden,
Das hat mir treten auf den Fuß
Und gschachmirdoch nicht leide;
Sie gliebet mir im Herzen wohl,
In Ehren ich sie lieben soll,
Reschert Gott Glück, gehts nicht zurück,
Röslein auf der Heiden.
5. Rehüt dich Gott,mein herzigs Herz,
Röslein auf der Heiden!
Es ist fürwahr mit mir kein Scherz,
Ich kann nicht länger beiten;
Du kommst mir nicht aus meinem Sinn,
Dieweil ich hab das Leben mein;
Gedenk an mich wie ich an dich,
Röslein auf der Heiden!
6. Beut mir her deinen roten Mund,
Röslein auf der Heiden,
Ein Kuß gieb mir aus Herzens Grund,
So steht mein Herz in Freuden.
Behüt dich Gott zu jeder Zeit,
All Stund und wie es sich begeit;
Küß du mich, so küß ich dich,
Röslein auf der Heiden!
7. Wer ist,der uns dies Liedchen macht’,
Röslein auf der Heiden ?
Das hat getan ein junger Hacht,
Als er von mir wollt scheiden;
Zehntausend hundert guter Nacht
Hat er das Liedlein wohl gemacht.
Behüt sie Gott ohn allen Spott,
Röslein auf der Heiden!
G H.3617
41. Der schwere Traum.
Langsam, klagend. 1770.
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1. Ich hab die Nacht ge-trau - raetwohl ei - neu schweren Traum, es
2. Ein Kirchhof war der Gar - ten, ein Blu-menbeet das Grab, und
8. Die Blat-ter tat ich sam - mein in ei - nen gold-nen Krug, der
4. Draus sah ich Per-len rin - nen und Tröpfleinro-sen-rot: was
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me fiel Krön und Blii - te ab.
den, daß er in Stük - ken schlug,
ten? ach Lieb-ster, bist du tot?
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42. Allerschönster Engel.
1770.
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ina - che ge-schwind! All dar
Herz ge - rührt. All dar
Seuf - zer zu dir. All dar
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komm,mein Schatz,und
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küs-se mich, mein al
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küs-se mich, mein al
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ler-sehönster Schatz, ver - giß mein nicht!
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ler-schönster Schatz, ver - giß mein nicht!
ler-schönster Schatz, ver - giß mein nicht!
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G. H. 3617
Kunstblatt 15, „HOHE WARTE“.
GEORGE MINNE: DER REDNER.
Die freie Gesellschaft von Künstlern und Künstlerinnen als „Hohe Warten
Verband" richtet folgende Eingabe an das
Hohe k.k. Unt erricht sministerium
WIEN.
D ie große Menge fruchtbarer Kräfte und werdender
Bildungen hat in Wien keine Gelegenheit, sich zu
zeigen und zu entfalten, weil es an guter, einfacher
und billiger Ausstellungsmöglichkeit fehlt.
Wir haben in Wien heute noch kein ZWECKMÄSSIGES
ALLGEMEINES AUSSTELLUNGSGEBÄUDE, ein Mangel,
der täglich empfindlicher wird. Die Intensität der Produktion,
der Wettbewerb der Kräfte auf allen Gebieten machen häufige
kleine Ausstellungen notwendig. Man will nicht immer auf
die kostspieligen Weltausstellungen warten, die vielleicht ihre
Rolle ausgespielt haben, denn es gilt vieles zu zeigen, das in
dem großen Rahmen verloren ginge und dennoch bedeutsam
ist. Die ringenden Kräfte, die Ansätze neuer Bildungen wollen
sich zeigen und ihr Publikum finden. Die Kulturarbeit für
die eigene Stadt, für die nächste Umgebung soll geschehen, an
der ja alle mittun, und sie kann nur wirken, wenn sie sich
zeigen kann in rascher, häufiger Wiederkehr, Anregung gebend
und aus der Berührung mit der Welt, Anregung nehmend.
Die Entwicklung in künstlerischer, kultureller und wirtschafte
lieber Hinsicht fordert einen solchen Bauorganismus, der jede
große und kleine Ausstellungsabsicht verwirklichen läßt; daß er
bei uns nicht existiert, wird als direkte Hemmung empfunden.
Was weiß die Öffentlichkeit von dem Wirken der schöpferischen
Kräfte? Was weiß sie von der künstlerischen Leistungsfähigkeit
auf dem Gebiete der Wohnungseinrichtung, die in den ge--
legentlichen Gewerbeausstellungen nie klar zum Ausdruck
gekommen ist? Was weiß sie von der Kunst des Garten^
baues, von dem neuen Gedanken einer Gartenarchitektur,
die in den üblichen Pflanzenausstellungen nie zu sehen war;
was von der Architektur überhaupt, von den künstlerischen,
hygienischen, verkehrstechnischen Grundsätzen im Städtebau,
von den modernen Baustoffen, was von den organischen Ideen
im Hausbau, von der Reform einer Kunst im Hause und
der weiblichen Handarbeiten, von den Techniken und der
Ästhetik gewerblicher und industrieller Erzeugnisse, von der
modernen Buchpflege, vom Stande des Illustrationswesens, vom
modernen Holzschnitt, von den zahllosen Fragen, Problemen
und Lösungen moderner Kulturarbeit, die im Verborgenen
fort und fort geschieht? Was weiß sie davon, daß sich bei
uns eine Edelmetallkunst, eine Goldschmiedekunst entwickelt
hat, die hoch über dem Niveau der Durchschnittsware im
Schaufenster steht, daß im Textilwesen, soweit es moderne
Stoffmusterungen angeht, Wien künstlerisch den Vorrang
einnimmt und Paris überflügelt hat? Was weiß sie überhaupt
von den Kräften, die diesen Fortschritt herbeigeführt haben?
Was weiß sie von den wissenschaftlichen Versuchen, Fort'
schritten und Demonstrationen, die einer allgemein zugäng'
liehen Darstellung bedürfen?
Im Interesse der Kultur ist es notwendig, daß das Leben
einer Stadt fortwährend sich selbst beobachtet und jeden bild'
nerischen Trieb für die eigene Entwicklung fruchtbar macht.
Was zu diesem Zwecke nottut, ist die ZENTRALISATION
DES AUSSTELLUNGSWESENS innerhalb der Stadt.
Die bestehenden zahlreichen kleinen Ausstellungsgelegenheiten
in Museen, Künstler' und Gewerbekorporationen etc. etc.
genügen bei weitem nicht dem bestehenden Bedürfnis. Was
München ungefähr in dem Glaspalast besitzt, bedarf man
auch in Wien, ein Gebäude, das seine Bestimmung ausdrückt
und einen modernen Baugedanken verkörpert, weil es aus
dem Bedürfnis des modernen Lebens abgeleitet ist. Es handelt
sich nicht um ein Gebäude im italienischen Palazzostil mit
Freitreppen, Arkadenhöfen, einem Wald von Säulen oder
sonstigen üblichen Raumverschwendungen für eine inhaltS'
lose Feierlichkeit, sondern um Räume ohne falschen Pathos,
die das Notwendige vollkommen erfüllen. Der neue Bau'
Organismus soll große und kleine Ausstellungen beherbergen,
alles vorteilhaft veranschaulichen können, was Kunst, Wirt'
Schaft und Industrie im Dienste der Kultur hervorbringen und
es soll ein unparteiischer Boden sein für alles, was immerhin
gut und fördernswert ist.
Die Lösung ist natürlich an die Platzfrage gebunden. Für
diesen Fall handelt es sich glücklicherweise um kein unlösbares
Problem. Der einzig mögliche und zu erlangende Platz für ein
solches Bauwerk, das eine verhältnismäßig niedrige und breite
Anlage erfordert, ist der Grund, auf dem die heutige Gartenbau'
Gesellschaft steht. An Stelle des dortigen Gebäudes, das seinen
Zweck in keiner Weise erfüllt, wäre Besseres zu setzen.
Es gilt nicht nur Bedürfnisse zu erfüllen, sondern auch voraus'
Zusehen. Da es sich zunächst um ein modernes Bauwerk handelt,
müssen von vorneherein die Künstler zu Rate gezogen werden.
Die Unterzeichneten richten an das hohe k. k. Unterrichts'
ministerium die höfliche Bitte, das Nötige zu veranlassen,
um diesen Gedanken zu verwirklichen. Es wäre eine große
Tat, die unserem wirtschaftlichen und kulturellen Leben von
unberechenbarem Vorteil wäre. Ein dringendes vielgestaltiges
Bedürfnis liegt vor. Die hohe k. k. Regierung möge der
Sache im Interesse einer ungehemmten Verwirklichung tat'
kräftige Förderung angedeihen lassen.
Die Schriftführung liegt in den Händen des „Hohe Warte'
Verbandes", WiemDöbling, Grinzingerstraße 57.
(ZAHLREICHE UNTERSCHRIFTEN MIT NAMEN DER
HERVORRAGENDSTEN KÜNSTLER.)
DIE VOLKSWIRTSCHAFT DES
TALENTES."
V. DER STAAT UND DAS TALENT.
Der Staat hat die Pflicht, Fähigkeiten zu erkennen und zu
fördern. Seine Aufgabe ist Kräfteförderung; was er in der
Regel tut, ist Schwächeförderung.
Der Drang nach Freiheit hat die mittelalterlichen Festungs^
mauern geschleift und die Gleichheit der Menschenrechte
proklamiert; der moderne Staat richtet im geheimen die
Mauern wieder auf, schafft Vorrechte, Gewerbeordnungen,
Zunft und Genossenschaftszwang, einschränkende Be^
Stimmungen, die Gleichheit der Menschenrechte auf Pro^
duktion und Erwerb zu vernichten.
Der Staat lebt von der schöpferischen Volkskraft; aber den
schöpferischen Kräften gegenüber gebärdet er sich als Almosen^
geber.
Die Persönlichkeit ist für ihn eine Verlegenheit, mit der er
nichts anzufangen weiß und die ihm unbequem ist; sie auf
den Submissionsweg zu bringen, hat er als Zwangsmittel den
Professortitel und die Uniform.
„Die Rettung des kleinen Mannes“ ist die Lüge der
heutigen Zeit. An dieser Lüge wird noch alles ersticken, was
irgendwie gut und menschlich groß ist. ln dem Koloß der
heutigen Wirtschaftspolitik grinst der Hökerverstand. „Der
kleine Mann“ ist nicht zu retten. Zünftlerische Einschräm
kungen und gewerbliche Hemmnisse im Geiste der heutigen
Gewerbeordnung sind Fesseln für die Starken, die überall
gefürchtet und doch so dringend gebraucht werden.
„Die wohlgerüsteten Starken“ — das sind die Künstler, die
Schöpfer von Werten, Ursprungswerten. „Der kleine Mann“,
die Gewerbetreibenden, Genossenschaften, Fabrikanten, Indm
strielle, Unternehmer, Händler oder Kaufleute, die in der
heutigen Wirtschaftspolitik den Ton angeben, sie schöpfen
nichts; sie wiederholen und verschieben, sie bringen Repro^
duktionswerte und Verschiebungswerte hervor, keine Ur^
sprungswerte.
Produktiv sind nur die Ursprungswerte; volkswirtschaftlicher
Aufschwung, Export, Arbeitsgelegenheit, Arbeitsfreude, Volks^
Wohlstand gründet sich nur auf Originalität, Erfindung und
Qualität, kurz auf reichliche Hervorbringung von Ursprungs^
werten.
Was in der Produktion eines Landes Gutes geschaffen worden,
ist immer von künstlerischen Menschen, von der produktiven
Kraft des Talentes geschaffen worden, niemals von den bloßen
Gewerbetreibenden, Unternehmern und Kaufleuten.
* Fortsetzung aus den Heften 21 und 22, 23 und 24, 25 und 26, Seite 353,
bezw. 377, bezw. 401, Jahrg. I, und Heft 1, 2, 3, 4, 5 und 7, Seite 2,
bezw. 17, 33t 49t 65, 86, Jahrg. II.)
Ein Fortschritt ist immer eingetreten, wenn sich das Gute
durchsetzen konnte, was trotz aller Hemmnisse bis zu einem
gewissen Grade immer geschehen ist; aber wir wissen nicht,
was verloren gegangen ist. Wir wissen es nur nach dem,
was an menschlicher Freude, an Glück und Schönheit im
allgemeinen und einzelnen fehlt.
Der künstlerische und kulturelle Fortschritt ist unter den
heutigen Verhältnissen an die Gutwilligkeit der Gewerbe^
und Unternehmerklassen gebunden, die, wenn sie Kultur
haben, den künstlerischen und menschlichen Fortschritt zu-
lassen, und wenn sie keine Kultur haben, was die Regel
ist, ihn unterbinden oder verfälschen.
Den Unproduktiven, den Gewerbegenossenschaften, die die
Staatsgewalt zum Schutze ihrer materiellen Sonderinteressen
in Anspruch nehmen, ist es in die Hand gegeben, die pro -
duktiven Kräfte zu lähmen, indem sie sie nicht beschäftigen und
weiterhin das volkswirtschaftliche Gedeihen aus Egoismus
zu lähmen.
Der nächste Weg, die produktiven Kräfte aus dem Zustand
der Hörigkeit zu befreien, wäre die Gewerbefreiheit für den
Künstler und jeden, der Kraft schöpferischer Betätigung fühlt.
Absolute Freiheit der schöpferischen Kraft. Was im Weg
steht, ist „der kleine Mann“ und der militärische, bureau-
kratische, juristische, unpersönliche Staat, der Vorrechte zu
schützen hat und „den kleinen Mann“ für die Errichtung
der heimlichen Mauern und Barrikaden braucht.
Vielleicht erscheint die absolute Freiheit der schöpferischen
Kräfte noch zu gefährlich, weil der Kraft zu wenig und der
Unkraft zu viel ist; aber sicher ist, daß die Zukunft der Ge -
samtheit und der einzelnen auf die freie Betätigung und
Entwicklung der Kraft aller für jeden gestellt sein wird.
Heute fürchten die Gewerbe- und Unternehmerklassen die
Konkurrenz, weil sie nach dem Grundsatz von „billig und
schlecht“ ein Gedeihen hoffen und in der beständigen Angst
leben, ein anderer könnte durch den Grundsatz von „noch
billiger und noch schlechter“ das Wasser abbauen.
Die absolute Freiheit der schöpferischen Kräfte ist der Boden,
auf dem die Unkraft zur Kraft wächst oder schwindet, also
sollen die heimlichen Mauern mittelalterlicher Zunft- und
Gewerbeeinschränkung fallen; die Furcht vor einer angeb -
lichen Gefahr gleicht der Furcht ängstlicher Schwächlinge
vor frischer Luft, Sonne und Rührigkeit.
Wenn „Wohlwollen“ und „Entgegenkommen“ gesagt wird,
ist die Förderung eigener Interessen gemeint. Wird die
„Förderung allgemeiner Interessen“, der Volkswirtschaft,
des Gewerbes, des Handels, der Industrie, der Nationalität
oder was immer auf Grundlage der herrschenden Ordnung
proklamiert, so bedeutet es in der Regel, daß eine Koterie
die Taschen noch nicht gefüllt hat.
Der Titelstreit ist komisch wie der Streit von Masken- und
Haubenstöcken; nur der Hohlkopf braucht den Titel, damit
es doch nach etwas klingt.
102
Die Titelverleihung ist das stärkste Mittel, das der heutige
Staat besitzt, die Mittelmäßigkeit zu fördern. Die Titelsucht
ins Ungeheure zu steigern, ist immerhin Sache des Fort'
Schritts; es muß dahin kommen, daß jeder Schuster den
Doktortitel für einen Pfifferling haben kann; dann wird der
Mann gelten und nicht der Titel. Heute gilt jeder Hauben-
stock, wenn er den Doktorhut trägt.
Der parlamentarische Nationalitätenstreit ist eine Lüge,
künstlich verbreitet, den Haß zu schüren, der blind macht
gegen die Unfähigkeit des Parlamentes und der Regierung.
Der Kulturfortschritt, die Entwicklung der Eigenart und
der Kraft werden durch die nationalen Unterschiede eher
gefördert als gehemmt: was wirklich hemmt, ist der Unter -
schied der Fähigkeiten innerhalb einer Nation.
Eher können sich Chinesen und Tschechen miteinander ver -
ständigen, bevor die streitenden politischen Parteien einer
Nation sich verstehen, bevor ein Jurist den Künstler oder
eine Regierung die wahren Bedürfnisse des Volkes versteht.
Wenn je eine Regierung eine gute, beherzte Tat unternimmt,
so ist es die Tat eines einzelnen, der Talent hat; der einzelne
ist aber nie die Regierung.
Eine gute Regierung müßte dahin streben, sich überflüssig
zu machen; gewöhnlich aber kennt eine Regierung nichts
Wichtigeres als die Regierung. Sie arbeitet für sich.
Das Trennende und Hemmende ist also der Unterschied
der Fähigkeiten innerhalb einer Nation. Somit ist die Auf -
gabe, die Fähigkeiten zu entwickeln, die von Natur aus
immer da sind. Jede Art von Einschränkung, Zünftelei,
Arbeits- und Erwerbsverbote hemmt die Entfaltung, schafft
Vorrechte und Vorurteile, Spaltungen und Parteikriege,
Mauern des Stumpfsinns und Unverstandes. Mit dem Auf -
hören der Gemeinsamkeit sinkt das allgemeine Niveau; es
müßte alles darangesetzt werden, das Niveau zu heben;
mit dem Steigen im allgemeinen steigt jeder einzelne.
Wie dürfte heute einer so herrlich sein, mit Stolz zu sagen:
Ich habe gelernt und versucht; ich habe Karren gezogen, in
der Werkstätte gearbeitet, als Tischler, als Steinmetz, als
Hilfsarbeiter da und dort; ich habe gelernt, weil es mich
trieb, im Leben und aus Büchern; ich bin gewandert, habe
die Sprachen und Gewohnheiten, die Geschichte und die
Künste anderer Länder studiert; ich war Händler, Kaufmann,
Wirt, Student und Lehrer in verschiedenen Zweigen des
Wissens; ich habe mich mitgeteilt und Artikel und Bücher
geschrieben und habe, weil es mich trieb, mein Selbst reicher
auszudrücken, mehreres Können erworben, es kam mir zu -
geflogen, als ich es wollte, ich habe gemalt und gezeichnet,
Hausrat entworfen und Gärten gepflanzt und Häuser gebaut
und das Beste versucht, ich war der Erste und Letzte und
bin nützlich gewesen für die Menschheit, davon ich ein Teil bin.
Ich habe mich gedehnt und gereckt in der Vielfältigkeit des
Lebens und die Kräfte entwickelt. Ich habe nicht einen Beruf,
ich habe so viele Berufe, als ich Fähigkeiten in mir ent -
decke und entwickle und ich weiß nicht, wohin noch das
Leben, das äußere und das innere, mich ruft.
Wie dürfte heute einer so reden? Wie dürfte er seiner
Menschlichkeit folgen? Wie könnte sich Menschlichkeit frei
und stolz und fruchtbar entfalten? Unter der Herrschaft der
Systeme, des Schul- und Zeugniszwanges, des papierenen
Befähigungsnachweises, der Hierarchie, des Titelwesens und
der Kleiderordnungen, der Bureaukratie und der Gewerbe -
einteilungen, die dem Schneider das Verfertigen von Leder -
hosen verbieten, weil sonst die Handschuhmacher über „un -
befugten Wettbewerb" klagen, in Zeiten also, wo das Ideal
eines Staatsbürgers der Automat ist? wo der Bürgerverstand
am Schusterleisten festgenagelt ist? wo jeder in sein Fach
hineingeboren wird und darin erstickt, was sich tausendfach
in ihm regt und weitverzweigt Wurzeln strecken will?
Der Proletarier, der niedrige Taglöhner, Hilfsarbeiter, die
unentbehrliche animalische Kraft in der Dumptheit des
mannigfach gedrückten Daseins, hat keinen Anteil an den
geschichtlich überlieferten Verworrenheiten. Er hat auf kein
historisches Recht zu pochen, er kann von Rechtsverletzung,
vom Widerstreit nicht berührt werden. Er ist ungebildet
und roh; er hat die Roheit, aber nicht den Schliff der
oberen Klassen. Er verlangt eine andere Bildung als die
geschichtlich überlieferte, die voller Konventionen steckt. Er
verlangt die Bildung seiner Menschlichkeit und seiner Fähig -
keiten und die Zeit wird sie ihm geben. Er ist Rohstoff
und Naturkraft, neuer Boden, der, wenn er zu schwellen und
keimen beginnt, das Kartengehäuse der Autoritäten und
Vorrechte ins Wanken und Stürzen bringt. Er ist das Material
der Zukunft.
Ein fürstliches Kommen und Gehen zwischen Reihen roter
Röcke, weißer Hosen, hoher Stiefel und glitzernder Hellebarden;
Aristokraten, inhaltslos und feierlich, hohe Würdenträger
und gefürchtete Politiker, Volksvertreter und Demagogen,
höfisch gewandt und manierlich, Künstler, lächerlich in der
Beamtenuniform, Emporkömmlinge, steif und dumm, reiche
Juden mit hagerem Zug im verfetteten Gesicht, funkelnd
vor heimlicher Genugtuung, vornehme Damen, gewohnheits -
mäßig liebenswürdig; halbe Worte, halbe Versprechen, Kom -
plimente, Verneigen, verbindliches Lächeln, Beglücktheit,
tönende Phrasen von Volksinteressen und Patriotismus und
zuinnerst, fast erdrosselt, das verlöschende Bewußtsein: alles
Komödie!
Auch darin gleicht die heutige Staats- und Rangordnung
einer menschlichen Pyramide: den Augenaufschlag nach oben
und den Fußtritt nach unten.
Die heutigen Regierungen sind bloß Verwaltungen, volks -
tümlich nur in dem Grade, als der Hof volkstümlich ist.
Der persönliche Staat — l’état, c’est moi — war auf zwei
Augen gestellt, die immerhin mehr sahen als die vielhundert
Augen des heutigen unpersönlichen Staates.
Der unpersönliche Staat fördert soviel Kunst, als ein Juristen -
hirn fassen kann. Wenn man abwägt, wieviel ein Künstler -
herz und wie wenig ein Juristenhirn faßt, hat man einen
Begriff von der Ergiebigkeit der heutigen offiziellen Kunst -
förderung.
103
Kunstpflege, die lediglich vom Standpunkt der Kunstgeschichte
ausgeht, ist Kunstheuchelei, Kunstgeschichte ist die allere
geringste Voraussetzung, Kunst zu schaffen, zu empfinden
oder zu fördern.
Arbeit und Kunst sind von Natur aus eine Einheit. Die
moderne Zivilisation und der moderne Staat haben das Um
geheuerliche einer Trennung vermocht. Wir haben ein Staats -
amt für gewerbliche Arbeit und ein Staatsamt für Kunst.
Dadurch sind beide Teile zur Unfruchtbarkeit verurteilt; das
einzige Mittel, die Arbeit zu fördern, ist die Kunst; das
einzige Mittel, die Kunst zu fördern, ist die Arbeit. Aber
die Vereinigung beider Verwaltungs- und Interessengruppen
anzustreben, ist noch keinem Minister eingefallen.
Der heutige Staat ist die Insonderheit von Adel, Militär,
Bureaukratie, Finanz; das Volk sind die anderen.
Viribus unitis — mit vereinten Schwächen!
Das Gottesgnadentum der Könige und Künstler, leuch -
tender Spiegel vollkommener, machtvoller Menschlich -
keit, am leuchtendsten im Gegenüber von herrschender
Kulturlosigkeit und Unmenschlichkeit; es ist darum nicht
denkbar unter der Herrschaft allseitiger Kultur und Mensch -
lichkeit, weil alsdann jeder Anteil daran hat.
Was sich heute schlechthin Künstler nennt, ist in der Regel
nichts anderes als ein qualifizierter Arbeiter. Wenn der
Respekt vor der menschlichen Arbeit und Arbeitsfähigkeit
wieder allgemein sein wird, werden jene, die ein gutes Möbel,
eine anständige Zeichnung, einen trefflichen Schmuck, ein
zweckmäßiges Haus etc. entwerfen und hersteilen können,
nicht mehr die Notlüge gebrauchen und sich Künstler nennen
müssen. Dann werden sich nur mehr Seiltänzer, Akrobaten
und Klaviervirtuosen mit diesem Titel schmücken, falls sie
noch Wert darauf legen.
Daß es einen besonderen Stand von Künstlern gibt, ist ein
Zeichen der herrschenden Unkultur. In der gegenwärtigen
Zeit der Geringschätzung menschlicher Arbeit und Würde
ist diese Unterscheidung relativ notwendig und nützlich.
Aber das Ziel der Kultur ist nicht die Trennung, sondern
die Verschmelzung der Kunst mit allen Lebenssphären.
Der heutige unpersönliche Staat ist die unorganische Ver -
quickung geschichtlich überlieferter Kulturmängel: er ist
zusammengesetzt aus dem Zunftgeist des Mittelalters, der
zur Heuchelei und Wissenschaft gewordenen Kunstliebe der
Renaissance, dem verkappten Absolutismus der Barock, und
ist automatisch belebt von der Maschinenmäßigkeit der
Gegenwart.
Die wahre Erziehung ist Entfaltung der natürlichen Kräfte
und Befreiung von allen Lebenshemmungen, zu denen auch
die historische Autorität gehört.
Der Staat der Zukunft wird sich von den geschichtlichen
Voraussetzungen und Verknöcherungen, die Lebenshemmung
sind, befreit haben; er wird auf Menschlichkeit, auf den
lebendigen schöpferischen Kräften der Menschennatur, kurz
auf künstlerischer Basis gegründet sein.
(Fortsetzung folgt.)
EIN ARBEITER.KONSUM^
VEREINS-HAUS.
ie Arbeiterorganisation besitzt einen ausgezeichnet ge -
leiteten Konsumverein (Erster niederösterreichischer
Arbeiter-Konsumverein), dessen Haus die wachsenden
Bedürfnisse nicht mehr fassen konnte. Ein Anbau wurde er -
forderlich, teils die Räumlichkeiten zu vergrößern, teils die
inneren Funktionen, die Wareneinlagerung und -ausfolgung,
den Parteienverkehr, den Kontakt mit den Bureaus, die Ver -
waltungsmanipulationen, auch räumlich auf eine moderne
Grundlage zu stellen, ohne die eine rasche, sichere Be -
wältigung der steigenden Anforderungen nicht erdenklich
ist. Ein modernes Bedürfnis verlangte also einen modernen
Bauorganismus, der sich aus dem Leben entwickelte, aus
dem er hervorgerufen wurde.
Die Architekten HUBERT GESSNER und der Bruder FRANZ
GESSNER haben ein solches Gebäude geschaffen; sie sind
die Berufenen gewesen; der erstere hat durch den Bau des
Wiener Arbeiterheims und der Brünner Krankenkasse nicht
nur straffe baukünstlerische Zucht, sondern auch Vertrautheit
mit den Bedürfnissen der Organisation an den Tag gelegt.
So war es möglich geworden, daß mit gemessenen Mitteln
der Zweck auf sachlich und ästhetisch sehr befriedigende
Weise erreicht wurde; keine Putzmacherei, aber das Not -
wendige in schier vornehmer Gestaltung, eine Einrichtung,
die geradezu mustergültig ist. Kein Konsum- oder Waren -
haus wäre zu nennen, das sich an Trefflichkeit mit diesem
Arbeiter-Konsumverein vergleichen könnte. Andere Betriebe
mit Riesenkapitalien haben wohl mit weitaus größerem Auf -
wand gebaut und eingerichtet, aber schwerlich dieselbe Zweck -
mäßigkeit erreicht, auf die es den Baukünstlern und dem
Baukomitee, in dem Arbeiter fungierten, wesentlich an -
gekommen ist.
Bei dem neuen Konsumhaus will ich auf einige Haupt -
vorzüge der Räume aufmerksam machen, die selbst bei
flüchtigem Einblick offenbar werden. Die konstruktiven
Elemente sind zur ästhetischen Wirksamkeit gebracht, indem
im großen Parterregewölbe die Träger der Decke sichtbar
geblieben und die stützenden Pfeiler besonders dekorativ
betont sind. Lastendes und Tragendes wird sinnfällig, die
sichtbare oder fühlbare Konstruktion erweist die künstlerische
Möglichkeit eines Stils, der organische Sachlichkeit ist. Zu
diesem Eindruck trägt aber auch die Einrichtung des Parterre -
oder Verkaufsgewölbes bei, die Angemessenheit und Übersicht
der Laden und Fächer, spezialisiert für alle Warengattungen,
die Weiträumigkeit, das gute Material, die gute Arbeit, die
geschickte dekorative Verwertung der Stoffe, vor allem der
Füllungen aus verbleitem, schwarzem und weißem Glase. Im
Obergeschoß verdient der Parteienraum, an den, von ver -
schließbaren Schaltern getrennt, die gut eingerichteten Bureaus
grenzen, ein Hauptaugenmerk. An gewissen Tagen sollen
hier über 600 Parteien verkehren — den Arbeitern kommt
das Erträgnis des Betriebes als Dividende zu gute, die auch
als verzinsliche Spareinlage gutgeschrieben werden kann,
dadurch ein starker Personenverkehr zuweilen verursacht
wird — was früher in unzureichenden Lokalitäten zur Qual
für die Parteien und Beamten werden mußte, ist nun für
beide Teile leicht und angenehm geworden durch einen an -
gemessenen, zweckvoll behandelten Raum, durch eine hin -
reichende Schaltereinrichtung und sonstige Vorkehrungen,
in denen das praktische Erfordernis, die Intelligenz der Bau -
herren und der Baukünstler zu einem guten Vollbringen
zusammengewirkt haben.
104
Architekt Hubert und Franz
Gessner.
Bau des Ersten niederöster-
reichischen Arbciter-Konsum-
Vereines, Wien.
Parteienraum.
Links: Verkaufsraum
Rechts: Parteienraum mit
Bureauschalter.
Links: Wandschränke im
Verkaufsraum.
Rechts: Die Sitzkassa im
Verkaufsraum.
105
3 DICHTUNG [
SILIS.
VON FIONA MACLEOD.*
s waren zwei Männer, die liebten ein Weib. Der Name
des Weibes war Silis; die Namen der Männer waren
Sheumas und Isla. Als junges Mädchen war sie schön
gewesen, aber jetzt war sie berückend. Für manche war ihr
Reiz nur ein verwirrender Glanz, der sie umstrahlte. Sie
war dunkel und ihre Schönheit bestand aus Licht und
Schatten wie die Dämmerung; aber wie man im Zwielicht
nicht sehen kann, was fern darin ist, so sah niemand in die
Dämmerung dieser Frauenseele.
Eines Nachts waren die beiden Männer auf dem Wasser.
Es war eine Totenstille und die Netze waren ausgeworfen.
Keine Spur von Mond war da und nur ein oder zwei Sterne
droben in dem schwarzen Winkel am Himmel. Die See
hatte wandernde Flammen in ihrem Innern; und wenn die
großen Seequallen vorbeitrieben, waren sie wie die Flutlampen,
welche die Ertrunkenen auf ihren Totengesichtern tragen,
wie einige erzählen.
„Eines Tages könnte ich dir etwas Seltsames erzählen,
Sheumas," sagte Isla, das lange Schweigen brechend, das
geherrscht hatte, seit das letzte Netz eine Funkenwolke aus
den Strudeln emporsendete.
„Ja?“ sagte Sheumas, indem er seine Pfeife aus dem Munde
nahm und nach der Rauchsäule blickte, die sich dicht vor
dem Mast erhob. Nur die Flut tastete sich ihren Weg die
Meerlagune hinauf, kein Hauch von Wind war zu spüren.
Hier und dort zeigten sich dämmerige Schatten; die Boote
der Fischerleute von Inchghumais. Jedes führte ein rotes
Licht und auf einigen waren grüne Laternen in halber Höhe
an den Mast gelascht.
Lange Zeit wurde kein Wort weiter gesprochen.
„Und ich wundere mich,“ sagte Isla endlich; „ich wundere
mich, was du von jener Geschichte denken wirst.“
Sheumas gab darauf keine Antwort. Er rauchte und starrte
ins dunkle Wasser.
Nach einer Weile stand er auf und lehnte sich an den Mast.
Obwohl kein Licht da war, weder vom Mond noch von
einer Lampe, legte er seine Hand über die Augen, wie es
seine Gewohnheit war.
„Ich denke, die Makrele wird heute nacht diesen Weg
kommen. Dies ist das dritte Mal, daß ich den Pollack habe
schnarchen hören — weit dort drüben, hinter Peter Macallums
Boot.“
„Nun, Sheumas, ich will ein bißchen schlafen. Die ganze
vorige Nacht habe ich wach gelegen.“
Damit klopfte Isla die Asche aus seiner Pfeife, legte sich
hintenüber auf eine Rolle Tauwerk und schloß seine Augen,
aber er konnte keinen Schlaf finden über dem erschlaffenden,
dumpfen Leide des heimatlosen Mannes, der er war — ein
Heim, ein Heim und Silis sein Name.
Als er nach einer Stunde oder länger steif wurde, regte
er sich und öffnete die Augen. Sein Maat saß am Steuer
und hielt die Pfeife in seinem Mund, aber das Feuer in
seiner Pfeife war erloschen und seine Augen waren weit geöffnet.
„Ich würde mir jene Geschichte nicht erzählen, Isla,“ sagte er.
Isla antwortete nichts, sondern legte sich trotz seines er^
starrten Beines in die frühere Lage zurück. Er schloß wieder
seine Augen.
* Siehe Seite n6: „BÜCHER, DIE MAN LESEN SOLL“.
Bei Hochwasser, in der dunklen Stunde vor der falschen
Dämmerung, wie der erste Schimmer genannt wird, der
Schimmer, der kommt und wieder geht, standen beide
Männer auf und gingen herum, mit den Füßen stampfend.
Jeder steckte seine Pfeife an, und der Rauch hing lange in
kleinen Wölkchen, so totenstill war es.
Auf der „Brudhearg", dem Boot John Macalpines, sang der
junge Neil Macalpine. Die beiden Männer auf der „Eala“
konnten seinen Gesang hören. Es war eines der seltsamen
gälischen Lieder von Jan Mor:
Oh, ob auch schön ihr Angesicht, ihr Herz ist tief und kühl,
So tief und kühl, wie wenn darauf der Locken Schatten fiel'
Ein Geist, der nicht ein weißer Geist, wohnt in der Locken
Schwall,
In jenes Geistes Himmelskuß liegt einer Hölle Qual.
Sie hält zwei Männer in der Hand, in ihrer weichen Hand,
Nimmt ihre Seelen, bläst sie fort, wie unstät treibt der
Sand:
Der fällt zurück an ihre Brust, und Heimatruh gewinnt,
Und jener geht in finstre Nacht, wie Schaum verweht vom
Wind.
Sheumas lehnte an der Ruderpinne der „Eala“ und blickte
Isla an. Er sah einen Schatten auf seinem Gesicht. Mit
seinem rechten Fuß tippte der Mann gegen eine lose Spiere,
die am Steuerbord auf dem Deck lag.
Als der Sänger verstummte, starrte Isla unverwandt über
das Wasser dorthin, wo die „Brudhearg“ lag.
Worte schwebten ihm auf den Lippen, aber sie erstarrten,
als Neil Macalpini das Liebeslied „Mo nighean donn“
(„Mein braunes Mädchen“) anstimmte.
„Kannst du mir sagen, Isla,“ sagte Sheumas, „wer der
Mann war, der jenes Lied vom heimatlosen Mann dichtete?“
„Jan Mor.“
„Jan Mor von den Hügeln?“
Ja.“
„Sie sagen, der Schatten lag auf ihm?“
„Nun, was soll das?“
„Kam das von Liebe?“
„Es kam von Liebe.“
„Liebte ihn das Weib?“
Ja.“
„Ging sie zu ihm?“
„Nein.“
„War es das, warum er den düsteren Sinn hatte?“
Ja.“
„Aber er liebte sie und sie liebte ihn?“
„Er liebte sie und sie liebte ihn.“
Eine Zeitlang schwieg Sheumas. Dann sprach er wieder.
„Sie war das Weib eines andern?“
„Ja, sie war das Weib eines andern.“
„Liebte er sie?“
„Ja, gewiß.“
„Liebte sie ihn?“
„Ja . . . ja.“
„Wen liebte sie dann? Denn ein Weib kann nur einen Mann
lieben.“
„Sie liebte beide.“
„Das ist nicht möglich: nicht mit der einen tiefen Liebe. Es
ist eine Lüge, Isla Macleod.“
„Ja, es ist eine Lüge, Sheumas Maclean.“
„Welchen Mann liebt sie?“
Isla schüttelte langsam die Asche aus seiner Pfeife und sah
ein oder zwei Sekunden nach einem momentanen Zucken
am nordöstlichen Himmel.
106
„Die Dämmerung wird jetzt bald hier sein, Sheumas.“
„Ja, ich fragte dich, Isla, welchen Mann sie liebte?"
„Gewiß liebte sie den Mann, der ihr den Ring gab.“
„Welchen Mann liebte sie?“
„O gewiß, Mann, du fragst mich gerade so wie der Rechts^
gelehrte, der in Balliemore dort weit auf dem Festland Gericht
hält.
„Nun, das will ich dir selber sagen, Isla Macleod, wenn du
mir den Namen des Weibes sagst.“
„Ich weiß ihren Namen nicht.“
„Hieß sie Mary . . . ödes Jessie . . . oder hieß sie vielleicht
Silis, wie?“
„Ich weiß ihren Namen nicht.“
„Nun, nun, dann könnte er Silis lauten?“
„Ja, gewiß könnte er Silis lauten. So gut Silis wie irgend ein
andrer.“
„Und welches würde der Name des andern Mannes sein?“
„Welches Mannes?“
„Des Mannes, dessen Ring sie trägt.“
„Ich erinnere mich jenes Namens nicht.“
„Nun, wie würde er Padruic lauten, oder etwa Ivor, oder . . .
oder . . . vielleicht Sheumas, wie?“
„Ja, der könnte es sein.“
„Sheumas?“
„Ja, so gut der wie irgend ein andrer.“
„Und wie war das Ende?“
„Das Ende wovon?“
„Das Ende jener Liebe?“
Isla Macleod stieß ein leises Lachen aus. Dann bückte er
sich, um die Pfeife aufzuheben, die ihm entfallen war. Plötzlich
richtete er sich auf, ohne sie zu berühren. Er setzte seine
Ferse auf den warmen Ton und zermalmte sie.
„Das ist das Ende dieser Art Liebe,“ sagte er. Er lachte
wieder leise, als er das sagte.
Sheumas bückte sich nieder und las die zertretenen Bruclv
stücke auf.
„Sie sind noch warm, Macleod.“
„Sind sie?“ Dabei schrie Isla, und ein rotes Leuchten kam
in das Blau seiner Augen. „Dann werden sie dorthin gehen,
wohin der Mann im Liede ging, der Mann, der sein Heim
für immer und ewig suchte und ihm niemals ein wenig näher
kam, als bis in den Lampenschein vor dem Fenster.“
Damit warf er die Stücke in das dunkle Wasser, das sich
bereits aschgrau färbte.
„'s ist eine sichere Heilung das, Sheumas Maclean.“
„Ja, so sagen sie ... und so, so ... ja, wie du eben sagtest,
Jan Mor ging in den Schatten wegen jenes Heimes, das er
nicht gewinnen konnte?“
„So sagen sie. Und jetzt wollen wir die Netze aufnehmen,
’s ist ein schweres Netz, das schwarz herauskommt, wie das
Sprichwort heißt. Gewiß sind sie schwer nach dieser stillen
Nacht und bei südlichem Wind und wo der Pollack hin und
her streift.“
„Nun, das ist aber sonderbar.“
„Was ist sonderbar, Sheumas Maclean?“
„Daß du gerade das sagen mußtest.“
„Und warum das?
„Oh, nur dies. — Silis hat neulich in der Nacht einen
Traum gehabt, das hat sie. Sie träumte, sie sah dich allein
auf der ,Eala‘ stehen; und du holtest hart an einem schweren
Netz, so daß der Schweiß an deinem Gesichte herabrann.
Und dein Gesicht war totenweiß, sagte sie. Und du holtest
und holtest. Und irgend einer neben dir, den sie nicht sehen
konnte, lachte und lachte; und ..."
Mit einem unterdrückten Fluch fiel Isla dem Sprechen insWort:
Wie, Mann des Lebens, du sagtest, er, der Mann, das heißt
ich selbst, war allein auf der ,Eala‘?“
„Nun, Silis sah niemand als dich, Isla Macleod.“
„Aber sie hörte irgend einen neben ihr lachen und lachen.“
„So sagte sie. Und du warst totenweiß, sagte sie; und der
Schweiß lief in Strömen an dir hinab. Und du zerrtest und
zerrtest. Dann blicktest du zu ihr auf und sagtest: ,ES IST
EIN SCHWERES NETZ, DAS SCHWARZ HERAUF'
KOMMT, WIE DAS SPRICHWORT SAGT'.“
Isla Macleod gab darauf keine Antwort, sondern begann
langsam an den Netzen zu holen. Ziemlich fern im Nord'
osten glitt ein rasches Streiflicht hin und her. Die See er'
graute. Ein frischer, scharfer Salzgeruch stieg von den Wogen
auf. Die Segel der Kutter, eins nach dem andern, hörten
auf, ein Fleck in der Finsternis zu sein; jedes erhob eine
braune, schattenhafte Schwinge gegen eine Dämmerung, durch
die beständig eine Flut von unzähligen Lichtfunken strömte.
Bald von diesem Boot, bald von jenem schollen heisere
Rufe herüber.
Die „Mairi Ban“ schwang langsam vor dem leichten Morgen'
wind herum und hob mit leisem, klopfendem Spritzen ihren
Bug heimwärts. Die „Maggie“, „Trilleachan“, die „Eilid“, die
„Jessie“ und die „Mairi Donn“ folgten eine nach der anderen.
Schweigend holten die beiden Männer auf der„Eala“ ihre Netze
ein. Die Heringe bildeten eine Schicht sich regenden Silbers,
als sie im Raum lagen. Als die Dämmerung sich erhellte,
funkelte die zitternde Silbermasse. Das Verdeck war mit
glitzernden Schuppen gepanzert; diese glänzten auch auf
Schenkeln, Armen und Händen der beiden Fischersleute.
„Nun, das wäre getan!“ rief endlich Sheumas aus. „Auf
mit dem Ruder, Isla, wir wollen machen, daß wir nach
Hause kommen.“
Als erst das Segel seinen Bausch voll Wind hatte, machte
die „Eala“ flotte Fahrt. Sie lief der „Tern“, dann der „Jessie
Macalpine“ vorbei, holte die plumpe, schleppende „Maggie“ ein
und ging, rieselnd und rauschend, im Kielwasser der „Eilid“,
des leichtesten der Boote von Inchghunnais.
Weit vor der Küste kam der Dampfer „Osprey“ den Kuttern
entgegen und nahm ihnen die Heringe ab, eine Bütte nach
der andern. Lange bevor seine Schraube im schwarzgrünen
Wasser unter Land schäumenden Gischt aufwirbelte, war
die „Eala“ in dem kleinen Hafen und lief auf das Geröll am
Haken von Craigard.
Schweigend schritten Sheumas und Isla auf dem Felsenpfad
nach der abgelegenen Hütte, in der die Macleans lebten. Vor
ihrer niedrigen, weißgetünchten Wand flatterten die Schwalben
hin und her wie fliegende Schiffchen vor einem stummen
Webestuhl. Das blasse Gold einer regentrüben Morgenröte
ließ die Weiße noch weißer erscheinen. Plötzlich blieb Isla
stehen.
„Willst du mir jetzt sagen, Sheumas, welcher Mann es war,
den sie liebte?“
Maclean sah den Sprecher nicht an, obwohl auch er stehen
blieb. Er starrte nach der weißen Hütte und nach dem
kleinen viereckigen Fenster mit dem Geraniumtopf auf der
Oberschwelle.
Aber während er zögerte, wandte Isla Macleod sich ab und
schritt rasch durch das nasse Farnkraut und die Sumpfmyrte,
bis er hinter dem CnoC'na'Hurich verschwand, auf dessen
verborgenem Abhang seine eigene Hütte stand, inmitten
einer Wildnis von Stechginster.
Sheumas sah ihm nach, bis er seinen Blicken entschwand.
Dann erst beantwortete er die Frage.
„Ich denke,“ murmelte er langsam, „ich denke, sie liebte
Jan Mor.“
107
„Ja,“ murmelte er später noch einmal, als er seine von See^
wasser triefenden Kleider ablegte und sich auf das Bett in
der Küche hinstreckte, von wo er in das kleine Zimmer
sehen konnte, in dem Silis in tiefem Schlafe lag. „Ja, ich
denke, sie liebte Jan Mor.“
Trotz seiner Müdigkeit schlief er nicht.
Als das Sonnenlicht über den Fußboden aus rotem Sandstein
hineinströmte und nach seines Weibes Bett hinkroch, stand
er behutsam auf und sah nach ihr. Er brauchte sich nicht
zu bücken, als er das Zimmer betrat, wie Isla Macleod es
hatte tun müssen.
Lange Zeit betrachtete er Silis. Ihr schattiges Haar umrahmte
ihr Gesicht. Niemals war sie ihm schöner erschienen. Mit
Recht wurde sie in dem Gedicht, das irgend wer auf sie ge^
macht hatte, „Silis das Reh“ genannt.
Dem Gedicht, das irgend wer auf sie gemacht hatte? ... Ja,
gewiß, wie hatte er nur vergessen können, wer es war. War
es nicht Isla, der auch ein Dichter war, ein zweiter Jan Mor,
sagten sie.
„Ein zweiter Jan Mor.“ Während er die Worte nochmals
vor sich hinflüsterte, beugte er sich über sein Weib. Ihr
weißer Busen hob und senkte sich, wie ein weißer Mond'
strahl auf bewegtem Wasser.
Dann kniete er nieder. Als er die schmale, weiße Hand in
die seine nahm, erwachte sie nicht. Ihre Hand schloß sich
liebend um seine eigene.
Ein Lächeln kam und ging langsam auf dem träumenden
Antlitz — ach, ein liebliches, weißes, träumendes Antlitz,
dessen sternengleiche Augen verhüllt waren. Sie errötete
sanft und ihre Lippen öffneten sich leise. Der halbverdeckte
Busen hob und senkte sich, als begleite er eine Tiefseedünung
vom klopfenden Herzen her. „Silis,“ flüsterte er, „Silis . . .
Silis . . .“
Sie lächelte. Er neigte sich dicht über ihre Lippen.
„Ach, du mein Herz,“ flüsterte sie. „O Isla, Isla, mo run
(mein Liebling) moghray, Isla, Isla, Isla!“
Sheumas fuhr zurück. Auch er glich dem Manne in ihrem
Traum, denn er war jetzt totenbleich und der Schweiß stand
in großen Tropfen auf seinem Gesicht.
Er machte kein Geräusch, als er zum Herdwinkel zurück'
kehrte, seine nassen Kleider nahm, die er vor das erloschene
Torffeuer gehängt hatte, und dieselben wieder anzog.
Es war eine lange Wanderung, jene paar hundert Ellen
weit zu Isla Macleods Hütte; eine lange, lange Wanderung.
Als Sheumas auf dem nassen Gras vor den Fliesensteinen
stand, sah er, daß die Tür halb offen war. Isla hatte sich
nicht niedergelegt. Er hatte seine Laute aus Eschenholz ge'
nommen und spielte und sang abwechselnd leise vor sich hin.
Maclean trat dicht an die Wand heran und lauschte. Zuerst
konnte er nicht mehr, als abgerissene Sätze verschiedener
Lieder hören. Dann plötzlich legte der Mann drinnen sein
Farch'chivil (kleiner Hammer zum Lauteschlagen) nieder
und stand auf.
Für einige Augenblicke herrschte Totenstille. Dann drang
ein tiefer Seufzer aus dem Innern der Hütte.
Sheumas Maclean tat einen Schritt vorwärts und sein Schatten
fiel durch die Türöffnung.
Sein Gesicht war weiß und abgespannt. Es ist eine er'
müdende Arbeit bei den Heringen; aber es war nicht die
Seemüdigkeit.
Isla kam heraus und sah ihn. Der Sänger lächelte, aber das
Lächeln hatte kein Licht in sich. Es war düster wie eine
düstere Woge.
„Nun?“ sagte er.
„Ich bin gekommen!“
ioS
„Und willkommen. Und was wünschest du, Sheumas Maclean?“
„Sicher ist’s zu spät zum Schlafen und ich denke, ich würde
jetzt gern jene Geschichte hören, die du mir erzählen wolltest.“
Der Mann gab darauf keine Antwort. Jeder sah den andern
an mit klaren Augen, ohne zu blinzeln.
„Es wird kein ehrlicher Handel sein,“ sagte endlich Isla
langsam. „Es wird kein ehrlicher Handel sein, denn ich bin
größer und stärker.“
„Es gibt einen andern Weg, Isla Macleod.“
”J a? “
„Daß du oder ich zu ihr gehen und ihr alles erzählen und
dann zuletzt sagen: ,Komm mit mir oder bleib bei ihm.'
„So sei es.“
So losten sie denn an Ort und Stelle um den Vortritt. Das
Glück entschied für Sheumas Maclean.
Ohne ein Wort wendete Isla sich um und ging in das Haus.
Da nahm er seine Feadan und spielte leise vor sich hin, ins
rote Herz des qualmenden Torffeuers starrend. Er lächelte
weder noch runzelte er die Stirn. Nur einmal lächelte er
und das war, als Sheumas zurückkam und sagte: „Komm.“
So schritten die beiden schweigend durch das tauige Gras.
Am Schilfgestade von Craigard tönte lauter Ruf von braunen
Möwen und Meerschwalben und der heisere, lachende Schrei
der großen Heringmöwe. Die Flut sprudelte und sickerte
durch die Wildnis des Seetangs. Weiter ab vernahm man das
Gackern von Hennen, das Brüllen ruheloser Kühe und das
Blöken der Schafe auf den Abhängen des Melmonach. Eine
scharfe Salzluft prickelte in den Nüstern der beiden Männer.
An der verschlossenen Türe machte Sheumas ein Zeichen
des Schweigens. Dann drückte er die Klinke auf und trat ein.
„Silis,“ sagte er mit leiser, aber heller Stimme.
„Silis, ich hinwieder zurückgekommen. Trockne deine Tränen,
mein Mädchen, und sag’s mir noch einmal — denn ich sterbe,
noch einmal die selige Wahrheit zu hören — sag’s mir noch
einmal, ob ich’s bin, den du am innigsten liebst, oder Isla
Macleod?“
„Ich habe es dir gesagt, Sheumas.“
Draußen hörte Isla ihre Worte und trat näher heran.
„Und es ist die Wahrheit, daß du mich am innigsten liebst
und daß, seit die Wahl zwischen ihm und mir gekommen
ist, du mich wählst?“
„Es ist die Wahrheit.“
Ein Schatten fiel durch das Zimmer, Isla Macleod stand in
der Türe.
Silis wendete sich und sah den Mann. Er lächelte. Sie war
nicht feige seine Silis, dachte er — wenn er sie auch sein
Reh nannte.
„Ist — es — die — Wahr — heit, — Silis?“ fragte er langsam.
Sie schaute Sheumas, dann Isla, dann wieder ihren Gatten an.
Dann, mit einer raschen Drehung ihrer Augen, sprach sie:
„Ja, es ist die Wahrheit, Isla. Ich bleibe bei Sheumas.“
Das war alles.
Sie wußte, welche Woge der Erleichterung in Sheumas
Gesicht stieg. Sie sah eine düstere Flut in den Augen Isias
schwellen. Er starrte sie an. Vielleicht hörte er nicht? Viel'
leicht träumte er noch? Er war ein Träumer, ein Dichter;
vielleicht konnte er es nicht verstehen.
„A ghraidh mo chridhe — teures Lieb meines Herzens,“
flüsterte er heiser.
Ein Ausdruck des Staunens lag in ihren anscheinend frei'
mütigen, aber immer geheimnisvollen Augen — den tiefen
Augen der Wahrheit, wie Sheumas immer geglaubt hatte,
und Isla auch, obwohl er sie kannte, wie ihr Gatte Sheumas
sie niemals kennen konnte. Er wußte jetzt, daß eine Frau
gleichmäßig aus Schönheit, Liebe und Lügen bestehen kann.
Isla stand eine Weile, als ob er nicht gehört hätte. Ein
großer, starker Mann war er; aber er zitterte jetzt selbst wie
ein Reh, dachte sie. Seine blauen Augen waren plötzlich
wolkig und trübe geworden.
Er richtete sich auf. Sie sah einen neuen Ausdruck auf
seinem Gesicht, die erwachende Verachtung und sie wußte,
sie würde denselben nie vergessen können. Sie schauderte.
Isla wendete sich ab. Er stolperte im blendend weißen Licht
draußen vor der Tür. Für sein Ohr tobte das leise, gleitende
Geräusch der Flut durch die Türöffnung. Sheumas sah Silis
nicht an. Sie lauschten, bis sie auf dem Geröll, das nach
dem Hafen führte, den Schall von Isias Schritten nicht
mehr hörten.
N amenerklärung:
Silis = Cäcilie
Sheumas = James = Jakob.
Brudhearg = Rotkehlchen
Eala - wilder Schwan
Mo nighean doon = mein braunes Mädchen
mo run = mein Herz.
ALTVWIENER FRIEDHOF ZU STVMARX.
Nach Aufnahmen von Frau Prof. DITTA MOSER.
D ie liebliche Trauer dieses Alt-Wiener Friedhofes (es gibt deren noch
mehrere) ist ergreifend. Die Kunst hat hier eine Schönheit hervor^
gebracht, die auf den heutigen Friedhöfen ungeachtet größeren Auf'
wandes nicht zu finden ist. Drei Epochen, Barock, Empire und die
Biedermeierzeit haben diese Grabmalplastik und Architektur geschaffen,
die den künstlerischen Durchschnitt der damaligen Zeiten darstellen und
hoch über dem stehen, was die heutige durchschnittliche Grabmalkunst
hervorbringt. Wir verweisen auf Heft 21 und 22 des I. Jahrganges der
»Hohen Warte“, wo die Sache ausführlich behandelt wurde und wieder-
holen die damals aufgeworfenen Fragen, die sich beim Betrachten
dieser Dinge immer wieder einstellen.
Was soll nach Auflassung der alten Friedhöfe mit den alten edlen
Grabsteinen und Kreuzen geschehen?
Wenn sie nicht an Ort und Stelle bleiben können, ist es nicht besser,
sie als schöner Schmuck an Außenseiten von Kirchen aufzustellen, in
Gärten, Parkanlagen etc., als sie in Speichern, Museen etc.’ aufzubewahren,
oder dem Steinmetzen zu verschachern?
109
III
VOM GUTEN UND SCHLECHTEN MÖBEL.
ie Elemente der Möbelformen, von denen folgendes
handelt, sollten eigentlich Gemeingut sein. Es ist
erstaunlich, wie wenig die Leute im allgemeinen
von den Dingen verstehen, die so notwendig zu ihrem
alltäglichen Leben gehören, wie die Wohnungseinriclv
tung. Daß sie möglichst effektvoll aussehe, ist alles, was
man von der schönen Wohnung verlangt. Die Fachleute
richten sich nach des Bestellers Wünschen und so verdirbt
einer den andern. In Schauladen, Ausstellungen und Wolnv
räumen bietet sich annähernd das gleiche Bild: ein größerer
oder geringerer Aufwand von gutem Material oder aber auch
echt scheinenden Surrogaten, glänzend und auf den äußeren
Schein berechnet, höchste Modernität und reichliche Putz^
macherei; alles ist sehr wirkungsvoll und doch im Grunde
genommen hündisch. Seit einigen Jahren, da sich die Künstler
der Sache angenommen, ist die Verwirrung heillos. Ihre
persönliche Eigenart wurde alsbald zur Mode, nachgeahmt
und schrecklich verzerrt, und dabei wurde das Wichtigste,
das sie auszeichnet, ihre Grundsätze einer organischen
Konstruktion, das einzige, das Gemeingut werden sollte,
übersehen.
Die van de Veldesche Linie kann man bei allen unpassem
den Gelegenheiten wiederfinden; dem Besteller gefällt es
und der Hersteller macht es, aber kein Mensch weiß, wozu
und warum?
Und doch ist das Wichtigste, zu wissen, wozu und warum
etwas so oder so gemacht wird, wenn ein anständiges Produkt
zu stände kommen soll. Die Tischler müßten arbeiten und
Maßnehmen wie der Schneider, und die Besteller müßten
nachdenken und mithelfen, das Rechte herauszufinden, auf
das Notwendige bedacht und auf seine vollkommenste Er^
füllung wie bei der Beschaffung ihrer Kleider; aber wieviele
sind, die wirklich so tun?
Was also soll geschehen, um das Rechte zu bekommen?
Angenommen, es handelt sich um die Herstellung eines
SCHREIBTISCHES. „Wollen Sie einen Schreibtisch mit
oder ohne Aufsatz, einen geraden oder einen halbkreis^
förmigen?" würde der Händler fragen. „Nußholz oder
Eichenholz, gebeizt oder poliert, lackiertes Weichholz oder
Mahagoni?" Ich erwidere, daß ein guter Schreibtisch
zunächst gar nicht davon abhängt, ob er gerade oder halb'
kreisförmig gebaut, gebeizt oder poliert ist. Viel wichtiger
zu wissen ist, welche Ansprüche die Art der Arbeit, die
am Schreibtisch verrichtet wird, an die Benützbarkeit
stellt. Der Schreibtisch einer Dame, die gelegentlich ein
Billett, der Schreibtisch eines Kaufmannes, der Rechnungen
schreibt, und der Schreibtisch eines Schriftstellers sind von
Natur aus wesentlich verschieden. Was also zunächst ent'
scheidet, ist die persönliche Beziehung des Schreibenden
zum Schreibtisch, nicht allein in bezug auf alles, was der
Schreibtisch aufzunehmen hat an Schriftstücken, Papieren,
Büchern und anderen Gegenständen, sondern auch in bezug
auf das menschliche Körpermaß, die für die Größenver'
hältnisse des Schreibtisches maßgebend sind. Der Schreibtisch
muß buchstäblich angemessen sein. Ich werde also dem
Handwerker, der den Schreibtisch auszuführen hat, eine
Zeichnung anfertigen, in der alles aufs Kleinste vorgesehen
ist. Jene, die sich nicht helfen können, müssen einen Archi'
tekten bitten, daß er Hebammendienste leiste, damit keine
Mißgeburt zutage käme. Bei der heutigen Lage der all'
gemeinen Kultur ist der Künstler, ich meine hier den Archi'
tekten, ganz unentbehrlich. Vielleicht wird er mit dem Fort'
schreiten der künstlerischen Bildung überflüssig, die jeden
befähigen sollte, das häusliche Um und Auf richtig zu ge'
stalten, ein Ziel aufs innigste zu wünschen. Beim Schreibtisch
also werde ich das Größenmaß in der Breite nach meinen
seitlich wagrecht ausgestreckten Armen, von Fingerspitze
zu Fingerspitze gemessen, in die Tiefe nach meinem wag'
recht vorgestreckten Arm, von der Fingerspitze bis in die
Achselhöhle gemessen, nehmen, weil alles auf dem Schreib'
tisch im Handbereich liegen muß.
Ist er größer, so wirkt er unförmlich, ist er kleiner, so ist
er unzulänglich. Die Höhe der Tischplatte wird nach dem
sitzenden und schreibenden Menschen genommen. Sodann
erfolgt die Bestimmung und Einteilung der erforderlichen
Laden und Fächer und deren Anordnung, alles nach Maß'
gäbe des persönlichen Bedürfnisses. Für den Aufsatz wird
entscheidend sein, ob und wieviel Papiersorten er aufzunehmen
hat, ob er eine Reihe Handbücher zu tragen hat und ob
der Besitzer gerne einige Blumen im Glase oder in einer
Vase auf demselben stehen hat. Ein seitlich herauszu'
schiebendes und unter der Tischplatte eingelassenes Brett
wird als Aufwärter unter Umständen gute Dienste leisten.
Die wichtigsten Konstruktionselemente sind nunmehr vor'
handen.
Es bedarf nur mehr eines guten Materials, guter, solider
Arbeit, und es ist kein weiterer Schmuck oder irgend
eine andere Kunst nötig, um ein brauchbares und schönes
Möbel zu erhalten. Die Schränke und Schreibtische sollen
entweder bis auf den Boden reichen und ohne Zwischen'
räume fest aufstehen oder sie sollen „fußfrei" sein, d. h.
auf Beinen stehen, die nicht unter 20 bis 25 Zentimeter
hoch sind. Es ist das Merkmal eines schlechten Möbels, wenn
es auf ganz kurzen Beinen steht, so daß kein Besen unten
durch kann, den Staub hervorzukehren. Die unkontrollier'
baren Schmutzwinkel sind zu vermeiden. Entweder die Beine
so hoch, daß man bis zur Wand sehen kann, was obendrein
ein Zimmer geräumiger erscheinen läßt, oder gar keine Beine,
weil sich unter einem massiv aufstehenden Möbel keine Staub'
Schicht bilden kann.
Zum Tisch gehört der Stuhl, also auch zum Schreib'
tisch. Sie bilden zusammen eine Einheit. Schreibtisch'
sessel werden mit Rücklehnen versehen, die nicht höher
reichen als zur Schreibtischplatte, also unter den Schulter'
blättern abschließen. Beim Speisetisch mag das ganz recht
sein, weil hohe Lehnen beim Servieren hinderlich sind, aber
beim Schreibtischsessel treten persönliche Ansprüche wieder
mehr in den Vordergrund. Wer es liebt, sich von Zeit zu
Zeit bequem zurückzulegen und dem Kopf eine Stütze zu
geben, wird sich ein Fauteuil bauen lassen müssen, wie sie
unsere Vorfahren kannten. Aber man achte darauf, daß die
Rücklehnen gerade verlaufen, damit der hohe Stuhl an die
Wand gerückt werden kann, ohne sie zu beschädigen oder
von ihr beschädigt zu werden. Die Polsterung mag der Rücken'
linie folgen.
Von aller Art Stühlen gilt das Gleiche. Wo die Rück'
lehne geschweift ist, greifen die Hinterbeine noch weiter
heraus, um an die Sesselleisten zu stoßen, um die Lehne
von der Wand abzuhalten. Wenn man von der Lehne rück'
wärts die Lotrechte fällt, so sollen die Hinterbeine mit dem
Fußende etwas über die Lotrechte herausgreifen.
Beim Speisetisch ist darauf zu sehen, daß man mit der Zarge
und den Tischbeinen nicht in Kollision kommt. Man rückt
die Tischbeine aus diesem Grunde gerne in der Mitte der
Tischplatte zusammen und erhöht die Standfestigkeit durch
eine angemessene Fußplatte, die alsdann mit Metall verkleidet
werden muß, damit man unbesorgt die eigenen Beine darauf'
stellen kann.
112
HERREN KLEIDE RS CH RANK,
AMERIKANISCH.
OFFENER SCHRANK. GESCHLOSSENER SCHRANK.
Amerikanischer Herrenkleiderschrank (Auto Valet) mit automatischem
Kleiderträger, eigenen Fächern für Schuhe, Hüte, Manschettenbehälter (an
der inneren Türseite), Laden für Unterwäsche, Westen, Hemden, Kragen,
Handschuhe, Knöpfe, Toilettegegenstände, Zylinderbox, Spiegel, etc. etc.
Automatischer Kleider^
träger im obigen Herren-
schrank.
Vernickelte Stahl-
rahmen, die sich in
Angeln bewegen. Beim
Öffnen des Schrankes
gleitet der Kleiderträ-
ger selbsttätig heraus.
Was die innere Einteilung der KLEIDER- und WÄSCHE -
SCHRÄNKE betrifft, so kann jeder Kammerdiener ein über -
einstimmendes Zeugnis abgeben. Es ist sehr zu verwundern,
daß man fast nirgends ein Tischlererzeugnis dieser Art antrifft,
darin eine zweckmäßige Einteilung vorgesehen wäre. Ein
Raum, die eine Hälfte zum Hängen mit Kleiderhaken, die
andere zum Legen mit Querbrettern, das ist die allgemeine
primitive Einrichtung unserer Schränke. Sie ist natürlich
ganz ungenügend. Ein zweckmäßiger Herrenkleiderschrank
muß ein Fach zum Hängen der Röcke und ein noch höheres
Fach zum Hängen der ganz langen Kleidungsstücke vorsehen,
ferner Laden zum Legen der Westen und Hosen, unterhalb,
einige Fächer für die Hüte oberhalb des Rockfaches, für den
Wäscheschrank müssen eigene Fächer für die Kragen, für
die Manschetten, für Krawatten, für die Hemden und für die
sonstige Leibwäsche, alles in praktischer, übersichtlicher und
handgerechter Anordnung besitzen. Vergleiche auch den
amerikanischen Kleiderschrank, der mustergültig ist.
Bei Serviceschränken und den sogenannten Buffets ist gleich -
falls zu fragen, was das Leben nötig hat, um den Raum
rationell auszunützen und Übersicht, Handlichkeit und
Ordnung in den Besitzstand zu bringen. Welche Art von
Servicen und für welche Personenanzahl sie unterzubringen
sind, muß genau vorherbestimmt sein, um eine Anordnung
zu treffen, die es ermöglicht, alles gesondert in Fächern zu
halten, die leicht den Händen erreichbar sind, die vollständige
Speise-, Tee-, Kaffeeservice etc., die Tischbestecke, die Tisch -
wäsche, die Tischvasen und die sonstigen Tafelgegenstände
aus Glas, Porzellan und Silber, wobei aber nicht zu vergessen
ist, daß ein möglichst großer Plattenraum zum Anrichten
vorgesehen werden muß.
Soweit das kleine Einmaleins der Möbelformen.
113
HAUS UND GARTEN.
VON GERTRUD JEKYLL, LONDON.
(Fortsetzung.)
ZWEITES KAPITEL.
EIN STREIFZUG DURCH DEN WALD IM
APRIL.
s ist ein windiger Tag Anfang April und ich nehme
meinen Feldsessel und wandere in den Wald hinaus,
wo man immer so schön geschützt ist. Hinter dem
Föhrengehölz dehnt sich eine Strecke wilden, waldähnlichen
Landes aus. Es ist zum größten Teil mit Eichen bedeckt
und nur hie und da ragt eine schottische Föhre in die Höhe,
die sich von der Schar ihrer Genossen entfernt zu haben
scheint und die in der Einsamkeit zwischen noch unbelaubten
Bäumen von ganz anderer Art um so hübscher wirkt. Die
Jahreszeit ist etwas zurückgeblieben; es scheint noch immer
Mitte März zu sein, und die die Erde bedeckende Schicht
von abgefallenen Blättern sieht so verblaßt aus, wie es nur
im März oder in den ersten Wochen eines kalten Aprils der
Fall ist. Es ist schwer zu glauben, daß der Waldboden nach
Ablauf eines Monats mit einem Teppich bedeckt sein wird,
dessen Grund von dem Grün zarter Gräser und farnähnlichen
wilden Petersilien und dessen Muster von Primeln und wilden
Hyazinthen gebildet wird. Die Laubdecke wird vorläufig nur
durch einige hübsche Büschel wilder Zehrwurzel, die jetzt am
schönsten ist, und die weitgespreizten Blätter des Hunds -
bingelkrauts unterbrochen. Diese Pflanze ist nicht sehr schön,
ausgenommen in manchen Fällen, wo sie Flecken greller
grüner Farbe bildet, sie ist aber als Vorbotin lieblicher
Frühjahrsblüten willkommen. Es ist ein giftiges Kraut und
man muß sich hüten, es in den Garten zu bekommen, so
heimtückisch und unausrottbar ist seine überall eindringende
Wurzel.
Dort, wo das Untergehölz nicht in dem üblichen Zwischen^
raum von wenigen Jahren abgehaut wird, findet man hie
und da sogar einen alten Haselnußbaum mit einem sechs
Zoll dicken Stamm oder mit fünf, sechs zusammengewachsenen
Stämmen. Nur wenn man ihn so antrifft, sieht man erst,
daß er einer der anmutigsten kleinen Bäume ist. Die Stämme
haben die Eigenschaft, sich gleich bei ihrer Basis auszu -
spreizen und sich zu wölben, so daß sie fast ein regelrechtes
Segment eines Kreises bilden. Die Rinde wird nach drei -
jährigem Wachstum rauh, vorher ist sie aber bis auf eine
dünne, papierähnliche braune Schicht den Überrest einer
früheren Haut, weich und gleichsam poliert, während ihre
Farbe zwischen Graugrün und einem ruhigen Braun mit
silberigen Streifen und Punkten schwankt. Es ist schwer zu
glauben, daß wir uns mitten im April befinden, so sehr ist die
Jahreszeit mit ihren frostigen Nächten und Winden zurück -
geblieben, die aus allen Himmelsrichtungen kalt zu wehen
scheinen. Heute kommt der Wind vom Süden, trotzdem er vom
Nordosten zu blasen scheint. Wie kalt muß es in Nordfrank -
reich sein! Der durch den Föhrenwald führende Pfad, den ich
beim Rückweg wähle, ist seiner ganzen Länge nach geschützt,
der Wind erreicht mich aber trotzdem in kleinen kalten
Stößen, als ob Pfeile von kalter Luft zwischen den Bäumen
abgeschossen würden. Die vom Winde geschüttelten Föhren
geben jenen angenehmen Laut von sich, der mich immer an ein
entferntes, gegen ein steiniges Ufer anprallendes Meer erinnert.
Vor mir und links vor mir ist keine Sonne mehr zu sehen
und die scharfen Schatten der Bäume lagern sich dort, wo
das Sonnenlicht durch eine halb offene Stelle schräg über
den Fußweg dringt. Etwas weiter, in einer Entfernung von
etwa fünfzig Ellen, ist der Pfad in Dunkel gehüllt und die
durch den Schatten der Baumstämme wie durch ein Gitter
unterbrochenen sonnigen Stellen sind immer weiter von -
einander getrennt. Die Föhren heben sich hier dunkel vom
nebligen Hintergrund ab. Es ist kein eigentlicher Nebel, da
der Tag ganz klar ist, und dieser Eindruck entsteht nur
dadurch, daß ich mich auf einem Hügel und auf der Höhe
der Föhrenwipfel befinde, von wo aus der Abhang sich
steil nach Norden senkt. Dort, wo die Sonne die Ränder
der näheren Stämme erreichen kann, treten dieselben als
eine scharf beleuchtete Linie hervor, während ihr übriger
Teil in ein warmes Dunkel gehüllt ist; dort, wo die Bäume
jedoch im Schatten stehen, sind sie in ein Grau gehüllt,
das fast in Blau übergeht, da auf sie durch die Lichtung
hinter mir der Widerschein des blauen, wolkenlosen Himmels
fällt. Die gegen die Sonne gesehenen Stämme scheinen von
einer blassen grünlichbraunen Färbung zu sein, die heller als
die von ihnen geborgenen Schatten ist und durch die von
der Sonne beleuchteten welken Farrenkräuter vor ihnen etwas
heller erscheint.
Wenn ich mich in den Schatten vertiefe, verschwindet der
bläuliche Schimmer und ich sehe ihre wahre warme, rötlich -
graue Färbung, die von den blässeren Flechten unterbrochen
wird. Ich wünschte mir, von einem jungen, angehenden
Maler begleitet zu sein, da die verschiedenartige Färbung der
Bäume des Waldes in der heutigen Beleuchtung für das
Gewöhnen des Auges, an das Sehen der Farben der Gegen -
stände, so wie sie erscheinen, sehr wertvoll war: das ungeübte
Auge sieht die Farbe nur in einer ganz beschränkten Weise.
Ich glaube, daß jemand, der diese Art von Trainierung niemals
durchgemacht hat, wohl kaum den Unterschied, der auf diese
Weise in dem Grade des Genießens alles dessen, was in
unserer schönen Welt am bewundernswertesten ist, entsteht, be -
greifen kann. Es befähigt selbst in einem größeren Maße als das
Aufnehmen von Formen und Proportionen, das der Künstler
sich aneignen und pflegen muß, Bilder an sich und nicht
nur Gegenstände zu sehen. Und die auf diese Weise vom
Auge und Hirn erfaßten Bilder sind die allerschönsten, denn
sie sind von dem größten Künstler entworfen und werden
dem sehenden Auge und dem empfangenden Herzen dar -
geboten.
Es ist nicht auf den Mangel an Beobachtungsgabe, sondern
auf ungenügende Übung zurückzuführen, daß die meisten
Menschen von der Natur nicht unmittelbar das sehen und
empfangen können, was der Künstler genießt und daß die
einzigen, ihnen auffallenden Naturbilder diejenigen sind, die
eine außerordentliche Intensität oder Quantität von positiver
Farbe aufweisen, wie beispielsweise ein leuchtender Sonnen -
untergang oder eine in der gelben Pracht des Herbstes
prangende Baumgruppe, oder ein Mohnfeld oder ein sich
unter seiner Blütenlast beugender Obstbaum. Die ungeübten
Augen vermögen die viel zahlreicheren und zarteren Natur -
schönheiten und Stimmungen nur dann zu genießen und
zu verstehen, wenn dieselben ihnen von dem die Sprache
der Natur verstehenden und als deren Dolmetsch dienenden
Künstler in der Form eines gemalten Bildes dargeboten
werden.
Jetzt erreiche ich den Saum einer etwa dreißig Jahre alten
Rottannenkultur. Die Wipfel der Bäume begegnen einander
über dem schmalen Fahrweg und man glaubt in dem späten
Nachmittagslicht die Mündung eines schwarzen Tunnels zu
sehen, so drückend und tief erscheint dies unheimliche
Dunkel. Es ist hier tatsächlich vollkommen finster und in
der Tiefe seltsam still, diese Stelle scheint ganz tot zu sein
und es ist den Vögeln und kleinen Waldtieren gleichsam
114
verboten, dieselbe zu betreten, da man keines davon sieht
oder hört. In der Mitte des düsteren Gehölzes lichtet es sich
jedoch ein wenig; von oben dringt etwas mehr Licht herein
und ich unterscheide abseits von der Straße, auf dem bis
nun unbetretenen, traurigen, toten, braunen Teppich des
Waldgrundes einige Flecken und selbst Flächen von lebendigem
Grün und ganze Mengen zarter weißer Blumen. Und der
plötzliche Anblick dieses Bildes der lieblichsten Anmut, der
durch die düstere Umgebung an Wert gewinnt, erfüllt die
Seele mit lebhafter Freude und unendlicher Dankbarkeit.
Es ist der Sauerampfer, die zarteste und lieblichste Wald -
pflanze. Die weißen Blüten erhalten in großen Mengen eine
leise lila Färbung; bei genauerer Untersuchung erweist sich,
daß dieser Umstand auf die feine, purpurrote Äderung der
weißen Blütenblätter zurückzuführen ist.
Weiß scheint bei der Bezeichnung der Blumenfarben ein
unbestimmtes, vages Wort zu sein; in diesem Falle, da es
sich um die feine, kleine Blüte handelt, ist das Weiß nicht
ganz rein, sondern hat die Nuance der hellsten Färbung
einer Perle. Der flaumige Stengel ist fleischfarbig und halb durch -
sichtig und der feingeformte Kelch weist die zartesten Farben -
töne eines stumpfen Grüns, das von einem durchsichtigen
Grünbraun umrandet ist, auf und ist von einem Purpurrot
durchzogen, das an die Äderung der Blütenblätter erinnert.
Jedes davon hat in seinem Innern dort, wo die winzigen
weißlichen Samenfädenbüschel entspringen, einen hellgelben
Schimmer.
Das glänzende, gelbgrüne Blatt besteht wie beim Klee aus
drei kleinen, breiten Herzen, und jedes davon ist mit dem
Stengel durch einen winzigen Stiel verbunden, der gerade
lang genug ist, um die einzelnen Blatteile voneinander zu
trennen. Die jungen Blättchen sind an den Stengel gepreßt
und zusammengefaltet. Die großen falten sich für die Nacht
ebenso zusammen und schlafen. Die kleinen Herzen sind
nicht in sich selbst gefaltet, sondern jede Hälfte ist fest an
die Hälfte des Nachbarblättchens geschmiegt, so daß das
Ganze an einen stumpfen, dreiteiligen Pfeil- oder Bolzenkopf
erinnert.
Nach einigen Minuten war ich aus dem düsteren Föhren -
gehölz heraus und befand mich wieder im offenen Wald,
der von Vogelgesang und frei flutender Luft erfüllt war.
Der an dem fast ebenen Rand der abschüssigen Hügelseite
entlang lautende Pfad senkt sich plötzlich in eine ihn durch -
querende Rinne hinab. Es ist ein alter, verlassener Weg,
eine jener vielen Straßen für Lastfuhrwerk, welche die Hügel -
seiten durchfurchen und die mit Heidekraut bewachsenen
Flächen unterbrechen. Diese aus alten Tagen zurückgebliebene,
vergessene Straße ist wohl niemals angelegt und sicherlich
niemals verbessert worden. Sie wurde im Laufe der Jahr -
hunderte langsam durch Fußgänger und beladene oder zum
Reiten verwendete Tiere gebildet und durch das seitwärtige
Rutschen des sandigen Bodens und das Bespülen der plötz -
lichen Sturmflut erweitert und vertieft. Der steile Abhang
der toten, alten Allee erzählt einem die ganze Geschichte
ihres Entstehens bis zu ihrer Mündung im üppigen Tal, in
welchem die angeschwemmte Erde auf der breiten Fläche
fast ganz eben lagert, wovon das bessere Gedeihen von Baum
und Strauch und das kräftigere Grün der saftigen Gräser
und Kräuter zeugt.
Ich sitze am Rande des sich über den Hügel hinziehenden
Pfades und schaue auf die alte Straße hinab. Links erhebt
sich ein abschüssiger Sandberg. Unter demselben breitet sich
ein Eichen- und Haselnußwald aus, der durch Gruppen
mächtiger Steineichen bereichert wird. Rechts liegt ein eben -
falls steil ansteigendes, offenes Gelände. (Fortsetzung folgt.)
3 BILDERAUSSTELLUNGEN [
SÄCHSISCHE KÜNSTLER.
nter den deutschen Künstlern gehört GOTTHARD KUEHL zu
jenen Malern, die sich wieder in der Heimat umsahen und zahl -
lose heimliche Schönheiten und Werte an den geringgeachten Dingen
der nächsten Umgebung sichtbar machten. Von diesen Dingen ging
ein Anstoß aus, der in der Architektur und im Kunstgewerbe noch
immer fortwirkt zu Gunsten einer organischen Formengebung, die
im Grunde der älteren heimischen Kulturarbeit liegt, den alten Bau -
formen, Dielen, Stuben und Möbel, lehrreich für jeden schaffenden
modernen Künstler und verderblich für jeden Nachahmer. Was Licht-
wark geschrieben, hat Kuehl gemalt. Bei uns geht unter den Malern
etwa nur Karl Moll diese Wege. Sie lernen die Heimat auswendig, alles
was an ihr fruchtbar und liebenswert ist. Diese Beschränkung ist
Bereicherung, die anscheinend kleine Sache wird bedeutsam. Daß
Wohnräume stark farbig sein können, daß außer der gewissen or -
ganischen Sachlichkeit die lebhafte Farbe eine wesentliche Rolle in
der Schönheit der Dinge spielt, ist den blödesten Augen erkenntlich,
wenn sie das kräftige Grün, Orange, Blau und Weiß der Interieur-
bilder Kuehls einsaugen.
In kleinen Nestern und Wohnräumen, in und an den altsächsischen
Häusern, von denen Kuehl entzückende Bilder malt und Lichtwark ent -
zückende Schilderungen entwarf, ist die Farbe in Wirküchkeit vor -
handen, alle Holzteile lustig bunt gestrichen, von der heutigen Mensch -
heit nicht wahrgenommen, die, wenn sie könnte, auch den blauen
Himmel holzbraun streichen und mit künstlicher Maserung versehen
würde. Die Wirkung dieser Bilder und dieser Schriften wird noch
weitergehen müssen, wenn auch in hundertfältiger Wandlung, und
zur Natur zurückleiten oder zur Empfänglichkeit für sie. Diese Art
Kunst kann unmittelbar nichts Besseres wollen, als mit Gewinn be -
trachtet zu werden. Sie ist im Hagenbund ausgestellt, zusammen mit
einer Gesamtausstellung der Künstlergruppe „DIE ELBIER“, die, wenn
ich nicht irre, aus einer ehemaligen Schülerschaft bei Kuehl entstanden
ist und zum großen Teil die Wege des Meisters weitergeht. Allerdings
Kuehler, schwächer an Intensität, nicht einseitig gefestigt, wie der
Meister naturgemäß und vielfach noch suchend, mit anderen Problemen
ringend. Viel Heimatkunst. Von Einem weiß ich, August Wilkens,
daß er die ganze alte Volkskultur Schleswigs, soweit sie noch in Resten
vorhanden, gemalt hat; es sind davon nur einige mittelmäßige Bilder
da. Der ganze Saal der „Eibier“ sieht aus wie ein Musterkoffer. Von
jedem etwas. Man erkennt daraus nicht die Ziele, das Wollen und
das Herkommen der einzelnen, man kann daher nur sagen, daß es
gutgeratene Dinge sind, ansprechende Talentleistungen und gut gemalte
Gemeinplätze.
Es sind gelernte Maler, während Künstler wie etwa van Gogh (kürzlich
bei Miethke), elementare Naturkraft sind. Gelernte oder erlernbare
Kunst ist auch der Naturalismus der Maler ROBERT STERL und
EUGEN BRACHT, unersprießliches Handwerk sind die religiösen Bilder
des Grafen WOLDEMAR REICHENBACH; die Kunst beginnt wieder
dort, wo sie aus der Lehre des Naturalismus zu den höheren Einheiten
des Stils strebt, von der Naturabschrift zur selbstschöpferischen Meister-
lichkeit des individuellen Künstlers. Ich habe ZWINTSCHER im Auge;
er behandelt Farbenwerte wie Klangwerte, sorgfältig erwogen und
harmonisch gestimmt, einfach und flächig groß. Er ist nicht kühn,
kein großer Wäger, aber ein großer Wäger, vorsichtig und vornehm
zurückhaltend, ein Künstler, der Kultur hat. Man kann seine hellen
Bilder gut in weißen Räumen von einfachen edlen Dimensionen
denken, man kann seine dunklen tieftonigen Bilder in Gemächern
von strotzendem Gelb denken und man kann eine wundervolle
Wirkung voraussehen. Vor allem kann man, und das ist das Ent -
scheidende, sie überhaupt in Einheit mit idealen Raumteilen denken,
weil dieser Künstler sich auf das Wesen der Malerei besonnen, das
die Fläche ist. Die meisten anderen Ausstellungswerke, hier und
anderswo, sind in der bloßen Studie, in der Vorstufe, im Handwerks -
und Ateliergeist stecken geblieben; sie scheinen vornehmlich nur
wegen der Ausstellungen da, die künstlerisch viel bewirken könnten,
115
in der Tat aber künstlerisch nichts bewirken. Es werden viel gute
Sachen gemalt, nach denen kein Verlangen und mit denen nichts an'
zufangen ist. Es hängt mit dem Ausstellungsunverstand zusammen,
der, wie hier, in einem großen Saal das Kunterbunt eines gemischten
Bildersalats anrichtet, Kuehls kräftig getonte Bilder auf süßlichen
Wandstoff hängt und die großzügigen Gemälde Zwintschers in einer
kleinen Zelle zusammendrängt. Anwendungen zu zeigen, ist vielleicht
nicht Sache von Bilderausstellungen, die in unserer Stadt jährlich vier'bis
fünfdutzendmal wechseln. Es heißt, daß die Künstlervereinigungen
ohnedies nicht auf ihre Kosten kommen. Aber ist denn diese atem'
lose Bilderhetze nötig? Die große Mehrheit der Bilder, die jahraus,
jahrein für Ausstellungen gemalt werden, ist das, was die Welt am
wenigsten braucht. Dagegen gibt es eine ungezählte Menge von Aufgaben,
die der künstlerischen Lösung harren und auf den Ausstellungen
leider nie zu finden sind. Was not tut, ist nicht der Modetanz, sondern
künstlerische Vertiefung. Die Aufforderung dazu ist in Zwintschers
Bildwerken zu spüren, die nach einem Ganzen verlangen, und in
Kuehls Interieuransichten, von der ausstrahlenden Macht des Beispiels,
daß das Kleinste wertvoll ist, wenn es ganz getan ist.
Die Gastgeber empfangen von den sächsischen Künstlern eine Lehre,
wenn sie nicht verloren geht. Auch wir haben eine schöne Stadt und
ein schönes Land, aber kein Künstler und keine Künstlergruppe hat
bei uns die Aufgabe erkannt, die darin besteht, alle künstlerischen
Merkmale der Stadt und des Landes in einer geschlossenen Reihe von
künstlerisch wertvollen Blättern, Holzschnitten, Radierungen etc. etc.
niederzulegen, wie es etwa WALTER ZEISING in Dresden auf die
Art der englischen Radierer getan hat. Das Geringste vollkommen zu
tun, ist künstlerisch; dagegen ist nichts weniger künstlerisch, als
schlechthin Bilder malen.
□ BÜCHER, DIE MAN LESEN SOLL □
„WIND UND WOGE“ VON FIONA MACLEOD.
Verlag von EUGEN DIEDERICHS, JENA und LEIPZIG.
D ie Dichtungen in „Wind und Woge“ sind aus geheimnisvollen Er'
scheinungen der Natur gewoben, Erscheinungen, die bald wunder'
sam, bald schreckhaft sind, und so sind die Menschen, von denen
erzählt wird, bald wundersam, bald schreckhaft, und eng verschlungen
mit den Geheimnissen der Natur. „Die Welt, die war“ und „die Welt,
die ist“, der Schauplatz der Erzählungen, Schottlands nordwestliche
Küste, die Sagen, die Schicksale, die Handlungen der Menschen, eines
lebt im andern, Gleichnis um Gleichnis. Unsere Leseprobe „Lilis“ ist
ein Beispiel in der köstlichen Reihe. Die literarische Verwandtschaft
mit den Gesängen von „Ossian“ ist unverkennbar; das romantisch,
apollinische Auftreten, das in Macphersons Tagen auch der gälische
Sänger zeigen mußte, ist Ossians junger Schwester „Fiona Macleod“,
dem veränderten Zeitgeist entsprechend, nicht anzumerken, doch beider
Geschwister Vater war der Romantizismus, und Mutter war die Traum'
weit. Mit diesem Taufschein schickt der moderne Macpherson seine
„Fiona Macleod“ in die Welt. „Wind und Woge“ ist ein berückend
schönes Buct' so seltsam und neuartig in unserer heutigen Literatur,
wie etwa „O sian“ vor 140 Jahren.
Jahrgang I der „HOHEN WARTE“, I. und II. Halbjahr, ist in
einigen gebundenen Exemplaren noch zum alten Preis zu haben.
Später Preiserhöhung!
Einbanddecken für den I. Jahrgang werden auf Bestellung
nachgeliefert.
Diesem Hefte liegen zwei Kunstblätter bei:
GEORGE MINNE: DER REDNER; DANTE ROSSETTI: LILITH.
Unregelmäßigkeiten in der Zustellung wollen dem Verlag der „HOHEN
WARTE“ gefälligst sofort bekanntgegeben werden.
[=1
UNSERE KUNSTBLÄTTER
GEORGE MINNE: DER REDNER.
D ie Plastik aus Marmor ist in Wirklichkeit nur 42 Zentimeter hoch,
man möchte sie für die Verkleinerung einer Monumentalplastik
halten, so größenhaft wirkt sie, auch in der kleinen Form. Kein Symbol,
kein Attribut, keine Geste ist da, die mit Fingern zeigt, das ist ein
Redner; jeder äußerliche Behelf fehlt; die Haltung allein drückt alles
aus, von der Gewalt innerer Kräfte bestimmt, der lange Wurf der
Kleider einer Toga ähnlich, die Vorneigung des Körpers auf der
Brüstung, die Hebung des Kopfes mit der Blickrichtung auf ein weites
Gesichtsfeld, man kann weithin wogende Menschenmassen vermuten,
die Anspannung der Muskel, die dynamische Kraft, die den starren
Stein belebt, alles in allem: ein Demagog, der den Erdball oder den
Steinblock, daran er lehnt, zur Kanzel wählt, und um den ein Horchen
geht von tausend Menschenseelen. Es ist viel über das Monumentale
gesagt worden und das Gesagte läuft meistens darauf hinaus, daß
räumliche Größe und Massenhaftigkeit das Monumentale sei, bei
Schiller heißt es das Erhabene; aber wir empfinden unter Umständen
auch das dimensional Kleine monumental oder erhaben. Weil, wie
hier, Monumentalität vor allem die Intensität des Ausdrucks bedeutet,
mit den einfachsten Mitteln und in den Verhältnissen so groß als
möglich gegeben; so kommt es, daß diese kleine Plastik oder eine
Münze, ein Holzschnitt etc. monumental ist und bloß räumlich große
Werke der Malerei, Bildnerei oder Architektur oftmals sehr leer und
unmonumental erscheinen.
DANTE ROSSETTI: LILITH. Bild und Sonett.
LILITH.
(For a Picture.)
OF ADAM’S FIRST WIFE, LILITH, IT IS TOLD
(THE WITCH HE LOVED BEFORE THE GIFT OF EVE,)
THAT, ERE THE SNAKE’S, HER SWEET TONGUE COULD DE-
CEIVE,
AND HER ENCHANTED HAIR WAS THE FIRST GOLD.
AND STILL SHE SITS, YOUNG WHILE THE EARTH IS OLD,
AND, SUBTLY OF HERSELF CONTEMPLATIVE,
DRAWS MEN TO WATCH THE BRIGHT NET SHE GAN WEAVE,
TILL HEART AND BODY AND LIFE ARE IN ITS HOLD.
THE ROSE AND POPPY ARE HER FLOWERS; FOR WHERE
IS HE NOT FOUND, O LILITH, WHOM SHED SCENT
AND SOFT'SHED KISSES AND SOFT SLEEP SHALL SNARE?
LO! AS THAT YOUTH’S EYES BURNED AT THINE, SO WENT
THY SPELL THROUGH HIM, AND LEFT HIS STRAIGHT NECK
BENT,
AND ROUND HIS HEART ONE STRANGLING GOLDEN HAIR.
In sinngemäßer Übertragung:
LILITH.
FÜR EIN BILD.
Es heißt von Lilith, Adams erstem Weibe
(Der Teufelin, die er vor Eva liebte,)
Daß ihre Zunge sich im Lügen übte,
Noch vor der Schlange, daß ein Spiel sie treibe
Mit ihrem Goldhaar und stets jung verbleibe,
Wenn auch die Erde alt und sich verliebte
Ins eigne Antlitz und den Mann betrübte,
Der sich verfing ins Netz mit Herz und Leibe.
Rosen und Mohn, deine Blüten entzücken
Jeden, o Lilith, mit wonnigem Duft,
Und zehrende Küsse und Träume berücken.
Die Augen des Jünglings dein Flammenblick ruft,
Dein Zauber besiegt ihn, er ahnt nicht die Kluft,
Und goldene Haare das Herz ihm umstricken.
NACHDRUCKVERBOT für sämtliche in den Heften der „HohenWarte“
erscheinenden Artikel und Illustrationen.
Alle Zuschriften und Sendungen Wien, XIX. Grinzingerstraße No. 57. Telephon 21.847.
Verlag „Hohe Warte“ (Lux & Lässig). Für die Redaktion Joseph Aug. Lux.
Geschäftsstelle der „HOHEN WARTE“: HUGO HELLER. WIEN, I. Bauernmarkt 3.
Druck von Christoph Reisser’s Söhne, Wien V.
116
eC
Kunstblatt i6 r „HOHE WARTE“.
DANTE GABRIEL ROSSETTI: LILITH.
KUNSTGEWERBESCHULE
DER STADT ZÜRICH.
LEHRWERKSTÄTTEN FÜR
KUNSTINDUSTRIE.
AUSSCHREIBUNG
VON LEHRSTELLEN.
I nfolge der Neuorganisation der Anstalt sind an der Kunst-
gewerbeschule der Stadt Zürich zunächst folgende Stellen,
womöglich auf den i. Mai 1906 zu besetzen:
i. ASSISTENT DER DIREKTION der Kunstgewerbeschule und
des Kunstgewerbemuseums mit Unterrichtsverpflichtung, wo -
möglich in Kunstgeschichte, Stillehre, Materialkunde, Techno -
logie u. s. w.; gewünscht wird die mündliche und schriftliche
Beherrschung der französischen und der englischen Sprache;
2. SEKRETÄR DER DIREKTION der Kunstgewerbeschule und
des Kunstgewerbemuseums; gewünscht wird die mündliche und
schriftliche Beherrschung der französischen und der englischen
Sprache;
3. LEHRER FÜR ORNAMENTZEICHNEN UND INNEN -
ARCHITEKTUR;
4. LEHRER FÜR NATURSTUDIEN;
5. LEHRER FÜR GRAPHISCHE KUNST (Typographie, Litho -
graphie, Buchbinderei);
6. LEHRER FÜR BINDUNGSLEHRE, PATRONIEREN UND
MUSTERZEICHNEN;
7. ASSISTENT FÜR ORNAMENTZEICHNEN und dekorative
Plastik;
8. ASSISTENT FÜR INNENARCHITEKTUR;
9. WERKMEISTER FÜR TYPOGRAPHIE (Setzer), eventuell
auf einen späteren Zeitpunkt;
10. WERKMEISTER FÜR BUCHBINDEREI, eventuell auf einen
späteren Zeitpunkt;
ii. WERKMEISTER FÜR SCHREINEREI (Spezialist für
Furnierarbeiten und Intarsien);
12. WERKMEISTER RÜR FEINMETALL ARBEITEN;
13. WERKMEISTER FÜR SCHAFT-UND JACQUARD WEBEREI;
14- STICKERIN.
Die gegenwärtigen Inhaber der Stellen Nr. 2 und 6 gelten als
angemeldet. Für den Direktionsassistenten und den Direktions -
sekretär kommt die Arbeitszeit der städtischen Verwaltungs -
bureaus zur Anwendung. Die Lehrer sind zu 25, die Assistenten
zu 25—39, die Werkmeister zu 39, bei Bedarf bis zu 49 wöchent -
lichen Stunden verpflichtet. Die Besoldungen betragen für den
Direktionsassistenten 4000—5500 Francs, für den Direktions -
sekretär 3200—4400 Francs, für die Lehrer 3750—5000 Francs,
für die Assistenten 3000—4000 Francs, für die Werkmeister 2400—
3600 Francs, für die Stickerin 2000—3000 Francs jährlich. —
Weitere Auskunft über die Stellen erteilt die Direktion der Kunst-
gewerbeschule, Museumstraße Nr. 2.
Die Bewerber haben ihre Anmeldungen mit Angabe der
Personalien, des Bildungsganges und der bisherigen Tätigkeit
und unter Einsendung der Zeugnisse und Arbeiten, beziehungs -
weise Reproduktionen solcher BIS ZUM 15. MÄRZ 1906 DER
DIREKTION DER KUNSTGEWERBESCHULE einzureichen.
ZÜRICH, den 14. Februar 1906.
IM AUFTRAGE DER AUFSICHTSKOMMISSION:
DIE DIREKTION DER KUNSTGEWERBESCHULE
UND DES KUNSTGEWERBEMUSEUMS:
PROF. DE PRAETERE.
KÜNSTLERWERKSTÄTTEN.
D ie modernen Künstler und Künstlerinnen streben die
freie, gewerbsmäßige Ausübung ihres Könnens an
und suchen die Beseitigung der entgegenstehenden
Hindernisse zu erwirken. Sie gehen von dem Gedanken aus,
daß die wertbildnerische Absicht in bezug auf das Gewerbe
am unmittelbarsten dadurch fruchtbar werden kann, daß die
im Sinne einer angewandten modernen Kunst Schaffenden
ihre eigenen Werkstätten begründen.
Dieser einfachen und natürlichen Art der Betätigung stehen
aber hemmende Bestimmungen der Gewerbeordnung ent -
gegen. Das Streben geht also dahin, daß die künstlerisch
Schaffenden von solchen einschränkenden Bedingungen der
Gewerbeordnung befreit werden sollen. Der künstlerische
Fortschritt in der gewerblichen Erzeugung ist unter den be -
stehenden Verhältnissen an die Gutwilligkeit der Gewerbe-
und Unternehmerklassen gebunden, die, wenn sie Kultur
haben, den künstlerischen Fortschritt zulassen, und wenn sie
keine Kultur haben, was die Regel ist, ihn unterbinden oder
künstlerische Gedanken willkürlich und verständnislos nach -
ahmen und solcherart Scheinwerte hervorbringen, wie die
in den letzten Jahren von unberufenen Leuten dieser Klasse
geschaffene FALSCHE „SEZESSION“ beweist.
Was aber Gewerbetreibende, Industrielle und Kaufleute
schaffen, sind Reproduktions- und Verschiebungswerte,
während die Leistungen der schaffenden Künstler Ursprungs -
werte sind; nur diese sind produktiv, während die Ver -
schiebungswerte niemals produktiv sein können.
Der Aufschwung nicht nur in künstlerischer, sondern zunächst
auch in wirtschaftlicher Hinsicht hängt von der Schaffung
solcher Ursprungswerte ab. Je reicher und origineller die
Leistungsfähigkeit, je größer die künstlerische und sonstige
Qualität, desto größer wird die Absatzfähigkeit und der
Export sein und desto mehr werden die bloß reprodu -
zierenden Gewerbler und Fabrikanten sowie die sonstigen
Arbeitshände im Dienst von Industrie und Handel zu tun
haben, mit einem Worte, desto besser wird es um die wirt -
schaftliche Wohlfahrt stehen.
Die bloßen mechanischen Kräfte, die Gewerbetreibenden,
Industriellen und Fabrikanten, sowie die distributiven Fak -
toren des Handels sind weder berufen noch befähigt, Ur -
sprungswerte hervorzubringen; der schaffende Künstler allein
ist es, der die Ursprungs werte hervorbringt. Eine Gewerbe -
förderung, die Unproduktive durch Schutzmaßregeln be -
sprochener Art fördert, zünftlerische Einschränkungen schafft
oder auch nur duldet, verfehlt das Ziel, sie ist eine Schwäche -
förderung und führt zur Lähmung der produktiven Kräfte
und weiterhin zur Lähmung des volkswirtschaftlichen Ge -
deihens. Eine Gewerbeförderung müßte eine Kräfteförderung
sein; die schaffenden Künstler müssen die Gewerbefreiheit
besitzen, ihre eigenen Werkstätten zu errichten, um jene
einzig produktiven Ursprungswerte hervorzubringen, im
Gegensatz zu jenen Gewerbe- und Unternehmerklassen, die
nach dem Grundsatz von „BILLIG UND SCHLECHT“
arbeiten unter dem angeblichen Vorwände: „DAS PUBLIKUM
WILL ES SO.“ Bei diesem Grundsatz ist die österreichische
Produktion auf eine bedauerliche Weise heruntergekommen.
Das Publikum will KEINESWEGS das Schlechte, es verlangt
vielmehr das GUTE. Wenn es wirklich an das Schlechte
gewöhnt worden ist, dann ist es auf jene Gewerbe^ und
Unternehmerklassen zurückzuführen, die ihm nichts anderes
bieten können und die ihm eine Billigkeit vertauschen, die
immer auf Kosten der Arbeit und der Arbeitskräfte geht
und im Verhältnis zum Gebotenen immer zu teuer ist.
Es ist eine ganz natürliche und gerechte Forderung, wenn
die Künstler und Künstlerinnen die Herstellung ihrer Sachen
selbst in die Hand nehmen, sich von dem mehr oder weniger
hemmenden Einfluß des gewerblichen Unternehmertums be.'
freien und unmittelbar mit dem Publikum verkehren, wenn
sie also selbst Gewerbetreibende und Unternehmer werden,
nicht nach dem herkömmlichen Grundsatz von „BILLIG
UND SCHLECHT“, sondern auf künstlerischer Grundlage.
Es ist keine Selbstüberhebung der betreffenden Künstler und
Künstlerinnen, wenn sie sich ein größeres Können und Wollen
zumuten, als jene Fachleute besitzen, die in der Regel an der
gänzlich unfachmännischen Vergewaltigung des Materials zu er^
kennen sind. Die handwerkliche Fertigkeit ist eine Sache, über
die sich die schaffenden Künstler selbst Rechenschaft schuldig
sind; keinesfalls ist dazu eine mehrjährige Lehrlings^ oder Ge -
hilfenarbeit erforderlich, wie die Gewerbeordnung vorschreibt.
Die ausgesprochene Absicht entspricht auch durchaus dem
Grundgedanken der Kunstschule; der Staat, der auf seine
Kosten Kunstschulen errichtet und Talente ausbildet, soll
auch die Früchte haben. Die Leistungen des Talents sollen
dem Land wieder zu gute kommen; es kann im vollen Maße
nur geschehen, wenn die Möglichkeit der Betätigung und
Erzeugung gegeben ist.
Das Recht des Gewerbetriebs soll aber nicht auf einzelne
Gebiete beschränkt sein, sondern auf den ganzen Umfang
der Fähigkeiten ausgedehnt sein. Der gleichzeitige Betrieb
verwandter Gewerbe soll von vorneherein ermöglicht sein
und es kommen daher für das künstlerische Interesse alle
Kunstgewerbe in Betracht, die in folgenden Materialien
arbeiten: Leder, Glas, Ton, Steinzeug, Porzellan, Holz, Metall,
Edelmetall, Geweben, Papieren, Buch- und Steindrucken,
weil alle daran beteiligten Gewerbe einer fortwährenden künst -
lerischen Belebung bedürfen. Der Einfluß, der von hier aus -
geht, kann nur ein belebender und wohltätiger in bezug auf
die gesamte Produktion sein. Die Künstler werden voran -
schreiten und die anderen werden folgen, in der Einsicht, daß
nichts so erfolgreich ist wie die Wertigkeit. Die Wertigkeit
ist die Grundlage des volkswirtschaftlichen Aufschwungs.
Diese Darlegungen, Wünsche und Hoffnungen der Künstler -
schaft eröffnend, sind auch an die behördlichen Verwaltungs -
stellen gerichtet, mit dem Erwarten, daß diese das Nötige
verfügen, um diesen in wirtschaftlicher und künstlerischer Hin -
sicht weittragenden Gedanken praktisch wirksam zu machen
und gewerbliche Bestimmungen oder Einschränkungen, die
sich der Selbständigmachung der künstlerisch Schaffenden
entgegenstellen, abzuschaffen und zu ermöglichen, daß die
Hervorbringung der produktiven Ursprungswerte in der an -
gedeuteten Weise ungehindert vor sich gehen kann.
DIE VOLKSWIRTSCHAFT DES
TALENTES
WIRD IM NÄCHSTEN HEFT FORTGESETZT.
GESCHLOSSENE UND OFFENE BAUWEISE*
iese Begriffe sind am Zeichentisch entstanden und
die Worte, ebenso stereotyp und langweilig wie die
Sache, die sie decken, sind Bauamtsstil und bau -
behördliches Rezept. Die künstlerische Praxis kannte dieses
blutleere Schema nicht. Das Schema wendet an: ge -
schlossene Bauweise für Wohnstraßen und Miethäuser,
offene Bauweise für Villenviertel. Die geschlossene Bauweise
schließt Haus an Haus ohne Unterbrechung, Fassade an
Fassade in einer ununterbrochenen Mauerwand, allerdings
oft mit erheblichen Höhenunterschieden, wobei sich die un -
erträglichen Feuermauern über die niedrigere Nachbarschaft
schroff erheben; ein trostloser Anblick, den unsere heutigen
Straßen bieten, ebenso trostlos wie die schnurgeraden Flucht -
linien, die nach dem Regulierungsplan in einer ununter -
brochenen Geraden zu verlaufen haben. Die offene Bauweise,
die Familienhäuser mit Gärten voraussetzt, verlangt eine
Unterbrechung zwischen den Häusern jeder Zeile, und zwar
fünf Meter Vorgartenbreite und drei Meter freier Raum oder
Gartengrund zu beiden Seiten des Hausblockes, so daß jedes
Haus von dem anderen mindestens sechs Meter entfernt ist.
Die heutige Baupolizei verlangt des weiteren, daß das Haus
oder der Vorgarten von einem offenen Zaun umgeben sei,
um den Durchblick von außen zu gestatten; sie verbietet
also die geschlossene Mauer. Kein Mensch hat bis jetzt einen
triftigen Grund für diese Verordnung finden können, wahr -
scheinlich haben auch die Schöpfer dieser Verordnung keinen
ernsten Grund gehabt, der den dadurch verursachten Verlust
architektonischer Schönheit aufgewogen hätte. Wenn es sich
nun darum handelt, ein Villenviertel oder ein Arbeiterviertel
anzulegen, so wird das Schema „offene Bauweise“ angewendet,
der Baugrund ausgemessen, parzelliert, in jede Parzelle ein
Haus Schema A, B oder C hingesetzt, ein Gartenrudiment
gepflanzt und die Cottageanlage ist fertig; alles geht mit
fabriksmäßiger Genauigkeit. Ist es eine Villenanlage, so leistet
sich jedes Haus den Luxus einer anderen Fassade, wie dies
in der heutigen bürgerlichen Hausbauerei üblich ist; hier das
Zerrbild einer Ritterburg, dort eines Schweizerhauses, nebenan
eines Palazzos. Ist es eine Arbeiterkolonie, so gibt es solche
Stilmeierei nicht; die innere Trostlosigkeit offenbart sich
nun auch nach außen. Das ist nämlich das Mißgeschick der
heutigen bürgerlichen Baumeisterei: die Fassade ist bloße
Maske; wird auf die Maske verzichtet, der erste Schritt zur
Sachlichkeit, so äußert sich diese Sachlichkeit als trostlose
Häßlichkeit. Das kommt daher, weil auch im Innern nur
die Schablone und unsolide Mache am Werk ist; wenn sich
Schablone und Unsolidität sachlich ausdrücken, muß der Aus -
druck logischerweise häßlich sein. Der sachliche Ausdruck ist
nur dann schön, wenn menschliche, d. h. künstliche An -
gemessenheit und höchste Solidität, d. h. Vollkommenheit
des Materials und der Arbeit von innen her wirken.
Schöne Sachlichkeit ist das höchste Ziel der Kultur, ein
Gipfel, zu dem nur die Kunst, nicht das Schema führen
kann. Man schaffe Haustypen, allgemeine Bautypen, die in
allen Räumen und Einrichtungen wieder das Merkmal der
menschlichen, d. h. künstlerischen Angemessenheit tragen;
man verwende nur gediegenes Material, keine Fälschungen,
man leiste solide Arbeit und lasse die Echtheit, auch die
* Diese Darstellung hat zwar die Verhältnisse im Auge, wie sie im
allgemeinen liegen, ist aber im besonderen auch als eine Ergänzung
des Artikels über den „FABRIKSORT BERNDORF“ (siehe Städte -
studium vom Standpunkte der heimatlichen Kultur, Kap. VIII, Seite 223,
I. Jahrgang, Heft 19) zu verstehen. Die Übereinstimmung der Mißstände
allerortens erlaubt, statt Berndorf einen beliebigen Ort zu denken.
118
einfache und billige, wirken, indem man jede Täuschung,
den Schein einer unwahren Echtheit, also die wahre Um
echtheit vermeidet, und das Problem ist gelöst: der moderne
Stil, der nur ein Stil der edlen Sachlichkeit sein kann, ist
gefunden. Einzelne Künstler haben ihn zwar gefunden und
wenden ihn an, aber was kümmert sich die Menge um die
einzelnen Künstler und ihren Stil edler Sachlichkeit? Was
kümmert sich die Gemeinde, der Staat darum? Die haben
ihre Bauämter, ihre Schemas, ihre Bauordnungen und Re--
gulierungspläne, ihre geschlossene und ihre offene Bauweise,
also auch eine Art Sachlichkeit, leider aber keine schöne.
Die Sachlichkeit ist eine solche, daß sie sich in den Villen -
vierteln und den Stadthäusern hinter einer Stilfassade ver -
bergen muß und in den Arbeitervierteln und an den Arbeiter -
häusern eine erschreckende Öde an den Tag legt. In allen
Fällen aber wird die vorgeschriebene offene Bauweise einen
Haufen Häuser ergeben, die äußerlich mehr oder weniger
schön, mehr oder weniger häßlich sind, keinesfalls aber wird
sich ein architektonisch wohlgebildetes, organisch zusammen -
hängendes Ganzes ergeben.
Der Künstler, der eine solche Anlage schaffen soll, eine An -
lage, die einfach ist, sachlich und schön, kann mit dem
Schema: offene Bauweise, nichts anfangen. Überhaupt, er
wird sich um dieses Schema gar nicht kümmern, sondern
von völlig andersgearteten Gesichtspunkten ausgehen, er
wird vielmehr die besonderen Bedürfnisse und die gegebenen
örtlichen Bedingungen erforschen und diesen gerecht zu
werden suchen, das heißt sie auf eine ebenso sachliche als
ästhetisch befriedigende Weise erfüllen.
Das ist nun eine Sache, die zwar vollkommen bei dem
Künstler liegt, die aber auch Gemeingut sein und daher jeder
Bauherr kennen soll, wenn er verständigerweise die Aufgabe
des Künstlers nicht hemmen oder erschweren, sondern er -
leichtern und fördern will. Darum soll erzählt werden, worauf
es bei einer solchen rechtschaffenen Anlage ankommt. Von
dem Begriff der „offenen Bauweise“, die als Schibboleth in
der Bausache herrscht, ist vollends abzusehen, wenn man
zum Rechten kommen will.
Ob es sich um ein Villenviertel oder um ein Arbeiterviertel
handelt, ist zunächst für die grundlegenden Fragen einerlei.
In beiden Fällen ist vorauszusetzen, daß es sich um ein
Wohnviertel mit Familienhäusern und Hausgärten handelt.
Es ist der künstlerischen Auffassung gemäß, ein solches
Viertel nicht als Anhängsel der Stadt, sondern als selb -
ständiges Lebewesen zu behandeln, das alle Organe besitzt,
nicht nur für die niederen Funktionen des materiellen Daseins,
wie Konsumhalle, Waren- und Lebensmittelversorgung,
sondern auch für die höheren Bedürfnisse der Kultur und
des Geistes, wie Schulen, Bade-, Sport- und Klubhaus, Lese-
und Redehalle, Bibliothek, Ortsmuseum samt Ausstellungs -
räumen, Rathaus, Kirche und unter Umständen sogar ein
Theater. Ein solches Wohnviertel also, das aus Familien -
häusern und öffentlichen Gebäuden mit Geschäftsläden be -
steht, wird nicht nur als Gemeindewesen, sondern auch als
architektonische Anlage eine organische Idee darstellen. Es
werden Straßen und Plätze gebraucht, um das Ganze zu
gliedern. Straßen für den Hauptverkehr und stillere Gassen,
Gartengassen für das Wohnen. Plätze für die Zufuhr, den
Markt mit Gemüse und Obst, und Plätze für den geselligen
Verkehr, architektonisch schön geschlossene Plätze mit den
Hauptgebäuden, mit Ruhebänken, Baumpflanzungen, ge -
schnittenen Laubwänden, öffentlichen Brunnen und Denk -
mälern. Plätze, die geschützt sind vor Zugluft, Staub und
Fuhrwerken. Also sollen die Zufahrten und Zugänge der
Plätze nicht in der Mitte einmünden, sondern seitlich. Für
die Anlagen der Straßen und Plätze ist aber auch die natür -
liche Bodengestalt von Einfluß. In der Ebene macht es
nichts aus, aber wenn das Terrain ansteigt, ist vieles zu
bedenken.
Die Mulden, die Feuchtigkeitsverteilung, die Wasserscheiden
und Wasserrinnen, die Möglichkeit der Trinkwasserver -
sorgung in den oberen Partien, die Wegführungen und
Überwindung der Steilheit. Man wird die Häuser nicht in
den Mulden bauen oder in den Wasserrinnen, wo natürlich
die größte Feuchtigkeit herrscht, die geringste Sonne und
die meiste Kälte. Ich würde diese und noch manche andere
überflüssig scheinende Regel nicht erwähnen, wenn ich nicht
sehr arge Versündigungen gegen diese Selbstverständlichkeit
kennen würde, Verstöße, die unter der Herrschaft des bau -
amtlichen Schemas unvermeidlich scheinen. Auch wird man
ursprünglich bestehende Baumgruppen nicht zerstören, sondern
für die Platzanlagen auszunützen wissen. Man wird sich
auch nicht die feine Weisung der alten ursprünglichen Straßen
und Feldwege entgehen lassen und sie als Grundlage des
neuen Straßennetzes nehmen, was man gewöhnlich leider nicht
tut. Man wird den Zugang von außen her durch Straßen -
serpentinen für den Wagen- und Lastenverkehr erleichtern,
denn wenn gewundene Wege irgendwo am Platze sind, so
sind sie es hier, an den Außenseiten der Stadtanlage, die
Steilheit zu überwinden. Man wird sich aber den archi -
tektonischen Vorteil nicht entgehen lassen, das Wohnviertel
im Innern terrassenförmig anzulegen, schöne regelmäßige
Plätze als breite Stufen übereinander anzuordnen und die
Verbindung solcher Terrassen durch schmale Gartengassen
und Stiegenanlagen herzustellen. In der Ebene ist alles viel
bequemer zu machen, aber freilich ohne die Möglichkeit
einer solchen außerordentlichen Wirkung. Unter allen Um -
ständen aber wird die ganze Anlage nicht mehr ein Haufen
lose nebeneinanderstehender Häuser sein, sondern ein plan -
volles, abwechslungsreiches, baulich zusammenhängendes Ge -
bilde von Häusern, Verbindungsmauern, sich weitöffnenden,
aber vor den Blicken wieder zusammenschließenden Plätzen,
Brücken, Stiegenanlagen, Gartengrün, geschnittenen Hecken
darstellen, darin aber jedes Haus ein Individuum ist, ein
Eigenleben führt und isoliert sein kann, trotzdem es nicht
den Unfug einer Feuermauer oder den schematischen Be -
griff einer „geschlossenen Bauweise“ geben wird.
Solche Anlagen hat oft auch im ganz kleinen Umfang die
ältere heimatliche Bauweise in wunderbarer Weise gelöst und
es ist zu verwundern, daß man solche Vorbilder so be -
harrlich übersehen konnte. Ortschaften, die unter der Herr -
schaft des Schemas furchtbar entartet sind, haben oft noch
einen geringen Rest des alten Bauzustandes, der die ganze
Schönheit offenbart. Man frägt sich, wie man an solchen
Beispielen ganz blind vorübergehen konnte. Die ältere
heimatliche Baukunst also, ohne nach dem Schema: ge -
schlossene oder offene Bauweise, vorzugehen und ohne an
das eine oder an das andere zu denken, hat auf natürliche
Art beides zugleich verwirklicht, offene und geschlossene
Bauweise. Jedes Dorf, jede kleine Stadt, jedes Schloß mit
einem Anhang von ein paar Bürgergassen und einem Platz -
gebilde liefert Beispiele dafür. Sie hat jedes Haus als In -
dividuum behandelt, für eine Familie bewohnbar und ent -
sprechend isoliert, mit ein paar Fensterfronten nach der
Gasse und einem Vorgärtchen unter den Fenstern, aber sie
hat durch eine Torwand neben dem Hause eine Mauerver -
bindung mit dem Nachbarhause hergestellt. Das Tor in der
Verbindungsmauer ist der Eingang in den Hof, wo sich das
Haus mit den verschiedenen Räumen lang hinzieht, ein
wohnlicher Gartenhof, dem sich hinten der eigentliche Garten
119
anschließt. Oft ist der schmale Hof feine Pergola, oft ist er
weiß gepflastert, Gartenmöbel und Kübelpflanzen stehen
darin, ein entzückender Anblick und Aufenthalt. Nach außen
hin ist die Wandflucht geschlossen, hie und da überragt von
wiegenden Baumkronen, hie und da in der Wandflucht eine
Unterbrechung durch ein neugierig vortretendes Haus mit
seitlichem Auslug; überall aber unter den Fenstern und nur
zwei, drei Fenster breit, die Vorgärtchen, umzäunt, um Platz
zu machen für das Tor, für den Geschäftsladen, die Auslag-
fenster oder für einen erkerartigen Vorbau, um sich in der
Fluchtlinie immer wieder fortzusetzen, wo weder Tore noch
Läden, noch Vorbauten, sondern nur Fenster von blumen -
bedürftigen Wohnstuben sind. Und endlich, wo die Straßen
tief gehen, wie in den erwähnten Mulden oder ehemaligen,
nun überdeckten Wasserläufen, und die Häuser zu beiden
Seiten hoch an den Berglehnen stehen, mit Futtermauern
unter sich und Treppen die Futtermauern empor und wo
nichts als Mauern die Straßen säumen oder endlich, wie in
den Gassen mit lang hinziehenden Gärten, von hohen Mauern
umschlossen und üppigem Grün und Sträucherwerk über -
wuchert — wer sollte nicht die Schönheit einer gut gebauten
Mauer kennen, wer hat noch nicht die wundersame Einsam -
keit der schönen Gartengassen mit den festen Gartenmauern
gefühlt? Gewiß wird jeder sagen wollen, sie zu kennen oder
sich ihrer Schönheit zu erinnern, sicherlich aber haben sie
die Schöpfer jener albernen Bauvorschriften, die eine „durch -
sichtige“ Einzäunung verlangen und die geschlossenen Mauern
verpönen, nicht gekannt. Lieber trägt man heute mit enormen
Kosten einen ganzen Berg ab, bevor man sich entschließen
würde, Mauern zu errichten, Terrassen anzulegen und ein
architektonisch schönes Gebilde, das den Ausdruck mensch -
licher Angemessenheit und edler Sachlichkeit trägt, auszu -
führen. Lieber arbeitet man nach dem Schema: offene oder
geschlossene Bauweise und hat nicht weiter zu denken.
Bis hieher bleibt sich alles gleich, ob man ein Villenviertel
oder ein Arbeiterviertel baut. Zu den Notwendigkeiten, zu
denen gute Bauweise, gutes Material, alle hygienischen Ein -
richtungen und die erwähnte wohlerwogene Angemessenheit
gehören, gilt für alle Fälle dasselbe: schöne Sachlichkeit und
Einfachheit.
Das Villenviertel kann nun je nach dem Reichtum seiner
Bewohner hinausgehen und diese schöne Sachlichkeit und
Einfachheit kostbar machen: edle Hölzer und Marmor
verwenden, Plastiken an ihren Häusern aufstellen, seltene
Blumen ziehen und im ganzen ein Plus materieller An -
sprüche zeigen, die aber keinen wesentlichen Unterschied
bedeuten und nicht die menschlichen Notwendigkeiten be -
rühren, die unter richtigen Verhältnissen auch im einfachsten
Arbeiterdorf erfüllt sein sollten.
Das Rechte in diesen Dingen zu suchen und zu finden, wird
immer Sache des künstlerischen Ingeniums sein müssen.
Ich wollte nur auf die allgemeinen Fragen und Forderungen,
die geltend zu machen sind, aufmerksam machen und die
Möglichkeit eines Verständnisses für solche im Interesse des
Volkswohles wichtige Angelegenheiten erschließen; keinesfalls
aber wollte oder könnte ich ein Rezept geben, wie es in jedem
besonderen Falle zu machen ist. Dafür sind ja die Bauämter
da, die Schemen aufstellen, Schablonenbegriffe, wie offene
oder geschlossene Bauweise und ähnliche landesgefährliche
Verordnung. Wenn mir nichts gelungen ist, als diesen Bureau-
kratengeist zu verdächtigen und die Staatsbürger gegen ihn
aufzuwiegeln, so betrachte ich es schon als einen großen
Gewinn und fühle mich für diese und fernere Bemühungen
im Namen der wenigen wahrhaften Baukünstler mehr als
belohnt.
REGULIERUNGSPROJEKT DES
THEATERPLATZES IN BERN.
DORF IN VERBINDUNG MIT DEM
BAU EINES GESELLSCHAFTS.
HAUSES,
m VIII. KAPITEL unseres „STÄDTESTUDIUMS VOM
STANDPUNKT DER HEIMATLICHEN KULTUR“ ist
von dem Fabriksort Berndorf die Rede, von Regulierungs -
absichten und Vorschlägen zu einem Ausbau des Arbeiter -
dorfes nach modernen, hygienischen, sozialen und künst -
lerischen Grundsätzen. Die damalige Schilderung beschäftigte
sich auch mit der eigentümlichen Lage des Theaters, das
die Rückseite dem Hauptplatz zuwendet, und mit der Möglich -
keit einer angemessenen Regulierung. Die Sache stellt ein
Problem an das Talent.
Es wurde damals in folgenden Sätzen erörtert: „Die ver -
kehrte Stellung des Theaters mit dem Bühnenausgang nach
dem Hauptplatz würde ein künstlerischer Architekt leicht
korrigieren können, indem er die dahinterliegende Park -
landschaft dem Regulierungsplan einschließt, in der Achse
des Haupteinganges vom Theater das längst beabsichtigte
Kasino mit Musikveranda und Terrassen errichtet, durch
geschnittene Hecken oder Laubwände beide Gebäude ver -
bindet und diesen Park unter möglichster Schonung des
Baumbestandes zu einer öffentlichen architektonischen Garten -
anlage mit Lauben und Laubwänden, dahinterliegenden
Sportplätzen, ferner mit schönen Brunnen und sonstiger
Plastik unter Betonung einer richtigen Gartenarchitektur um -
wandeln würde. Dadurch würde der heute noch schlecht zu -
gängliche Platz vor dem Haupteingange des Theaters zum
gesellschaftlichen Mittelpunkt Berndorfs und der heutige
Hauptplatz, der vom architektonischen Standpunkt kein
Platzgebilde, sondern eine breite Fahrstraße mit einem
breiten Trottoir ist, der eigentliche Sammelpunkt der
paar Gemüsestände, was er auch heute schon ist. Einen
wirklichen öffentlichen Vereinigungspunkt, der architek -
tonisch auch als solcher charakterisiert ist, hat Berndorf
noch nicht.“
Dieser Gedanke hat in dem vorliegenden Regulierungsprojekt
sichtbare Gestalt gewonnen. Es umfaßt die Erschließung
und Umgestaltung des Parkes, in dem das Theater steht,
die teilweise Regulierung des Baches, die Errichtung des
Gesellschaftshauses, die Verlegung der Hauptzufahrt und
des Haupteinganges mit teilweiser Eindeckung des Wasser -
laufes von der Fabriksstraße her, die Anlage eines geeigneten
Wagenaufstellungsplatzes, die Zufahrt zum Kasino einerseits
und zum Theater anderseits und hinter dem Kasino die
Anlage eines Sportplatzes, beziehungsweise die Abgrenzung
einer großen Wiese für Feste im Freien etc. etc. Die Spezial -
pläne für das Gesellschaftsbaus, in verkleinerter Wiedergabe
hier reproduziert, zeigen eine Architektur, die das Wesen
des Hauses zum Ausdruck bringt. Es beherbergt im Erd -
geschoß das Vestibül mit den Garderoben, den großen Ober -
lichtsaal mit Podium für Musikaufführungen, Feste etc.,
links und rechts davon mit getrennten Zugängen ein Klub -
lokal und ein Speisezimmer, dahinter eine Cafélokalität
und ein zweites Klublokal; in Verbindung mit dem Festsaal
einen Erholungsraum, ferner einen Schankraum, eine Offize
und sonstige Zweckmäßigkeitsanlagen. An der Vorderfront be -
finden sich offene Terrassen, von dem weitausladenden Dach
geschützt. Die Küchen und Vorratsräume, Heizanlagen etc.
120
REGULIERUNGSPROIEKT DES THEATERPLATZES IN BERNDORF in Verbindung mit einem
—- - ZU ERBAUENDEN KASINO
(GESELLSCHAFTSHAUS). PERSPEKTIVISCHE ANSICHT UND GRUNDRISS DES THEATERPLATZES MIT SEINEN BAUTEN; UMSEITIG
DIE DETAILPLÄNE DES NEUEN KASINOS. DIE ANLAGE-IDEE SOWIE DIE ENTWURFSGEDANKEN SIND EIGENTUM DER „HOHEN
WARTE“, BEZIEHUNGSWEISE DES ENTWURFSKÜNSTLERS ARCHITEKTEN ADOLF HOLUB.
121
KASINO IM THEATER-
PARK, VORDERFRONT
UND GRUNDRISS. □
sind im Kellergeschoß untergebracht und im Dachgeschoß
die Wohnräume des Wirtes und der Bediensteten. Die
Innenanlage bestimmt die äußere Form des Gebäudes. Die
Dachbildungen, die Lage der Fenster und Türen, kurz das
Aussehen eines Gesellschaftshauses, das sich auf dem Lande
befindet. Es muß hinzugefügt werden, daß der Park, beziehungs -
weise Garten noch eine wesentlich andere architektonische
Gestaltung empfangen kann, als in dem ersten, hier vor -
liegenden Entwurf dargestellt ist. Diese Entwürfe wollen
vorderhand nichts weiter bedeuten als den Umriß einer Idee,
die der Beachtung und Verwirklichung wert ist; es soll ge -
zeigt werden, wie eine solche Aufgabe gelöst werden kann.
Es ließen sich natürlich Hunderte von Varianten erfinden,
das Wesentliche aber ist schon in dieser Form gegeben, der
Zusammenhang des Zweckes, der Form
und der äußeren Umgebung. Die Anlage -
idee, wie sie in unserer seinerzeitigen
Schilderung mitgeteilt war und im Ent -
wurf hier vorliegt, sowie diese Entwurfs -
gedanken selbst sind Eigentum der
„HOHEN WARTE“, beziehungsweise des Entwurfskünstlers
Architekten Adolf Holub.
Andere Berndorfer Fragen, in unserem seinerzeitigen Auf -
sätze berührt, finden zum Teil an einer anderen Stelle dieses
Heftes, und zwar in dem Artikel „Offene und geschlossene
Bauweise“, eine teilweise Erledigung. Wir haben ja ver -
sprochen, über Platz- und Straßenanlagen Winke zu geben,
die auch für die dortigen Verhältnisse wertvoll sein können.
Das letzte Wort in dieser Sache wird noch der Architekt
haben, der diesen Grundsätzen eine sichtbare Anwendung
gibt. Es wird wahrscheinlich nicht ausbleiben. Ein großes
Terrain soll als Arbeiterwohnviertel neu bebaut werden. Was
in der „offenen und geschlossenen Bauweise“ gesagt ist,
würde auch in diesem Falle gelten, wenn eine moderne An -
lage auf künstlerischen, hygienischen und sozialen Grund -
lagen beabsichtigt ist, für welche die bekannten englischen
Arbeiterdörfer Baurneville und Sunlight ein musterhaftes
Beispiel liefern. Sollte hier Gleich -
wertiges entstehen, dann müßte der neue
Arbeiterbezirk als selbständiges kleines
Stadtwesen angelegt werden, in der Art,
wie die Gartenstädte projektiert werden,
als ein Kranz kleiner Stadtorganismen,
durch Wald- und Wiesengürtel getrennt, weithin ausgebreitet
und durch Kommunikationsmittel untereinander verbunden.
Ein solcher kleiner Stadtorganismus sollte so ziemlich alles
besitzen, was das Leben nötig hat. Es wird bei der Anlage
durchaus von lokalen Verhältnissen auszugehen sein. Bei
Anlage der Straßen und Plätze ist auf die natürliche Boden -
gestalt sehr zu achten. Das neue Arbeiterwohnviertel soll auf
unebenem Terrain angelegt werden, das vielleicht in bau -
künstlerischer Hinsicht ein interessantes Problem liefert.
Wasserscheiden und Wasserrinnen, Mulden und Anhöhen,
die Feuchtigkeitsverteilung, die ursprüngliche Vegetation, be -
stehende Baumgruppen, die feine Weisung der alten ursprüng -
lichen Straßen und Feldwege wird sich der Architekt nicht
entgehen lassen; er wird sie künstlerisch verwerten. Er wird bei
steigendem Terrain möglicherweise Terrassen- und Stiegen -
anlagen herstellen, größere Platzbildungen versuchen, den
Mulden ausweichen, die Wohngassen so anlegen, daß sie
möglichst viel Trockenheit, Luft und Sonne haben. Bis heute
zeigen die Beamten- und Arbeiterhaus-
Tn* tutjattjü anlagen nicht das Bestreben, über eine
PARK, SEITENFRONT nüchterne und dürftige Schablone hinaus-
UND GRUNDRISS, o zukommen.
KASINO IM THEATER -
PARK, RÜCKSEITE UND
GRUNDRISS. □ O □ Q
123
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C3*
RUSSISCHE HOLZARCHITEKTUR.
MALJUT1NS
KÜNSTLERISCHE HOLZARBEITEN.
M aljutin kann seiner künstlerischen Logik und seinem
eigenartigen Verhalten den Aufgaben des Malers
gegenüber am ehesten mit den Japanern verglichen
werden, die in ihren Schöpfungen ebenso charakteristisch
national, ebenso primitiv und von einem ebenso göttlich schönen
Kolorit sind. Maljutin machte zuerst Aquarelle zu Puschkins
Märchen und äußerte eine außerordentlich starke, bestrickende
und für die Wiedergabe des Märchenhaften überaus geeignete
Begabung. Nach diesem Aufleuchten seines Talentes verscholl
Maljutin aber ganz, er fand keinen Boden und keine Ent'
Wicklungsmöglichkeit. In dieser für ihn kritischen Epoche
lernte er die Fürstin Tenischew kennen, die ihm anbot,
sich auf ihrem Gut Talaschkino niederzulassen. Hier begann
für den Künstler ein neues Leben wie für eine Pflanze, die
124
FENSTERRAHMEN.
in einen passenden, gesunden Boden versetzt wird. Seine
Aufgabe hier bestand in der Leitung der Hausindustrie'
schulen und Ausarbeitung von Modellen für die Bauern.
Außerdem baute er einen „Tjerem“ (altrussische Bezeichnung
für ein kleines Haus), in dem sich die Schulbibliothek be'
findet und ein für 200 Zuschauer berechnetes Theater. Seine
Architektur ist echt russisch, bäuerisch, frisch, phantastisch
und malerisch. Man weiß nicht, wo Maljutins schöpferische
Phantasie beginnt und wo der Reiz der russischen Land'
Schaft auf hört. Die Tore mit den märchenhaften Vögeln, die
in den Wald führen, verweben sich mit den Fichtenzweigen
auf dem Hintergrund der durchscheinenden, dichten, blenden'
den Schneedecke.
Maljutin gehört ebenso wie Gallen zu den Naturen, aus
deren Verschmelzung mit den kostbarsten Eigentümlichkeiten
ihres Landes die mächtige Kunst eines zweiten rinascimento,
das sich diesmal im Norden vorbereitet, erstehen wird.
RUSSISCHE HOLZARCHITEKTUR. FASSADE.
Was an diesen Holzarbeiten bedeutsam erscheint, sind die^
selben vorzüglichen künstlerischen Eigenschaften, die uns
an jeder Art von sogenannter primitiver, volkstümlicher
oder bäuerlicher Kunst auffällt, ein Stil, der nicht Willkür,
sondern Ausdruck des Materials ist, und die Verwendung
kräftiger Farben. Aus den Zeichnungen ist auf den ersten
Blick erkenntlich, daß das Holz als Stab, Latte oder Schindel
den bildsamen Stoff für diese Formen abgegeben hat und
daß seine Struktur in diesen Formen wesentlich mitspricht
als das, was man schlechthin Stil nennt. Daß in der Fornv
Erfindung, im Ornament, in den figuralen Darstellungen, in
den Symbolen nationaler Elemente legendäre Überlieferungen
und individuelles dichterisches Vermögen die Grundlage
bilden, ist selbstverständlich; es soll nur nicht vergessen
werden, daß dieser Inhalt, um künstlerisch zu wirken, sich
so ausdrücken muß, wie es dem Baustoff, hier das Holz,
natürlich ist. Diese Sachlichkeit in bezug auf das Material
ist es, die die Ausdrucksfähigkeit steigert, während jede um
sachliche Vergewaltigung des Materials die Ausdrucksfähigkeit
vermindert. In jeder Art sogenannter primitiver Kunst,
sowie in jeder Art guter stilistischer Kunst, liegt diese ge -
steigerte Wirkung. Je einfacher, strenger und ökonomischer
die Mittel behandelt sind, desto größer scheint ihre Ausdrucks -
möglichkeit.
125
HOLZGITTERTOR.
HOLZGITTERTOR.
127
HAUS UND GARTEN.
VON GERTRUD JEKYLL, LONDON.
(Fortsetzung.) In dem Hohlweg
lagert eine dichte Masse alten Laubes und tiefer unten befindet
sich ebenfalls eine hohe Blätterschicht, denn die alte Allee
beherbergt nicht nur das abgefallene, sondern auch das in
sie von allen Seiten her hineingewehte Laub. Etwa zwanzig
Ellen weiter und fast ganz in der Tiefe steht eine große
Buche, die durch ihr Alter bezeugt, daß die Straße schon
seit hundertundfünfzig Jahren oder noch länger außer Gebrauch
ist. Etwas näher seitwärts steht eine große Steineiche. Ihr
blaßgrauer, glatter, fünfzehn Zoll dicker Stamm erhebt sich
zwölf Fuß hoch ohne Zweige; dann beugen sich die unteren
Äste kühn herab und ihre äußeren Enden berühren die
sandige Anhöhe. Die mächtige Buche wölbt sich über dem
alten Hohlweg, der steil nach unten führt und dessen weiterer
Verlauf durch eine Krümmung und die Ausladung der Anhöhe
rechts verborgen wird. Das Hundsbingelkraut wächst hier
dicht und das darauf fallende Sonnenlicht läßt es als eine
Masse glänzender, grüner Farbe erscheinen.
Während ich ruhig dasitze, höre ich in dem Wald links hoch
über mir irgend ein kleines Tier zwischen dem toten Laub
jagen. Dem leisen Geräusch nach dürfte es eine Feldmaus
sein. Die Bewegung ist für ein Wiesel oder gar für ein
Hermelin nicht behäbig genug; es ist das Geräusch eines
Tieres, das weniger als drei Lot wiegt. Jetzt begebe ich mich
an eine vor kurzem ausgeholzte Stelle, wo der Boden also
frei liegt, es ist ein halber Morgen unbebauten Landes, das
auf dem sonnigen Hügelabhang liegt und mit den auf dem
sandigen Boden heimischen feinen Gräsern und hie und da
mit Büscheln des lieblichen Salbeis bedeckt ist, der im Hoch'
sommer blühen wird. Das niedere Fünffingerkraut, dessen
Blumen einer kleinen Walderdbeere gleichen, steht in Blüte,
ebenso wie Hundsveilchen und Stechkraut, und hie und da
breiten sich Kletten aus, deren große Blätter mit den kühn
gewellten Rändern mir immer eines Platzes im Garten würdig
erscheinen.
Gerade über dieser offenen Stelle zieht sich eine niedere
Haselnußhecke hin, die auf immer mehr ansteigendem Walch
gründe steht. Was für ein hübsches, heimliches Plätzchen
hat sich das kluge Kaninchen hier am Fuße des niederen
sandigen Dammes ausgesucht, wo es dank den Wurzeln der
alten Haselnußbäume immer ganz trocken ist. Darüber breitet
sich ein Teppich wilder Hyazinthen aus, mit Steineichen im
Hintergrund und ein kleiner Garten dieser Blumen befindet
sich vor dem Eingang in die Höhle, wo einige Pflanzen durch
die früheren Grabversuche des Tieres teilweise verschüttet
sind. Hier wachsen auch mehr Kletten. Ihre Blätter erreichen
fast die Größe derjenigen des Kürbisses, ohne jedoch deren
reizvolle Schlaffheit zu besitzen, und erinnern ihrer Dicke nach
an Rhabarber, nicht so rauh. Ich kann ihre gewellten Ränder
und die Kraft der Linie ihrer „Zeichnung“ von der Wurzel
bis zur Blattspitze nie genug bewundern. Es ist eine Pflanze,
die wegen ihrer effektvollen Blätter im Frühjahr in keinem
Garten fehlen sollte; sie würde dort ebenso am Platze sein
wie Veratrum oder Artischocken. Späterhin gibt es auch
andere Pflanzen mit charakteristischen, schönen Blättern, im
April oder Mai findet man jedoch so wenige, daß keine über'
sehen werden sollte.
In verschiedenen Wäldern in meiner Nachbarschaft wachsen
alte Gruppen des gewöhnlichen Lorbeers, der nie ausgehauen
oder gestutzt wurde. Die Bäume scheinen alle gleichaltrig
zu sein und müssen zu Beginn des Jahrhunderts gepflanzt
worden sein, denn sie waren schon alte Bäume, als ich noch
ein Kind war. Große Gruppen davon befinden sich in den
Waldungen oder in dem Gebüsch der vier angrenzenden
Besitzungen. Es ist, als hätten die vier benachbarten Guts'
besitzer sich miteinander ins Einvernehmen gesetzt, um den
Versuch zu machen, sie als Unterholz anzubauen. Ich habe
keine Vorliebe für den gestutzten, in Form von Sträuchern
wachsenden Lorbeer, wenn er aber wild im Walde wächst,
ist er ein hübscher kleiner Baum von bedeutender malerischer
Wirkung. Seine glatten grauen Stämme erinnern ein wenig
an Elefantenrüssel oder an eine Art grauer Schlangen, um'
somehr als sie gekrümmt sind und sich beinahe zu winden
scheinen, da sie sich häufig nach unten biegen, auf dem
Boden liegen, sich dann wieder aufrichten und von neuem
krümmen. Diese Art des Wachstums der Sträucher erinnert
an die alten griechischen Mythen, in denen von der Ver'
Wandlung der Menschen oder Tiere in irgend einen Baum
oder eine andere Pflanze die Rede ist; und obgleich die uns
am besten bekannte Strauchart dieser Gattung aus dem
Kaukasus und den angrenzenden russischen und türkischen
Provinzen stammt, erinnere ich mich, auch in Griechenland
davon gehört zu haben, wo solche Gedanken in den idyllischen
Dichtern der verflossenen Tage, die auf ihren Wanderungen
an den schlangenähnlichen Stämmen des in den Bergen wild
wachsenden Lorbeers vorüberkamen, enstanden sein mochten.
III.
EIN GOLDLACKGARTEN.
Ich beobachte und studiere unermüdlich, wie die Pflanzen
es unter schwierigen Umständen bewerkstelligen, nicht nur
zu existieren, sondern sogar zu gedeihen. Mein armer,
sandiger Boden bietet mir für diese Art, zu beobachten,
nur zu oft Gelegenheit. Ich gehe jetzt, an einem ziemlich
kühlen Nachmittage im April, in einen geschützten Teil des
Gartens und setze mich beinahe zufällig einem spärlich mit
Immergrün bewachsenen Hügel gegenüber hin. Dieser Hügel
ist der nördliche Abhang eines Sandwalls, der mit einer
dünnen, armseligen, von einer ausgerodeten Hecke zurück'
gebliebenen Erdschicht bedeckt ist. Dieser Platz ist eigens für
den Immergrün bestimmt worden, um sein Wachstum zu
hemmen und es zu vermeiden, daß er ein dichtes Netz von
Wurzelausläufern bildet, was sehr bald geschieht, wenn er
in einen fruchtbaren Boden gepflanzt wird. Diese Ärmlich'
keit des Bodens und die Trockenheit seines Standortes im
Sommer hält ihn auf einem Fleck zurück und er bildet
kräftige, reichblühende Büschel mit nur wenigen, schwachen
Wurzelausläufern. Zwischen ihnen auf der Erde befindet sich
etwas, das an zollange hellrosa Blütenknospen erinnert. Ich
schaue näher hin und sehe, daß es die im letzten Herbst
von einem diesen Abhang überschattenden Baum herab'
gefallenen Eicheln sind. Die Eicheln haben ihre äußere Schale
abgeworfen und die innere Haut, die ursprünglich grüngelb
war, ist zuerst blaßrosa und nachher von einer kräftigen
karmoisinroten Farbe geworden. Die ersten Wurzeln sind
entsprungen und haben sich energisch in die Erde ver'
senkt, obwohl die Eichel noch immer auf der Oberfläche
liegt.
Es gibt verschiedene Arten Immergrün. Dazu gehört die
gemeine Vinca major und deren verschiedene Variationen;
die Vinca minor, die am häufigsten in den Gärten anzutreffen
ist und blaue, weiße und oft scheckige Blüten hat; der gefüllte
Immergrün mit unregelmäßigen purpurroten Blüten; die
gefüllte blaue und eine wilde weiße Abart aus Norditalien
128
mit einer Fülle kleiner Blüten und einer gedrängten büscheF
ähnlichen Art, zu wachsen, die ihr etwas Vornehmes verleiht
und sie zu einer hübschen Gartenpflanze macht. Der gefüllte
blaue Immergrün bleibt hier im Wachstum hinter den andern
zurück; ich glaube, er würde auf einem kräftigeren Boden
besser gedeihen. Ich habe von einer gefüllten weißen Art
gehört, die auch eine hübsche Pflanze sein soll, sie wurde
mir sogar versprochen, ist jedoch nie in meinen Garten
gelangt.
Eine von mir sehr bewunderte und oft gezüchtete Abart dieser
Familie ist die Vinca acutiflora aus Südeuropa. Sie erforderte
im Gegensatz zu ihren nördlicheren Verwandten einen
sonnigen Standort und ich habe sie darum an der Süd'
seite des Abhanges bei den Akanthusgruppen gepflanzt,
wo sic im Spätherbst ihre hübschen glänzenden Blätter
und großen zarten blaßblauen Blüten in üppiger Weise
entfaltet.
Unter den kleineren Immergrünpflanzen befinden sich an
der Nordseite Zwischenräume, in welche die benachbarten
Goldlackstauden ihren Samen fallen ließen, der auch auf'
gegangen ist. Manche dieser Pflänzchen, die wohl auf den
unergiebigsten Grund geraten sind, haben sich, ohne einen
Stamm zu bilden, nach allen Seiten hin verzweigt und sehen
wie eng an die Erde geschmiegte dichte grüne Rosetten aus.
Andere, denen es etwas besser geht, haben gedrungene,
kräftige Stämme und reiche Büschel kleiner, beinahe horn'
ähnlicher, dunkelgrüner Blätter, die eng aneinandergedrängte,
aber üppige Blüten verheißen. Sie sind gleich den Bewohnern
einer unfruchtbaren Gegend, die niemals Wohlhabenheit
und Behaglichkeit gekannt haben, nur um so derber,
leistungsfähiger und selbstvertrauender geworden und ich
wage es zu behaupten, daß sie noch einmal so lang leben
werden wie ihre aus derselben Saat aufgegangenen Schwester'
pflanzen, die sorgfältiger und reichlicher genährt wurden.
Keine verpflanzte Goldlackstaude kann auf meinem ärmlichen
Boden mit jenen verglichen werden, die hier aus der Saat
entsprungen sind, und erlangt nie die baumartige Härte an
den unteren Teilen ihres holzigen Stammes, die man an den
an dieser Stelle gesäten und gewachsenen bemerkt. Ich habe
durch langjährige Beobachtung noch mehr als das bemerkt,
und zwar, daß nur diese Pflanzen die vielen Verschieden'
artigkeiten in ihrem Wesen aufweisen, die man als eine
Art individueller, persönlicher Charakteristik bezeichnen
kann und die der Pflanze ein um so größeres und man kann
sagen, beinahe menschliches Interesse verleihen. Ich besitze
so ein reizendes Exemplar, das mir große Freude macht. Die
Blüte ist von einem satten hellen Orange, das an den äußeren
Rändern der Blütenblätter dunkler wird und feine, zarte
Linien von satter Mahagonifarbe aufweist, welche in dem
Maße, wie sie sich dem äußeren Rand nähern, an Ausdehnung
und Fülle der Farbe zunehmen, sich endlich vereinigen und
eine Kante von dieser reichen, leuchtenden Farbe bilden.
Der Rücken der Blütenblätter ist ganz von dieser dunklen
Färbung, und obgleich die Blume ziemlich konsistent ist,
glaube ich doch immer, daß diese satte Färbung der Rück'
Seite etwas mit dem leuchtenden Gelb des Innern zu tun
hat. Der die ungeöffneten Knospen umschließende Kelch
ist von einem dunklen Purpurbraun. Die Blätter sind dunkel
und stumpf grün gefärbt und von einem Bronzebraun durch'
zogen, das sehr an die Färbung der braunen Wasserkresse
erinnert. Die Pflanze wächst gedrängt und stämmig, macht
aber doch keinen zwerghaften Eindruck.
Wenn ich über genügenden geeigneten Raum verfügen würde
und für meinen Garten mehr ausgeben könnte, würde ich mir
für so manche schöne Pflanze einen besonderen Standplatz
wählen. Jetzt muß ich mich jedoch mit eigenen Gärten für
Primeln, für Päonien und für Michaelistausendschönchen be'
gnügen. Und ich bin wirklich dankbar dafür, daß ich wenn
auch nur das besitzen kann; wir Gartenliebhaber sind aber
ein gieriges Volk und wollen immer mehr und mehr haben!
Ich wünsche mir einen Rosengarten, einen Tulpen', einen
Nelken', einen Akelei', einen Farrngarten und verschiedene
andere Arten von Gärten; wenn ich aber nur irgend könnte,
würde ich mir vor allem einen Goldlackgarten anlegen.
Ich würde ihn entweder in Verbindung mit bestehenden
alten Mauern planen oder, in Ermanglung dieser, neue
Mauern oder mauerartige Bauten eigens aufführen lassen.
Diese Mauern würden einen Baumeister befremden, einen
guten Gärtner jedoch entzücken, da das abbröckelnde, aus
zufällig geformten, halb vermoderten Steinen und offenen
Spalten bestehende Mauerwerk, das jeden Tropfen des will'
kommenen Regens eher empfängt als abwehrt, gerade die
von den Mauerpflanzen bevorzugten Bedingungen schafft.
Goldlack gehört zu den Kalk beanspruchenden Pflanzen, so
daß die Steine in ein lockeres Bett gestoßenen Mörtelschuttes
gesetzt werden sollten, es würden auf diese Weise halb aus
Mauern und halb aus Hügelabhängen bestehende, wellige
Böschungen entstehen. Ich würde natürlich darauf bedacht
sein, daß die Linien des Gartens in einem entsprechenden
Verhältnisse zu den anderen benachbarten Teilen der Gegend
stehen, etwas, was sich für jeden in Frage kommenden Fleck
nur an Ort und Stelle bestimmen läßt.
Das Pflanzen oder vielmehr das Säen der verschiedenen
Pflanzengattungen würde aber wohl wenig Schwierigkeiten
bereiten. Ich würde vor allem eine gute Art des blutroten,
einzeln wachsenden Goldlacks aussäen, den ich auf einen
großen Raum verteilen würde. Dann eine schöne gelbe Ab'
art, entweder den Belvoir oder den Bedfont, dann den purpmv
roten und dann die neue blässere Art, deren Blüten eine
Färbung haben, die zwischen elfenbeinweiß und ledergelb
schwankt. Ich würde die Aussaat auf abgesonderte, aber um
regelmäßige Strecken verteilen und jede Art müßte ihren
bestimmten, wenn auch nicht gleichartigen Anteil an Mauer'
werk, ebener und hügeliger Fläche haben. Der sichtbarste
Teil sollte mit dem kleinen, sich ausbreitenden Alpengoldlack
und seinen Abarten bedeckt werden, die am meisten geschützt
werden sollten. Die einzigen mir bekannten Exemplare dieser
Klasse sind der Cheiranthus alpinus, der sehr schön hell
zitronengelb gefärbt ist; der Cheiranthus mutabilis, der ein
ins Orange übergehendes Purpurrot aufweist, und der Chei'
ranthus Marshalli, die tief orange gefärbte Abart des Chei'
ranthus alpinus. Die Samen des Cheiranthus alpinus dürften
erhältlich sein, obzwar ich nicht versucht habe, sie mir zu
verschaffen. Cheiranthus Marshalli und Cheiranthus mutabilis
bilden nie Samen. Noch ein paar andere Pflanzen würden in
den Goldlackgarten zugelassen werden, so der gelbe Alyssum
an sonnigen Abhängen und Tiarella an kühlen und halb'
schattigen Stellen; an den Mauerrissen würde ich aber die
schöne Corydalis capnoides, die zarteste und lieblichste der
Erdraucharten, in ansehnlichen Mengen pflanzen. Den zum
Goldlackgarten führenden Weg würde ich gerne mit schmalen
Felsen oder trockenen Mauern einfassen. Diese sollten mit
Aubrietias, einer Abart der Aubrietias graeca, von leuchtender
heller Purpurfarbe, mit gefüllten Kuckucksblumen in zwei
Farbenschattierungen und einer reichlichen Menge des Cera'
stium tementosum, mit den grauen Blättern und der zarten
weißen Blüte, der so häufig in Gärten vorkommt und doch
so selten gut verwertet wird, bepflanzt werden; ich würde
auch ein wenig von der überall wuchernden Arabis albiada
mit hineinnehmen. (Fortsetzung folgt.)
129
DIE MASCHINMÖBEL DER
DRESDNER WERKSTÄTTE.
EINE ARBEITERWOHNUNG.
D ie Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst
bringen unter der Bezeichnung „Dresdner
Hausgerät“ Maschinmöbel in den Handel.
Diese Möbel sind nach einem neuen Verfahren ge^
arbeitet, demgemäß sie sehr leicht auseinander^
genommen und wieder zusammengesetzt werden
können. Sie eignen sich deshalb mehr für den Ex^
port, weil an Verpackung gespart wird, indem
mehrere Stücke zusammen in einer Kiste oder
Verschlag versendet werden können, als jetzt, wo
jedes Stück eine eigene Kiste beansprucht. Für Leute,
die oft den Wohnsitz wechseln, erscheint die Am
Schaffung solcher Möbel von Vorteil.
DAS WOHN- Unsere drei Illustrationen zeigen eine
ZIMMER. □ Arbeiterwohnung,Wohnzimmer, Schlaf -
zimmer und Küche, aus solchen Maschin-
möbeln hergestellt. Es ist natürlich nicht die
einzige Art, Arbeiterwohnungen einzurichten, es
ist vielleicht möglich, bei der Arbeiterwohnung
mit noch größerer Ökonomie vorzugehen und
ebenfalls entzückende Lösungen hervorzubringen. Es
soll daran erinnert werden, daß sich aus weichem
Holz in geradliniger Konstruktion, gleichsam einem
Gefüge von Brett und Stab, Möbel herstellen lassen,
wenn die Verwendung von kräftiger Farbe mit in
den Bund tritt. Es existieren bereits Beispiele von
farbigen Räumen, alle Holzteile in ausgesprochenen
kräftigen Farben gestrichen und mit einem schablo-
nierten Flächenornament geschmückt. Hier liegt
jedenfalls noch eine ganze Entwicklung offen. Es
kann in diesem Zusammenhang nicht von allen
Möglichkeiten die Rede sein, sondern zunächst
davon, daß in den Maschinmöbeln der Dresdner
schöner Anfang gemacht, dem
ein guter Erfolg zu wünschen ist,
denn alle Merkmale eines zweckmäßi -
gen Möbels, sachliche Form und Ent -
haltsamkeit von unseligen Schmuck -
elementen ist vorhanden, den Versuch
durch das schablonierte Flächenornament finden wir
hier ebenfalls und die Herstellungsweise ermöglicht,
wie es scheint, eine Versorgung des Marktes und des
Privatbedarfes auf billige Weise. Was dem Klein -
bürger und Arbeiter von dem bisherigen Lieferanten
angeblich praktischer, billiger und moderner Möbel,
auch im „Sezessionsstil“, geboten wird, ist in der
Regel ein Skandal von Geschmacklosigkeit und Über -
vorteilung. Auf dem heutigen Möbelmarkte, wo sich
der Kleinbürger versorgt, ist immer noch das Schlechte
in der Mode. Sorgen wir doch dafür, daß endlich ein -
mal das Gute in die Mode kommt und in anständiger
Ausführung und zu wohlfeilen Preisen den kleinen
Leuten zugänglich gemacht wird; ein großer Teil
der Kulturarbeit wäre damit erledigt. Ich finde darum
diese Dresdner Möbel sehr lobenswert. Die Herstellung
von Maschinmöbeln in den Dresdner Werkstätten
für Handwerkskunst umfaßt selbstverständlich nicht
allein die sogenannte Arbeiterwohnung,
KÜCHEN sondern die moderne Wohnung überhaupt
MÖBEL." mit allen erdenklichen Räumen.
Werkstätte ein
DAS SCHLAF
ZIMMER. □
130
ein ORTS' UND LANDSCHAFTENBUCH
DER „HOHEN WARTE“.
ine große Anzahl von Leuten besten Standes geht
heute noch an älteren Bauwerken, die von einem
ehrlichen Kulturgeiste sprechen, an Schönheiten, die
zu genießen jedermann ein Recht hat, die sich auf Schritt
und Tritt finden, aber bislang nur von wenigen erkannt
worden sind, gerade im Gebiete der eigenen Heimat kühl
und ablehnend vorüber. Ist vielleicht der Umstand schuld
daran, daß sich jene Denkmale im weitesten Sinne des Wortes
nicht die offizielle Sanktion eines Fremdenführers oder eines
Ausländers, der die Einheimischen auf die Schönheiten ihres
Ortes aufmerksam macht, erworben haben? Oder daß jene
intimen Vorzüge nicht mit Kunstwerken vergleichbar sind,
die ein reiches Zeitalter durch einen genialen Künstler er^
stehen ließ? Nicht jeder Ort kann ein Florenz, ein Rom
oder ein Nürnberg sein, das wird mir jeder zugeben; aber es
wird Lächeln ernten, wenn ich finde, daß die „stillen Gäßchen“
alter Kulturstätten, schlichte Bürgerhäuser, malerische Höfe
und Gärten eine nur ihnen allein zukommende Schönheit
besitzen, die uns „kleine Freuden“ bringt — Hermann Hesse
hat sie uns einmal stimmungsvoll geschildert.
Dieser leider nur zu weit verbreiteten Unkenntnis und
Gleichgültigkeit soll ein Orts-' und Landschaftenbuch der
„HOHEN WARTE“ entgegenarbeiten; es soll nicht nur
die Bewohner einzelner Gegenden über die Schönheiten
ihrer Heimat aufklären, sondern auch kulturell wirken,
indem es zu Neuschöpfungen im Sinne des „Genius loci“
und zur Anknüpfung unterbrochener Traditionen anregt.
Wie ich mir nun ein solches Werk denke? Der Stoff wird
vor allem geographisch zu gruppieren sein; man wird — um
von Steiermark auszugehen — sämtliche gute Bau- und
Naturdenkmale des Mürz- und mittleren Murtales bis Graz
in einem Bande bringen, in einem anderen das Enns- und
obere Murtal oder die Landeshauptstadt selbst und dann
die anderen Städte, alles so angelegt, daß die Zusammen -
hänge gewahrt bleiben und leicht eingesehen werden können.
Bei den einzelnen Bändchen scheint mir nicht der Text
Hauptsache, sondern die Bilder, denen photographische Auf -
nahmen, eventuell auch Zeichnungen heimischer Künstler
zu gründe liegen. Die Bändchen werden zwar bei einer Ver -
wirklichung meines Vorschlags wieder den gewöhnlichen
Schmerzensruf der Kritik: „Schon wieder Monographien!“
erleben, sie werden hören, daß nun schon jeder Rauchfang
als Kunstwerk gilt und alles überschätzt wird..., aber man
wird übersehen, daß sie die gute Absicht haben, vielen neue
Quellen der Befriedigung zu erschließen.
Nun Näheres über die Anlage eines Bändchens, z. B. über
Graz. Für ein kleines Vorwort gewänne ich am liebsten
unseren leider zu wenig bekannten Wilhelm Fischer, dessen
unendlich poetische Werke meistens auf dem engsten Boden
der Heimatstadt spielen. Es folge dann ein kurzer Überblick
über die Lage der Stadt, über ihre allmähliche Entstehung und
Erweiterung mit besonderer Rücksicht darauf, was sie vor
anderen Orten auszeichnet, alles in knapper Form und zu
dem Zwecke, Fremde besser zu orientieren und ihnen zu
sagen, was sie Neues zu erwarten hätten, den Einheimischen
eine Wertschätzung des eigenen Bodens beizubringen. Der
weitere Raum ist Ansichten größerer Bautengruppen, Plätzen
und Gassen gewidmet, Aufnahmen einzelner Bauten schließen
sich an — es empfiehlt sich auch, Neubauten vorbildlichen
Charakters entsprechende Berücksichtigung angedeihen zu
lassen — den Übergang zu den Gärten bilden Höfe; einzelne
Portale, Werke der Schmiedekunst, der Malerei, Plastik etc.
gehören in den Fall für Fall entsprechenden Zusammenhang.
Abbildungen von „Gegenbeispielen“ unterbrechen das Gute
vorteilhaft und steigernd. Die Gärten führen uns auf die
Naturdenkmale, wie sie in der Umgebung zahlreich Vor -
kommen. Kirchen sind ebenfalls aufzunehmen, diese jedoch
und die in allen „Führern“ bis zum überdrusse wieder-
gekäuten „Sehenswürdigkeiten“ von neuen Gesichtspunkten
aus.
Was die Abfassung des Textes betrifft, so haben wir schon
früher eine gewisse Knappheit und Kürze empfohlen. Fehler,
wie sie ein „Führer“ vom anderen übernimmt, Geschmack -
losigkeiten, die sich aus einem Wandel der Anschauungen
erklären, werden zu berichtigen und auszugleichen sein, Er -
gebnisse der kunst- und kulturhistorischen Lokalforschung
ihre praktische Anwendung finden.
Liegt aber nicht in einer derartigen Arbeit die Gefahr einer
Überschätzung des heimischen Denkmalbesitzes? Bei dem
Zwecke, den das Buch verfolgt, Ortsansässigen neue, bisher
unerkannte Schönheiten zu erschließen, Schaffenden die Aus -
wahl vorbildlicher Schöpfungen zu erleichtern und in das
Kunstleben frische, natürlich-gesunde Züge hineinzubringen,
mit der Nachahmung mißverstandener Vorlagen zu brechen
und endlich wieder eine gemütvolle Sprache zu hören, kann
ein Zuviel nicht von Nachteil sein; dies nur dann, wenn man
alles Alte schrankenlos aufnimmt und bei der Sammlung der
Bilder nicht die durch den Zweck bestimmten Grenzen an -
erkennt. Eine Frage aber soll noch berührt werden: sind
bereits abgetragene Objekte, wie alte Stadttore, Festungsteile,
ferner verbaute Gartenanlagen größeren Umfanges in das
Buch aufzunehmen oder nicht? Ich glaube, daß sie sich öfters
zur Gegenüberstellung von Alt und Neu, auch zu Vor -
bildern — natürlich wieder bei entsprechender Auswahl —
eignen können, und bin persönlich für die Aufnahme.
WALTER v. SEMETKOWSKY.
KULTURBILDER AUS ÖSTER -
REICH.
DIE STADT STRAKONITZ
mit diesen Bauwerken baut ein solches Rathaus.
131
ÖSTERREICHISCHER KUNSTLERBUND.
ußere Bedrängnis hat den Anstoß zur Bildung des „Künstlerbundes“
gegeben, der sich mit der wirtschaftlichen Hebung der zum Teil
desolaten Verhältnisse unter der Künstlerschaft befassen will. Die
Gründer des Künstlerbundes sagen mit Recht, daß die bestehenden
Vereinigungen die Förderung der Kunst im Auge haben, die wirt -
schaftlichen Standesinteressen aber nur mittelbar und nebensächlich
behandeln. Was die Kunstförderung naturgemäß anstrebt, ist sonach
eine Auslese der Besten. Nun wird anderseits aber die Frage dringend:
was soll mit den anderen geschehen? Ein Bund also, der”das wirt -
schaftliche Moment zu seinem Hauptinteresse erhebt und ohne Um -
schweife bekennt, daß es um eine Hilfsaktion zu tun ist, ist durchaus
zeitgemäß und fördernswert. Es wird Sache des neuen Künstlerbundes
sein, die Mittel und Wege zu finden, um das Ziel zu erreichen. In
ihrem Programm erklären sie, Ausstellungen veranstalten, eine gerechte
Art der Jury einsetzen, den Kunstunterricht in die Hand nehmen und
das Volk zum Interesse an der Kunst, zur „Unterscheidung zwischen
guter und schlechter Kunst“ anleiten zu wollen.
Ich muß gestehen, daß ich 'diese Programmsätze mit Verwunderung
und Befremden gelesen habe. Ein Bund Menschen, von der Not der
Zeit gedrängt und zur Wahrheit entschlossen, daß ihre Kunst nicht
nach Ruhm, sondern wie jedes, auch das edelste Handwerk nach Brot
geht, vor allem nach Brot, sollte doch nüchtern genug sein, um das
in diesem Fall hohlklingende Pathos einer höheren Kunstmission zu
verschmähen. In der guten Absicht, zu klären und zu nützen, will ich
sagen, daß an Bilderausstellungen in Wien eher ein Überfluß denn
ein Mangel ist, daß der Kunstunterricht nur den berufensten Kräften
zukommt, und daß eine Unterscheidung zwischen guter und schlechter
Kunst nicht eine Sache der kleinen, sondern der großen Künstler ist,
die das künstlerische Niveau einer Zeit bestimmen. Vor allem kann
es nicht Sache des neuen Künstlerbundes sein, der sich aus allen
Lagern rekrutiert, nicht um verkannte Größen zum Ansehen zu bringen,
sondern um den wirtschaftlich'Schwachen zum Erwerb zu verhelfen.
Das wird aber nicht nach diesen Programmsätzen geschehen können,
die bei aller Unklarheit doch die verstimmende Absicht durchblicken
lassen, die ausgefahrenen Geleise nochmals zu befahren, und nach
Möglichkeit die Kundschaft der anderen an sich zu reißen in einem
Wettbewerb, der künstlerisch in der Regel nicht zu rechtfertigen und
teilweise nur zu erreichen ist, indem die eigene Ware über die Maßen
gelobt und die fremde Ware ebenso ungebührlich getadelt wird.
Man kann leicht absehen, wohin ein „Kunstunterricht“ und eine „Unter -
scheidung zwischen guter und schlechter Kunst“ führen wird, wenn
kleine ums Dasein ringende Talente über große Künstler öffentlich zu
urteilen beginnen. In einer Gesellschaft und einem Staat von der heutigen
Beschaffenheit ist nämlich das Schlimmste möglich. Hier' ist nichts so
ungefestigt als Verständnis und Gutmeinung in künstlerischen Dingen.
Hier wird täglich ein Großer erniedrigt und ein Kleiner erhoben. Und
der Staat selbst ist vollends hilflos. Seine Kunstpolitik versäumt die
großen Zwecke, um kleine Almosen geben zu können. Er versteht
unter Kunstförderung nichts als Almosengeberei und muß durch
eherne Konsequenz zur Erkenntnis gebracht werden, daß er der Kunst
gegenüber höhere Pflichten zu erfüllen hat. Es kann darum kein Not -
stand, wie groß immer, das Verlangen rechtfertigen, einer Hilfsaktion
zuliebe in künstlerischen Dingen das unglaublich tiefe Niveau noch
mehr zu drücken, wie es diese Programmsätze leider befürchten lassen.
In der angedeuteten Richtung [ist wenig Hoffnung auf Gelingen und
der richtige Weg, der zu betreten wäre, ist im Programm leider nicht
angedeutet; er ist wohl noch nicht gefunden.
Es erübrigt also zu sagen, daß der „Künstlerbund“ seine wirtschaftliche
Mission erfüllen wird, wenn er nicht in das Terrain anderer einbricht,
sondern ganz neue Gesellschaftsschichten, die bisher keine Kunst
kannten, für ein tatkräftiges Interesse erzieht. „Das Kunstleben WIENS“
zu bereichern, wird der „Künstlerbund“ nicht vermögen, aber er kann
eine fruchtbare Tätigkeit entfalten, wenn er ein Kunstleben der BEZIRKE
und der kleinen Provinzstädte entwickelt. Kunstausstellungen in
Währing, am Alsergrund, auf der Wieden, in Stockerau etc. unter
offizieller Vertretung der Gemeindevorstehung, der angesehenen
Bürger am Grunde, in Verbindung mit aufklärenden Vorträgen über
Bildniskunst und ähnliches, um auf diese Art ein LOKALES KUNST -
LEBEN zu entwickeln und ein Interesse zu erziehen, das dem ein -
gesessenen Bürgertum zum allgemeinen und zu seinem persönlichen
Nachteil leider gänzlich fehlt. Wo bleiben denn die protzigen Haus -
herren, die reichen Bäcker- und Selchermeister, die feinen Leute vom
Grund mit ihren Ansprüchen an höhere geistige und künstlerische
Genüsse? Ihr Merkmal ist, daß sie im Gegensatz noch zur vor -
letzten Generation gar keine Kultur haben. Es ist eine wahre Schande,
daß in einer Stadt mit einer Riesenbevölkerung, in Bezirken, die fünf -
mal mehr Einwohner haben als die kunstreichsten Städte im Mittel-
alter, die meisten Künstler, die keinen Namen haben, buchstäblich
darben müssen. Ich pflichte sehr gern dem Maler Kupfer bei, der in der
konstituierenden Versammlung hervorhob, daß die mittleren Bürger -
kreise wohl im stände wären, die Künstler reichlich zu beschäftigen,
wenn sie an ihre Aufgabe gemahnt würden. Es wird viel Geld für
niederträchtigen Basarschund hinausgeworfen; die Erinnerung, daß
man für mäßige Preise immerhin schon künstlerische Arbeiten, wenn
auch in bescheidener, aber anständiger Qualität haben kann, würde
namentlich im Porträt wieder zum Rechten führen, wo die teure über -
malte Photographie das Feld beherrscht.
Hier also ist tatsächlich Pionierarbeit zu tun, materiell und künstlerisch.
Nicht auf den Unterschied zwischen guter und schlechter Kunst sollen
diese Kreise aufmerksam gemacht werden, sondern auf den Unter -
schied zwischen Kunst überhaupt und Unkunst.
Auch darin, meine ich, müßte der Bund sich vor Nachtreterei hüten
und eigene Wege gehen, daß er im Jury wesen nicht engherzig ist. Daß
er auf eine Jury überhaupt verzichtet. Künstler-Kollegen sind immer
schlechte Kritiker, und dann will ja der Bund nicht eine „Auslese der
Besten“ bewirken, was die anderen Vereinigungen tun oder zu tun
scheinen, sondern er will Erwerb schaffen, und den braucht der Zurück -
gewiesene in der Regel am dringendsten. Jeder sei für sein Werk selbst
verantwortlich.
IDIOTENHAFTE STADTVERTRETUNG.
E in Leser schreibt uns; In Chemnitz ist der Bau eines neuen Stadt -
theaters beschlossen worden, wofür zwei Millionen Mark seitens
der Stadtvertretung bewilligt worden sind. Das neue Haus soll 1300
Sitzplätze (darunter 311 Logenplätze) erhalten. Das neue Theater wird
im Stile der Hochrenaissance gebaut werden.
Hochrenaissance im XX. Jahrhundert: Trotz H. Muthesius, Schultze-
Naumburg, trotz Kunstwart und Hohe Warte, trotz der modernen
Bewegung an allen Ecken und Enden, trotz namhafter moderner
Künstler gibt es eine große und reiche Stadt, die der Lüge einer
Hochrenaissance im XX. Jahrhundert huldigt! — Es ist nicht die eine
große reiche Stadt, es sind deren Dutzende, Hunderte. Die Lüge, Denk -
faulheit und Kulturlosigkeit beginnt mit dem Tausenderlei des kleinen
Alltags und wächst ins Größenhafte bei Millionenbauten.
Diesem Hefte ist eine MUSIKBEILAGE angefügt, als
Fortsetzung zum Text Heft 7, II. Jahrgang.
Jahrgang I der „HOHEN WARTE“, I. und II. Halbjahr, ist in
einigen gebundenen Exemplaren noch zum alten Preis zu haben.
Später Preiserhöhung!
Einbanddecken für den I. Jahrgang werden auf Bestellung
nachgeliefert.
Unregelmäßigkeiten in der Zustellung wollen dem Verlag der „HOHEN
WARTE“ gefälligst sofort bekanntgegeben werden.
NACHDRUCKVERBOT für sämtliche in den Heften der „Hohen Warte“
erscheinenden Artikel und Illustrationen.
Alle Zuschriften und Sendungen Wien, XIX. GrinzingerstraBe No. 57. Telephon 21.847.
Verlag „Hohe Warte“ (Lux & Lässig). Für die Redaktion Joseph Aug. Lux.
Geschäftsstelle der „HOHEN WARTE“: HUGO HELLER, WIEN, I. Bauernmarkt 3.
Druck von Christoph Reisser’s Söhne, Wien V.
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35. Christkindleins Wiegenlied.
Nicht schleppend - wiegend. 1623.
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hart! Ach schlaf, ach tu die Äu-ge-lein zu, schlaf und gib uns die e-wi-ge
Schlaf.SchlafKind,schlaf, tu die Äu-ge-lein zu, schlaf und gib uns die e-wi-ge
all. Schlaf Kind, schlaf, tu die Äu-ge-lein zu, schlaf und gib uns die e-wi-ge
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4. Seid stille, ihr Wind’,
Laßt schlafen das Kind!
All Brausen sei fern,
Es ruhen will gern.
Schlaf, Kind, und tu die Äugelein zu,
Schlaf und gib uns die ewige Ruh!
Ihr Stürme, halft ein,
Ras Rauschen laßt sein!
Seid stille, ihr Wind’
Laßt schlafen das Kind!
5. Nichts mehr sich bewegt,
Kein Mäuslein sich regt,
Zu schlafen beginnt
Das herzliche Kind.
Schlaf denn und tu deinÄugelein zu,
Schlaf und gib uns die ewige Ruh!
Nichts mehr man dann singt,
Kein Stimmlein mehr klingt:
Schlaf, Jesulein zart,
Von göttlicher Art!
6. H. 3617
8. Liebesklage.
Sehr langsam. Beim Taktwechsel J immer: J- 1534.
n. H. 3617
in da hört ich
mirdasein nit
dritthatkei-nen
singen,ja sin
werden,ja wer
Namen, ja Na
- gen,drei
- den, gilt
- men,das
Vügleinwohlge
es das Le-hen
soll des Jä-gers
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stalt.
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10. Verschneiter Weg.
Nicht ZU schnell. - Halbe Takte.
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1. Es ist einSchneege - fal - len,wann es ist noch nit
2. Es gin-gen drei Ge - sei - len spa - zie - ren um das
3. Der ein der was ein Rei-ter, der an-derein E - del
1535.
Zeit;.
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mann,
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wollt zu mei-nem Buh-len gan, der Weg ist mir ver - schneit, ich wollt zu mei-nem
MaidHeinwas he - hen - de, es lugt zum La - den aus, das Maid-lein was he-
dritt ein stol-zer Schrei-her, den - sei - hen wollt es han, der dritt ein stol-zer
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Buh-len gan,der Weg ist mir ver
hen - de, es lugt zum La-den
Schrei - her den - sei-hen wollt es
schneit.
aus.
han.
4. Er tat dem Maidlein kromen
Von Seiden ein Haarschnur;
cEr gab demselben Maidlein:
„Bind du dein Haar mit zu!“ ; l
5.,,, Ich will mein Haar nit binden,
Ich will es hangen lan.
|: Ich will wohl diesen Sommer lang
Fröhlich zum Tanze gan. u<: l
G. H.3617
63. Zwei Königskinder.
Mäßig langsam.
1819.
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wa-ren zwei Ko - nigs
2. Ach Schätz - eben könn-test du
3. Da kam ein schur-ki - ger
4. Als der jun - ge Herr zu
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- kin - der, die hat - ten ein-an-der so
schwimmen, so schwimm es ein we-nig zu
Bau - er, ein schur-ki-ger E-delmanns-
Grundeging, sie schrie und weinte so
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5.,Ach Mutter, herzlichste Mutter,
Wie tut mir mein Haupt so weh!
Laß mich ein wenig spazieren
Wohl <in den tiefen See!‘
6. „Ach Tochter, allerliebste Tochter,
Du sollst alleine nicht gehn;
Du hast noch eine frische jung Schwester,
Und die soll mit dir gehn.
7. , Ach Mutter, herzliebste Mutter,
Mein Schwester ist noch so klein,
Sie möcht mir die Rosen abbrechen,
Die an dem Seee sein/
8. Die Mutter ging nach der Kirche,
Die Tochter hielt ihren Gang,
Sie ging so lang herum wandern,
Bis sie den Fischmann fand.
9. ,Ach junger,herzliebster Fischer,
Könnt verdienen ein großen Lohn:
Werft ihr das Netzchen ins Wasser
Und fischt den Königssohn/
10. Er warf sein Netz ins Wasser,
Es fiel so tief zu Grund.
Der erste Fisch,den er tat fangen,
Das war des Königs Sohn.
11. Sie nahm ihn in ihre Arme
Und küßte seinen roten Mund:
, Ach Mündlein,könntest du sprechen,
So wäre mein Herz gesund.'
12. Sie nahm ihn in ihre Arme
Und drückt ihn an ihren Mund :
,Bei dir ist’s so wohl und so wehe!'
Und sank mit ihm in den Grund.
SONDERNUMMER:
DIE HEILIGKEIT DES HEIMS
GLAUBEN SIE ABER NICHT, DASS ICH DEM BAU -
FÄLLIGEN MALERISCHEN DAS WORT REDEN WILL.
SORGEN SIE DAFÜR, DASS DIE LANDHÄUSER
WETTERFEST, SCHMUCK UND WOHNLICH BLEI -
BEN- UND WO ES SEIN MUSS, BAUEN SIE NEUE:
ABER WARUM WOLLEN SIE SICH BEIM BAU
DIESER DIE AM SCHLECHTESTEN AUSGEFÜHRTEN
GEBÄUDE IN DEN HÄSSLICHEN VORSTÄDTEN
EINER MODERNEN STADT ZUM MUSTER NEHMEN?
SELBST HEUTE NOCH WERDEN SIE, WENN SIE
SOLID UND NICHT AUFDRINGLICH BAUEN, GUTES
MATERIAL, DAS DER GEGEND, IN DER SIE ER -
RICHTET WERDEN, SICH NATÜRLICH EINFÜGT,
DAZU VERWENDEN UND DAFÜR SORGEN, DASS
DER INHABER GENÜGENDEN SPIELRAUM UND
GARTEN HAT, KAUM DER SCHÖNHEIT DES LAND -
STRICHES ODER DER DER ÄLTEREN HÄUSER DARIN
ABBRUCH TUN. ICH HOFFE IN DER TAT, DASS
DIE NEUE ARCHITEKTUR VON SOLCHEN NOT -
WENDIGEN, NICHT AUFDRINGLICHEN BAUTEN
IHREN AUSGANG NEHMEN WIRD, EHER ALS VON
UNSEREN MEHR ODER WENIGER HOCHFLIEGEN -
DEN VERSUCHEN IN BEWUSST AUSGEÜBTEM
STILE. DENN DAS RECHTE VERSTÄNDNIS DER
ARCHITEKTUR IST VON SOLCH EINSCHNEIDENDER
BEDEUTUNG BEI DER BETRACHTUNG DER ZU -
KUNFT DER KÜNSTE, DASS ICH NOCH EINIGE
WORTE DARÜBER SAGEN MUSS. ICH BIN, GERADE
HERAUSGESAGT, DER MEINUNG, DASS DIE GANZE
LAGE DER KUNST IN ERSTER LINIE DADURCH
BESTIMMT WIRD, WIE UNSERE GEBÄUDE UND
VOR ALLEM UNSERE WOHNHÄUSER GEBAUT
SIND; UND DASS, WENN WIR NICHT WOHNLICHE
UND SCHÖNE (NICHT UNBEDINGT SEHR VER -
ZIERTE) HÄUSER ZU BAUEN VERMÖGEN, WIR
ÜBERHAUPT KEINE KUNST IN UNSEREN TAGEN
HABEN KÖNNEN. ÜBERLEGEN SIE SICH DAS
RECHT! EIN BILD KANN IN EINEM ZIMMER VER -
BORGEN HÄNGEN, EIN BUCH UNGEÖFFNET AUF
EINEM BÜCHERBRETT STEHEN, EINE ZEICHNUNG
ODER EIN STICH IN EINER MAPPE VERSCHLOSSEN
LIEGEN; ABER EIN HAUS IST IMMER DEN BLICKEN
AUSGESETZT UND BELEIDIGT ENTWEDER DAS
AUGE DES VORÜBERGEHENDEN DURCH SEINE
HÄSSLICHE AUSFÜHRUNG ODER TUT IHM DURCH
SEINE SCHÖNE AUSFÜHRUNG WOHL. AUCH SIEHT
KEIN KUNSTWERK, NICHT EINMAL DAS SCHÖNSTE
KUNSTWERK, EIN SCHÖNES WEIB, IN EINEM
SCHLECHT GEBAUTEN HAUSE GUT AUS. DA ES
SICH SO VERHÄLT UND UNSERE MODERNEN
HÄUSER UNLEUGBAR UND SOGAR WIE ES
SCHEINT, MIT ABSICHT SCHLECHT AUSGEFÜHRT
SIND, BITTE ICH SIE IN JEDER WEISE FÜR UNSERE
ALTEN BAUTEN SORGE ZU TRAGEN, DIE GUT
AUSGEFÜHRT SIND: EINMAL REISSEN SIE SIE
NICHT IM INTERESSE VON EISENBAHNEN, FA -
BRIKEN ODER GASTHÄUSERN NIEDER; SONDERN
BESSERN SIE SIE SO WEIT AUS, DASS SIE DEM
WETTER TROTZ BIETEN KÖNNEN UND LASSEN
SIE SIE IM ÜBRIGEN WIE SIE SIND.
WILLIAM MORRIS.
Wohnhaus, Hohe Warte, Entwurf Prof. Joseph Hoffmann.
DAS WOHNHAUS.
D ie neuen Gedanken in bezug auf das Wohnhaus sind
im folgenden zu einer flüchtigen Übersicht zusammen^
gefaßt. Wenn man ein Wohnhaus baut, soll es eine
Heimstätte des Glückes sein. Das müßte man von seiner
Stirne lesen können, wie man es von den Stirnen der älteren
ländlichen Wohnbauten lesen kann, in schlichten unver^
künstelten Zügen, die alle häuslichen Glücksmöglichkeiten
offenbaren. Vermenschlicht erscheint der Ausdruck solcher
Häuser, so beseelt sind sie von dem Leben der Familie und deren
Bedürfnissen, und ausgefüllt bis in alle Winkel. Kein toter
Raum ist darin, nichts überflüssiges und daher Zweckloses,
aber alles Vorhandene ist angemessen und behaglich. Ihre
Schönheit ist Sachlichkeit, und Sachlichkeit eines Wohnhauses
ist Wohnlichkeit.
In bezug auf Wohnlichkeit ist die lebende Generation nicht
verwöhnt. Im Gegensätze zu dem älteren heimatlichen Bau-’
gedanken verlegt sie den künstlerischen Schwerpunkt nicht
auf die Sachlichkeit der Konstruktion und Grundrißlösung,
sondern vielmehr auf die „schöne“ Fassade, wo eine baby -
lonische Wirrnis von Stilbrocken, ein Ragout von zweck -
losen Erkerchen, Türmchen, Giebelchen über den Mangel
einer zwecklich formalen Lösung hinwegtäuschen soll. Der
Schein steht hier höher als das Sein. Protzig prunkend
134
Speisezimmer.
stehen diese aufdringlich gebauten Villen neben den einfach
schönen älteren Wohnbauten des Landes, trotz des äußer -
lichen Aufwandes verunzieren sie die landschaftliche Phy -
siognomie, mit der sie nicht grund- und materialverwandt
sind, hinter der starren Maske ihrer gipsüberladenen Fassade
suchen wir vergebens die freundlichen Hausgeister der
Behaglichkeit und Wohnlichkeit, durch die die schlichteren
Nachbarn ausgezeichnet sind. Es ist unerfindlich, warum
sich die Villenbesitzer gerade nur die schlechten Großstadt -
häuser, die in den häßlichen Vorstädten zu finden sind,
zum Vorbilde genommen haben, warum sie nicht lieber die
feinen Beispiele ihrer mehr oder weniger ländlichen Um -
gebung klug beachteten und mit Vorteil benützten. Soviel
erhellt, daß die lebende Generation, die solche Wahrzeichen
ihrer künstlerischen und persönlichen Unkultur schuf, nicht
mehr weiß, was wahre Wohnlichkeit ist, wenngleich die
Gegenwart über ungleich mehr Komfort im einzelnen ver -
fügt als die Vergangenheit. Aber ein lebhaftes Wünschen
ist entstanden, ein Umschwung zur strengeren Sachlichkeit,
die mit Bad und Waterklosett einsetzte. Man hat von dem
individuellen Haus gehört, das sich persönlich gebärdet, und
hat in dem nicht immer schönen Wahn gelebt, jedes Haus
müsse ein anderes Gesicht zeigen, ein „individuelles“. Aber
das brauchen wir in Wahrheit nicht. Was wir brauchen,
ist eine gute Wohnhaustype für jedermanns Gebrauch, der
Wohnhaus, Hohe Warte, Entwurf Prof. Joseph Hoffmann.
Wohnzimmer.
unter seinem eigenen Dach leben will. Eine wohnliche Type,
für die nicht die Schablone, nicht die forcierte Individualität,
sondern vor allem der Mensch das Maß ist und die Familie.
Natürliche örtliche Vorbedingungen kommen für die Wohm
lichkeit zunächst in Betracht bei der Wahl des Baugrundes.
Der Boden soll gut beschaffen sein, seine Lage westlich
oder nordwestlich von der Stadt, am besten in Tälern, die
nach West oder Nordwest offen sind, weil von dort die
reinigenden Winde kommen; es ist die Richtung, nach der
sich die Städte naturgemäß entwickeln. Die örtlichen Ver^
hältnisse spielen eine Rolle in bezug auf Kanalisation,
Gas', Wasser^, Elektrizitätsleitung und Verkehrsmittel.
Unter solchen Voraussetzungen läßt sich sagen, daß ein
Familienhaus, um wohnlich zu sein, solid und wetterfest
gebaut sein muß, aus gutem Material, das sich der Gegend
natürlich einfügt, mit genügendem Spielraum und Garten,
und vor allem nicht aufdringlich, um der Schönheit des
Landstriches oder der schmucken älteren Häuser nicht Ab'
bruch zu tun.
Soviel im allgemeinen.
Auch im besonderen gilt die Weisheit einer guten Tradi'
tion. In alten ländlichen Familienbauten war die Diele als
Zentralraum durchgebildet, in den heimatlichen Hausformen
zumindest rudimentär vorhanden; wir finden sie im
modernen EimFamilienhause als „Halle“ wieder.
Der Salon ist abgeschafft. Die Halle ist der Zentralraum
des Hauses, in dem sich das tägliche Leben der Familie
und das Gesellschaftsleben überhaupt abspielt. Eine Gesell'
schaft fühlt sich am behaglichsten, wenn sie in einem ein'
zigen größeren Raum vereinigt ist, das Anschließen und
Abtreten fällt ungezwungener und unbemerkter, als wenn
man durch eine Tür in ein anderes Zimmer treten muß
oder wenn die Gruppen in kleinere Nebenräume verteilt
und eine von der anderen ausgeschlossen scheint.
Ein größerer Raum als Zentralraum des Hauses bietet aber
auch künstlerisch den Vorteil, daß er die Anordnung der
Möbel erleichtert und originelle Ausgestaltungsmöglich'
keiten zuläßt. Hier setzt die Raumkunst ein, Hausbau und
Mobiliar bilden eine konstruktive Einheit, im Gegensatz zu
den nach Art großstädtischer Miethäuser gebauten Villen,
die als leere Gehäuse nach Gutdünken mit Möbeln angefullt
wurden. Raum und Möbel mußten sich miteinander abfmden,
so gut es ging. Der enge Zusammenschluß von Architektur
und Kunstgewerbe oder mit anderen ^Vorten, von Hausbau
und Hauseinrichtung, wie sie heute noch im niederdeutschen
Bauernhaus gefunden werden kann, ist einer der größten
Fortschritte der Moderne.
Die großen Fensterblicke der Halle gehen in die Land'
schaft hinaus, anmutige Ecken und unterbrochene Wand'
flächen ergeben Nischen und Kojen, die auch den großen
135
Wohnhaus, Hohe Warte, Entwurf Prof. Joseph Hoffmann.
Wohnzimmer, Kaminecke.
Raum intim erscheinen lassen. Verschiedene Sitzgelegenheit
in den Korners, am Kamin, in der Bücherecke geben alle
Bequemlichkeit. Eine offene Stiege steigt in der Halle empor
und führt zu den oberen Räumen, die den persönlichen
Bedürfnissen der Familie dienen. Diese anderen Räume
gruppieren sich in zweckvoller Anordnung um den Zentrale
raum und bestimmen durch die Lage ihrer Fenster, die,
unbekümmert um die Reißbrettsymmetrie, dort angebracht
werden, wo man sie just braucht, das Gesicht des Hauses,
die Fassade. Nun hat sie schon wieder einen vermensch^
lichten Ausdruck bekommen. Das Haus trägt nicht mehr
die seelenlose Maske der herkömmlichen Fassadenarchitektur,
es drückt vielmehr wieder eine organische Idee aus.
Von der Halle, die als Gesellschaftsraum nicht weiter
bewohnt wird, gelangt man in das Speisezimmer. Das
Zimmer der Hausfrau kann auch neben der Halle liegen,
denn die Hausfrau will den Wirtschaftsräumen nahe sein,
die sich im Untergeschoß des Hauses befinden. Küche, Keller,
Speisekammer und andere Vorratsräume, Heizraum, Wasche
küche, die Zimmer für das Dienstpersonal befinden sich im
Untergeschoß, ein eigener Eingang, die Haustreppe, ver^
mittelt den dienstlichen Verkehr abseits von dem reservierten
Haupteingang, der durch ein kleines Entree in die Halle führt.
Im Obergeschoß, einerseits durch die Hallentreppe, andere
seits durch die Diensttreppe erreichbar, befinden sich die
Schlafräume der Herrenleute, mit Baderäumen, ein Arbeits^
zimmer, ein oder mehrere Gastzimmer und gegebenenfalls
die Kinderräume, als Schlaf*, Wohn* und Spielzimmer. Die
übliche Enfilade von Zimmern einer Großstadtwohnung,
die für die Mehrzahl der schlechten Villenbauten maßgebend
wurde, fehlt hier; kein einziger Raum ist der bloßen Re*
Präsentation wegen da, den Pulsschlag des Lebens fühlt
man in allen Teilen des Hauses. Alle modernen technischen
Einrichtungen, für den heutigen Komfort unerläßlich, sind
dem Organismus eingegliedert. Die Heizungsanlagen, die
Wasserleitungen, das Beleuchtungswesen, die gewöhnlich als
feindselige Elemente für die architektonische Harmonie
empfunden werden, weiß der moderne Architekt zu gefälligen
Helfern seiner künstlerischen Absichten zu machen. Hygiene,
Komfort und Schönheit sind gemeinsame Begriffe. Mit Luft,
Licht und hellen kräftigen Farben werden die schönsten
Interieurbestimmungen bestritten.
Die örtlichen klimatischen Verhältnisse sprechen ein Wort
mit bei der Anlage der Laube am Haus, der Veranden und
Terrassen. Hier muß nicht allein nach den Bedürfnissen der
Menschen, sondern auch nach den Bilden des Wetters
gefragt werden. Sie sollen der Familie und der Gesellschaft
einen behaglichen Aufenthalt geben, offen oder geschlossen
und vom Zimmer aus alle Annehmlichkeiten des Freien
und des Gartens genießen lassen. Sie werden daher nach
136
Wohnhaus, Hohe Warte, Entwurf Prof. Joseph Hoff mann.
Herrenzimmer.
verschiedenen Seiten hin angelegt sein, um, je nach dem
Tages-- oder Jahresstand der Sonne, draußen sitzen zu können.
Daß sie im Verein mit dem Dach das Haus und die Wohn-
räume gegen das Eindringen von Hitze und Kälte schützen
können, war schon der älteren, ländlichen Architektur
bekannt, die eine Laube nach drei Seiten um das Haus
legte. Daß auf die Lage und Größe der Veranden und
Terrassen bei einem wohnlichen Hause ein Augenmer
gelegt werden muß, mag man an den meisten verkümmerten
und wenig nutzbaren Veranden der fast durchwegs schlechten
Cottages ersehen oder an den Balkons, die, wie das Frem -•
wort besagt, aus der Palastarchitektur eingedrungen, nur
eine bloße Dekoration von geringem oder keinem Gebrauchs--
wert darstellt.
Auch dem Erker kommt eine praktische Bedeutung zu.
Im Halbkreis oder Halboval dem Zimmer vorgelegt, muß
er breit genug sein, mehrere Personen aufzunehmen, einen
freundlichen Blick auf Garten und Platz zu gewähren und
eine ruhige Lichtflut dem Raume zuzuführen. Die ältere
Architektur hat ihn in mustergültiger Weise vorgebildet.
Als monumentale Ausbildung des Fensters bedeutet er ein
freundliches, belebendes Element für das Innere und Äußere
des Hauses. Auch von der Lage, Größe und Form der
Fenster, als der natürlichen Luft-- und Lichtquellen des
Hauses, hängt die Wohnlichkeit wesentlich ab. Man tut gut,
i Stelle der üblichen zwei Zimmerfenster ein einziges
eites quadratisches Fenster oder ein solches in Form
nes liegenden Rechteckes in der Mitte der Fensterwand
öglichst hoch anbringen zu lassen, um nicht nur eine
isgezeichnete Beleuchtung und Lüftung zu erzielen, sondern
ich rechts und links tiefe Ecken zu gewinnen, die, gut
isgebaut, geeignet sind, das Gefühl der Geschlossenheit
ad Geborgenheit zu erhöhen. Auch hierin ist die alte
olkskunst mit dem guten Beispiel vorangegangen und
■igt in vielen Gegenden an Bauernhäusern die quadrati-
hen Fenster, die oft als Doppelquadrat nebeneinander
degt sind und mit ihrer charakteristischen Sprossenteilung
m innen nach außen entzückend aussehen. Fenster und
üren bilden die Angelpunkte, um die sich die neue, ver^
ünftige Raumgestaltung dreht. Von den unseligen großen
lüsreltüren, die als verpöbeltes Überbleibsel repräsentativer
alastarchitektur in jeder armseligen Mietwohnung eine
iumliche Verlegenheit bilden, wird man natürlich gerne
asehen. Ebenso von dem ganz widersinnigen holzbraunen
nstrich und der künstlichen, holzähnlichen Maserung der
[olzteile, deren Farbe damit gerechtfertigt werden sollte,
aß man den Schmutz darauf nicht sieht. Wahre hygienische
lultur wird schon aus diesem Grunde zum weißen An -
triebe zurückkehren, der zur gründlichen Reinlichkeit anhalt,
reil eben Schmutz und Staub darauf leicht sichtbar wird.
137
Wohnhaus, Hohe Warte, Entwurf Professor Joseph Hoffmann. Vorhalle.
Der Grundsatz ist bereits festgestellt, daß Material verwendet
werden soll, das die Natur des Landes gibt und das fast
immer der guten Tradition angehört. Es ist nicht zu be^
greifen, warum der einförmige graue Dachschiefer zur Eim
dachung den schönen roten Ziegeln, die in unseren Gegenden
gebrannt werden, vorgezogen wird. Billigkeit kann nicht
vorgeschützt werden, denn der übliche zwecklose, spielerische
Zierat, mit dem die Dächer der Villen gewöhnlich heraus^
geputzt werden, kostet mehr als einfach schöne, solide
Ziegeldeckung. Wer an alten Häusern in der Stadt oder im
Dorfe gegen den Abendhimmel die kühne und zugleich
ruhige Silhouette von Dach und Schornstein gesehen, wird
das Bild nicht leicht vergessen. Auch der alte Schornstein
verdient Beachtung. Wie das Dach hoch aufstrebend, weiß
getüncht, oft monumental gebildet, scheint er sich den lichten
Wolken zu vermählen, leuchtet er auf dem tiefblauen Grund
des reinen Firmaments. Daran denke man beim neuen
Familienhause. Dach und Schornstein sollen die äußeren
Zeichen der Wohnlichkeit bilden. Es bedarf keines weiteren
äußeren Aufputzes, das Haus, wenn es im Rauhputz, weiß
getüncht, dasteht, wird schmuck aussehen und bei aller
Neuheit sich der Gegend und den älteren heimatlichen
Bauten harmonisch einfügen. Es wird natürlich einen ent^
sprechenden Garten haben, der als Fortsetzung des Hauses
gedacht ist.
138
Die wesentlichsten architektonischen Teile des Gartens sind
der Gartenzaun und die Laube.
Die gute Überlieferung des Landes schreibt die Form des
Gartenzaunes vor: ein Steinsockel, in regelmäßigen Ab'
ständen Steinpfeiler, dazwischen der Holzzaun ruht, weiß
gestrichen.
Die Laube oder der Laubengang, auch Pergola genannt, von
Ahorn, Geißblatt, Weinlaub und Kletterrosen überwuchert,
ist das alte heimische Gartenmotiv, oft zum Lusthaus oder
Salettel umgewandelt. Diesem Vorbild soll der Hausgarten
folgen. Man wird nicht wie in den protzigen Cottages, die
sich mit ihrer Palazzoarchitektur als Schloß gebärden, das
Hausgärtchen als Park behandeln, mit Rasen und Baum'
gruppen als Imitation einer sich ins Unendliche aufrollenden
Landschaft, mit Grotten, Springbrunnen, Felsenpartien,
glasierten Gartenfiguren, Hirschen, Zwergen, Riesenpilzen
und ähnlichen Geschmacklosigkeiten theatralisch aufgeputzt
und damit nur den Eindruck des Unzulänglichen erzielen
wollen. Man wird nach dem guten alten Beispiel einen
Blumengarten anlegen, darin die heimatlichen Blumen
pflegen, Bauernblumen, in geraden steinumfaßten Beeten
mit bekiesten oder gepflasterten Wegen dazwischen, und im
richtigen Verhältnis zum beschränkten Raum nicht Rasen,
Baum und Baumgruppen, sondern Blumenbeet, Laube und
Hecke und Solitär oder Kübelpflanzen als die eigentlichen
Bestandteile des Hausgartens gelten lassen. Auf diese Weise
können wieder Gärten entstehen, die zu jenen liebenswerten
Biedermeiergärten passen, die mit ihren Glaskugeln, ihrer
bunten Blumenwildnis eine hervorragende Schönheit unseres
Landes bilden.
Das Gesagte will nicht mehr sein, als das kleine Einmaleins
der Wohnhausästhetik, das jedem Bauherrn geläufig sein
soll, wenn er darangeht, sein eigenes Heim zu bauen.
Man mag billig wünschen, daß die Zukunft in unseren
Umgebungen und Provinzen wieder EinzeLFamilienhäuser
entstehen sieht, die nicht eine Verminderung, sondern eine
Vermehrung der Schönheit des Landes bedeuten, und
derentwegen wir uns vor den Großvätern, die in ihren
Bauten die erhärteten Grundsätze kraft ihrer feinen Kultur
unbewußt befolgten, nicht mehr zu schämen haben.
Wer baut oder bauen läßt, sollte mit diesen Gesichtspunkten
vertraut sein. Es genügt nicht und man wird von hier
weitergehen müssen und reichere Aufschlüsse suchen, die ge^
funden werden können an Hand unserer Hinweise. Die
Entwürfe, die dieses Heft durchziehen, behandeln die Durch-'
bildung eines Wohnhauses für eine Familie und verkörpern
den Gedanken eines organischen Hauses. Es ist rnit
einfachem Material gebaut, nicht kostbar, aber köstlich. Für
seine Bewohner besitzt es den höchsten Grad von Wohnlich -
keit. Es hat Kultur. Was in der Regel nur von der Küche
eines Landhauses zu sagen ist, daß es der einzige angenehme
und anheimelnde Raum sei, gilt hier von allen Räumen;
das Nutzlose und Öde fehlt, aber das Nötige ist gefällig.
Im allgemeinen sollte gelten: „Unser Mobiliar sollte gut
bürgerlich sein, gediegen und von guter Arbeit. Es sollte
nichts an ihm sein, was man nicht sofort rechtfertigen kann,
keine Ungeheuerlichkeit und keine Ausschweifung — nicht
einmal eine solche nach der Schönheit hin, denn diese wurde
uns auf die Dauer ermüden.“
)IE KÜCHE DES WOHNHAUSES AUF
EINEM LANDGUT IST FAST STETS EIN
ANGENEHMER, ANHEIMELNDER RAUM,
DAS WOHNZIMMER EIN ÖDER, NUTZ-
OSER WILLIAM MORRIS.
139
Wohnhaus, Hohe Warte, Entwurf Prof. Joseph Hoffmann.
Schlafzimmer.
DIE HEILIGKEIT DES HEIMS FÜR GUTE
MENSCHEN.
BEDINGUNGEN FÜR DIE BÜRGERLICHE BAUKUNST
VON JOHN RUSKIN.
ch behaupte, wenn Menschen wirklich wie Men^
sehen lebten, so würden ihre Wohnhäuser Tempel
sein, Tempel, die wir kaum wagen würden zu
schädigen und in denen leben zu dürfen uns heilig
machen würde; und es muß eine seltsame Auflösung
der angeborenen Zuneigung sein, eine Undankbarkeit
für alles, was das Elternhaus gegeben und gelehrt
hat, ein Zugeständnis, daß wir unseres Vaters Eigene
art und Ehre untreu geworden sind — oder daß um
sere eigene Wohnstätte nicht so ist, daß sie unseren
Kindern ein Heiligtum sein kann — wenn jedermann
ganz für sich und nur für den kleinen Umlauf seines
Lebens bauen wollte. Und ich blicke auf diese arnv
seligen Anhäufungen von Kalk und Lehm, die aus
den geknechteten Feldern in der Umgebung unserer
Hauptstadt in schimmeliger Schäbigkeit dreist in die
Höhe klettern — auf jene dünnen, wackelnden, gründe
losen Schachteln aus Splitterholz und falschem Sand^
stein; jene düsteren Reihenfolgen stereotyper Ge^
nauigkeit, ähnlich ohne jede Kameradschaft, ebenso
einzeln wie einförmig — nicht nur mit dem wegwerfem
den Abscheu eines beleidigten Auges, nicht nur mit
Trauer über eine entweihte Landschaft, sondern mit
der schmerzlichen Ahnung, daß die Wurzeln unserer
nationalen Größe tief angefressen sein müssen, wenn
sie so lose in ihrem heimatlichen Boden stecken;
daß diese ungemütlichen und ungeehrten Wohn -
stätten die Zeugen eines weitverbreiteten Geistes der
öffentlichen Unzufriedenheit sein müssen; daß sie
die Epoche bezeichnen, wo jedermanns Ziel eine
höhere Lebenssphäre ist als seine natürliche und
jedermanns vergangenes Leben gewohnheitsmäßig
verachtet wird; wo Menschen bauen in der Hoffnung,
die Stätten, die sie bauen, bald zu verlassen, und leben
in der Hoffnung, die Jahre, die sie schon gelebt haben,
baldigst zu vergessen; wo die Gemütlichkeit, der
Friede und die Heiligkeit des Wohnhauses nicht mehr
empfunden werden; wo die überfüllten Miethäuser
einer ruhelos ringenden Bevölkerung sich nurvonden
Zelten der Beduinen und Zigeuner durch ihre weniger
gesunde Abgeschlossenheit gegen die Himmelsluft
und die weniger glückliche Auswahl ihrer Lage
unterscheiden, durch die Preisgabe der Freiheit ohne
die Segensgabe der Ruhe, durch die Armut an Halt -
barkeit, ohne den Reichtum an Abwechslung.
Wohnhaus, „Hohe Warte“, Entwurf Prof. Joseph Hoffmann.
Dies ist kein leichtes und folgenloses Übel; es ist voll böser
Vorbedeutung, ansteckend und trächtig mit schädlichen
Keimen. Wenn Menschen ihren Herd nicht lieben, ihre
Schwelle nicht ehren, so ist das ein Zeichen, daß sie beides
entehrt haben, daß sie niemals die wahre Auffassung des
christlichen Gottesdienstes verstanden, welche wohl den
Götzendienst, aber nicht das Gottempfinden der Heiden be -
seitigen sollte! Unser Gott ist ein Hausgott, so gut wie ein
himmlischer; er hat einen Altar in jedermanns Heim; mag
der wohl Obacht geben, der ihn leichtfertig zerstört und
seine Asche verstreut! . , ,
Es ist nicht eine Frage der bloßen Augenweide, nicht des
befriedigten Stolzes oder der verfeinerten und verschärften
Einbildung, wie und mit welchem Grad von Dauerhaftigkeit
und Vollkommenheit die Wohngebäude eines Volkes er -
richtet werden sollen. Es ist eine jener ethischen Pflichten,
die nicht darum straflos vernachlässigt werden dürfen, weil
ihre Erfüllung von einer sehr fein abgetonten und ab -
gewogenen Gewissenhaftigkeit abhängt, unsere Wo n auser
mit Sorgfalt, Geduld und Liebe und fleißiger Vollendung
zu bauen, im Hinblick auf eine Dauer von mindestens
solcher Entwicklungsperiode, wie sie im gewöhnlichen ver -
lauf nationaler Umwälzung angenommen werden darf, bis
zur völligen Veränderung in der Richtung der loka en e-
dürfnisse und Bestrebungen. Dies zum mindesten, es wäre
aber noch besser, wenn die Menschen, wo es irgend tunlich
erscheint, ihre eigenen Häuser in einem Maßstabe bauten,
der ihren Verhältnissen beim Beginn eher als ihren Er -
rungenschaften am Ende ihrer irdischen Laufbahn entspräche;
und zwar derart, daß sie so lange stehen, wie die allerstarkste
menschliche Arbeit nur irgend zu stehen Aussicht hat; ihren
Kindern und Kindeskindern erzählend, was sie gewesen
sind und von wo sie, wenn ihnen das vergönnt war, empor -
gestiegen sind. Und wenn Häuser so gebaut würden, konnten
wir die wahre bürgerliche Baukunst haben, die ursprüng -
lichste von allen, die sich nicht schämt, mit Ehrfurcht und
Einsicht die kleine Wohnung wie die große zu behandeln
und die Beschränktheit weltlicher Verhältnisse wenigstens
mit der Würde heiterer und zufriedener Mannhaftigkeit
auszufüllen.
IIS ZUM HEUTIGEN TAGE BLEIBT DIE BE-
)EUTUNG DER STATTLICHSTEN ALTEN
;tädte nicht etwa abhängig von
)EM VEREINZELTEN REICHTUM IHRER
>ALÄSTE SONDERN VON DEM IN EHREN
GEHALTENEN SCHMUCK SELBST DER
GERINGSTEN WOHNUNGEN IN DEN
ihr fr BLOTE.
141
Wohnhaus, „Hohe Warte“, Entwurf Prof. Joseph Hoffmann.
Badezimmer.
DAS ENGLISCHE HAUS.
V on der hochentwickelten Wohnungskultur Englands
kann der Kontinent noch sehr viel lernen. In einem
dreibändigen Werk hat Dr. Hermann Muthesius als
zuverlässiger Kenner englischer Künste und Lebensverhält'
nisse die Entwicklung des englischen Hauses sehr eingehend
geschildert und in seinem kürzlich stattgefundenen Wiener
Vortrag in den Hauptzügen dargestellt.
Schlagworte aus der englischen Sprache sind zu uns auf den
Kontinent herübergedrungen und haben sich in zumeist falscher
Bedeutung festgesetzt: Comfort, Cottage, Hall. Wir beginnen
langsam französische Lebensformen durch englische zu er'
setzen. Die Kleidung anglisiert sich und der gesellige Verkehr.
Die Wohnungskultur Englands wurzelt in der englischen
Geschichte und im englischen Nationalcharakter. Der ununter'
brochene Wohlstand des Landes hat sie gefördert, und daß
seit 300 Jahren kein Krieg die Insel durchtobte. Für die
Stile der französischen Ludwige war kein Raum im Insel'
reiche. Der Stil Louis Seize regte bloß flüchtig an und wurde
sofort national umgebildet. Die sogenannten „modernen
Kunstbestrebungen“ von 1895 gärten in England um gut
30 Jahre früher, in den Sechzigeriahren des vorigen Jahr'
hunderts. RUSKIN, MORRIS, ROSSETTI, BURNE'JONES
haben eine Umwälzung herbeigeführt. Der Architekt NOR'
MAN SHAW kam zuerst los von rückblickenden forma'
listischen Bestrebungen, von der Gotik, die für England der
eigentliche historische Stil war und was die Renaissance für
den Kontinent bedeutete. Man entdeckte das Bauernhaus.
Hier war sicherer Halt und Anschluß zu gewinnen. Das
Ideal war nicht mehr „il palazzo“, sondern „the cottage“, die
Hütte.
Die Wissenschaft, die Hygiene kam weiter noch zu Hilfe,
und so entstand das nach der Breite, nicht nach der Höhe
sich entwickelnde moderne englische Wohnhaus. Es ist
just das Gegenteil der „Villa“. Das Wort ist fast zum
Schmähwort geworden in England. Das englische Wohnhaus
ist immer Landhaus. In der Stadt hält man sich bloß auf,
auf dem Lande aber wohnt man. Die Villa möchte malerisch
wirken, das englische Landhaus hat seine ruhige Geschlossen'
heit des Baukörpers. Es ist nach der Sonne orientiert, nicht
nach der — Straße. Die weiträumigen Wohnzimmer, es sind
ihrer bloß wenige, gehen alle nach Süden. Zwei Drittel des
Grundrisses sind den Wirtschaftsräumen zugewiesen. Man
hat ein Drawingroom; es ist Damenzimmer, Empfangszimmer
und gemeinschaftliches Wohnzimmer, alles in einem. Folgen:
Speisezimmer, Billardzimmer und Bibliothek. Bloß in der
Bibliothek, dem Herrenzimmer, wird geraucht. Es gibt immer
zwei Kinderzimmer. Die Kinder schlafen niemals in ihrem
Spielzimmer.
142
Wohnhaus, „Hohe Warte“, Entwurf Prof. Joseph Hoffmann.
Zimmer des Stubenmädchens.
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Der Engländer gibt keine großen Tischgesellschaften und
Gastereien. Er hat keine Tafelbesuche, wohl aber Wohn'
besuche, und er hält für diese Gastzimmer bereit. Auf die
Straße nimmt sein Haus die geringste Rücksicht. Es wendet
die Fassade dem Hofe und Garten zu. Die Halle tritt nur
in ganz großen Häusern auf. Die vielen Wirtschaftsräume,
Küchen, Dienerküchen, Dienerzimmer, Badezimmer, Vorrats'
kammern, Silberkammer, Putzkammern, Spülräume sind
imponierend. Rohziegelbau und Satteldach und — „nichts
d’ran“ — so ist das englische Landhaus. Besonders das
„nichts d’ran“ ist wichtig. Kein aufgeklebter Fassadenzierat,
keine vertikale, keine horizontale Gliederung, auch die
„falsche Sezession“, der „Jugendstil“, fehlt. Sie würden wie
alles Auffällige als parvenümäßig, stillos und unvornehm
empfunden werden. Das Haus des Engländers ist sein er'
weitertes Kleid. Was er von seiner Kleidung fordert, das
fordert er auch von seiner Wohnung: bestes Material, Be'
quemlichkeit, Dauerhaftigkeit, sicheren Zuschnitt, tadelloses
Passen und Unauffälligkeit. „Modern sein ist kein künst'
lerisches Ziel, modern ist nur das in der Gesinnung Sach'
liehe.“
England ist auch auf dem Gebiete der Gartenkultur maß'
gebend für die europäische Kulturwelt geworden. Der regel'
mäßige architektonische Garten, der in Europa vorherrschend
war, war auch in England bis ins XVIII. Jahrhundert hinein
heimisch. Gegen diesen Garten erhob sich nun in der ersten
Hälfte des XVIII. Jahrhunderts ein Widerspruch, der haupt'
sächlich aus der neuerwachten Naturliebe und dem aus
Schottland kommenden Romantizismus resultierte. Man war
der architektonischen Gestaltung, die freilich vielfach in
Künsteleien übergegangen war, müde und wollte die reine
Natur. Das Ergebnis war der Landschaftsgarten, dasjenige
was auf dem Kontinent allgemein englischer Garten genannt
wurde. Der Fürst Pückler'Muskau, der zu Beginn des XIX. Jahr'
hunderts diese Gärten in England studierte, übertrug sie nach
dem Kontinent, wo sie vom ersten Viertel des XIX. Jahr'
hunderts sich immer mehr einbürgerten und schließlich die
Gartenkunst völlig beherrschten. Naturgemäß führte auch
diese Bewegung zu Auswüchsen. Der heutige englische Garten
ist wieder regelmäßig geworden, er ahmt nicht die Zu'
fälligkeiten der Natur nach, sondern gibt sich als ein Werk
der Menschenhand, er hat gerade Wege, geebnete Flächen,
Laubgänge, Terrassen und Spielplätze. Im kleinen Hausgarten
ist häufig zurückgegriffen auf den Blumengarten des Bauers.
Auch der Obstgarten ist vielfach näher ans Haus herangezogen
worden. In ganz großen Gärten wird die Umgebung des Hauses
stets architektonisch gestaltet, das weitere Gelände aber im
wesentlichen in seiner natürlichen Formation belassen. Unter
dem großen Interesse an dem Garten, das in den letzten
zwanzig Jahren in England eingetreten ist, hat sich eine innige
143
Wohnhaus, „Hohe Warte", Entwurf Prof. Joseph Hoffmann. Kinderzimmer.
Liebe für die heimische Flora entwickelt, die immer mehr
an Stelle der exotischen Spezialitäten des früheren LandschaftS'
gartens tritt. Das Werk der Gartenschriftstellerin Gertrud
Jekyll „Haus und Garten" liefert ein getreues Bild dieser
gesunden Ideen. Ist die Rückkehr zum vernünftigen Haus^
garten ganz und gar dem Wirken der englischen Haus^
architekten zu verdanken, so ist die Umgestaltung des Innern
des Hauses — wenigstens im Anfänge der Bewegung — aus
dem anderen Lager erfolgt.
Das Wirken des Reformators der englischen Hausausstattung,
William MORRIS, ist aus der Kultursphäre des Präraffaelismus
heraus zu erklären. Trotzdem walteten gleich von Anfang an
weniger sentimentale als vernünftige Beweggründe bei der
Umgestaltung vor. Was angestrebt wurde, war die Echtheit in
Material und Konstruktion, die Bewegung war eine Re^
aktionsbewegung gegen das verwendete Stilmöbel der da^
maligen Zeit. In der Hand einiger Führer zeitigte daneben
das Bestreben, den historischen Formenschatz zu vermeiden
und Ausdrucksformen zu suchen, die dem Empfinden unserer
eigenen Zeit entsprächen, gute Früchte. Der Schritt zu einer
geschlossenen architektonischen Gestaltung des Innenraumes
wurde jedoch erst von einigen nordischen Künstlern, vor allem
von Baillie SCOTT, George WALTON und MACKINTOSH
getan. Neben dem Wirken dieser Führer sind gewisse alh
gemeine Tendenzen im modernen englischen Innenraum
bemerkbar, die kulturhistorisch von größtem Interesse sind.
Der englische Innenraum ist sowohl in seinem Format und
seiner Raumgestaltung als auch in seiner Ausstattung mit
Geräten aufs einschneidendste vom englischen Kamin be^
einflußt worden. Der Kamin ist das einzige Feuerungsmittel
in England und hat eine eminente Bedeutung nicht nur als
Erwärmer, sondern auch vor allem als Entlüfter, da das
feuchte Klima einen lebhaften Luftaustausch des Wohm
raumes mit größerer Schärfe fordert als bei uns. Der Kamin
ist der Sammelpunkt im Zimmer, an den sich der einzelne
setzt und um den die Gesellschaft sich gruppiert. Daraus
folgt die Anlage des Zimmers mit Berücksichtigung eines
geräumigen Kaminplatzes. Die Anlage der Türen und Fenster
hat hauptsächlich mit Rücksicht auf diesen Punkt zu er^
folgen. Sitzmobiliar und Tisch erhalten keinen festen Stand'
ort, sondern müssen leichtgehalten werden, damit sie bei
sich bietenden Anlässen von ihrer Stelle gerückt werden
können.
Schließlich kann man auch noch sagen, daß der Kamin auf
die dekorative Ausgestaltung des Zimmers von größtem Eim
flusse ist insofern, als er eine alles beherrschende Stellung
im Zimmer einnimmt. Er hat somit eine vereinfachende
Wirkung auf die Ausstattung des Zimmers ausgeübt. Das
heutige englische Zimmer ist stets von der größten Schlicht -
heit. Die bei uns so wichtigen Gewerbe des Stubenmalers
144
Ö
und Stukkateurs sind in England überhaupt nicht vertreten.
Der englische Innenraum hat keine Verwendung für sie. In
der Behandlung von Wand und Decke wird eine ruhige,
flächige Wirkung angestrebt. Die Wand ist nie Selbstzweck
der Dekoration, sondern immer nur Hintergrund. Vom Schlaf-
zimmer ging die helle, leichte und luftige Stimmung auch
auf das Wohnzimmer über und so bildete sich allmählich
eine völlig neue Grundstimmung des Innenraumes überhaupt
heraus. Der Begriff des Behaglichen wurde ein anderer.
Während man früher das plüsclv oder seidenbezogene schwere
Polstermöbel, dunkle Wände und Teppiche und schwere
Stoff behänge an den Fenstern für behaglich gehalten hatte,
hält man heute das saubere, weiße, leichte, luftige Zimmer
für das behagliche. Diese Umbildung der Anschauung über
die Wohnung, die in England ihren Ursprung nahm ver-
breitet sich augenblicklich über den Kontinent. Die moderne
Kunstbewegung hat diesen Teil ihres Programms aus Eng'
land geerbt. Mit ihm fällt zugleich jener ganze Aufwand an
rein formalen Äußerlichkeiten, den uns die historischen Stile
bieten.
Das Suchen der Zeit ist darin zu erblicken, eine bürger -
liche Kultur zu entwickeln, und gerade hierin bietet uns
England die wertvollsten Fingerzeige, da es dasjenige Land
ist, das seine bürgerlichen Ideale schon seit Jahrhunderten
konstruiert und entwickelt hat.
Dr. Hermann Muthesius’ großes Werk „Das englische Haus“,
verlegt bei E. Wasmuth, Berlin — der dritte und letzte Band
ist eben erschienen — enthält eine erschöpfende, Wissenschaft'
liehe und künstlerische Begründung dieser Hausbauprinzipien,
die sich aus historischen, kulturellen und lokalen Grundlagen
organisch entwickelt haben. Von kontinentalen Verhältnissen
ist diese Entwicklung dadurch verschieden, daß in England
das Bürgertum immer Träger der Kultur gewesen ist. Für
Deutschland ist das Auftreten Muthesius’ mit diesen Hin -
weisen von hoher Bedeutung. Die kontinentale Entwicklung
auf dem Gebiete der Wohnungskultur wird von daher die
nachdrücklichste und heilsamste Belehrung empfangen zu
gunsten einer sachlichen und organischen, bürgerlichen
Baukunst. Eines der interessantesten Buchkapitel, davon im
folgenden einige Abschnitte mitgeteilt sind, ist der Ent -
wicklung der modernen Kunstbewegung durch William
Morris gewidmet.
BY ART I UNDERSTAND THE PLEASURE
nF T TFF WILLIAM MORRIS.
145
Wohnhaus, „Hohe Warte“, Entwurf Prof. Joseph Hoffmann.
Aufgang zum Dachgeschoß.
WILLIAM MORRIS.
E s ist im XIX. Jahrhundert eine geradezu feststehende
Erscheinung geworden, daß Reorganisationen nicht von
den berufenen Vertretern eines Faches, sondern von
Leuten ausgehen, die als Fremde an die Sache herantreten.
Ganz besonders aber ist das in den gewerblichen Künsten
der Fall gewesen und ganz unvermeidlich scheint es heute
in allen Handwerken zu sein, die Beziehung zur Kunst
haben. In der englischen Innenkunst, an der die verschieden^
sten Einflüsse fruchtlos verlaufen waren und bei der selbst
eine so gewaltige Strömung, wie die neugotische in England,
ohne befriedigende Ergebnisse geblieben war, kam das Heil
von einem Außenstehenden, dessen eigentlicher Lebensberuf
der eines Dichters war und dessen Helfer nicht Architekten,
sondern vorwiegend Maler waren: von William Morris. Gleich^
laufende Erscheinungen sehen wir bei der Aufnahme der
deutschen Renaissance in Deutschland in den Siebziger^ und
den kunstgewerblichen Neuausgängen in der Mitte der Neum
zigerjahre, die beide nicht durch die Architekten, sondern
trotz der Architekten geschahen.
William Morris stand künstlerisch in der Atmosphäre des
Rossetti^Kreises, der damals übrigens noch den Charakter
einer kleinen, dem breiten Publikum ziemlich unbekannten
Clique hatte, obgleich Ruskin durch seine breite literarische
Wirksamkeit ihn nach Möglichkeit einzuführen versucht
hatte. Morris (1834—1896) und sein Freund Burnejones
( i 833—1898) fühlten sich schon in Oxford mächtig von dem
um einige Jahre älteren Rossetti (1828—1882) angezogen und
standen später in London zu ihm in dem Verhältnis einer
verehrungsvollen Freundschaft, Ford Maddox Brown (1827 bis
1893), der Freund und in gewissem Sinne Lehrer Rossettis,
gehörte von selbst zu diesem Kreise; der Architekt Philipp
Webb (geb. 1830), damals der erste Zeichner auf dem Archiv
tekturbureau Streets, war durch Morris neunmonatlichen
Versuch, bei Street Architekt zu werden, in innige Freund'
schaft mit Morris und dadurch in dessen Bekanntenkreis
gekommen.
Webb war der einzige Architekt unter den Malern. Aber er
war überhaupt in einem anderen Sinne Architekt als die
Mehrheit seiner Fachgenossen, eine in sich versenkte, innige
Künstlernatur im weitesten Sinne des Wortes, gleich ent'
fernt von dem Fachtreiben seiner Zeitgenossen, wie herzlich
gleichgültig gegen die damaligen Stilziele der Architekten'
schaft, von der er sich übrigens sein Leben lang fern hielt.
Nachdem Morris darangegangen war, sich mit Webbs Hilfe
ein Haus zu bauen, handelte es sich darum, die Hausaus'
stattung zu beschaffen, wobei das auf dem Markt Vorhandene
völlig versagte. Was lag näher, als daß Morris den Entschluß
faßte, sich die Ausstattung selbst und mit Hinzuziehung seiner
146
Freunde zu zeichnen? In deren Mitte waren längst revolu^
tionäre Vorstellungen über den damaligen Hausrat heran--
gereift. Rossetti hatte sich bei der Wahl seines Mobiliars
zurück zur Kunst des XVIII. Jahrhunderts geflüchtet, er war
der erste, der die Chippendale-Stühle wieder in Mode brachte.
Zugleich rief er jene Vorliebe für blau und weißes chinesisches
Porzellan hervor, die in den nächsten Jahrzehnten in England
eine solche Rolle spielte, daß fast alles gute Porzellan dieser
Richtung nach England gewandert ist.
Brown hatte aber nicht nur vorher schon Möbel und Geräte
gezeichnet, sondern diese sogar im Hogarth-Klub, einer
kleinen Vereinigung zur Pflege persönlicher Kunst, aus -
zustellen versucht. Sie waren aber als „Nichtkunstwerke“
zurückgewiesen worden. Alle Freunde halfen an Morris’ Haus -
rat, Morris war voller Enthusiasmus, hatte die ganze Gesell -
schaft jeden Sonntag bei sich versammelt und übertrug
seinen stürmischen Eifer, die Hausausstattung als würdiges
Kunstziel zu betrachten, auf die anderen. Man schuf alles
neu und aus dem Rohen heraus. Tapeten wurden nicht ge -
duldet, man beabsichtigte Wandbehang, und zwar wurden
dazu einfarbige Stoffe von den Frauen mit aufgestickten
Mustern versehen. Wirklich wurden auf diese mühsame
Weise einige Zimmer ausgestattet. Die Möbel zeichnete Webb,
es waren einfache Kastenmöbel mit schmiedeeisernen Bändern
und mit großen, für Malereien bestimmten Füllungen. Diese
Füllungen wollte man allmählich bemalen, einige sind be -
malt, einige noch heute unvollendet und es läßt sich nicht
einmal feststellen, von wem die angefangenen Kompositionen
herrühren.
Bei diesen mit Eifer geführten Arbeiten entstand der Ge -
danke, die gemeinschaftlichen Ideale auch für die weitere
Welt nutzbar zu machen. Man gründete ein Geschäft für
Innendekoration, für das man 1861 Ankündigungen ver -
schickte. Der wahrscheinlich von Rossetti verfaßte Text sagt,
daß „eine Anzahl historischer Künstler sich vereinigt habe,
um Arbeiten in einer zugleich durchaus künstlerischen und
wohlfeilen Weise auszuführen und daß sie beschlossen hätten,
ihre Mußestunden zur Herstellung von allerhand kunsthand -
werklichen Erzeugnissen zu verwenden“.
Es tritt aus der besonderen Hervorhebung, daß die Beteiligten
„historische Künstler“ seien, zutage, daß man nicht nur vor
hatte, in den Gleisen der historischen Kunst zu schaffen,
sondern sogar für nötig hielt, dies besonders zu betonen;
wie denn tatsächlich die erste Auszeichnung, die die Firma
auf einer Ausstellung erhielt, für „Genauigkeit der Nach -
ahmung gotischer Kunst“ erteilt wurde. Es darf eben nicht
vergessen werden, daß der Wunsch nach selbständiger, von
der historischen Kunst absehender Gestaltung damals noch
bei keinem Menschen, am wenigsten aber bei Morris, und
das gilt für dessen ganzes Lebenswerk, vorlag. Man sah sein
Ziel lediglich in der Erreichung der Vollkommenheit alter,
in diesem Falle der mittelalterlichen Kunst. Die Ankündigung
war von acht Mitgliedern gezeichnet: Rossetti, Brown, Burne-
Jones, Morris, Webb, Artur Hughes (der bekannte Maler,
er trat unmittelbar darauf aus), Faulkner und Marshall. Alle
Mitglieder haben, soweit sie nicht schon, wie es bei Rossetti
und Brown der Fall war, einen Namen hatten, die Welt
später mit ihrem künstlerischen Ruhme erfüllt, mit Ausnahme
der beiden letzten, von denen der eine ein Baubeamter, der
andere ein Mitglied der Universität Oxford, beide persönliche
Freunde von Morris waren. Aber auch ihre Mitgliedschaft
ruhte auf ihrer Betätigung im kunstgewerblichen Entwurf,
wie denn alle Mitglieder ängstlich darauf bedacht waren, das
rein kaufmännische Element auszuschalten.
(Schluß folgt.)
L.: DIE VOLKSWIRTSCHAFT
DES TALENTES.
Fortsetzung aus den Heften 21 und 22, 23 und 24, 25 und 26, Seite 353,
bezw. 377, bezw. 401, Jahrg. I, und Heft 1, 2, 3, 4, 5, 7 und 8, Seite 2,
bezw. 17, 33, 49, 65, 86, 102, Jahrg. II.)
Die künstlerische Kraft ist eine seherische, sie geht den Er -
eignissen voraus oder führt sie herbei. Sie nimmt den hohen
Flug der Dichtung und zeigt der Menschheit den Weg, den
sie gehen wird.
Die Wissenschaft geht hinterdrein, auf ungezählte Krücken
von Beweisen gestützt, und stellt fest, daß der Weg gangbar ist.
Die freiesten Geister huldigen stillschweigend und unbewußt
einer Weltanschauung, die man im besten Sinne eine anarchi -
stische nennen kann. Sie ist die seelische Heimat, die geistige
Höhenluft, die man atmen muß, um nicht in der er -
bärmlichen Enge und Tyrannei der gesellschaftlichen und
parteimäßigen Zwangsordnungen zu ersticken.
Das Leben wäre unerträglich, könnte man nicht einen Fleck
Erde lieben mit seinen Hütten, Gärten, Ackerfurchen, Wiesen,
Weinbergen oder Wäldern und einem weiten Stück Himmel
zu Häupten oder im Spiegel eines fließenden Gewässers, und
sich gleichzeitig als Bürger einer über die Erde verstreuten
spärlichen (vielleicht zahlreichen) Gemeinde fühlen, die jene
Höhenluft geistiger Freiheit atmet.
Die hohen Gesinnungen allein machen nicht den Künstler
aus; aber sicher ist, daß aus einer niedrigen und gemeinen
Gesinnung heraus niemals ein Kunstwerk entstehen kann.
Niedrige und gemeine Gesinnung ist durchaus unkünstlerisch.
Die edelsten Gesinnungen und die größten menschlichen
Erbärmlichkeiten habe ich bei Künstlern gefunden, Lauterkeit
bei einigen, Neid, Bosheit, Eitelkeit, Habsucht, Kriecherei
und Titelsucht bei den anderen, bei den meisten dieses und
jenes in seltsamen Mischungen. Sicherlich ist es in den
meisten Fällen nur eine Reagenz auf die Niederträchtigkeiten
des äußeren Lebens. Aber ebenso sicher ist, daß kein Künstler
jemals Großes vollbracht hat, wenn es nicht zugleich auch
in seinem Innern ein Sieg der GUTE war.
Soll die Erde schön, das Volk gesund, das Leben freudig,
der Staat gerecht sein, dann sei das Ziel der Arbeit SELBST -
BEGLÜCKUNG.
(Das VI. und letzte Kapitel: „Von den Aufgaben der Erziehung“ wird
in unserer nächsten Sondernummer für Schule und Erziehung
erscheinen.)
EIN URTEIL ÜBER DIE VOLKS -
WIRTSCHAFT DES TALENTES.
STEPHAN GROSSMANN, Theaterkritiker
der Arbeiter-Zeitung und Theaterschriftsteller:
„DIE VOLKSWIRTSCHAFT DES TALEN -
TES IST DAS WERK EINES ALLZU VER-
WIENERTEN, ENGHERZIGEN, ZÜNFT-
LERISCH VERSIMPELTEN MENSCHEN.“
147
DIE ÖSTERREICHISCHE AUSSTELLUNG
IN LONDON.
ine bedeutende Anzahl von Künstlern und Künstlerinnen hat sich
im Anschluß an die „HOHE WARTE“ zu einer freien Gesellschaft
ohne Statuten oder sonstigen Vereinszwang zur gemeinsamen Förderung
gelegentlicher künstlerischer Absichten vereinigt. Das Ergebnis der ersten
gemeinsamen Aussprache war die in Nr. 7 der „HOHEN WARTE“
publizierte Eingabe an das Ministerium für Kultus und Unterricht,
worin die Notwendigkeit und einige wichtige Aufgaben einer rationellen
Kunstpflege hervorgehoben wurden. Vor allem wurde die Hauptfrage
gestellt, warum hervorragende Künstler, die keiner Organisation an -
geboren, nicht veranlaßt wurden, an der österreichischen Ausstellung
in London teilzunehmen, während selbst kleine Provinzorganisationen,
die durchaus keine künstlerischen Höhepunkte bilden, durch Gewährung
ausreichender Subventionen zur Beteiligung herangezogen wurden. Die
Eingabe war mit Unterschriften zahlreich versehen, darunter Namen
der hervorragendsten österreichischen Künstler.
Das Ministerium für Kultus und Unterricht beantwortete diese Eingabe
durch folgenden schriftlichen Bescheid:
„Unter Bezugnahme auf die Eingabe vom 17. Jänner 1906 wird dem
geehrten Verbände im Einvernehmen mit dem k. k. Handelsministerium
eröffnet, daß hinsichtlich der Beteiligung künstlerischer und kunst -
gewerblicher Kräfte an der österreichischen Ausstellung in London 1906
sowie namentlich auch hinsichtlich des Arrangements der Ausstellung
weder dem Ministerium für Kultus und Unterricht noch dem 'Handels -
ministerium eine Ingerenz zukommt.
Das Arrangement der Ausstellung wurde seitens der Veranstalter einem
Chefarchitekten übertragen, der in der Auswahl seiner Mitarbeiter und
in der Heranziehung besonderer Kräfte zur Ausgestaltung der einzelnen
Abteilungen vollkommen freie Hand hat.
Im übrigen obliegt die Durchführung dieser Ausstellung, welche einen
vorwiegend merkantilen Charakter hat, einem eigens gewählten Exe -
kutivkomitee.
Für die Durchführung der mit der industriellen und gewerblichen
Ausstellung verbundenen Kunstausstellung wurde ein Künstlerkomitee
eingesetzt, welches den einzelnen österreichischen Künstlervereinigungen
sowie auch den keiner Vereinigung angehörenden Künstlern als einer
besonderen Gruppe je einen entsprechenden Raum in der der Kunst-
abteilung gewidmeten Ausstellungshalle zugewiesen und jeder Gruppe
die selbständige Ausschmückung ihres Raumes überlassen hat.
Eine staatliche Einflußnahme auf die Aktionen der beiden erwähnten
Komitees und namentlich auf die Heranziehung und Auswahl der
künstlerischen Kräfte konnte nicht stattfinden.
Der Leiter des Ministeriums für Kultus und Unterricht:
BIENERTH m. p.“
Aus dieser Zuschrift geht hervor, daß bei der Einsetzung des Künstler-
komitees nicht auf die größten künstlerischen Qualitäten gebührend
Rücksicht genommen wurde. Die Regierung hätte die Pflicht, diese
Persönlichkeiten zu kennen und ihre Vorschläge anzuhören.
Wie in der Eingabe dargetan, wurde dieser Pflicht nicht genügt;
auch das eingesetzte Künstlerkomitee hat es verabsäumt, sich
der Mitwirkung jener hervorragenden Kräfte zu sichern und den
verfügbaren Raum nach Maßgabe der künstlerischen Gerechtigkeit zu
verteilen.
Die Einseitigkeit und Ungerechtigkeit dieses Vorganges wird hiermit
festgestellt als eine Warnung für die Zukunft.
Am bezeichnendsten für die herrschenden Irrtümer ist der als Aus -
schließungsgrund gemeinte Hinweis auf den „vorwiegend merkantilen
Charakter“ der Ausstellung. Schließt also der „merkantile Charakter“
die Qualität einer originellen Leistung aus? Oder sollte nicht gerade
wegen des merkantilen Charakters diese Qualität im Vordergrund
stehen, um die höchste Leistungsfähigkeit darzutun, die allein die
Kaufkraft anzieht? Lebte denn nicht auch der „merkantile Charakter“
von der erfinderischen und formvollendenden Arbeit der Künstler, die
den Ursprungswert darstellt (siehe „Künstlerwerkstätten“, Heft 9 der
„Hohen Warte“), und daher produktive Kraft ist, während der „mer -
kantile Charakter“ niemals produktiv sein kann und in seiner Existenz
immer nur von jener produktiven und schöpferischen Arbeit abhängt?
Hat denn der „merkantile Charakter“ und diese Ausstellung mit solchem
Charakter überhaupt Sinn, wenn nicht das Ziel die FÖRDERUNG
DER PRODUKTIVEN ARBEIT ist? Worauf gründet man denn die
Ausfuhr und die Absatzmöglichkeit, wenn nicht auf jene produktive
Arbeit, an der vor allem die Künstler beteiligt sind? Wozu hat der
Staat eine Kunstpflege, wozu erzieht er Künstler? Die bloßen Bilder -
ausstellungen, die in der Regel das künstlerische Mittelmaß nicht über -
schreiten, sind allerdings nicht in dem künstlerischen und wirtschaft -
lichen Sinne produktiv, als die Arbeit jener zahlreichen Künstler, die
sich mit der alle Gebrauchsformen umschließenden organischen Neu -
gestaltung, mit der Kultur des alltäglichen Daseins befassen und davon
eine solche Ausstellung ein umfassendes Zeugnis ablegen müßte.
Es ist nicht verwunderlich, wenn der „merkantile Charakter“ der Herren
Denk und Schwarz vom Ausstellungskomitee ein Hindernis für die
PROPAGANDA DER QUALITÄT ist, die zugleich eine Propaganda
der künstlerischen Arbeit bedeutet; aber die Ausflucht des Unterrichts -
ministeriums auf diesen „merkantilen Charakter“ offenbart die ganze
Hoffnungslosigkeit der Kunst den leitenden Kreisen gegenüber. Der
Hinweis auf den bloß merkantilen Charakter enthüllt die Blößen der
offiziellen Kunstförderung, die augenscheinlich den WERT DER KÜNST -
LERISCHEN ARBEIT für das kulturelle und volkswirtschaftliche Ge -
deihen vollends verkennt. Noch vor drei Wochen, als unsere Eingabe
bereits überreicht war, wurde ein verfügbarer Raum einer kleinen
Dilettantengruppe, den „acht Künstlerinnen und ihren Gästen“, über -
lassen, weil man nichts damit anzufangen wußte — und Klimt, Wagner,
Hoffmann, Roller, Moser, Böhm, Moll und hinter ihnen an die hundert
Talente, die erfolgreich ausgebildet, künstlerische Arbeit für alle An -
wendungen im Leben schaffen, Ursprungswerte, produktive Leistungen,
diese zum Teil hervorragend wirkenden Kräfte sind vollständig über -
gangen worden, als wären sie überhaupt nicht vorhanden.
Die herrschenden Vorstellungen an leitender Stelle scheinen als Kunst
nur die durchschnittliche Bildermalerei, die in der Tat am meisten
gefördert und am wenigsten gebraucht wird, zu erkennen; daß jede
an Geist und Technik vollendete gewerbliche Arbeit als Teil der Archi -
tektur eine höhere künstlerische Leistung als jenes durchschnittliche
Bildermalen darstellt, und daher gewinnbringendes Objekt auch für
jenen „merkantilen Charakter“ ist, daß Kunst und Arbeit, oder Kunst
und Gewerbe im Grunde eine Einheit darstellen müßten und eines
ohne das andere nicht gefördert werden kann, diese primitive Erkenntnis
ist unerläßlich, wenn die offizielle Kunstförderung ihre Aufgabe er -
füllen soll. Ein Kunstamt, das mit dem Hinweis auf den „bloß mer -
kantilen Charakter“ ausweicht, verkennt die Aufgabe der Kunstförde-
rung und die Bedeutung der künstlerischen Arbeit als volkswirt -
schaftliche Funktion.
Jahrgang I der „HOHEN WARTE“, I. und II. Halbjahr, ist in
einigen gebundenen Exemplaren noch zum alten Preis zu haben.
Später Preiserhöhung!
Einbanddecken für den I. Jahrgang werden auf Bestellung
nachgeliefert.
jj^Nächst^^ondernummer^Schul^m^Erziehung^
Unregelmäßigkeiten in der Zustellung wollen dem Verlag der „HOHEN
WARTE“ gefälligst sofort bekanntgegeben werden.
NACHDRUCKVERBOT für sämtliche in den Heften der „Hohen Warte“
erscheinenden Artikel und Illustrationen.
Alle Zuschriften und Sendungen Wien, XIX. Grinzingerstrafle No. 57. Telephon 21.847.
Verlag „Hohe Warte“ (Lux & Lässig). Für die Redaktion Joseph Aug. Lux.
Für den österreichischen Buchhandel in Kommission bei: HUGO HELLER, WIEN,
I. Bauernmarkt 3.
Druck von Christoph Reisser’s Söhne, Wien V.
148
SONDERNUMMER (Doppelheft):
SCHULE UND ERZIEHUNG.
L.: DIE VOLKSWIRTSCHAFT
DES TALENTES.*
VI. VON DEN AUFGABEN DER ERZIEHUNG.
Wenn ich das Volk mit einem Baum vergleiche, dann ist
das Talent die natürliche Triebkraft, die sich in Blüten ent'
faltet und Früchte hervorbringt, und die Volkswirtschaft ist
der Tätigkeit des Gärtners vergleichbar, der alles anwendet,
das Wachstum, die Entfaltung und die Fruchtbarkeit zu
fördern. Aus vielen Wurzeln saugt der Baum seine Nahrung
und treibt einen mächtigen Schaft empor, aus dem sich seine
Krone entwickelt, die mit zahllosen Blättern Luft, Licht und
befruchtenden Tau trinkt und den Baum schützt, nährt und
kräftigt. Aber der Baum wird keine Krone entwickeln, sein
Stamm wird nicht gesund sein, wenn nicht die Wurzeln
gepflegt und befähigt werden, reichlich Kraft in den Schaft
zu senden, um aus der Krone wieder die Lebensspende zu
empfangen. Und das Volk wird nicht wie ein Baum kräftig
in die Zukunft wachsen, wenn nicht die Arbeit an den
Wurzeln, die Erziehung, an der Entwicklung der wert'
bildenden Kraft, die aus der Krone ihren Segen nieder'
strömen soll, mit der Sorgfalt des Gärtners tätig ist.
Die heutige Volkswirtschaft und die heutige Schule haben
nichts mit dem Gärtner gemeinsam. Die heutige Volkswirt'
schaft treibt Raubbau, sie läßt den Baum dorren. Und die
heutige Schule und Erziehung läßt die Wurzeln verkümmern.
In der Schule, namentlich im Volksschulunterricht, werden
nicht Fähigkeiten entwickelt, sondern es wird der Glaube an
die Autorität, an die bestehenden Machtverhältnisse und das
Wissen um die Geschichtsdaten des Machtbesitzes gepflegt.
Wenn das Kind in die Schule kommt, ist es gebildeter, als
wenn es nach acht Jahren die Schule verläßt. Wenn das Kind
in die Schule kommt, hat es die ersten Ansätze seiner
natürlichen Bildung und seines Talents bereits entwickelt.
Es hat die Sprache, die Bildlichkeit und oft überraschte
Plastik des Ausdrucks, es kann sich zeichnerisch ausdrücken,
besitzt eine Menge Handfertigkeiten, die sein natürlicher
Gestaltungstrieb, man nennt ihn Spieltrieb, ausgebildet hat,
es übt den Tanz in der uralten Form des Reigens mit
Gesang und es kennt die taufrische Poesie der Kinderreime,
die sich von Kindergeschlecht zu Kindergeschlecht überliefern,
wie der Tanz in der Form des Reigens mit dem Reigenlied.
Es bereitet sich schon instinktiv auf die spezifischen Auf'
gaben der beiden Geschlechter vor: die Knaben sammeln
Käfer, Schmetterlinge, bunte Steine, sie bauen, malen, ver'
* Fortsetzung aus den Heften 21 und 22, 23 und 24, 25 und 26, Seite 353»
bzw. 377, bzw. 401, Jahrg. I, und Heft 1, 2, 3, 4» 5, 7» 8 und 10, Seite 2,
bzw. 17, 33, 49, 65, 86, 102, 147, Jahrg. II.)
fertigen Papierhelme und führen zuweilen Krieg; die Mädchen
neigen zu den Beschäftigungen häuslicherer Art, sie pflegen
die Puppe, kochen gerne mit kleinen Geschirren im Sand
und führen eine glückliche Hauswirtschaft im Winkel.
Die Schule bringt alle diese Entwicklungskeime zum plötZ'
liehen Stillstand. Sie schneidet die zarten Ansätze kurzweg
ab, erstickt sie, indem sie unvermittelt Neues und Fremd'
artiges dem jungen Reis aufpfropft. Sie beginnt ganz von
neuem, nach einem Plan, der sich nicht nach der EntfaltungS'
tendenz des Kindes richtet, sondern dem sich das Kind am
zupassen hat, mit welchem Glück, das bezeugen die Kinder'
tragödien, die ihren Schatten vom ersten Schultag in die
jungen Seelen werfen und sie erst dann verlassen, bis der
junge Mensch ins Leben tritt, mit dem Jubel aus befreiter
Brust: frei! frei von allem Lerm und Prüfungszwange, den
verderblichen Schulseuchen und Kathedertyranneien! Kein
Jubel, dem nicht das niederdrückende Gefühl der Ohnmacht
folgt, den Forderungen des Lebens und der Notwendigkeit
gegenüber, nun erst recht lernen und wieder von vorne am
fangen zu müssen, um einzuholen, wenn es möglich ist,
was in den kostbaren Schuljahren versäumt worden war.
Glücklich jene, deren Kräfte und Talente von neuem erwachen,
es zu vollbringen; sie sind die Starken, die Ausnahmen; die
Schule, die ihnen nichts nehmen konnte, hatte nicht viel
ihnen zu geben. Produkt der Schule sind jene Mittleren, die
als die Fleißigen und Braven sich dem Plane angepaßt haben
und die im Leben fast niemals sonderlich hervorragen, sondern
die fügsam unfruchtbare Mittelmäßigkeit bilden, die für die
Kulturentwicklung der Menschheit das Bleigewicht sind.
Produkt der Schule sind aber auch jene Namenlosen, deren
Eigenart sich nicht den kategorischen Forderungen der Schule
anpassen konnte, die also früh an dieser Klippe gescheitert,
nicht die Kraft der eigenmächtigen Fortentwicklung gefunden
haben und zu den rühmlos Gefallenen zählen, die die dunklen
Seiten unserer Kulturgeschichte füllen.
Was also soll die Schule tun? Was ist von ihr zu verlangen?
Zu verlangen ist zunächst die Abschaffung aller Prüfungen,
Zeugnisse, Klassifikationen, all jenes Ballastes toten Wissens,
aller Diszipline, die die Ehrfurcht von den kirchlichen und
weltlichen Machtfaktoren, Frommheit und Unterwürfigkeit
erziehen wollen und Heuchelei und Servilismus züchten.
Dann wird auf einmal wieder Luft und Licht und freier Raum
im Schulplan sein, und der neue Schulplan wird alsbald ein
ganz anderes natürlicheres Gesicht haben.
Was soll nun die Schule tun?
Fortsetzen, was das Kind bereits im Keim mitbringt und in
den ersten Ansätzen entwickelt hat. Die ersten Jahre soll sie
überhaupt nichts Neues vornehmen, sondern spielen; mit der
unmerklichen Absicht zu lehren, zu vertiefen und die ge'
gegebenen Ansätze zu kräftigen. Das Spiel ist für das Kind
Arbeit, fruchtbare Arbeit. Es arbeitet immer im Material,
so lasse man es in allen möglichen Materialien arbeiten.
Nicht das Kind hat dem Willen des Lehrers zu gehorchen,
sondern der Lehrer hat dem Willen des Kindes zu gehorchen.
Damit ist nicht die sprunghafte Launenhaftigkeit gemeint,
sondern die Regung der erwachenden Kräfte und Talente, die
sich in Neigung und Interesse an dem Spiel der Arbeit kund'
gibt und vorsichtig zu pflegen ist. Nur im Spiel ist zu lernen
oder zu lehren, das soll Grundsatz wenigstens in den ersten
Schuljahren sein. Im Hintergrund des Spiels soll der Ernst
stehen, vorerst gar nicht merklich. Darum soll das Arbeiten
im Material, in Papier, Leder, Leinen, Holz, Metall etc. nicht
müßige Zwecke und Materialvergeudung darstellen, sondern
nebst dem Können der Werkzeug' und Materialbehandlung
auch die Anwendung zeigen.
Im Anfang werden Papier' und leichte Buchbinderarbeiten
im Vordergrund stehen, und sie werden wie alle praktischen
Arbeiten mit Freude betrieben werden und eine Fülle wert'
voller Kenntnisse vermitteln, wenn die Kinder solche Arbeiten
für sich machen können. Wie überhaupt der Grundsatz gelten
müßte, daß die Kinder das Bewußtsein behalten, nur für sich
zu arbeiten. Die Papier' und Buchbinderarbeiten fänden zu'
nächst darin praktischen Anlaß, daß die Kinder ihre Hefte
und Einbände selbst herstellen. Es gibt eine Unzahl von
Gebrauchsdingen in allen Stoffen, die unter entsprechender
Anleitung von den Kindern zur eigenen praktischen Ver'
wendung hergestellt werden könnten. Die Schule sollte eigent -
lich Werkstätte sein, wo die Kinder herrschen und verlangen
können, in jedem beliebigen Handwerk zu irgend einem
naheliegenden Zweck unterrichtet zu werden. Fachkundiges,
williges und pädagogisch begabtes — nicht schulmeisterliches —
Lehrpersonal ist unerläßliche Voraussetzung, ein Lehr'
personal, das alle leisen Regungen und Wünsche der Jugend
erfaßt, das Interesse in Spannung hält und alle Unterweisungen
in freundschaftlicher Art gibt.
Ähnlich ist es mit den spezifisch weiblichen Beschäftigungen,
den weiblichen Handarbeiten, dem Nähen und Kochen. Die
weiblichen Handarbeiten nicht nach Vorlagen, sondern mit
Beobachtung und Verwendung der natürlichen Material'
eigenschaften und der Technik, wie Schnur', Band', Kreuz'
Stichtechnik, betrieben, sowie das Nähen und Schneidern
wird zunächst halb Spiel, halb Ernst sein, die Puppe zu
kleiden und zu schmücken, um später auf höherer Stufe
die erworbene Kunstfertigkeit dem eigenen Persönchen und
seiner Tracht zu Nutzen werden zu lassen. Auch das Kochen,
anfangs ein Spielen mit Geschirren und Formen, würde,
vorsichtig behandelt, ein Kochen mit wirklichem Material
werden, eine Schulküche, von Schulmädchen betrieben, als
ein wahrer Segen, nicht nur für die Mädchen als die künf -
tigen Hausfrauen, sondern zunächst für die Ausspeisung der
armen Schuljugend, ja der Schuljugend überhaupt, die ihr
ganzes Jugendleben in einem solchen republikanischen
Schulkreise wahrscheinlich mit Freuden ganz ausschließlich
verbringen würde und verbringen sollte. Hier noch einen
Schritt weiter zu den Elternabenden im Schulkreise, und die
Kinder sind von verderblichen Einflüssen der Außenwelt
überhaupt gesichert, die Eltern hätten ihren Lehr' und Er'
Ziehungseinfluß nach Maßgabe ihrer Fähigkeit hier zu üben,
und es wäre endlich die so notwendige öffentliche Kontrolle
seitens hochstehender Menschen über die elterliche Erziehung
der Kinder hergestellt. In diesem Schulkreis hätten nicht
nur die Kinder zu lernen, sondern auch die Eltern, die
geradeso wie die Lehrer zur Erkenntnis zu bringen sind,
daß die Kinder nicht der Eltern und der Lehrer wegen,
sondern die Eltern und die Lehrer der Kinder wegen da
sind, und daß sie von dieser Erkenntnis aus ihr Verhalten
einrichten, namentlich was die Vermeidung von anstößigen
Worten oder Handlungen angeht, ein Übel, das heute in
den weiten Volkskreisen schwer zu bekämpfen ist. In dieser
Form aber wäre der so notwendige Verband von Eltern'
schaft und Schule hergestellt. Das in den Grundlagen er'
worbene Können ist mit einer Fülle von Kenntnissen,
schier mühelos erworben, verbunden, die nie vergessen
werden können und eine verläßliche Grundlage des künfi
tigen Lebens bilden, während die Kenntnisse, in der heutigen
Schule erworben, fast ausnahmslos für das Leben wertlos
sind und gebührlich vergessen werden. Wir sehen es unter
anderem an den Mädchen aus den heutigen arbeitenden
Volksschichten, die Eheschließungen eingehen, ohne die
notwendigsten Voraussetzungen zur Führung der Häuslich'
keit zu besitzen, weder kochen können, noch die notwendigsten
Begriffe der Hygiene, der Körperpflege, der Kindererziehung,
der Näh', Stopf', Flick' und sonstigen Handarbeiten haben,
weil sie es in der Schule nicht gelernt und nach der Schule
oft nicht mehr die Gelegenheit gefunden haben, das Fehlende
nachzuholen; was sie in der Schule gelernt haben, ist längst
vergessen und würde, wäre es nicht der Fall, praktisch auch
wenig nützen.
Das Zeichnen ist für das Kind Ausdrucksmittel, gleichsam
Sprache. Die Schule hat das fortzusetzen, was das Kind vor
dem Schulbesuch bereits begonnen hat, die Entwicklung der
Fähigkeit, den Anschauungsinhalt zeichnerisch darzustellen.
Im Zeichnen ist das Kind richtig der Lehrmeister geworden;
alle neuen Methoden des Gedächtnis' und ErinnerungS'
Zeichnens sind Fortsetzung oder Fortentwicklung der Kinder'
Zeichnungen unter möglichst ausgedehnter Anwendung von
Pinsel und Farbe. Erst später mag man aus dem Zeichnen
das Schreiben entwickeln, es eilt damit nicht so sehr, wie
man gewöhnlich meint. Schreiben in den einfachen, lapidaren
Linien der Antiquaschrift, also keine Kalligraphie; Schreiben,
mit dem das Lesen Hand in Hand geht. Aber die Haupt'
sache bleibt zunächst immer das Zeichnen, nicht nach Vor'
lagen, sondern nach der Empfindung und der Vorstellung,
also aus der Anschauung, weil dieses Zeichnen das An'
schauungsvermögen schärft und den Anschauungsinhalt be'
reichert. Es kommt der Sprache zu gute, die ebenfalls durch
das Gefühl und die Phantasie lebt unb genährt wird. Der
schriftliche Ausdruck, die heutigen Stilübungen, aus derselben
Quelle getränkt, hat alsdann nur Stoffkreise zu behandeln,
die sich aus der übrigen Lern' und Arbeitstätigkeit ergeben;
er sei, was die Zeichnung ist, freie Darstellung des An'
schauungsinhaltes. Nicht auf Orthographie und Grammatik
kommt es an, sondern auf ausdrucksvolle Darstellung. Junge,
unbefangene Menschen treffen es ganz unbewußt; mit Ortho'
graphie und Grammatik solle gewartet oder nur sehr spar'
sam umgegangen werden, um nicht die Ausdrucksfähigkeit
in den ersten Entwicklungsstadien zu knebeln oder gar zu
erdrosseln. Daß die heutigen Schulen im deutschen Aufsatz
durchwegs schlechte Resultate erzielen, liegt nicht an dem
Mangel an Talent, sondern an den schlechten Schulmethoden.
Ich kenne Schriftsteller, die in diesem Schulgegenstand ver'
sagt hatten und doch gute Schriftsteller geworden sind, wie
es hervorragende Komponisten gibt, die im Konservatorium
als Schüler untauglich befunden wurden, und Maler, die fast
ausnahmslos ihre Akademiejahre als eine schwere Verirrung
bezeichnen, wohingegen andere, die in der Akademie alle
Preise davontrugen, im Leben untergegangen sind.
In den Reigenspielen der Kinder ist noch der uralte natür'
liehe Zusammenhang von Tanz, Gesang und Sprache ge'
ISO
geben; die rhythmische Bewegung, die rhythmische Tonfolge
und die rhythmisch geordnete Verszeile, alles ist im Rhythmus
geeinigt. Wie schal und unersprießlich ist dagegen der heutige
Turnunterricht, der heutige Tanzunterricht! Die Schule hat
also auch hier das Begonnene bloß zu übernehmen und
künstlerisch weiterzupflegen: Die tägliche Leibesübung nicht
als eine Art drückender Gesundheitspflicht, sondern als
natürliches freudiges Bewegungsspiel zu pflegen, das Gesund'
heit und Schönheit ist, Natur und Kunst, eine Sache, die das
Kind a priori besitzt. Im Reigen und Reigenlied ist alles ge'
geben, den Körper und Geist mittels natürlicher Bewegung und
Rhythmus harmonisch auszubilden, die Glieder geschmeidig
zu machen, die Haltung edel, die Bewegung anmutig und
das nicht nach griechischen oder sonstigen Vorbildern, sondern
auf ganz natürlicher im Kinderbesitz schon gegebener Grund'
läge. Wie die Kinder sich zeichnerisch ausdrücken, wie sie
gut erzählen und meistens auch mit richtigem Ansatz singen,
so bewegen sie sich frei und anmutig; sorge die Schule nur
dafür, daß diese edle Unbefangenheit, der Rhythmus der Natür'
lichkeit nicht verloren gehe, sondern sich befestige und ent'
wickle und Menschen heranziehe, die das musikalische Gefühl
des Rhythmus nicht allein in der Bewegung im Tanz und
Gesang, sondern den edlen Anstand auch in allem Tun und
Denken wahren werden, als eine natürliche Sittlichkeit, die
man in den Dingen des Lebens den Takt nennt, eine Sache,
die in der heutigen Generation durchaus nicht Gemeingut ist.
Diese Gymnastik auf natürlicher und zugleich künstlerischer
Grundlage wird vielleicht die Sittlichkeit auch darin zu heben
vermögen, daß die Menschen sich ihrer Körper nicht mehr
schämen. Denn diese Spiele werden den Geboten der Hygiene
zufolge es mit sich bringen, den in Bewegung befindlichen
Körper möglichst zu entblößen, daß er Luft, Licht, Sonne
mit allen Poren trinke. In der katholisch oder protestantisch
orthodoxen Bevölkerung wird das völlige Entkleiden auch
nur zu Badezwecken als Sünde empfunden, und der Gedanke,
daß Mädchen und Knaben mit halbentblößten Körpern Be'
wegungsspiele im Freien ausführen, würde auch heute noch
selbst die freier Denkenden mit Widerstreben erfüllen. Daß
Mädchen und Knaben gemeinsam erzogen werden, ist eine
Forderung, die nur scheinbare, eingebildete Nachteile, dagegen
unwiderlegbare Vorzüge hat. Und dann: Die Gewöhnung an
den Anblick des nackten Körpers ist der natürlichen Sitt'
lichkeit nicht im mindesten gefährlich, dagegen ist das durch
die äußerliche Zivilisation gezüchtete Schamgefühl eine der
größten Gefahren für die Sittlichkeit. Die nackte Natürlich'
keit hat für den unverdorbenen jungen Menschen nichts
Beschämendes oder Aufreizendes; verderblich sind nur un'
züchtige Worte und Gebärden, die in den jungen Seelen
kranke und entartete Phantasien erzeugen, von dem an'
erzogenen Schamgefühl eher gefördert als gehemmt und die
in Unzucht und Laster als traurige Alltagserscheinungen aus'
reifen.
Das falsche Schamgefühl, als eine der allgemeinsten heutigen
Unsitten, hat der natürlichen Sittlichkeit die gefährlichste
Falle gelegt durch die Ammenmärchen vom Storch. Wieviel
Verlegenheit für die Eltern oder Erzieher und wieviel Unglück
für die reifenden Kinder durch diese Vorspiegelung falscher
Tatsachen heraufbeschworen wird, ist nicht zu ermessen; wie
groß aber die Schäden und wie dringend die Verbesserung
der Moralgesetze geworden sind, bezeugen die Vorschläge zur
rechtzeitigen Aufklärung der Jugend, die in der Tagesliteratur
eine stehende Rubrik bilden. Alle Vorschläge sind mehr oder
weniger lächerlich und erziehlich wertlos, wenn nicht direkt
gefährlich gewesen, weil alle Vorschläge auf der Voraus'
Setzung der Lüge von dem Storchmärchen basieren.
Der neue Erziehungsplan auf künstlerischer Grundlage, den
ich hier entwickle, wird auch in dieser heiklen Angelegen'
heit nicht erst die Zuflucht zur Lüge nehmen und darum
auch nicht in die fatale Notwendigkeit der Aufklärung kommen.
Was die Eltern in dem neuen Schulkreis, wo das Kind herrscht,
für ihr eigenes Verhalten zu lernen haben, mag gerade an
diesem delikaten Fall erkannt werden.
Ich will keinen Vorschlag machen, der bestritten werden könnte,
sondern ich will eine wahre Geschichte erzählen, die ein
Freund erlebte, die ein lehrreiches Beispiel sozusagen aus
der Praxis liefert.
Der Freund war bei einer Familie auf einem italienischen
Landgut zu Besuch. Beim Abschied ließ er sich von den
Kindern, einem Mädchen von drei Jahren und einem Knaben
von vier Jahren, einen baldigen Gegenbesuch versprechen.
„Erst nach drei Monaten," sagte das kleine Mädchen, „bis
uns Mama ein Schwesterlein geboren haben wird,“ und
streichelte zärtlich über den Leib der schwangeren Frau.
„Nein,“ rief das Bübchen, „Mama wird uns ein Brüderlein
gebären!“ Dann zankten sie sich eine Weile, ob Mama ein
Brüderchen oder ein Schwesterlein gebären werde. Und waren
erst beruhigt, als die Mama erklärte und der Papa bestätigte,
daß sie noch ein viertes Kind gebären (fare) wolle, damit
jedes sein Brüderlein und sein Schwesterlein habe.
Die übliche Legende vom Storch kannten diese Kinder nicht;
sie brauchen keine Aufklärung, weil sie keine Lüge kennen;
ihre Sittlichkeit aber wird trotzdem und vielleicht deshalb
auf gesundem Boden stehen, dafür bürgt die Reinlichkeit in
Wort und Umgang und Gesinnung jenes Hauses. Diese Rein'
lichkeit muß die Grundlage der Erziehung sein.
(Fortsetzung folgt.)
DER UNTERRICHT IST VIEL LEICHTER ALS
DIE ERZIEHUNG, ZU IHM DARF MAN NUR
ETWAS WISSEN UND ES MITTEILEN KÖN'
NEN, ZUR ERZIEHUNG MUSS MAN ETWAS
SEIN.
AUSWENDIGLERNEN VON GEGENSTÄN'
DEN BILDET GAR NICHT, SOLANGE
NICHT DAS HERZ UND DAS GEMÜT DES
MENSCHEN SICH DER GEGENSTÄNDE
LANGSAM BEMÄCHTIGT, SIE VERARBEL
TET, SIE MENSCHLICH UND SITTLICH
FRUCHTBAR MACHT.
ALLE VERANLASSUNG, WODURCH DER
MENSCH ETWAS LERNT, KANN MAN
EINESCHULE HEISSEN. SOLCHESCHULEN
HAT GOTT IN UNERMESSLICHER FÜLLE
UM UNS HER ÜBERALL AUSGEBREITET,
TA, DER MENSCH TUT KEINEN SCHRITT,
WO ER NICHT AN EINE LEHRE STÖSST
UND AUS DEM ER NICHT NUTZEN SCHÖP'
FEN KÖNNTE. DIE GANZE WELT UND
DAS GANZE LEBEN IST VOLL LEHRER
UND ERMAHNER. ADALBERT STIFTER.
151
W->
ENTWURF EINES NEUEN UNTERRICHTS^
PLANES. VON JOHANN FRIEDRICH.
S o war nach dieser peinlichen Woche des Uberhorcht'
und Durchforschtwerdens heute endlich die „Inspektions'
konferenz“. Jetzt, da ich in meinem Dachstübchen sitze
und die Lampe mir ins glühende Gesicht scheint, indes
draußen der Vorfrühlingssturm die Nacht durchtost, komm’
ich mir mit meiner Aufregung so läppisch, so kindlich vor.
Und dies Herzklopfen noch dazu, es wäre in der Tat einer
besseren Sache würdig. Es kam doch alles so freundlich,
so liebenswürdig heraus, wie er, ohne bestimmte Namen zu
nennen und ohne aufzusehn, seine engbeschriebenen Bogen
ablas: „In der fünften Klasse sind viele Interpunktionszeichen
vergessen und Fehler übersehen worden; einige Schüler, die
eine Arbeit nichtgenügend machten, haben es unterlassen,
ein vollständiges Korrektum zu schreiben; bei zehn Arbeiten
fehlt das Datum; arge Verstöße gegen die Rechtschreibung
wurden in der Schlußnote gar nicht berücksichtigt. Einer
schrieb ,Kuß‘ noch mit langem und rundem „s“ und doch
steht ,vorzüglich' darunter.“
— — Da wurde mir heiß. Es kam plötzlich alles mir in
den Sinn, was ich die letzten Wochen hindurch unter der
Uberbürdung mit Korrekturen gelitten, ich ließ die Worte
kollern, wie das erregte Gehirn sie heraustrieb: „Ich will
LEHRER sein, nicht Beistrichjäger, schäbiger denn der letzte
Kanzleischreiber. Dreihundertundfünfzig Hefte rücken mir
jeden Monat auf den Leib; mein Augenlicht, meine Jugend'
zeit, jede Möglichkeit meiner Weiterbildung opfere ich,
MUSS ich opfern — und erkenne doch, wie zwecklos es ist.
Nun zu guter Letzt wär’ des Unsinns NOCH nicht genug
geschehn und kommt das Nörgeln. Ich möchte gebeten haben
um etwas mehr Weitblick.“ „Herr Kollega,“ gab er
mir kühl, ruhig und spöttisch zur Antwort, „so schaffen
Sie einen neuen Unterrichtsplan!“
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: ihr hättet nichts zu
lachen dann!
Jetzt fühle ich mich vom Sturm draußen so ergriffen in
meiner Einsamkeit; wie der heilige Geist, nicht anders braust
er mir durch Herz und Seele. Gerade die richtige Inspiration
für einen neuen Unterrichtsplan. Also gut! — Warum nicht?—
So mag’s losgehn!
Ich will LEHRER sein! Erdenglück will ich lehren, Gesund'
heit, Daseinswonne. Kommt, helft mir, die ihr mächtig seid,
ich will einen Schulpalast bauen zutiefst im Gewoge meiner
geliebten Alpenwelt. Kommt, wir wollen einen FRUCHT'
BAREN BERGGIPFEL suchen, so schön gelegen, daß Fels'
züge und Waldrücken, Ferner und Almen rings um ihn
liegen, als wären sie niedriger oder doch nicht höher als er.
Ausblick in die Weite sei meines Schulbaus erster Grund'
satz. — Und diesen Gipfel wollen wir bebauen, Felder, Äcker,
Weiden, Wiesen und Gärten sollen sein bis an die Wälder
hinab. ZUR ERDE ZURÜCK müssen meine Schüler, in
der SCHOLLE müssen sie sich verjüngen, im ERDGERUCH
sich erlösen von dem bösen Geist der großen Städte, der
ihnen mitgegeben als blutverderbendes, die Herzkraft zer'
störendes Erbgut. — Jeder Lehrer soll sein Gebäude haben
und je drei oder vier der Schüler seien ihm zugewiesen.
Und diese Häuser stehen ringsum an den Hängen in Feld
und Garten, in Acker und Wiese, großfenstrig, einfaclvedel,
mit einem Anbau, darin die Schüler die Erträgnisse ihrer
Erdarbeit aufspeichern mögen. So um den Gipfel seien diese
Heimstätten verstreut, daß eine der andern sichtbar nahe sei,
alle aber mit dem Aufblick zu dem Gipfelbau meines Schul'
hauses, das wie ein Lichttempel aus dem Bergesgrunde auf'
steigen soll mit festem Unterbau aus Quadersteinen und
einer Kuppel, die aus eitel Glas und Kristall ins Himmel'
blau sich hineinverjüngt. Dieses Tempelhaus, steinern, fest
und gediegen aus der Erde sich erhebend, klar, rein, durch'
sichtig in die Sonnenfreude aufsteigend, sei ihres Lebens
und Strebens Sinnbild, sei die Seele und der Mittelpunkt
ihrer Arbeit. Sie sollen aus Feld und Garten, aus Acker
und Weide, aus Schlafzimmer und Speicher aufblicken können
zu diesem ihrem Symbol auf dem Gipfel; dies Bild soll ihnen
unzerstörbar ins Herz wachsen, daß, wenn sie einst nieder'
steigen aus meiner Schule ins Leben des Alltags zurück,
dieser Aufblick in ihnen sei und bleibe, diese Erinnerung,
wie sie aus der Arbeit hinaufschauten nach der funkelnden,
überblauten Kristallkuppel und wie alle Wege aus ihrem
Eigentum hinaufmündeten zum Schulhause, zur Seele ihres
Daseins.
So sei die philosophische Grundlage gelegt für ihre Bildung:
treu der Erde, glücklich in der Gesundheit, die nur der erste
und edelste aller Berufe gibt, der Beruf des Landwirtes;
immer im Anblick eines hohen Gipfelhauses, darin die Er'
kenntnis gepflegt, der Lichtquelle alles Lebens nachgeforscht
•wird. — Die Müdigkeit des Abends, der Schlaf, aus dem sie
— jeder in seinem eigenen Zimmer — mit Sonnenaufgang
neuverjüngt erwachen, sei ihnen der Gottheit schönes Ge'
schenk. Sie werden so gesund sein, daß ihr Gemach des
Morgens wie Tannenreisig und Almgras duftet; sie werden
in ihren Einsamkeiten sich selber finden, sie sollen lernen,
sich selbst zu erziehen, sich selbst immer wieder von neuem
zu richten, zu heiligen im Dienst der Erde; es wird ihnen
der Duft ihres eigenen Körpers richtunggebende, warnende,
ermutigende, anspornende Predigt sein.
Der Kuppelbau des Schulhauses aber sei zu ebener Erde
von einem Säulengang umgeben, der ringsum weiten Aus'
blick gestattet auf unsere Felder und Heimstätten. Die Wege
sollen wie weiße Linien, wie die Radien eines Kreises zum
Mittelpunkt, zum Schulhaus emporführen. Aus diesem
Säulengange mögen die Jünglinge hinblicken über ihr Eigen'
tum, in diesem Säulengange mögen sie zusehen, wie der
Himmel wütend und rücksichtslos niedersaust im Gewitter
auf ihre Hoffnungen und dieselben vernichtet. So mögen
sie da die schwache Mutlosigkeit verlernen, abstreifen die
Überreste jener Denkungsart, als bestünde die Gottheit aus
einem Sammelsurium menschlicher Instinkte und Triebe,
wie ein allzu mächtiger Menschenriese, der die üble Eigen'
schaft hat, bei aller Bosheit noch unsichtbar zu sein.
Mitten im Erdgeschosse sei ein großer, runder Saal, gewidmet
dem Unterricht vom Stoffe und seinen Veränderungen, DER
CHEMIE. Da sei mein erster Satz an die neu eintretenden
Jünger: Der Mensch ahnt und erkennt auch schon, daß alle
Stoffe hervorgegangen aus einem, oder anders gesagt, daß
sie alle zurückführen in einen Urstoff. Sie fließen aus dem
Ewigen und münden in das Ewige, sie fließen um UNS
und IN uns und in keiner Minute hält das WERDEN still.
Ihr, meine Lieben, seid in dieser jetzigen Minute schon nicht
mehr dieselben, die ihr in der eben vergangenen wäret; und
in der nächsten Minute werdet ihr nicht mehr dieselben
sein, die ihr in dieser jetzigen seid.
So will ich reden vom Wandel des Stoffes, daß sie ihren
eigenen Herzschlag spüren wie einen Widerhall ewigen
Wogenschlags, daß sie sich mitten tiefst im ewigen Meer
des WERDENS fühlen. Derart sei ihr Sinn auf das Ver'
gängliche gerichtet, das Vergängliche aber als entsprungen
aus dem Ewig'Einen, dem Unveränderlichen und jede Sekunde
wieder mündend ins Ewig'Eine, Unveränderliche ihnen vor'
gestellt.
152
Und wenn ich ihnen diese große Vorpredigt von der Ahnung
des Urstoffs gehalten, dann mögen sie an die Elemente
gehn und sie prüfen und in ihren Eigenschaften erforschen
und von den Elementen dann zu den Verbindungen, ins
Kleine und Kleinste. Sie werden sich nicht mehr verlieren,
nicht mehr verirren im Allerkleinsten, wenn sie wissen, es
ist ein Eines, das in allem ist und lebt. So werden sie jede
kleinste Erscheinung lieben und Stein und Erde, Pflanze
und Tier, Luft und Feuer werden ihnen engverwandt sein. —
Rund um diesen großen Saal, der sein Licht von oben er^
hält, schließe sich ein Kreis von kleineren Sälen, deren
mächtige Fenster zwischen den Säulen des äußeren Rund'
ganges hindurch auf die Arbeitsfelder, auf die Heimstätten
und auf den Umkreis der Bergwelt gerichtet seien.
Da lehre in einem solchen Saale der MATHEMATIKER.
Er zeigt, wie die Rechenkunst sich entwickelt hat im Ver^
lauf der Jahrhunderte und Jahrtausende bei den Menschen;
er wendet seine praktischen Übungen an auf die Grundlehre
vom Stoffe und dessen Veränderungen, er zeige mit seinen
Zahlen die Gesetzmäßigkeit im Naturgeschehen und zumal
in den Bewegungen der Himmelskörper. Er vergißt nicht,
einen feierlichen Vortrag zu halten über jene großen Rechner,
die allein mit ihren Zahlen Sterne geahnt und entdeckt
haben. Seine Mathematik ist eine Philosophie der Physik
und Chemie und alles einzelne und besondere, abseits vom
Wege Liegende lehre die Fachschule drunten im Alltag.
Der PHYSIKLEHRER beginnt zu sprechen von jenem großen
Arzte, der auf seinen weiten Meerfahrten die Fieberkrank'
heiten studiert hat und dabei zur großen Erkenntnis der
Einheit aller Kräfte, das heißt aller Bewegungsformen ge'
kommen ist. Eine Kraft geht in die andere Hand über und
kein Quentchen geht verloren. Er zeigt an Beispielen, wie
die Kräfte ineinander übergehn, und wie also auf dem Gebiete
der Kraft ebenso eine Urquelle anzunehmen sei wie auf dem
Gebiete des Stoffes. Er spricht von der Ahnung eines ewigen
Rhythmus als der Urform aller Bewegung. Und seine Lehre
nennt er die Bewegungskunde. Dann beginnt er mit den
einzelnen Kräften. Er spricht von der Bewegungsform des
Lichtes, welches uns erzogen hat aus Erde und Protoplasma
zu Gottsuchern, welches uns durch seine Brechungen in den
Farben anlockt zum Forschen und entzückt. Er spricht von
den Komplementärfarben so, daß der Schüler das große Gesetz
der ewigen HARMONIE heraushört, dem er dann in der
Lehre vom Schalle aufs neue begegnen wird, wenn die Rede
kommt auf Dreiklang und Obertöne und das er schon geahnt
in der Lehre vom Stoffe, als von den Verwandtschaften ge'
sprechen wurde. Er weitet das Gesetz vom Mittönen und
wählt seine Worte so, daß der Schüler MEHR darunter yer'
steht als bloße physikalische Gesetze, Normen vielmehr seines
Seelenlebens und daß er mehr und mehr wie einen Spiegel
der Naturkräfte die Welt seiner eignen Triebe erkennt. So
spricht er auch von Mechanik und nützt sein besondres Fach
aus zum allgemeinen Zwecke, der Erziehung zur Erdfreude.
Elektrizität und Magnetismus sind ihm nicht weltweit verschie'
dene Dinge, er verweist darauf, wie diese Kraftformen unsrem
Lebensprozesse am ähnlichsten seien, am nächsten stünden.
Dann der NATURHISTORIKER. Der lehrt sie die Ent'
wicklung kennen, die Entwicklung des Lebens aus der Erde.
Er beginne mit der herrlichsten aller Offenbarungen, mit
dem Wahrheitssatze, daß wir Kinder der Sonne, Kinder des
Lichtes sind. Wie der Urfeuerball unseres Sonnensystems
sich verdichtet im grenzenlosen Weltallsraume und seine
Glutperlen, die Planeten, von sich geschleudert, daß sie nun
ihn umkreisen müssen für und für. Wie der Mensch nun
aus diesem Sonnenbrocken sich entwickelt habe in den
Jahrtausenden über die Tiergeschlechter herauf und wie
seine stets klarer sehende und erkennende Seele sich den
Leib immer schöner und edler geformt habe, bis sie die
Vollendung des Menschenkörpers erreicht hatte. So sei meines
Schülers heiligste Erkenntnis, daß Licht und Glut die Heimat
seines Daseins ist. Und wenn sie draußen arbeiten in Feld
und Wald und Garten, so sei ihre Hand sich bewußt, daß
sie ein Lichtkörper ist und daß sie Lichtkörper ergreift.
Dann kommt die zweite große Pflicht des Naturhistorikers.
Er spricht von den Pflanzen als von den heiligen Vorbildern
der Menschheit, an denen er sie lehrt, das edle, echte Sitt'
lichsein, die reinste, menschenwürdige Auffassung des Gh'
SCHLECHTSLEBENS. Er zeigt ihnen, wie der Pollenstaub
eindringt durch die Narbe, durch den Griffel hinab in den
Fruchtknoten. Und an den Pflanzen, diesen heiligen Liebes'
wesen, zeige er ihnen das wunderbare Märchen des Verjüngt^
werdens, des Neuerstehns. Ich kann nicht glauben, daß nach
solchen Stunden noch einmal jene wüste Geilheit einkehrt
in die gesunden, jungen Leiber, welche sie einst ererbt in
den großen Städten und welche den Menschen so erniedrigt
vor dem Tiere. Das biogenetische Gesetz, wie Hackel es
nach dem großen Jenenser ausgebildet, wird dem Schüler
vorgeführt; das ist ja ein so seltsames, plötzlich geöffnetes
Guckfensterlein, welches den Menschen in die geheimsten,
heiligsten Vorgänge der menschenschöpfenden Natur hinein'
blicken läßt, wie sie immer wieder von der Erde, von der
einfachsten Zelle ausgeht, um den himmelstürmenden Gott'
sucher, den Menschen, hervorzubringen/In jeder Qualle, in
jeder Eidechse, in jedem Tierleib war dies seit Jahrtausenden
ihr Schöpferbestreben. ..
Dem ERDKUNDIGEN ist der nächste Saal eingeraumt. ür
spricht zuerst von der Bildung der Erdoberfläche, von der
Gebirgsbildung, wie jener große Wiener sie TC q
lehrt die ewige Notwendigkeit, wie alles so StilJN iviuaa,
wie es IST. Wie Klima und Bodenart dem Menschen seine
Eigenart verleihen. So erklärt er die Menschen mit ihren
Ansiedlungen, mit ihren Ideen und Werken, wie Pflanzen
und Tiere in der Naturgeschichte erklärt werden. Ich denke
so oft daran, wie einmal, da ich längst die Mittelschule vor'
über hatte, eine Karte der Alpen mich gefangennahm. Sie war
so gut gezeichnet, daß ich ganz genau sah, wie das Wasser
abrinnt von den Höhen, wie Quellen und Bache sich ver -
einen und weiterlaufen, der Tiefe zu, wie dann im breiteren
Tal als großer Fluß sie dahinziehen, um in den Niederungen
mit einem anderen sich zu einen und als Strom in Tief'
landen dem Meere zuzueilen. Hatte ich das bisher niemals
gehört? Kein Buch, kein Vortrag hatte mir diese Selbst'
Verständlichkeit so klar gemacht. Und wieviel frischer Erd'
sinn ergab sich mir aus dieser simplen Erkenntnis, wie
klarer Tiefblick in die ewige Notwendigkeit! — Und nun
die Menschen, so ganz der Scholle und doch wieder so
beständig zum Licht empor strebend, in ihrem Aufwärts der'
selben Notwendigkeit unterworfen wie die Bergbache in
ihrem Abwärts. — Ganz unversehens geht da die Erdkunde
über in Geschichte. Wie die Menschheit als ein Ganzes ge'
rungen auf dieser großen Walstatt der Erde, gerungen um
Gesundheit, Glück und Erkenntnis. Nicht wie sie in blutigen
Kämpfen getobt um Ländereien, getrieben von der kleinlichen
Herrschsucht einzelner, sondern wie sie der großen Erfahrung
ihrer Einheit mit dem Ewigen näher gekommen, wie sie
ihr Leben schöner und schöner gestaltet, reiner und edler,
lichtfreudiger und gesünder. Von all den vielen „Jahreszahlen ‘,
die in den Stadt' und Staatsschulen eingepfeffert werden, wie
viele würden müssen übersehen werden droben in meinem
Lichttempel auf dem Berggipfel!
153
Mein SPRACHLEHRER beginnt mit der Entstehung der
Sprache. Das Rauschen des Baumes, das Ächzen eines Zaunes,
das Heulen des Sturmes, das Murmeln des Baches nennt er
die SPRACHE DER ERDE. Und wie der Mensch selber
nichts anderes als Erde ist, kann seine Sprache auch nichts
anders sein als das Rauschen des Baumes, der gegen den
Sturm sich stemmt, als das Murmeln des Baches, der über
das Gestein sich fortmüht, als das Ächzen des Zaunes, den
der Wind bedrängt und umzuwerfen droht. Und wieder zeigt
der Lehrer das Aufwärtswollen in der Natur, dies rätsel -
hafteste aller Rätsel, dies Aufblicken des ganzen Erdenlebens
zum Kristallkuppelbau Gottes. Von Bach und Baum zur
Sprache des Tieres, zur Sprache des menschlichen Kindes.
Ausrufe, Schallnachahmungen die ersten Worte! — Und so
muß dem Schüler auch seine eigene Sprache werden zu einer
kleinen, vorübergehenden Welle im stets bewegten Meer des
ewigen Werdens. — Wie einst die Worte unserer Mutter -
sprache so schwer, so voll Wohlklang, voll starker, schöner
Vokale waren, wie sie flüchtiger, hastiger, seichter geworden,
je mehr sich die Menschen in Städten gesammelt zu auf -
reibendem, der Herzkraft, der Gesundheit schädlichem Leben,
je mehr sie abtrünnig geworden der heiligen Erde und ihrem
reinen Dienste. Wie nur mehr die Wurzelsilben unserer
Wörter das eigentliche Leben in sich tragen, wie die Neben -
silben abgestorben und verwelkt sind, die einst so voll und
feierlich mitklangen. Wie Sprache und ßegriffsbildung in
einem sich komplizierte, wie jedes Wort ein Werkzeug ist
im großen Kampf um Glück und Höhe. — Da wird der
Schüler eines Tages seine Sprache klingen hören, wie er
sie bisher nicht vernommen. Da wird er, wie er sich mit
seinem Leibe als ein Sonnenkind erkannt und wie er sich
mit seiner Seele, das heißt mit seinem Streben nach dem
Lichttempel in der Höhe EINS erkannt hat mit dem ewigen
Aufwärts, das als Urtrieb in der Erdscholle liegt, von nun
an auch seine Worte geheiligt sehn als das feinste Ausdrucks -
vermögen, zu dem die Sprache der Erde sich entwickelt hat.
Und die Dichterworte in ihrer Schönheit wird er lieben wie
die blühenden Pfirsichzweige seines Gartens und die Lieder
der großen Erdgeister wird er genießen wie die sonnen -
warme, erdblut-duftige Himbeere auf dem Hange und die
Sprüche der Weisen wird er empfinden wie Weinbergduft
oder wie den Odem seines reifen Kornfelds, das in der
Sommerglut um seine Heimstätte wogt und ihm die schönste,
reinste, menschenwürdigste Speise verspricht, das Brot. —
Und wenn er den feinen Aufbau, das Gewebe der Sätze,
der Satzverbindungen und Satzgefüge und Perioden durch -
forscht, so wird er darin dasselbe „übergeordnet und Unterge -
ordnet“ in dem Ausdrucke seiner eigenen Gedanken finden, das
er im Weltall draußen ebenso gewahr wird wie in jedem
Pflänzlein seiner Felder und in seinem eigenen Organismus.
Und der Rhythmus in der Sprache wird ihm als der Puls des
Alls, der Wogenschlag des ewigen Werdens, den er am
heißesten in seinem jungen Herzen spürt, eine Gottesoffen -
barung sein.
Uber diesen Sälen aber, über dem Reich der festen und
sicheren Erkenntnis, sei DAS REICH DER AHNUNG. Wie
könnte die Ahnung täuschen, die aus sicheren Erkenntnissen
hervorgeht! Und also sei in der großen KRISTALLKUPPEL
meines Gipfelhauses die erlauchteste BÜCHEREI. In schönen
Büchern sei in großen Lettern das Schönste zu lesen, was der
Menschengeist von seiner ewigen Erkenntnis in der vom
Weltallspuls rhythmisch bewegten Sprache kundgetan. Und
blickt der Leser in dieser Bücherei auf, so sieht er durch
die kristallnen Wände auf das Gewoge der weiten Bergwelt
ringsum, die scheinbar unter ihm liegt und hinausschwimmt
in blauenden Horizonten wie das versteinerte Meer des ewigen
Werdens, des Urrhythmus, in dem wir mitschwingen wie
Schaumperlen auf Wellenkämmen. — Dort und da blicken
von den Hängen die Heimstätten der Schüler herauf, Garten
und Feld, Wald und Weide. Da, in solchem Anblick Homer
und Dante, Shakespeare und Goethe lesen ...! — Ja wahrhaft,
unsere Bücherei wird keine große sein. Das Allerbeste, das
wird auf den Tischen umliegen können und wird nicht steil
die Wände hinanklettern und als drohender Staubwust auf
uns niederäugen. — Was an Fraglichem, noch nicht als reinster
Ausdruck des ewigen Menschenstrebens Anerkanntem der
Schüler genießen will, das möge er in seiner Heimstatt lesen,
so lang ihm die Sonne stark genug auf die Blätter scheint
und ihm die Buchstaben nicht das Auge kränken.
Und über der Kuppel ein Stübchen zum STERNGUCKEN.
Immer wieder an klaren Abenden ein Blick in die Licht -
ewigkeit, das hält den Menschen vollends hoch und rein, läßt
ihn die Erde immer‘wieder von neuem lieben, das erhält
ihn im Bewußtsein seiner Kleinheit und seiner Größe, im
Bewußtsein seiner Einheit mit dem Ewigen.
Jeder Schüler pflege in seinem Heim am Hange die KUNST,
die ihm lieb ist — DER male, der MUSIZIERE, der dichte.
Und jeder sei sich bewußt, daß Kunst ein menschlich Neu -
schaffen der Ewigkeit ist. Jedes Thema, das der Musiker
plötzlich in seligem Glück empfängt, jedes Motiv, das der
Maler herausgreift aus einer gegebenen Landschaft, überhaupt
aus dem grenzenlosen Bereich der Wirklichkeit, die seine
Sinne empfinden, jedes kleinste Gedicht ist ein in sich ge -
schlossenes Eine und es erfüllt uns mit heißem Glück oder
es ergötzt uns mit lieblicher Freude, weil es in dem be -
schränkten Mittel ein Abbild ist des Unbegrenzten, weil es
in sich selbst vollkommen ist.
Aus dieser meiner Schule mögen sie dann niedersteigen, ins
Leben, in den Alltag zurück, sie mögen sich dem Sonderberufe
widmen, für den sie sich geeignet erkennen. Das ist gewiß,
sie werden das Sonnenbanner in der Hand tragen und mit -
reißen alle, alle, die sich ihnen nahen, auf den Wegen zur
Gesundheit und zum Glück; sie werden, gewohnt an den
Aufblick zur Kristallkuppel des Schulpalastes, allem klein -
lichen Eigendünkel ferne, willenlos sich eingegliedert sehn
in den ewigen Aufwärtstrieb, in das Emporringen, welches
aus der Erdscholle übergegangen ist ins Herz des Menschen
und die Gewähr bildet für eine unendliche Seligkeit.
DIE UNTERSTE UND BEI WEITEM WICH -
TIGSTE GATTUNG DER SCHULEN IST DIE,
IN WELCHER DAS GELEHRT WIRD, WAS
JEDER MENSCH, SEI ER WAS ER WOLLE,
ARM ODER REICH, GROSS ODER GERING,
GELEHRT ODER UNGELEHRT, ZUERST
UND NOTWENDIG BRAUCHT. DIESE
SCHULE MUSS DIE ZAHLREICHSTE SEIN,
SIE MUSS ÜBER DAS GANZE LAND VER -
BREITET SEIN, WOHER SIE AUCH DEN
NAMEN LANDSCHULE HAT.
ADALBERT STIFTER.
154
DAS SCHULHAUS.
Z u den schlimmen Erinnerungen meiner Knabenzeit
gehört das Schulhaus. Noch immer ist die Empfin -
dung von damals wach: der erkältende Eindruck
öder Gänge und Klassenzimmer, die, kahl und nüch -
tern, die verschüchterte Seele mit dem Eiseshauch der
Lieblosigkeit erstarren, erschrecken und niederdrücken, an -
statt zu erheben und frei und froh zu machen. Der Froh -
sinn, den das Kind von daheim mitbringt, erstirbt an der
Schwelle des unfreundlichen Hauses, das eher einer Korrek -
tionsanstalt gleicht denn einer Erziehungsstätte, wo der erste
Samen der Bildung in die jugendlichen Herzen gesenkt
werden soll. Der Grundsatz, daß Schule und Heim Hand in
Hand gehen soll, wird allein schon durch den Schulbau zu
schänden gemacht. Die Erfahrung werden die meisten aus
ihrem eigenen Leben bestätigen können, daß es keinen
größeren Gegensatz geben kann als den zwischen Schule
und Heim. Hier herrscht die Liebe, dort der Zwang. Aus
dem anheimelnden Schoß des Daheims tritt das Kind in das
frostige Bereich des Schulhauses: der harte, abstoßende Geist,
der in dieser Gefangenhausarchitektur waltet, schleicht sich
naturgemäß auch in den Unterricht ein und wird zum
Despoten; die Entfaltung der geistigen und sittlichen Kräfte,
die dem jungen Menschenwesen eine Lust sein soll, wird
durch ihn zum Leid. Allerdings gibt es viele auch, denen
dieser betrübende Gegensatz nicht so recht bewußt geworden,
weil sie in ihrem Zuhause nicht von Liebe und Trautheit
umschirmt waren, wie die meisten Kinder der Armut. Aber
gerade jenen Enterbten sollte die Schule um so reichlicher
geben, was etwa das Familienwesen versagt, eine warme
Stätte der Liebe und des Gedeihens. Die Schule gibt dem
Hungernden Stein statt Brot. Der Geist des Schematismus,
so er im Schulbau und in'weiterer Folge im Unterricht
waltet, ist eher bereit, weh als wohl zu tun.
Waren nicht die meisten von uns von dem Betreten
der Schulschwelle an bis zum erlösenden Glockenzeichen,
das den Schulschluß ankündet, von dem einen Gedanken
beherrscht: „Wenn’s nur schon aus wär’!?“
Man kann ruhig behaupten: jene Unaufmerksamkeit, jenes
Fluchtgefühl, das gewissermaßen den Zwang und die Härte
der Unterrichtsmethode rechtfertigt, sie vielleicht sogar her -
aufbeschworen hat, ist zum Teil auf Rechnung der un -
künstlerischen Bauweise zu setzen. Die Kunst stehe an der
Schwelle des Lebens. Wo ihre Segnungen fehlen, ist kein
Gedeihen. Man mag einwenden, daß es beim Schulbau
in erster Linie auf Forderungen praktischer und hygienischer
Natur ankomme, nicht aber auf ästhetische Wirkungen.
Wer Praktisch, Hygienisch und Ästhetisch in Gegensatz bringt,
befindet sich in einem traurigen Irrtum, denn er vergißt,
daß das Echtkünstlerische, zum Unterschied von dem Schein -
künstlerischen, das Praktische und Hygienische zur Voraus -
setzung hat, also in Wahrheit nichts anderes als die formale
Lösung dieser positiven Forderungen bedeutet. Die glück -
liche, zwecklich formale Lösung wird allein zu unserem Ge -
fühle sprechen und man wird im Ernste nur das schön finden,
was auch wirklich zweckdienlich ist. Wenn wir also von
künstlerischer Lösung sprechen, ist naturgemäß auch das
Praktische und Hygienische gemeint. Scheinkünstlerisch aber
sind alle bisherigen Schulbauten, die sich mit nichtssagenden
Schmuckformen an der Fassade begnügen und im Innern
Monumente unheimlicher Ideenarmut sind.
Schulbauten, denen der Segen der echten Kunst nicht fehlt,
sind annoch Gegenstand des Wunsches, nicht aber der Er -
füllung. Wir haben bei uns noch keine Vorbilder, auf die
wir hinweisen können, nicht einmal noch ein Anfang ist
gemacht. Höchstens verwandte Gebilde aus verschollener
Zeit sind vorhanden, aus denen ungefähre Andeutungen zu
holen sind. Zwanzig Jahre oder mehr sind vergangen, seit
wir uns in den geschilderten Schulzimmern die Herzen er -
froren haben, ein starker Umschwung der Meinungen hat
sich inzwischen vorbereitet und,‘auf einzelnen Gebieten tat -
sächlich vollzogen, aber auf dem Gebiete des Schulhausbaues
ist alles beim Alten geblieben. Oder vielmehr ist es nicht
beim alten geblieben, das heißt so, wie es in unserer selig -
unseligen Schulbubenzeit war, sondern es ist noch schlechter
geworden. Sechs bis acht Schulen wurden in unserer
Stadt während der letzten Jahre gebaut, Volks- und Bürger -
schulen, Gymnasien und Realschulen, in denen der
Kasernenstil Triumphe feiert. Und unzählige Beispiele aus der
Provinz wären zu nennen, die als Schandflecke in der Land -
schaft sitzen und innen und außen das Musterbild geistlosester
Schablonenarchitektur sind. Alle diese Verbrechen wider den
guten Geschmack und die künstlerischen Instinkte des Volkes
geschehen im Namen der Hygiene und der Zweckmäßigkeit.
In Wahrheit aber sind weder die Forderungen der Hygiene
und der Zweckmäßigkeit erfüllt, noch ist überhaupt den
primitivsten künstlerischen Anforderungen, die jede Dorf -
schule beachtet, Genüge getan, obzwar aus den Lehrerkreisen
sich mehr als eine dringende Stimme erhebt und um Ab -
hilfe schreit. Aber alle Schreie sind bisher ungehört verhallt,
und es bleibt nicht weniger als alles noch zu tun übrig. Es
ist bezeichnend für die Rückständigkeit auf diesem Gebiete,
daß ungeachtet der enormen Wichtigkeit des Schulwesens
bisher noch nicht der Versuch unternommen worden ist,
zur Erlangung von geeigneten Schulbauprojekten die zeit -
gemäße Künstlerschaft im Wege einer Idealkonkurrenz für
diese Aufgabe zu interessieren und eine künstlerische Neu -
gestaltung anzubahnen, während ein solcher Versuch, dem
Zeitgeiste gerecht zu werden, sogar schon in der kirchlichen
Kunst mit nicht geringem Erfolge durchgeführt worden ist.
Man kann nur aufrichtig wünschen, daß dieses Beispiel bei
den Schulbehörden Nachahmung fände, um der Verheerung
vorzubeugen, die nun auch schon dem offenen Lande droht.
Wenn man auf einerjWanderung in irgend ein Dorf kommt,
wo die Heimatkultur vom städtischen Einfluß noch ziemlich
unversehrt geblieben, ist es gewöhnlich nur ein Haus, das
unangenehm aus der Umgebung heraustritt. Dieses Haus ist
das Schulhaus. Mit fremden Allüren, die zur sonstigen
Bäuerlichkeit in häßlichem Widerspruche stehen, dem städti -
schen Mietskasernentypus nahe verwandt, gebärdet es sich
wie ein verkommener Proletarier unter den behäbigen
Ackerbürgern. Mit ^37ehmut mag man dabei an die alte
Dorfschule denken, an das liebe, einfache, freundliche Haus,
das die Physiognomie der heimatlichen Wohnbauten trug,
nur der Lage nach und der Bedeutung entsprechend hervor -
tretend unter den anderen, mit dem Gärtchen vorne oder
am Hinterhaus und den freundlichen, hellen Schulstuben
zu ebener Erde, weiß getüncht, mit reinlichen Bänken und
den Bildertafeln an den Wänden, die bedeutsam und groß
auf die junge, lernbegierige Schar niederschauen. Des Schul -
meisters Wohnung liegt hinter den zwei oder drei Klassen -
zimmern, und das ganze Haus hat davon den heimlichen,
wohltuenden Anstrich der häuslichen Behaglichkeit. Diese
Schule ist die Fortsetzung des Heims. Für ganz einfache
ländliche Verhältnisse bestimmt, ist sie freilich nicht geeignet,
einen anderen Maßstab abzugeben, als den für das ästhetische
Moment, also für das, was unter solchen Umständen dem
Gemüte frommt. Für größere Ansprüche, wie sie etwa von
den städtischen Schulen gestellt werden, hätten wir ein
155
historisches Vorbild, wenn es eines solchen wirklich bedarf,
in den Klosterschulen oder Stiften, die im Gegensätze zu
den heutigen Schulen Internate waren und gerade aus diesem
Grunde die Forderungen, die wir an eine wahrhaft moderne
Schule stellen, bereits zum größten Teiljgelöst enthielten.
Der künstlerische Blick wird sich jedoch kaum in die Ver -
gangenheit wenden, sondern mitten in die lebensvolle Gegen -
wart, um aus dieser zu ersehen, was not tut. Um nun zu
sagen, was der heutigen Schule künstlerisch fehlt, genügt
es, aufzusuchen, was sie in praktischer und hygienischer
Hinsicht entbehrt. Wenn man von der Lage des Schulhauses
ausgeht, so ist zu bedenken, daß der künstlerische Ausbau
einer Stadt bedingt, die Schule dorthin zu stellen, wo sie
ihrer Wichtigkeit nach und als öffentliches Gebäude hin -
gehört, also an künstlerisch, nicht etwa verkehrstechnisch
wichtigen Punkten, womöglich an irgend eine Straßen -
erweiterung, an kleine Plätze, womöglich in klosterähnlicher
Gruppierung um einen schönen, offenen Hof, aber beileibe
nicht in der Art von Hinterhäusern. Enge Straßen kommen
wegen der verlangten Helligkeit der Schulräume gar nicht
in Betracht; der Einfall des Lichtes, die Ausnützung des
Reflexes, die harmonischen'„Verhältnisse eines Raumes,
Kontraste in einer Raumfolge, Vermeidung der mathemati -
schen Regelmäßigkeit, des größten Feindes der künstlerischen
Wirkung, das sind die leitenden Faktoren, die auch bei der
Platzwahl eine gewisse Rolle spielen. Alles, was im gemeinen
Sinne Architektur heißt: das Ankleben von Gesimsen,
Pilastern, Säulen, Quadern, müßte unbedingt wegbleiben. Es
ist nicht zu fürchten, daß kahle Nüchternheit Platz greifen
würde, denn das Heimliche und Behäbige hängt gar nicht
ab von dem Aufwand an schablonenhafter Ornamentik, die
man heutzutage an die Fassaden leimt. Die Nüchternheit,
die sie trotzdem zur Schau tragen, ist ohnehin nicht mehr
zu überbieten. Wie wäre es aber, wenn die Stoffe der Sage,
des Märchens, der Religion architektonisch lebendig würden
und am Hause in die sichtbare Erscheinung träten ? Solches
könnte nicht naiv genug sein. Von größter Wichtigkeit für
die Außenerscheinung ist freilich die innere Gliederung, die
Anordnung und die Natur der Räume, die dem Hause erst
die eigentliche Physiognomie gibt, sofern es wirklich organisch
von innen nach außen gewachsen. Hier ist der Punkt, wo
die alten Klosterschulen mit ihrem Um und Auf an Neben -
räumen, die dem Ganzen das bekannte, ungemein malerische
Aussehen verleihen, zu vorbildlicher Bedeutung werden
können. Was unseren heutigen Schulen abgeht, sind Bäder,
Schulküchen, darin für die armen Schulkinder von den
Schulmädchen gekocht wird und zugleich eine wichtige
Disziplin mehr fürs Leben gewonnen ist, ein Speisesaal im
Anschluß an die Schulküche, Musikzimmer und noch manche
der Räume mehr, die ein Institut, das ein Reich für sich ist
und Vorhalle zum vielgestaltigen Leben, nicht entbehren soll.
Die künstlerischen Grundsätze, die vernünftige Einfachheit
und natürliche Ehrlichkeit heißen, werden auch hier zu den
besten Formen führen. Sie werden sich auch in der Wahl
der Farben kundgeben, sie werden nicht zulassen, daß die
Holzteile, Bänke, Türen, Fenster holzbraun gestrichen und
künstlich gemasert werden, sie werden, wo_man die Natur -
farben nicht belassen will, zu einfachen, freudigen Deckfarben
greifen lassen, sie werden den Vorräumen und Schulsälen
das Uniformierte, Kasernen- oder Zuchthausmäßige nehmen
und Behaglichkeit und Traulichkeit verbreiten. Und dieses
letztere schon durch einfache, gute Bilder, durch den wohl -
feil gewordenen künstlerischen Wandschmuck, der, an die
Wände gehängt und von Zeit zu Zeit ausgewechselt, zu den
jungen, aufnahmsfrohen Sinnen immer neu sprechen soll.
Blumen sind gewiß nicht das letzte, was in einem Schul -
zimmer nicht fehlen soll. Uber den Hof, den Spielhof, der
der Erholung und der Lust gewidmet ist, wäre noch einiges
zu sagen, wenn man nicht fürchten müßte, in Gemeinplätze
zu verfallen — wenngleich kein Beispiel bekannt ist, das in
dieser Hinsicht voranleuchten würde.
Was nützen zudem alle Vorschläge, wenn, was immer_ ge -
schieht, die Gemeinde auf ihren Säckel verweist und "sägt,
dafür haben wir kein Geld. Und wenn schon Opfer er~-
forderlich sind, sind diese Opfer nicht durchaus notwendig,
sind sie nicht ein auf Zinseszinsen angelegtes Kapital? Es
ist unberechenbar, wieviel hoffnungsfrohe Menschensaat aus
Mangel an geeigneter Erziehung und wohltuender Jugend -
eindrücke erstickt oder verkümmert, der Verelendung an -
heimfällt und dem Staate und der Gesellschaft zur Last fällt.
Das Geld, das hier erspart wird, geht für die Zuchthäuser
auf. Es fragt sich nur, was eine vernünftige Volkswirtschaft
lieber tun wird.
Ein Bündel Fragen, eilig zusammengerafft, an denen der
Künstler, der sich mit der Aufgabe befaßt, nicht gut vor -
über kann,' sind hiedurch als Anregung weitergegeben. L
ERZIEHEN ODER REGIERENAES IST EIN
UND DASSELBE. ERZIEHEN HEISST NICHT
ETWA, LEUTE DAS LEHREN,’.WAS SIE
NICHT WISSEN, ES HEISST, SIE LEHREN,
SICH ZU VERHALTEN, WIE SIE SICH NICHT
VERHALTEN. UND DIE EIGENTLICHE
„ZWANGSWEISE ERZIEHUNG“, DIE MAN
JETZT VON EUCH VERLANGT, IST NICHT
KATECHISMUSAUFSAGEN, SONDERN
ZUCHT. SIE BESTEHT NICHT DARIN, DASS
WIR DER JUGEND DIE BUCHSTABEN
UND DIE KUNSTGRIFFE DER ZAHLEN
BEIBRINGEN a UND ES DANN IHR ÜBER -
LASSEN, IHRE ARITHMETIK IN SPITZ -
BÜBEREI UMZUWANDELN UND IHRE LI -
TERATUR IN FRIVOLITÄT. ES HEISST IM
GEGENTEIL, SIE ZU VOLLKOMMENER
AUSBILDUNG VON KÖRPER UND GEIST
UND ZU KÖNIGLICHER BEHERRSCHUNG
DERSELBEN FÜHREN. DAS IST EINE MÜH -
SAME, NIEMALS ENDENDE UND SCHWIE -
RIGE ARBEIT; SIE MUSS DURCH FREUND -
LICHKEIT, ÜBERWACHUNG, WARNUNG,
VORSCHRIFT UND LOB GETAN WERDEN
— VOR ALLEM ABER — DURCH BEISPIEL.
JOHN RUSKIN.
156
MUSIK UND GYMNASTIK.
EINLEITENDE ANSPRACHE AM III. KUNST,
ERZIEHUNGSTAGE.
VON ALFRED LICHTWARK.
I m Aufträge der Vorstände der beiden ersten Kunster,
ziehungstage und dieses dritten habe ich die Ehre, Sie zu
begrüßen.
Daß die Kunsterziehungstage, die mit dieser dritten Verband,
lung ihren vorläufigen Abschluß finden, eine allgemeine Be,
wegung zum Bewußtsein unseres Volkes bringen, beweist
auch der lebhafte Anteil der Vertreter der Musik und der
Gymnastik. Wir haben dieselbe Teilnahme der Künstler,
Dichter und Forscher erlebt, als in Dresden die bildenden
und in Weimar die redenden Künste auf der Tagesordnung
standen. Und wie an die beiden ersten Tagungen werden
sich an diese dritte weit um sich greifende Erörterungen
knüpfen.
Auch die früher bewährten Formen und Ziele sollen für die
heutige Tagung gelten. Ihr Vorstand hat kein Programm,
das er zur Annahme empfiehlt, und so wenig wie früher
sollen diesmal Beschlüsse gefaßt werden. Der einzige Zweck
unserer Zusammenkunft besteht in der freien Aussprache,
durch die unserem Volke unterbreitet werden soll, was eine
Versammlung berufener Vertreter der Musik und der Gym,
nastik über die Jugenderziehung in ihrem Fache denkt und
wünscht.
Dies und nichts anderes ist der so oft verkannte Kernpunkt
der Kunsterziehungstage. Wir brauchen es nicht mehr hervor,
zuheben im Hinblick auf die eigene Arbeit, die heute be,
ginnen soll. Wohl aber ist es nötig, es denen ins Gedächtnis
zu rufen, die unsere Ausführungen kritisch beurteilen werden.
Wir haben es immer wieder erlebt, daß Bedenken und Zweifel
gegen Absichten erhoben wurden, die wir nie gehegt hatten.
Als die drei Vorstände zur Vorbereitung dieses dritten Kunst,
erziehungstages zusammentraten, wurde zunächst die Frage
erörtert, ob die Musik oder die Gymnastik auf die Tages,
Ordnung zu setzen sei, oder ob sich eine Vereinigung empfehle.
Umfang und Bedeutung des einzelnen Gebietes sprachen für
eine Trennung. Aber in voller Übereinstimmung mit hervor,
ragenden Vertretern beider Disziplinen wurde die Vereinigung
beschlossen.
Den Ausschlag hat dabei die einhellige Überzeugung gegeben,
daß Musik und Gymnastik für die Erziehung im tiefsten
Grunde zusammengehören. Bisher wurden sie freilich in der
Regel im Stundenplan getrennt geführt, höchstens daß sie
in einer Art Personalunion standen durch den Lehrer. Es
war den Vertretern beider Disziplinen ein Bedürfnis, zu be,
tonen, daß Musik und Gymnastik eine gemeinsame Wurzel
in den von Gesang oder von Musik begleitenden rhythmi,
sehen Bewegungen des Tanzes und des Reigens haben, und
daß diese uralte Verbindung für die Erziehung von sehr
hoher und bisher praktisch noch nicht allgemein gewürdigter
Bedeutung sei.
Die Gymnastik ist uns nicht mehr bloß ein Mittel, Kraft
und Gesundheit zu erringen, sondern wir fassen sie darüber
hinaus als die wichtigste Hilfe zur Erziehung des Willens
auf. Unsere Schulpraxis pflegt in Deutschland den Willen
noch nicht als die zentrale Kraft zu behandeln, die das Leben
auf bauen soll. Man hört viel öfter äußern, der Wille müsse
gebrochen werden, als daß die Notwendigkeit, ihn zu ent,
wickeln, betont wird. In dem Augenblick, wo wir in der
Schätzung des Willens einig sind, gewinnen alle Formen der
Leibesübung, die ihn zu entwickeln geeignet sind, eine hohe
Bedeutung. Wir haben beim Turnen, wenigstens wie ich es
in meiner Jugend erlebt habe, zu sehr die Seite der Disziplin
betont. Mit Disziplin allein wird unser Volk sein Schicksal,
das sich in den nächsten Geschlechtern vielleicht für immer
entscheidet, nicht zwingen. Die vielen Bestrebungen, die darauf
hinausgehen, unsere alten Spiele zu beleben, in denen die
heran wachsende Jugend lernte, sich mit freiem Entschluß bis
zum letzten Reste der Kraft einzusetzen, die Spielregeln in
ehrlicher Hingabe heilig zu halten und den Sieger in neidloser
Bewunderung anzuerkennen, werden dem deutschen Turnen
eine neue und auf den Lebenskampf vorbereitende Form
geben.
Die Musik hat es mit der Pflege einer anderen eingeborenen
Kraft zu tun, der Empfindung, die in einer aufs Lernen und
nicht auf die Entwicklung der Kräfte gestellten Schule unter,
drückt wird. Niemand wird dafür eintreten, daß die Empfindung
irgendwie absichtlich gestärkt wird. Das wäre das beste Mittel,
sie zu vernichten. Sie soll nur nicht, wie so oft bisher, zer,
stört werden. Das ist der Grund, weshalb sich die künstlerisch
fühlenden Sprecher des ersten Kunsterziehungstages gegen
einen mechanischen Zeichenunterricht und die des zweiten
gegen den äußerlichen Drill der Grammatik ausgesprochen
haben. Was wir in der Schule von der Musik wünschen, ist
vor allem die Freudigkeit als Lebensstimmung. Musik als
eine der höchsten Formen der Selbstdarstellung dient nicht
nur der Empfindung. Sie ist zugleich eine Stärkung des
Willens.
Musik und Gymnastik aber, in den Urformen der Tänze
und Reigen vereint, sollen uns ein Geschlecht freier Menschen
heranbilden helfen, das die anerzogene Scheu und Furcht
vor der Selbstdarstellung verloren hat. Es gibt heute nicht
viele in Deutschland, die nicht mit Verlangen, ich möchte
sagen mit Neid der Unbefangenheit der ersten Kindheit zu,
schauen. Die ästhetische Wirkung der Leibesübungen ist
wesentlich an die Verbindung mit der Musik gebunden.
Ich spreche zu Ihnen als der Vertreter einer Generation, deren
Erziehung in der Musik und der Gymnastik zu kurz ge,
kommen ist.
In meiner Jugend wurden die Musik, und Tanzstunden im
Grunde nicht sehr ernst genommen. Wir fühlten, daß auch
die Leitung der Schule sie als mehr oder weniger gleich,
gültig ansah, und wir waren froh, wenn ein früher Stimm,
Wechsel uns von der Gesangstunde und ein Zeugnis vom
Arzt uns vom Turnen befreiten. Nur selten vermochte die Be,
geisterung eines Lehrers das Gleichgültige oder gar Verhaßte
lieb zu machen.
Das ist unterdes besser geworden, aber als Zuschauer glaube
ich es aussprechen zu dürfen, daß der heutige Zustand noch
immer nicht den Wünschen der Vertreter der Musik und
der Gymnastik entspricht.
Wir freuen uns darauf, nun von Ihnen zu hören, welche
Wünsche an die Türe der Schule klopfen.
Lassen Sie sich nicht gereuen, gesprochen zu haben, wenn
nachher Unverstand und böser Wille an Ihren Worten klaubt,
den klaren Sinn zu verdrehen, die reine Absicht zu trüben
versucht. Erschrecken Sie nicht, wenn die Spekulation aller
Art sich an Ihre Fersen hängt. Das sind unvermeidliche Be,
gleiterscheinungen und Folgen. Was Sie aus dem Schatze
Ihrer Erfahrungen und Ihrer Einsicht unserem Volke dar,
bieten, wird trotzdem seine Wirkung tun, und jede Anstrengung
und jeder Erfolg wird Ihnen unvergessen bleiben von den
kommenden Geschlechtern, die sich Ihnen für eine freudigere
Gestaltung ihrer Erziehung und damit ihres Lebens verpflichtet
fühlen.
157
GESCHICHTLICHE ENTWICKLUNG DES
KUNSTUNTERRICHTS IM XVIII. JAHR'
HUNDERT.
FÜR PREUSSEN BEARBEITET VON Dr. HERMANN
MUTHESIUS.
D er umfangreiche Bericht, den Dr. H. Muthesius dem
deutschen Staat über die kunstgewerblichen und hand'
werklichen Unterrichtsanstalten vorlegt, enthält einen
interessanten Rückblick auf das XVIII. Jahrhundert, den wir
wegen der damaligen Stellung der Akademie besonders her'
vorheben wollen. Den Ausführungen Muthesius’ zufolge um'
faßte die Akademie als Pflegestätte das ganze Kunst' und
Kunstgewerbeleben der damaligen Zeit, sie war Bauakademie
und alle hohen und niederen Künste, also auch das Hand'
werk waren ihr angegliedert. Die Staatsbauten wurden von
der Akademie ausgeführt, die Schüler und Handwerker, die
bei entsprechender Befähigung „akademische Künstler“ werden
konnten, hatten Gelegenheit, sich an praktischen Arbeiten
zu bilden. Der Staat beschäftigte seine Künstler. Die heutige
Akademie ist dagegen ein Schattenbild, sie hat mit dem
Leben fast keinen Kontakt mehr. Der Bureaukratismus der Bau'
ämter hat sie vollständig ausgeschaltet. Bei uns gehen Reform'
Vorschläge zur Wiederbelebung der Akademie dahin, sie
wieder zu dem zu machen, was sie im Prinzip im XVIII. Jahr'
hundert war. Bei Muthesius heißt es: Die Anfänge des ge'
werblichen Unterrichtswesens in Preußen reichen weiter zurück
als die Anfänge des technischen Unterrichts, denn die Für'
derung des Handwerks wird schon im Programm der 1696
gegründeten Akademie der Künste erwähnt. Nach den In'
struktionen, die der Kurfürst Friedrich III., später König
Friedrich I., für die nach Pariser und römischem Muster ge'
gründete Akademie gab, sollte der Direktor über alle Kunst'
arbeit in den königlichen Gebäuden und über alle Betriebe,
welche Kunstarbeit für diese lieferten, die Direktion haben
„und die Handwerker mit Rat und Tat, mit Zeichnungen,
Mustern und Skizzen unterstützen“. Im Lehrprogramm der
Akademie treten vom Anbeginn die Fächer der Architektur,
Geometrie und Perspektive auf, wobei zu bemerken ist, daß
die architektonischen Ordnungen damals auch als Grundlage
jedes handwerklichen Zeichnens betrachtet wurden. Nach dem
Zeugnis der Zeit hatte das Wirken der Akademie einen
günstigen Einfluß auf die Handwerke und den allgemeinen
Kunstfleiß, das blieb auch so, als Friedrich Wilhelm I. die
Schöpfung seines Vaters vernachlässigte und die Akademie
nach kurzer Blütezeit wesentlich zurückging. Sie wurde
sogar während dieser Zeit des Fehlens der königlichen Gnade
vorzugsweise eine Ausbildungsstätte für Handwerker, ihre
Zeichenklassen wurden vorwiegend von Gewerbetreibenden
besucht. Unter Friedrich dem Großen schwebten vielfach
Verhandlungen, die Akademie, um sie für das praktische
Leben noch nutzbarer zu machen, mit der Oberbaubehörde
zu verschmelzen, ohne daß indes an ihrem Bestände etwas
Wesentliches geändert wurde.
Erst 1786 wurde insofern eine organisierende Hand an die
Akademie gelegt, als Friedrich der Große dem Minister von
Heinitz die Aufsicht mit der Absicht übertrug, die Akademie
vor allem zu einer Pflegestätte der gewerblichen Künste
zu machen. Die Akademie sollte durch Hebung des Ge'
schmackes in den Gewerben eine verbesserte Produktion
und dadurch mittelbar eine Erhöhung des Nationalwohlstandes
herbeiführen. Das Beispiel Englands und Frankreichs wirkte
hier anregend. Heinitz machte ausführliche Vorschläge, wie
diese Förderung der „Nationalindustrie“ zu bewerkstelligen
wäre, ließ 1787 eine „Kunstzeichenschule“, die direkt für
den Unterricht an Handwerker bestimmt war, angliedern,
führte Sonntagszeichenklassen ein und verlieh Handwerkern,
die sich eine gewisse zeichnerische Ausbildung angeeignet
hatten, den Titel „akademischer Künstler“, der sie zugleich
von dem Gewerbszwang entband.
Die endgültige Regelung aller die Akademie betreffenden
Angelegenheiten erfolgte 1790 durch ein neues Reglement, das
sich auf sorgfältige Vorarbeiten stützte und namentlich auch
die Erfahrungen der ausländischen und süddeutschen Aka'
demien zu Rate zog. In diesem Reglement wird das Ziel
der Akademie dahin angegeben, daß sie einesteils zur Blüte
der Künste beitragen, andernteils und im besonderen den
vaterländischen Kunstfleiß erwecken und befördern solle,
indem sie die Arbeiten der einheimischen Gewerbekünstler
nach der geschmacklichen Richtung beeinflusse. Eine Reihe
von Paragraphen beschäftigte sich mit der „Kunstschule“ für
Handwerker und gab im Anschluß daran Anweisungen, auch
an andern Orten Preußens solche „Kunstschulen“ einzu'
richten. Die daraufhin eingerichteten „Provinzialkunstschulen“
sind als die ersten organisierten kunstgewerblichen Lehr'
anstalten Preußens zu betrachten. Sie entstanden von 179°
an auf Grund des erwähnten Reglements in verschiedenen
Städten Preußens, wobei übrigens vielfach eine Anknüpfung
an schon vorhandene private Zeichenschulen stattfinden
konnte. 1790 wurde die königliche Kunst' und Handwerker'
schule in Königsberg in Preußen, 1791 eine königliche
Kunstschule in Halle an der Saale und in Breslau gegründet.
Im Jahre 1793 folgten Magdeburg, im Jahre 1804 Danzig
und Erfurt, später auch Stettin mit Provinzialkunstschulen
nach. Der Zweck dieser Schulen war, „die Lehrlinge und
Gesellen solcher Handwerker und Fabrikanten, die zu ge'
schmackvollen Formen und Verzierungen ihrer Arbeiten des
Unterrichts im Zeichnen oder in der Geometrie und Architektur
bedürfen, unentgeltlich zu unterrichten“. Für solche Gewerbe,
welche des Modellierens bedürften, sollte auch Modellier'
unterricht eingeführt werden. Als in Betracht kommende Ge'
werbe werden im Reglement genannt; Damastweber, Seiden'
weber, Florweber, Tapetenwirker, Bortenwirker, Sticker,
Spitzenfabrikanten, Kartenmacher, Formschneider bei Kattun'
fabriken, Papiertapetenmacher, Bildgießer, Gipsbossierer,
Drechsler, Stukkateurarbeiter, Schnitzer, Steindrechsler, Gold'
arbeiter, Konditoren, Gelbgießer, Rotgießer, Kupferschmiede,
Zinngießer, Klempner, Töpfer, Fayencetöpfer, Steingut'
fabrikanten, Zimmerleute, Maurer, Ofensetzer, Tischler, Stuhl'
macher, Stellmacher u. s. w.
Der Unterricht fand an zwei oder drei Nachmittagen in der
Woche statt und wurde anfangs nur im Sommer erteilt,
die Zeit des Unterrichtes wechselte übrigens an verschiedenen
Orten. Für solche Schüler, welche die Wochentage nicht
abkommen konnten, wurden Sonntagsklassen bis zur Dauer
von 5 Stunden eingerichtet. Alle Zeichenmaterialien wurden
den Teilnehmern unentgeltlich verabfolgt. Die Provinzial'
kunstschulen waren in unmittelbare Abhängigkeit von der Aka'
demie in Berlin gesetzt, derart, daß die Lehrer als Beamte der
Akademie galten, die Akademiezentrale Ausstellungen der
Schülerzeichnungen der verschiedenen Provinzialkunstschulen
in Berlin veranstaltete, die Lehrmittel und Vorlagen lieferte
u. s. w. Die Zahl der aufzunehmenden Schüler war auf 80
beschränkt, es wurde überall betont, daß es nicht die Absicht
sei, in den Provinzialkunstschulen eine höhere künstlerische
Ausbildung zu geben, daß diese vielmehr der Akademie
Vorbehalten bliebe. Die Ernennungen von geschickten Hand'
werkern zu „akademischen Künstlern“ wurde auch im neuen
Reglement bestätigt.
158
Trotz des heftigen Widerstrebens, das die Meister diesen
Lehrlings- und Gesellenschulen entgegenbrachten, kamen
diese rasch in Blüte. Die Berichte über ihre Leistungen
lauten günstig, die Schülerzahl stieg beständig. Der Geld -
aufwand bewegte sich dabei in mäßigen Grenzen. Die Aka -
demie besoldete den Direktor, während die Städte den Lehr -
saal und die Mittel für die Abhaltung des Unterrichtes stellten.
Einen weiteren Ausbau erfuhren die Provinzialkunstschulen
im Jahre 1800 dadurch, daß sie den Anforderungen des Bau -
gewerbes in erhöhtem Maße angepaßt werden. Schon durch
das Reglement von 1790 war der Akademie eine architektonische
Lehranstalt angegliedert worden. Aus ihr entwickelte sich
I79 9 die Bauakademie. Im Anschluß an die Bestimmung
über deren Einrichtung wurden unter dem 27. Juni 1800 aus -
führliche „Grundsätze zur zweckmäßigen Organisation der
bereits existierenden und neu zu errichtenden Kunst- und
Handelsschulen mit besonderer Hinsicht auf die Unterweisung
der Bauhandwerker" veröffentlicht.
In diesen Grundsätzen dürfte der erste folgerichtige Lehrplan
für mittlere Lehranstalten auf künstlerischer und technischer
Grundlage gegeben sein. Es werden sechs Unterrichts -
gegenstände angeführt, nämlich:
1. Anfangsgründe der Arithmetik und Geometrie nebst
Unterricht im geometrischen Zeichnen,
2. Anfangsgründe der Mechanik,
3. freie Handzeichnung,
4. architektonische Zeichnung und weitere Ausführung der
vorigen Zeichnungsarten für bestimmte Zwecke (es handelte
sich um das Zeichnen der Ordnungen sowie um Fach -
zeichnen der einzelnen Handwerker),
5. architektonischer Unterricht (vornehmlich Baukunde und
Entwerfen, nur im Winter zu erteilen),
6. Modellieren und Bossieren.
Perspektivisches Zeichnen und Malen sollte für diejenigen,
welche es wünschten, als Zusatzunterricht gegeben werden.
Die Lehrer sollten aus den geschicktesten Schülern der
Kunstakademie in Berlin ausgewählt werden, und zwar sollten
bei jeder Anstalt ein baukünstlerisch und malerisch gebildeter
Lehrer angestellt werden. Uber jede Anstalt sollte eine besondere
„Provinzialdirektion“ (eine Art Kuratorium) gesetzt werden,
deren Mitglieder den Unterricht überwachen, mit den Lehrern
Konferenzen abhalten, der Prüfung beiwohnen, die Fond*
verwalten und bei der Akademie Vorschläge für die Ver -
besserung der Schulen machen sollten. Außerdem wurden
die Provinzialkunstschulen gelegentlich der Dienstreisen der
höheren Beamten regelmäßigen Revisionen unterzogen. Der
Unterricht war für alle fachlichen Schüler ganz frei, auch
durften keine Aufnahmsgebühren erhoben werden. Nur von
Dilettanten oder „bekanntlich wohlhabenden Fabrikanten
und Professionisten“ wurde sowohl eine mäßige Aufnahme -
gebühr als auch ein mäßiges Schulgeld erhoben. Um für
den Unterricht geeignete Lehrmittel zu erlangen, bestimmten
die „Grundsätze“, daß ein Komitee aus den geschicktesten
Künstlern der Bau- und Kunstakademie ernannt werden
sollte mit dem Aufträge, sich der Bearbeitung von Vorlage -
werken zu unterziehen. Also wurde damals schon der Keim
zu dem Übel der Vorlagenwerke gelegt.
OB SIE EIN STUCK GRIECHISCHER RÜ -
STUNG, EINEN HABICHTSCHNABEL ODER
eine löwentatze zeichnen, stets
WERDEN SIE WAHRNEHMEN, DASS DIE
BLOSSE NOTWENDIGKEIT, HAND UND
BLICK ANZUSTRENGEN, DIE AUFMERK -
SAMKEIT AUF DINGE ZWINGT, WELCHE
SONST ÜBERSEHEN WORDEN WAREN.
DADURCH PRÄGT SIE DIESE DINGE DEM
GEDÄCHTNIS OHNE WEITERE ANSTREN -
GUNGEN EIN UND SETZT SIE FÜR DIE
FOLGE FEST. ABER WENN ES AUCH NICHT
SO WÄRE, WENN DIESE PRAKTISCHEN
ÜBUNGEN WIRKLICH EINEN ZEITVER -
LUST FORDERTEN, SO FÜRCHTE ICH
KEINESWEGS, DASS IHRE BERECHTIGUNG
IHNEN NICHT DEUTLICH ALS FÜHLBARER
NUTZEN ZUM BEWUSSTSEIN KOMMEN
WIRD. ICH GLAUBE AUCH, DASS DIE
ÖFFENTLICHE MEINUNG JETZT MEHR
UND MEHR ZUZUGEBEN GENEIGT IST,
DASS VOLLKOMMENE BILDUNG UND ER -
ZIEHUNG NICHT NUR EINE VOLLE BE -
HERRSCHUNG DES AUSDRUCKS IN DER
SPRACHE, SONDERN AUCH DES MUSIKA -
LISCHEN TONES DURCH DIE STIMME
UND DER WAHREN FORM DURCH DIE
HAND IN SICH SCHLIESSEN SOLL UND
MUSS.
ICH HÖRE BESTÄNDIG EIN SELTSAMES
GEREDE, „WIE SCHWER ES SEI, DIE LEUTE
DAHIN ZU BRINGEN, DASS SIE FÜR IHRE
ERZIEHUNG BEZAHLEN“. ES SOLLTE MICH
WUNDER NEHMEN, WENN ES ANDERS
WÄRE. FORDERT IHR VON EUREN KIN -
DERN, DASS SIE EUCH FÜR EURE ERZIE -
HUNG BEZAHLEN, ODER GEBT IHR SIE
IHNEN ZWANGSWEISE UND GRATIS? IHR
ERWARTET NICHT VON IHNEN, DASS
SIE EUCH ANDERS FÜR EUREN UNTER -
RICHT BEZAHLEN ALS DADURCH, DASS
SIE GUTE KINDER WERDEN. WARUM SOLL -
TET IHR ERWARTEN, DASS EIN BAUER
ANDERS FÜR SEINE ERZIEHUNG BEZAHLE
ALS DADURCH, DASS ER EIN GUTER MANN
WIRD? BEZAHLUNG GENUG, DEUCHT MIR,
WENN WIR ES RECHT VERSTÜNDEN. BE -
ZAHLUNG GENUG, FÜR SIE SELBST WIE
FÜR UNS. DENN AUCH DAS IST EINER
UNSERER GROSSEN,WEITVERBREITETEN
IRRTÜMER — DASS DIE LEUTE MIT IHRER
VORSTELLUNG VON ERZIEHUNG IMMER
DIE ANDERE VORSTELLUNG VERBINDEN,
SIE SEI EIN MITTEL, UM UNSEREN LEBENS -
UNTERHALT ZU GEWINNEN. ERZIEHUNG
IST KEINE EINTRÄGLICHE SACHE, VIEL -
MEHR EINE KOSTBARE; JA DAS HÖCHSTE,
WAS WIR DURCH SIE ERREICHEN, IST
NICHT IN MÜNZE UMSETZBAR.
JOHN RUSKIN.
159
MODERNER
KUNSTUNTERRICHT,
MIT FARBIGEN BILDERN.
ünstler und Pädagogen sind gewohnt, aus England
und Amerika die neuen kunsterzieherischen Grund'
sätze zu empfangen; in der Tat sind die besten An'
regungen, die in Deutschland und Österreich mit mehr oder
weniger Glück verarbeitet werden, von jenen vorgeschritteneren
Kulturen hergeholt. Bei uns hat sich ganz im Kleinen und
Verborgenen eine Kunstschule entwickelt, die auf durchaus
eigenartigen Prinzipien beruht. Daß sie noch nicht als Vorbild
proklamiert, ihre Methode noch nicht auf Kongressen be'
handelt, in Büchern und Reisestudien noch nicht beschrieben
worden ist, liegt daran, daß sie sich nicht in Amerika, auch
nicht in England und nicht einmal in Schweden, sondern in
Wien befindet, was Grund genug ist, daß man sie nicht
kennt. In Wien legt man auf ernste Dinge wenig Wert und
im Ausland erwartet man nichts Gescheites von Wien. Es
war also dem Künstler als Lehrer vergönnt, unbeirrt von
äußeren Einflüssen seine Schule zu pflegen, in der er seit
einigen Jahren fast ganz aufgegangen ist. Ich habe in den
folgenden farbigen Bildern die Schulresultate unter der
Leitung des Malers Adolf Böhm (Kunstschule für Frauen
und Mädchen, Wien) auf den verschiedenen EntwicklungS'
stufen zu illustrieren versucht; es scheint mir notwendig, einen
kleinen Kommentar anzufügen.
Es sind in den folgenden Bildern nur Arbeiten von jungen
Mädchen, oft Resultate einer kurzen Lehrzeit, sicherlich durchaus
selbständige Schülerarbeiten, in die der Lehrer keinesfalls
direkt eingegriffen hat. Böhm führt seine Schülerinnen mit
großer Umsicht, er läßt sie selbst gehen, das Gefühl der
Selbständigkeit und Selbsttätigkeit, das Bewußtsein des
Schaffens scheint vom ersten Augenblick in dem Schülerkreis
vorhanden. Nur des Lehrers Angaben in bezug auf die
richtige Erscheinungsform, auf die bestimmenden Eigen'
schäften des Materials und der Technik leiten und korrigieren
die Schülerarbeit. Nicht auf Entwicklung irgend einer täu'
sehenden Fertigkeit, sondern auf das richtige ERFASSEN
ist es abgesehen. Es ist für den Geist der Schule bezeichnend,
daß Professor Böhm bei der Aufnahme seiner Schülerinnen
auf keine künstlerische Vorschule Wert legt. Die gänzlich
Unverbildeten, die keinen Zeichenunterricht genossen, sind
nach seiner Anschauung das dankbarere Material. Eine mehr'
wöchentliche Probezeit genügt, um zu erkennen, ob Anlage
vorhanden ist. Es soll also nichts mechanisch angelernt,
sondern das im Keim Vorhandene entfaltet werden. In allen
Stadien des Unterrichts wird das Aktzeichnen gepflegt. Der
Mensch ist das Maß; nach Klinger: „Alles, was künstlerisch
geschaffen wird in Plastik wie Kunstgewerbe, in Malerei
und Baukunst hat in jedem Teil engsten Bezug zum mensch'
liehen Körper. Die Form der Tassen wie die Bildung des
Kapitäls stehen jedes in Proportion zum menschlichen
Körper." Von allem Anfang an, vor dem Aktzeichnen und
neben diesem beginnt das Arbeiten im Material.
Die Anfängerin, die sich nicht zeichnerisch auszudrücken
vermag, versucht es mit anderen Mitteln, die ihr näher liegen.
Sie schneidet etwa ihre Gedanken in Buntpapier aus
(Tafel 2). In einer späteren Entwicklung schneidet sie Scha'
blonen aus; die entzückenden Kinderbuchillustrationen auf
Tafel i und 3 haben sich solcherart ergeben, wobei die
flächige Eigenart der Technik einen neuen Reiz bildet. Von
hier zu den Plakatentwürfen auf Tafel 4 und 5 ist nur ein
Schritt, wobei allerdings das vorgeschrittene Vermögen in
der Darstellung der menschlichen Figur zur Voraussetzung
geworden ist. Ein weites Feld zur Arbeit im Material er'
öffnen die sogenannten weiblichen Handarbeiten. Die deko'
rativen Gedanken sind aus der Natur des Materials geholt.
So sind z. B. die Entwürfe für Schnurtechniken auf Tafel 4
und 5 dem weichen biegsamen Körper der Schnur gerecht;
das tektonische Prinzip ist befolgt, daß die Schnur sich nicht
überkreuzt und dann erst absetzt und neu beginnt, wenn sie
in einer anderen Farbe als zweites oder drittes Element in
den Entwurfsgedanken tritt. Tafel 6 und 7 zeigen weitere
Entwürfe in den Stickereitechniken als sogenannte Nadel'
malerei; Tafel 6 ist ein ausgezeichnetes Beispiel für die Charak'
teristik der Nadelmalerei, zum Unterschiede von jenen so
bezeichneten Stickereien, die den Schein des Ölbildes vor'
täuschen wollen und oft teilweise übermalt sind. Die An'
wendung auf den Holzschnitt Tafel 8 zeigt gleichfalls richtiges
Erfassen der Natur des Holzschnittes, wobei die wesentliche
Arbeit das ist, was fehlt, das Herausheben der Linien und
Flächen; was stehen bleibt, ist die Zeichnung. Arbeiten in
Metall, Buchbinden, Holzschnitten und viele andere Dinge,
die in diesem Rahmen nicht gezeigt werden konnten, stehen
mit dem Unterricht in Verbindung. Aber er vollzieht sich
keineswegs in Klassen oder Abteilungen; alle Arbeiten gehen
nebeneinander her, je nach Neigung und Interesse der
Lernenden, die hier den Unterricht selbst bestimmen. Die
Zeitdauer der Ausbildung, der Fortschritt ist demnach auch
von den Lernenden selbst bestimmt, es vollzieht sich alles
nach den Umständen, die jedes selbst mitbringt.
Ich meine, daß diese Art von Kunstunterricht Sache der all'
gemeinen Bildung werden müßte. Nicht jeder wird dadurch
Künstler, es ist ja auch nicht jeder, der Schreiben gelernt hat,
Schriftgelehrter geworden. Aber die Voraussetzung, QualitätS'
unterschiede zu erkennen, und die vermehrte Möglichkeit,
Talente frei zu machen, hängt davon ab. Ich glaube, das ist
auch ein Ziel. Aber wer sollen die Lehrer sein? Was Böhm
macht, ist eine Unterrichtsweise, die dem Künstler eigen ist.
In schlechten Händen könnte sie nicht anders als sehr schlecht
sein. Es kommt in allen Fällen mehr auf die Persönlichkeit
als auf das System an. Das System ist das Geringste, das man
von der Persönlichkeit empfangen kann. Auch gute Systeme
sind schlecht in ungeeigneten Händen.
ERKLÄRUNG ZU DEN FARBIGEN BILDERN.
ARBEITEN DER KUNSTSCHULE A. BÖHM, ABTEILUNG AN
DER KUNSTSCHULE FÜR FRAUEN UND MÄDCHEN, WIEN.
TAFEL I. SCHABLONENSCHNITTE FÜR EIN KINDER'
BILDERBUCH VON FANNI ZAKUCKA.
TAFEL II. BILDERBUCH AUS GESCHNITTENEM BUNT'
PAPIER VON R. MAYER.
TAFEL III. SCHABLONENSCHNITTE VON FANNI ZA'
KUCKA.
TAFEL IV. (Oben) PLAKAT VON MARIANNE STEINBERGER.
(Mitte links) ENTWURF FÜR TISCHZEUG VON
MARIANNE DEUTSCH.
(Mitte rechts) BÄNDCHENARBEIT VON MIZZI
FRIEDMANN.
(Unten) SCHNURTECHNIK VON MIZZI FRIED'
MANN.
TAFEL V. (Oben) PLAKAT VON ELLA IRANYI.
(Mitte und unten) SCHNURARBEITEN VON
MIZZI FRIEDMANN.
TAFEL VI. NADELMALEREI VON ADELE BETTELHEIM.
TAFEL VII. FARBIGE STICKEREIEN VON MIZZI FRIED'
MANN.
TAFEL VIII. HOLZSCHNITT VON A. MOESCHL.
160
Taf.
Taf. II.
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DIE SAMSKOLA IN GOTENBURG.
DAS VOLLSTÄNDIGE PROGRAMM EINER
SCHWEDISCHEN REFORMSCHULE.
I m Februar 1901 ist ein Aufruf erschienen, in welchem
man sich an die Opferwilligkeit der Gesellschaft zur
Gründung einer Reformschule für Knaben und Mädchen
in Gotenburg wendete.
Der Aufruf erfuhr eine besonders gute Aufnahme. In kurzer
Zeit wurde eine bedeutend größere Summe gezeichnet als
die, welche man in dem Aufruf für notwendig befunden
hatte, um die Schule zu gründen und für die fünf folgenden
Jahre gesichert zu sehen. Schon im Februar wählten die^
jenigen, die den Beitrag zur Schule gezeichnet hatten, einen
Interimsvorstand, der bis zum 24. April fungierte. An diesem
Tag wurde die konstituierende Versammlung des Vereines,
der Besitzer der Schule werden sollte, abgehalten. Eine Frage,
die bei einem neuen Schulunternehmen immer große Schwierige
keiten machen muß, ist die des Ausfindigmachens eines
passenden Lokales. Diese Frage hat in diesem Falle eine
gute Lösung gefunden, da der Staatsbevollmächtigte der Schule
gegen einen gewissen jährlichen Zins das Lokal überließ,
welches früher als Kinderwaisenhaus verwendet worden war,
aber jetzt seit einem Jahr nicht mehr benutzt wurde. Dieses
Gebäude wurde über Sommer einer umfassenden und kost'
spieligen Reparatur unterzogen. Zur Vergrößerung der Zimmer
wurden einige Wände entfernt; die Fenster wurden ver^
größert, alle Wände, Fußböden und das Dach wurden frisch
gestrichen; die Treppe, die finster war, wurde hell und
luftig gemacht, im Korridor und Turnsaal wurden Eminent'
Öfen gesetzt u. s. w. Dank diesen Änderungen, die in aus'
gezeichneter Weise vom Architekten E. Krüger ausgeführt
wurden, ist das Gebäude in ein sehr angenehmes Schul'
lokal verwandelt worden. Der Baustil des Gebäudes, die
angenehmen Dimensionen der Zimmer, die Fülle von Licht
und Luft, der hübsche, mit Bäumen bepflanzte Schulhof —
alles zusammen verleiht der Schule ein anheimelndes Gepräge'
JAHRESBERICHT.
Die höhere Samschule* in Gotenburg ist den 16. September
1901 mit einer einfachen Feierlichkeit eröffnet worden, bei
welcher die Eltern und Vormunde der Kinder samt den
übrigen Eingeladenen anwesend waren. Für die Kinder fing
das Schuljahr am folgenden Tag, dem 17. September, an.
Die Schule hatte in diesem Jahre folgenden Umfang:
Sie bestand aus drei vorbereitenden Klassen, ferner der I.,
II. und V. Klasse der Mittelschule nebst der I. Gymnasial'
klasse; letztere war vorläufig nur für Mädchen berechnet.
Außerdem kam von der Mitte des Herbsttermines** an (Anfang
November) eine Spiel' und Holzbearbeitungsklasse hinzu.
Die V. Klasse und die Gymnasialklasse nahmen eine unab'
hängige Stellung ein — ebenso die Spielklasse — während die
übrigen Klassen in Hinsicht auf die Organisation und Leitung
ein geschlosseneres Ganzes bildeten.
DIE ELEMENTARSCHULE.
Bei der Bestimmung des Arbeitsplanes für die niederen
Klassen ist die Schule von folgenden Gesichtspunkten aus'
gegangen.
* Samschule = Gemeinschaftsschule für Knaben und Mädchen. Die
höhere Samschule geht bis zur Matura.
w Erstes Semester vom 8. September bis zum 20, Dezember; zweites
Semester vom 15. Jänner bis zum 5. Juni.
In den vorbereitenden Klassen durfte die Mittagspause zum
Aufenthalt im Freien benutzt werden. Das läßt sich am
besten~durchführen, wenn die'Kinder ihr Frühstück in der
Schule essen. Das sollte der Schule auch einen traulicheren
Charakter verleihen. Für die zwei ersten Klassen der Mittel'
schule, in welchen die tägliche Unterrichtszeit länger dauern
muß, hat man es für besser befunden, diese längere Pause
in die Mitte des Vormittages zu verlegen.
In den Klassen der Mittelschule sollte die tägliche Schulzeit
eingeschränkt werden, um der Gefahr zu langen Stillsitzens
zu entgehen. Zu diesem Zwecke sollten die Stunden ein
wenig abgekürzt werden.
Die tägliche Schulzeit wurde, um das zu erzielen, folgender'
maßen eingeteilt: die I. vorbereitende Klasse 9-30—12-30,
II. vorbereitende Klasse 9-15—12-45, HI. vorbereitende Klasse
9—12-45, !• und II. Klasse 9—2-20.
Gegen den Schluß des Herbsttermines ist aus verschiedenen
Gründen eine umfassende Veränderung des Schemas durch'
geführt worden. Die Schulzeit ist nachher folgende gewesen:
in der I. vorbereit. Kl. 9-30 bis 12-30, Frühstückspause 25 Min.
» n II* » » 9'^5 n I-OO, „ 25 »,
» »HL ,, „ 9'00 n I’OO, „ 25 „
„ „ I. und II. „ 9-00 „ 2-30, „ i St.
Im letzten Teil des Frühlingstermines ist in der III. vor'
bereitenden Klasse die Schulzeit bis i Uhr 30 Minuten aus'
gedehnt worden.
Die Lektionen haben 30—40 Minuten gedauert. Die Klassen
von der III. vorbereitenden bis zur II. haben zweimal in der
Woche eine gemeinsame kürzere Frühstunde; die eine von
diesen ist eine Religionsstunde gewesen.
DIE ÜBUNGSSTUNDEN.
TURNEN.
Geordnete körperliche Bewegungen, entweder Turnen oder
Spiele, wurden in den täglichen Arbeitsplan jeder Klasse
mit eingeschlossen.
Den Turnstunden mußte dieselbe Wichtigkeit wie jeder
anderen Stunde beigemessen werden, deshalb wird jede
Klasse für sich im Turnen unterrichtet; dadurch wird das
rein erziehliche Element des Turnens zu seinem Recht
kommen. Die Erfahrung des ersten Arbeitsjahres der Sam'
schule bestätigt den großen Wert dieser Einrichtung.
Die Zeitdauer einer Unterrichtsstunde wurde folgendermaßen
festgesetzt: für die I. vorbereitende Klasse 20 Minuten, für die
II. vorbereitende Klasse 25 Minuten, für die III. vorbereitende
Klasse, die I. und II. Klasse 30 Minuten.
Im Frühjahr hat das Turnen mit verschiedenen Spielübungen
abgewechselt. Die Turngeräte sind im Hof aufgemacht, so
daß das Turnen bei gutem Wetter draußen ausgeübt wird.
DER GESANG.
Beim Gesangsunterricht in der Schule wurde vor allem die
frühzeitige Anwendung der Methodik vermieden, da manche
Kinder dadurch oft vom Singen abgeschreckt werden. Das
einfache Singen führt nach und nach zu dem Bestreben
nachzubilden, und das muß die Grundlage für den Gesang
in der Schule bilden. Auch beim Fortgeschritteneren muß
die freie Nachbildung des musikalischen Themas immer die
Hauptsache bleiben.
Ein solcher Gesangsunterricht braucht deshalb die wirkliche
Methodik nicht auszuschließen.
Um das zu beweisen, nehmen wir eine Analogie aus dem
Zeichenunterricht. — Das freie Bestreben, eine lebhaft auf'
161
gefaßte wirkliche Form wiederzugeben, muß hier die eigent -
liche Hauptsache sein. Zu gleicher Zeit sollen Anweisungen
gegeben werden, durch welche das Auge eine genauere und
vollendetere Auffassung" bekommt und die Bewegungen der
Hand sicherere werden. — [Mit dem Gesang verhält es sich
genau ebenso. Die Korrektheit muß auch hier das Resultat
einer nach und nach in der [Form von freien Versuchen
geschehenen Annäherung an das wirkliche musikalische
Vorbild sein, doch darf dieses nicht gleich beim Beginn
oder beim übergehen zu schwierigeren Übungen zur Be -
dingung gemacht werden. Bei einer anderen Auffassung des
Gesangsunterrichts stellt sich leicht ein Mißerfolg ein. Die
Bedeutung des Gesanges in der Schule wird oft mißver-
standen, indem man denselben nur als Unterrichtsstoff auf*
faßt, während er in der Schule doch hauptsächlich als ein
natürlicher Ausdruck der fröhlichen Jugendlust zu dienen
hat, welche den Grundton des Lebens und der Arbeit der
Schule bilden sollte.
Die gesamte Stundenanzahl des Gesangsunterrichts in der
Woche ist folgende gewesen: in der II. und III. vorbereitenden
4 Stunden â 25 Minuten, in den Klassen I. und II. 3 Stunden
â 25 und â 30 Minuten.
ZEICHNEN.
Die Notwendigkeit einer Verbesserung des Zeichenunterrichts
ist von allen Interessenten anerkannt.
Die Schwierigkeit dabei besteht darin, einen Weg zu finden,
der sicher zum aufgestellten Ziel führt.
Einige prinzipielle Wahrheiten müssen stets im Auge behalten
werden. Die Grundlage des Ganzen muß die freie Nachbildung
der wirklichen Gegenstände sein, die entweder aus dem Ge -
dächtnis oder nach unmittelbarer Beobachtung geschieht.
Die Gegenstände müssen so ausgewählt werden, daß die
Phantasie angeregt und die Lust zur Nachbildung geweckt
wird. Die Macht der Phantasie genügt, um den Eindruck
des Auges und die natürliche Bewegung der Hand zusammen -
zufügen. Freimütigkeit und Kühnheit müssen die Seele der
Arbeit werden: Es liegt in der Natur jeder schaffenden
Tätigkeit, daß der Schöpfer nicht im voraus weiß, was er
auszuführen vermag.
Die Resultate dieser Prinzipien treten in einigen später ge -
machten Beobachtungen bestärkend hervor.
Die Natur und die Naturgegenstände, Pflanzen und Tiere
machen auf die Phantasie des Menschen einen Eindruck,
der durch nichts anderes zu ersetzen ist. Darum müssen die
Kinder so zeitlich wie möglich zur Beobachtung und Nach -
bildung dieser Dinge angehalten werden, um später Ge -
schicklichkeit im Zeichnen zu erlangen. Zeichnen nach dem
Gedächtnis ist besonders für die kleinen Kinder zu empfehlen.
Es führt in Verbindung mit wiederholtem Beobachten der
Wirklichkeit und dem Einprägen der Angaben des Lehrers
auf der schwarzen Tafel zur unmittelbaren Nachbildung der
wirklichen Gegenstände. Man hat in Amerika mit Recht be -
hauptet, daß das Zeichnen auf der schwarzen Tafel ein
wichtiges Hilfsmittel ist, um Freiheit und Sicherheit in der
Bewegung der Hand, ebenso wie Kühnheit im Zeichnen
auszubilden.
Das Zeichnen mit der rechten wie auch mit der linken
Hand ist für die Formauffassung nützlich. Das in bezug
auf das Zeichnen Gesagte gilt auch für das Malen. Auch
damit muß zeitlich begonnen werden, solange die Sinne
noch frisch und für Eindrücke empfänglich sind. Der
Zeichenunterricht in der Schule ist auf diesen Prinzipien
aufgebaut. Einige Details sind in folgendem Bericht ent -
halten:
I. vorbereitende Klasse: Jeder Gegenstand wird zuerst von
sämtlichen Schülern abwechselnd mit .' der [ rechten [und
linken Hand auf die schwarze Tafel gezeichnet und nachher
in die Bücher eingetragen, welche keine Punkte oder Hilfs -
linien haben. In der ersten Hälfte des Schuljahres wurde
mehr Gedächtniszeichnen geübt und während der zweiten
Hälfte mehr direkte Nachbildung. Malen mit Wasserfarben.
II. und III. vorbereitende Klasse: Wie die I. vorbereitende
Klasse, nur eine größere Mannigfaltigkeit von Aufgaben
und Gegenständen. Mehr direkte Nachbildung der Natur -
gegenstände. In der III. vorbereitenden Klasse außerdem
Kartenzeichnen. Das Kartenzeichnen wird in dieser Klasse
ebenso wie in Klasse I und II nach folgenden Prinzipien
ausgeführt.
Es wird kein Graduierungsnetz verwendet, sondern der
Lehrer gibt einige Hauptpunkte der geographischen Auf -
gabe auf dem Papier des Schülers an, und während der
Lehrer auf der schwarzen Tafel vorzeichnet, zeichnen die
Schüler auf ihrem Papier nach. Als Vorbild hat jedes Kind
die farbigen Karten bei sich.
I. und II. Klasse : In diesen Klassen hat man schnellere
Fortschritte zu machen und sich größere Aufgaben zu
stellen. Besonderes Gewicht wurde auf das Studium der
Naturgegenstände, der Blätter, Blumen, Schmetterlinge, Vögel
gelegt. Hier wird das Zeichnen immer mit Aquarellmalen
vereinigt. In der I. und II. Klasse auch Musterkompositionen,
z. B. Stilisierung von früher gezeichneten Blumen. Es wurden
in sämtlichen Klassen Hausarbeiten aufgegeben.
Die Unterrichtszeit in den verschiedenen Klassen ist folgende
gewesen:
In der I. vorbereitenden Klasse i Stunde wöchentlich (=40 Mi -
nuten), in der II. vorbereitenden Klasse 2 Stunden (= 55 Minu -
ten), in der III. vorbereitenden Klasse 2 Stunden (= i Stunde
20 Minuten), in der I. Klasse 2 Stunden (= 2 Stunden 20 Mi -
nuten), in der II. Klasse 2 Stunden (= 2 Stunden 20 Minuten).
KUNSTGEWERBE UND MODELLIEREN.
Die Bedeutung der Holzbearbeitung ist so allgemein aner -
kannt, daß wir es nicht näher zu erklären brauchen. Nur
eines muß hier hervorgehoben werden. Das ist das einzige
Fach der Schule, bei welchem die Kinder die Freude der
durch eigene Kraft überwundenen Schwierigkeiten empfinden
können.
Das Modellieren ist besonders für die kleinen Kinder von
Wichtigkeit. Es handelt sich dabei nicht nur um die Aus -
bildung des Formensinnes, sondern die Arbeit selbst in dem
weichen und formbaren Material gibt dem Sinn eine un -
mittelbare Freude und der Phantasie eine Menge neuer An -
regungen. Sowohl das Holzbearbeiten wie auch das Modellieren
sind für die Schule besonders geeignet, um die Arbeitsfreude
der Kinder zu steigern. Dieses Gefühl ist die erste und
wichtigste Gabe, mit welcher die Schule die Kinder versehen
muß, bevor sie die Erfüllung der von Jahr zu Jahr ernster
werdenden Arbeitspflichten fordern kann.
Die Fachlehrerin erstattet folgenden Bericht:
Holzarbeiten. Motto:
„Good thoughts are no beter than
good dreams unless they are executed“ Emerson.
Der Holzbearbeitungsunterricht wird in sämtlichen Klassen
der Elementarschule erteilt. Man hielt sich dabei an keine
bestimmte Modellserie. Die Arbeiten wurden zum größten
Teile von den Kindern selbst ausgewählt und für Verwandte,
für sich selbst oder für die Schule angefertigt.
162
Die Modelle der Schule wurden mehr, um die Sachen an -
schaulich zu machen, als um diese zu kopieren, verwendet.
Formen und Maße wurden von den Kindern selbst bestimmt,
doch mußten die einmal angenommenen Maße beibehalten
werden. Ab und zu haben die Kinder Zeichnungen für
die Holzgegenstände entworfen, was die Arbeit erheblich
förderte.
Das Ziel des Holzbearbeitungsunterrichtes der Schule war
nicht nur das Erwerben einermöglichst großen Geschicklichkeit
im Hantieren mit dem Werkzeuge, sondern auch das Anhalten
der Kinder dazu, ihren eigenen Ideen, Gedanken und Gefühlen
von Anfang an auf eine praktische und vernünftige Weise Aus -
druck zu geben.
Wenn das Motiv von dem Kinde selbst ausgeht, sucht es
mit großem Interesse das sich vorgesteckte Ziel nach Kräften
zu erreichen. Es gewinnt auf diese Weise auch die Erfahrung,
wie es am sichersten und besten den richtigen Weg zu
seinem Ziele findet, und wird somit gezwungen, sich nach
und nach an ein logisches Handeln und Denken zu ge -
wöhnen.
Die Aufgabe des Lehrers besteht hauptsächlich darin, das
Motiv der Arbeit zu kontrollieren, darauf bedacht zu sein,
daß jede spezielle Anlage des Kindes zu ihrem vollen Rechte
gelangt, daß Sparsamkeit in bezug auf das Material, Ordnung
und richtige Handhabung des Werkzeuges beobachtet wird
und daß die Körper Stellung bei der Arbeit korrekt ist. Hie
und da wurden die verschiedenen Klassen gemeinsam unter -
richtet, um genaue Studien über bestimmte Übungen oder
den Gebrauch irgend eines Werkzeuges zu treiben. Während
des Holzbearbeitungsunterrichtes haben die Knaben der I. und
II. Klasse unter Leitung eines kundigen Schiffbauers (des
Schuldieners) ein Boot für die Schule angefertigt.
MODELLIEREN.
Eine bestimmte Modellserie dient nicht als Vorlage. Die
Kinder haben von Anfang an ihre Arbeiten nach Natur -
gegenständen ausgeführt, indem sie dieselben entweder direkt
nachformten oder Kopien benützten; sie modellierten auch
nach dem Gedächtnis, wobei sie ihre eigenen Beobachtungen,
die sie in der Natur oder bei Museumbesuchen gesammelt
hatten, verwerteten. Tiere, Pflanzen und Früchtenformen haben
die Kinder am meisten angezogen. Ein und derselbe Gegen -
stand wird abwechselnd modelliert und gezeichnet. Jedes Kind
hat gewöhnlich sein eigenes Modell gehabt, so daß die in -
dividuelle Entwicklung gefördert wurde. Ab und zu wurde
die Arbeit aber nach einem bestimmten Modell von der
ganzen Klasse gemeinsam ausgeführt, am liebsten wählte
man da einen Gegenstand, von welchem vorher gelesen
wurde; dies hatte den Vorteil, daß die ganze Klasse eine
allgemeine Kenntnis von dem in Arbeit genommenen Gegen -
stände besaß. In den niedersten Klassen wurde weniger Ge -
wicht auf eine korrekte Arbeit gelegt. Man hat dabei die
Phantasie herrschen lassen. Hier, wie in den anderen Klassen,
wurde die Entwicklung des Beobachtungs- und Reflexions -
vermögens der Kinder, der Kenntnis und des Beherrschens
der Form vor allem beabsichtigt. Die Kinder finden bald,
daß sie durch bloßes Ansehen der Dinge keinen rechten Be -
griff von der Form bekommen können, sondern daß sie erst
durch das Befühlen mit den Händen einen vollwertigen Ein -
druck empfangen. Der Gefühlsinn findet dadurch Gelegen -
heit zur Entwicklung.
Zur großen Freude der Kinder wurden beim Unterrichte
Gipsabdrücke verwendet. Mehrere Kinder versuchten aus
Eigenem, Gipsabdrücke zu machen, welche ihnen auch ge -
lungen sind.
Die Kinder haben mit wenigen Ausnahmen ein großes
Interesse für das Modellieren bekundet. Doch zeigten die
Größeren mehr Vorliebe für die Holzarbeiten, wenn man
ihnen freie Wahl ließ. Das Beherrschen des Tons ist schwerer.
Dadurch, daß der Ton rasch trocknet und springt, bereitet
er den Kindern mehr Schwierigkeiten und stellt ihre Geduld
auf die Probe.
Die Unterrichtszeit für Holzarbeiten und Modellieren war
zusammen:
In der I. vorbereitenden Klasse 2—3 Lektionen in der
Woche (= i Stunde 15 Minuten bis i Stunde 45 Minuten);
in der II. vorbereitenden Klasse 5 Lektionen (= 2 Stunden
50 Minuten), in der III. vorbereitenden Klasse 3 Lektionen
(= 3 Stunden); I. Klasse 3 Lektionen (= 3 Stunden 20 Minu -
ten), II. Klasse 2 Lektionen (= 2 Stunden 20 Minuten).
SCHÖNSCHREIBEN.
Bei einem Meinungsaustausch wurde von Sachverständigen
der Steilschrift der Vorzug gegeben. Die Schule hat sich
dieser Meinung angeschlossen.
Im Anfang wurde in den Klassen von der II. vorbereitenden
angefangen bis zur II. Anna Szöstrandes methodische Vor -
schrift verwendet. Die Schule ist später zu der von Erik
Ehlin ausgearbeiteten Methode übergegangen. Dieselbe hat
sich sehr gut bewährt, da sie sich durch Einfachheit, Faß -
lichkeit und Ausgesprochenheit auszeichnet.
Die Kinder haben zum Schreiben keine gedruckten Vorlagen
bekommen, sondern die Buchstaben wurden auf losen Blättern
und auf der schwarzen Tafel von der Lehrerin vorgeschrieben.
Es wurde auf bereits früher gelernte Schriftarten Rücksicht
genommen. In der I. vorbereitenden Klasse wurden in diesem
Jahre die Schreibbücher L. A. Danielson verwendet. Im
kommenden Unterrichtsjahr wird die Schule sich auch in
dieser Klasse an die durch die Ehlinsche Methode gewonnenen
Erfahrungen halten.
Für das Schönschreiben wurden für die II. und III. vorbe -
reitende sowie für die I. Klasse 2 Lektionen wöchentlich und
für die II. Klasse i Lektion bestimmt.
HANDARBEITEN.
In einer „Samskola“ muß dieses Fach einen anderen Charakter
und einen größeren Umfang annehmen. Die Durchführung
einer solchen Veränderung erfordert indessen eine besondere
Lehrkraft. Die Schule hat im ersten Halbjahr nicht über
eine solche verfügt. Da das Hauptgewicht auf die Holz -
arbeiten, das Zeichnen und Turnen gelegt wurde, hat man
es für wünschenswert gefunden, die übrige Zeit für das
Lesen zu verwenden, so daß für die Handarbeit nur wenig
Zeit übrig blieb. Nichtsdestoweniger erscheint es uns nach
den diesjährigen Erfahrungen möglich, ohne die Fortschritte
im Lesen zu gefährden, noch einige Zeit für die Handarbeit
zu erübrigen. Im kommenden Schuljahr wird die Leitung
des genannten Faches von einer eigens ausgebildeten Fach -
lehrerin übernommen werden.
In den Handarbeitsstunden werden verschiedene Arten von
Näh-, Häkel- und Netzarbeiten ausgeführt. Die angefertigten
Handarbeiten waren derart, daß sie sowohl zu Hause als auch
in der Schule praktische Verwendung finden konnten.
Die Unterrichtszeit in der I. vorbereitenden Klasse machte
2—3 Lektionen wöchentlich aus (=50 â 75 Minuten); in
der II. vorbereitenden Klasse 1 Lektion (= 30 Minuten); in
der III. vorbereitenden i Lektion (= 35 Minuten). Während
eines Teiles des Jahres war dieses Fach nicht in den Stunden -
plan aufgenommen. In der I. und II. Klasse i Lektion
(= 40 Minuten).
163
DER UNTERRICHT IN DEN ÜBRIGEN
FÄCHERN.
DIE I. VORBEREITENDE KLASSE.
Die Schule soll in diesem Stadium den Charakter eines
Heims anstreben. Das kann sowohl durch die Anordnung
des Klassenzimmers als auch durch die dem Kinde zuerteilte
Beschäftigung erreicht werden. Beim Unterricht muß vor
allem klar hervorgehoben werden, daß die Weise, in welcher
eine Arbeit vollendet wird, wichtiger als das Resultat der
Arbeit ist. Alles soll willig und genau ausgeführt werden,
und es soll das Verständnis dafür geweckt werden, daß
zwischen den verschiedenen Arten der Arbeiten keinerlei
Rangunterschied besteht. Die Klasse wurde in überein^
Stimmung mit diesen Ansichten in bezug auf die Aufgaben
der Schule eingerichtet und geleitet. Die Kinder haben beim
Aufräumen des Klassenzimmers, beim Aufdecken des Früh'
stücktisches u. s. w. helfen müssen. Der Stundenplan wurde
ganz frei eingehalten und die Lehrerin hatte das Recht, dem
selben allen für notwendig erachteten Änderungen zu unter -
ziehen, um auf diese Weise das Prinzip des gleichen Wertes der
verschiedenen Aufgaben durchführen zu können. Das Schul -
zimmer hat dadurch, daß keine Pulte, sondern Sessel und
zusammengerückte, kleinere Tische von gewöhnlicher Kon -
struktion verwendet wurden, ein intimeres Gepräge erhalten.
SCHWEDISCH. Lese- und Schreibübungen. Freiwilliges
Auswendiglernen der Gedichte von Topelius, Nordahl Rolfsen
u. a. Auch haben die Kinder ihren Kameraden Märchen er -
zählt, welche sie entweder in der Schule oder zu Hause gehört
haben, zum Beispiel „Nordische Erzählungen“ von Hedda
Andersson. Gespräche über Naturgegenstände auf Bildern oder
in der Natur. Mündliches Buchstabieren, Abschreiben und
Diktate. Während des Frühlingstermins sind auch Aufsätze
geschrieben worden, im Anfang nur versuchsweise, als damit
aber gute Resultate erzielt wurden, sind diese Übungen später
in den regelmäßigen Arbeitsplan aufgenommen worden (es
wurde unter anderem von der Eichkatze, dem Bären und
dem Kuckuck geschrieben).
RECHNEN. Man hielt sich dabei an die Lehrmethode des
Rektors Nordlundes.
GESANG. Der Gesang wurde teilweise als wirkliche Übung,
hauptsächlich jedoch als Unterbrechung des übrigen Unter -
richts getrieben. Es wurden auch Singspiele aufgeführt.
Hausarbeiten wurden im Lesen, Schönschreiben, Abschreiben,
Aufsatzschreiben, Rechnen, Zeichnen und ausnahmsweise auch
in Handarbeiten aufgegeben.
DIE II. VORBEREITENDE KLASSE.
Man hatte hier vor allem die Aufgabe, eine feste Grundlage
für das Lesen, Schreiben und Rechnen zu gewinnen. Die für
diese Fächer zugemessene Zeit war ziemlich kurz, scheint
aber doch genügt zu haben.
RELIGION. Das Leben Jesu wurde in mündlichen Er -
zählungen nach dem Plan der ersten Volksschulklassen
behandelt. Außerdem ist teilweise die Bergpredigt durch -
genommen worden. Die Kinder haben einige Psalmen und
Bibelsprüche auswendig gelernt. Es wurden auch einige
historisch-geographische Erzählungen über Palästina vor -
gelesen und gleichzeitig entsprechende Bilder gezeigt.
Für das LAUTLESEN sind 3 Stunden wöchentlich bestimmt,
die in halbe Stunden eingeteilt werden.
Es wurden folgende Bücher gelesen: Der zweite Teil des
Lesebuches von Sofi Almkvistes; „Das Abenteuer des kleinen
Wiggs am Weihnachtsabend“ von Viktor Rydberg; auch die
erste Hälfte des „Robinson Crusoe“. Außerdem wurden
Märchen gelesen und erzählt. Die Hausaufgaben bestanden
im lauten Lesen und im Wiederholen des Inhaltes. Das
Aufsagen von Gedichten wurde teils in der Schule und teils
zu Hause eingeübt.
Der ORTHOGRAPHIEunterricht bestand im Abschreiben,
Buchstabieren und Diktatschreiben.
Außerdem hatman in dieser Klasse mit dem Schreiben von Auf -
sätzen angefangen. Die Kinder haben in ein dafür bestimmtes
Buch ein kleines Bild hineingeklebt, welches eine Szene aus dem
Tierleben darstellte, und haben dann diese Szene geschildert
oder ein kleines Ereignis darüber gedichtet. Man erzielte auf
diese Weise befriedigende Resultate. Auf diese Weise üben
sich die Kinder im Aufsatzschreiben und zugleich in der
Orthographie. Das Interesse für das Schreiben und Dichten
wird geweckt und führt zum Bestreben, sich die Schriftsprache
anzueignen.
Im RECHNEN hat man hauptsächlich die Methode vom
Rektor Nordlund befolgt. Beim Kopfrechnen wurden die
vier Spezies im Zahlenraum von i—5° und im schriftlichen
Rechnen wurden Addition und Subtraktion im Zahlenraum
von i—1000 durchgenommen. Die Kinder haben auch \^iegen
und Messen gelernt. Um das mechanische Rechnen ein -
zuüben, wurden Hausarbeiten aufgegeben.
Für den Anschauungsunterricht, welcher verschiedene Gebiete
aus der Naturgeschichte umfaßte, waren zwei Stunden
wöchentlich bestimmt. Während des letzten Teiles des
Frühlingstermines hat man diesen Unterricht mit dem Lesen
von „Robinson Crusoe“ vereinigt.
DIE III. VORBEREITENDE KLASSE.
RELIGION. Erzählungen aus dem Alten Testament (bis zu
der Königszeit), daneben Abschnitte aus dem Leben Jesu.
Ausgewählte Bibelsprüche und Psalmen zum Auswendig -
lernen, die teils als Aufgabe zu Hause, teils im Schulzimmer
eingeübt wurden.
Die MUTTERSPRACHE. Lesen: „Nordische Märchen“ I.
von Hedda Andersson, „Lesebuch für Kinder“ von Topelius,
„Lesebuch für die Volksschule“, „Robinson Crusoe“ und
Bücher, welche die Schüler selbst zur gemeinsamen Be -
nützung der Klasse in der Schule deponiert haben. Das Aus -
wendiglernen von Gedichten.
SCHREIBEN. Während des Herbsttermines Abschreiben,
Diktat, manchmal auch Aufsätze; während des Frühlings -
termines Aufsatzschreiben, das zugleich als Übung in der
Orthographie diente.
Mündliche Darstellung: Märchenerzählung, wobei es jedem
Kinde freisteht, der Klasse etwas aus seinem eigenen Märchen -
vorrat zu erzählen. Vorträge und Berichte über Gegenstände
von praktischem Wert, wobei die Erfahrung und Be -
obachtungsgabe der einzelnen Kinder für die Klasse von
großem Nutzen waren, es wurden dabei unter anderem Acker -
bauwerkzeuge, die Getreidearten, verschiedene Verkehrs -
mittel, die Fortschritte in der Bereitung des Lichtes, Ge -
wohnheitenverschiedener Tiere u. s. w. besprochen. Diese Vor -
träge sind meistens durch Zeichnungen anschaulich gemacht
worden, die zu Hause oder auf der schwarzen Tafel ausgeführt
wurden, oder durch Gegenstände, welche die Kinder in die Schule
mitbrachten, und welche dann in das Klassenmuseum ein -
verleibt wurden.
Manchmal bestand der Bericht aus einem Zusammenfassen
der Eindrücke, welche bei einem gemeinsamen Besuche der
Klasse in einer Gießerei, einer Zuckerfabrik, dem Museum
Gotenburgs, der Gartenbaugesellschaft u. s. w. empfangen
wurden.
164
GESCHICHTE. Nordische Märchen wurden gelesen oder
mündlich mitgeteilt. Schilderungen aus der Kultur des Stein-
und Bronzealters. Museenbesuche und anknüpfend daran
Zeichnen verschiedener historischer Gegenstände nach dem
Gedächtnis. Die Wikingerzeit und der Beginn der Geschichte
des Mittelalters in Schweden ohne Zwang, sich an den ge^
schichtlichen Zusammenhang zu halten, es wurden Schilde^
rungen aus späterer Zeit eingefügt, bei der Geschichte des
„Svealandes" wurden verschiedene Landschaften gezeigt.
GEOGRAPHIE. Die grundlegenden geographischen Begriffe.
Die Karte Gotenburgs. Zusammenhängende Darstellungen
aus der Geographie Schwedens.
Bei der Besprechung der verschiedenen Ortschaften wurde
nicht nur auf die Industrie, die Ereignisse und Personen,
welchen dieselben ihre jetzige Bedeutung verdanken, sondern
auch auf die damit verknüpften geschichtlichen Reminis^
zenzen hingewiesen. Dadurch erhalten die Kinder zugleich auch
einen geschichtlichen Überblick über die Länder. Ein Lehr -
buch wurde nicht verwendet. Während des Frühlingstermines
wurden aber (nach dem Vorbilde der dänischen Gesellschafts -
schule in Kopenhagen) die von den Lehrern und Kindern
gemeinsam verfaßten Darstellungen niedergeschrieben und
in der Schule in vielen Exemplaren reproduziert. Jedes Kind
konnte nun in einem für diesen Zweck eingerichteten Buch
nach Belieben alles, was durchgenommen wurde, illustrieren.
RECHNEN. Anschauliches Rechnen nach der Methode Nord -
lunds. Addition, Subtraktion und Multiplikation nach dem
Lehrbuch von Cederblom. Auffassung einer Fläche, das
Messen und Wiegen.
DIE I. KLASSE.
RELIGION. Eine Serie Erzählungen aus dem Leben Jesu
nach verschiedenen Evangelisten sind gelesen und erklärt
worden. Als freiwillige Aufgaben sind Berichte über irgend
ein Kapitel aus der Bibel vorbereitet worden, so aus dem
Buche Ruth, den Psalmen und Jesaias.
DIE MUTTERSPRACHE. LESEN. Als Lesebücher sind
hauptsächlich das „Lesebuch der Volksschule“ und „Frau
Bokhyllan“ von Hedda Andersson verwendet worden. Während
des Frühlingstermines bestanden die Aufgaben für zu Hause
im Auswendiglernen von Gedichten, die gewöhnlich von den
Schülern selbst ausgewählt wurden, oder im Wiedergeben
einer Erzählung (meistens historischen Inhaltes). Die Lese -
übungen wurden hauptsächlich in der Weise abgehalten, daß
die Schüler sich gegenseitig kleinere Erzählungen verschieden -
artigen Inhaltes vorlasen.
ORTHOGRAPHIE ist während des Herbsttermines teils in
Form von Diktaten nach ausgewählten Stücken aus Richters
Rechtschreibungslehre oder durch Niederschreiben auswendig
gelernter, in bezug auf die Rechtschreibung und den Inhalt
genau durchgenommener Gedichte geübt. Während des
Frühlingstermines hauptsächlich durch schriftliches Wieder -
holen in der Schule einer kürzeren Erzählung oder Fabel,
welche die Kinder als Aufgabe zu Hause buchstabiert hatten.
Es sind auch vorbereitende Aufsatzübungen mit Rücksicht
auf die Grammatik geschrieben worden. Es wurden manchmal
auch freiere Aufsätze gepflegt.
GESCHICHTE. Die schwedische Geschichte bis 1512.
GEOGRAPHIE. Ausführliche Wiederholung von Schweden,
Norwegen und Dänemark. — Als Einleitung wurden im
Zusammenhang mit dem naturgeschichtlichen Unterricht im
Herbst typische Pflanzengegenden unseres Landes durch -
genommen (Wald, Sumpf, Acker, Wiese, Fjöll). — Bei der
Geographie des nördlichen Norwegens wurde die ausführ -
lichere Beschreibung der Natur und Tierwelt Islands und
Grönlands (bei einem Museenbesuch erläutert) zu einer
typischen Eismeerstudie zusammengefaßt. — Es ist kein
Lehrbuch verwendet worden, man ersetzte dieses durch
Karten, Namenregister, Kartenzeichnen und Skioptikonbilder.
NATURGESCHICHTE. Der Bau und die Funktionen des
menschlichen Körpers. Als Behelfe für den Unterricht haben
Skelette, Tierpräparate (Knochen, Lunge, Herz und Gehirn),
Bilder und Abbildungen in Papiermache gedient, auch wurden
zu Hause schriftliche Aufgaben gemacht. Kein Lehrbuch.
Herbst und Frühjahr: Naturstudien bei Exkursionen. — Im
Frühjahr beschäftigte man sich hauptsächlich mit vor -
bereitenden botanischen Studien.
RECHNEN. Die vier Spezies mit ganzen Zahlen.
DIE II. KLASSE.
Die Grundlage für die Einteilung der Mittelschule in Klassen
bildet die allgemeine Verstandesreife. Die Prüfung, der die
Kinder beim Eintritt in diese Klassen unterworfen werden
(in Lesen, Schreiben und Rechnen u. s. w.), kann nicht als
genügender Maßstab betrachtet werden. Manche in diesen
Fächern minder fortgeschrittene Kinder werden sich bei
näherer Prüfung tatsächlich reifer zeigen, oder aber es kommt
auch das Gegenteil vor. Hier handelt es sich außer dem
Alter, was die Hauptsache ist, vor allem um die moralische
Kraft des Kindes. Das dient als ein sicherer Beweis für
die Reife des Verstandes. Wahrheitsliebe, Gehorsam und die
Kraft, einen Beschluß zu fassen und denselben zur Aus -
führung zu bringen, lassen mit Sicherheit ein gutes Arbeits -
resultat erwarten, bringen das Kind auf die Höhe des die
Schule durchdringenden Geistes und erleichtern das Zu -
sammenarbeiten der Schüler mit den Lehrern.
Wo diese Eigenschaften vorhanden sind, zeigt es sich in den
meisten Fällen, daß auch die weniger begabten und fort -
geschrittenen Schüler mit den andern gleichen Schritt halten
können. Dieser Standpunkt brachte es mit sich, daß die
Schule sich nicht in dem gewöhnlichen Grade vor der Un -
gleichheit der Kenntnisse der Kinder im Anfang des Unter -
richtsjahres fürchtete; es galt, ein eigenes Maß für das
Gruppieren der Klassen zu finden. Man hielt sich sowohl
bei der Aufnahme in die I. wie auch in die II. Klasse an
dieses Prinzip. Die Erfahrungen haben gezeigt, daß die
Hoffnungen nicht unbegründet waren, wenn auch infolge
der Ungleichheit viele Schwierigkeiten zu überwinden waren.
Mit Rücksichtnahme darauf, daß die Schüler vor Erlernung
der fremden Sprachen sich eine gewisse Sicherheit in der
eigenen Muttersprache aneignen sollten, mußte der Beginn
des Unterrichtes der fremden Sprachen auf einen späteren
Zeitpunkt verschoben werden. Dieses Prinzip wurde schon
bei der Gründung der Schule aufgestellt. In diesem Sinne
wurde auch der Unterrichtsplan eingeteilt und der Unterricht
in der deutschen Sprache wurde in der II. Klasse begonnen.
Und selbst in dieser Klasse wurde dieses Fach bis zum
Frühlingstermin verschoben. Die Ungleichheit zwischen den
Schülern in der Klasse und das Bedürfnis, die Sinne für die
vielen andern neuen Aufgaben, wie z. B. die Holzarbeiten
und das Zeichnen, zu sammeln, machten diesen Aufschub not -
wendig. Mit Rücksicht auf die Schüler, welche mit der Erlernung
der deutschen' Sprache bereits anderswo begonnen hatten,
wurde dieselbe als erste in den Sprachunterricht aufgenommen.
Der Lehrplan in den verschiedenen Fächern ist aus folgenden
Berichten zu ersehen:
RELIGION. Kurze Übersicht über die Zeit des Alten Testa -
mentes. Markus’ Evangelium (Fehrs Bibel). Im Zusammen-
165
hang damit Abschnitte aus den Propheten und den Psalmen.
DIE MUTTERSPRACHE. Lesen. H. T. Jopelius-Almquist,
Lesebuch für Kinder, II. Teil. Fenrich Staals Gesänge. Im Zu -
sammenhang damit Darstellungen über Finnland und finnisch-
schwedische Verfasser. Während des Frühlingstermines Poesie
und Prosa aus der schwedischen Literatur, besonders Rune -
berg und Strindberg.
DIE ORTHOGRAPHISCHEN ÜBUNGEN wurden in der -
selben Weise wie in der I. Klasse betrieben; Aufsatz -
übungen. Auch wurde die Einteilung der Worte sowie der
Artikel und die Biegung des Wortes durchgenommen. —
Während des Frühlingstermines Grammatik im Zusammen -
hang mit Deutsch. Die Hauptaufgabe des Schreibens ist die,
sich eine Sicherheit der Form anzueignen. Zu diesem Zwecke
wurde teils Aufsatzschreiben (nach der abgeschlossenen geo -
graphischen Behandlung Italiens haben die Schüler in
mehreren Aufsätzen das Erlernte schriftlich zusammengefaßt),
teils Diktat und Abschreiben geübt.
GESCHICHTE. Von Gustav Wasa bis zum Tod Karls XII.
Gegen Ende des Frühlingstermines wurden über eigene Auf -
forderung der Schüler statt der usuellen Wiederholungen
Prüfungen über größere oder kleinere Abteilungen des durch -
genommenen Kurses abgehalten.
DEUTSCH. 40 Stück aus dem Lesebuch Hyath-Lindhagen,
10 Stück aus dem Anhang mit dazugehöriger Grammatik.
Kursivschriftlesen.
NATURGESCHICHTE. Die Lehre über den Menschen. Das
Studieren der von den Schülern selbst gesammelten Pflanzen,
zu denen sie eine schriftliche Erklärung verfaßt haben. Es
wurden sowohl die verschiedenen Pflanzenteile wie auch das
Keimen behandelt. Die Pflanzen wurden in der Schule gepreßt.
GEOGRAPHIE. Kurze Übersicht über die Geographie
Deutschlands, außerdem über die Alpen und Italien. Karten -
zeichnen.
RECHNEN. Das Metersystem. Die Verfertigung von Maßen.
Länge- und Flächenmessung (auch ein wenig Raummessung)
und Wiegen. Division der ganzen Zahlen.
Beim Durchnehmen dieses Kurses wurde während des
Frühlingstermines eine stärkere Konzentration des Unter -
richts vorgenommen, da die Erfahrungen gezeigt haben, daß
dadurch schnellere Fortschritte in der Arbeit erzielt werden.
SPIELE UND HOLZARBEITEN. Während des Herbst -
termines wurde eine Klasse für Spiele und Holzarbeiten er -
öffnet. Der Unterricht in derselben umfaßte Gesang, Turnen,
Handarbeit, Zeichnen, Modellieren.
Auch im nächstfolgenden Schuljahre wird eine solche Klasse
für Holzarbeiten und Spiele in den Schulplan aufgenommen.
V. KLASSE.
Man fand es zweckmäßig, die Schule schon von Anfang an
auf jener festen Basis aufzubauen, welche durch das Vor -
handensein der höheren Klassen der Organisation des Ganzen
unzweifelhaft verliehen wird. Darum beschloß der Verein,
dem Rektor das Recht zu geben, nebst den niedern Klassen
noch eine V. Elementarklasse zu eröffnen. Es gab dafür
auch noch andere Ursachen. Hier kann die Reformarbeit
der Schule bereits klarer als in den übrigen Klassen durch -
geführt werden, weil in diesem Stadium das Bedürfnis des
Schülers nach Selbständigkeit klar zu Tage tritt. Man muß
Vertrauen in seine Tätigkeit setzen und ihm solche Auf -
gaben stellen, die eine selbständigere und ausdauerndere
Arbeit erfordern. Das bestehende Unterrichtssystem nimmt
keine Rücksicht darauf, sondern hält sich an dieselbe
Methode, die in den niedern Klassen angewendet wird. Doch
erwacht der Trieb zur selbständigen Arbeit oft von selbst.
Man sollte versuchen, eine freiere und fördernde Unterrichts -
methode zu finden. Wenn dieser Aufgabe eine richtige
Lösung zuteil wird, könnte sich eine vorteilhafte Rück -
wirkung auf die niederen Klassen bemerkbar machen. Auch
hier müßte das selbständige Arbeiten der Kinder soviel
als möglich zu seinem Recht kommen.
Auch hat man gefunden, daß man in einer höheren Klasse
mehr Freiheit hätte, neue Unterrichtsmethoden in den ver -
schiedenen Fächern zu versuchen und auf diese Weise einen
Weg für die natürliche Fortentwicklung der Schule zu bahnen.
Unter solchen Voraussetzungen glaubte der Rektor nicht
Rücksicht auf die geringe Schüleranzahl nehmen zu müssen,
sondern hielt die Entstehung der Klasse an sich für das
Wichtigste.
Freiheit und Selbständigkeit bei der Arbeit kann sich nicht
ohne Konzentration beim Studium und ohne Einschränkung
der Lehrfächer entwickeln. Will man in dem einen oder
dem anderen Fach große Forderungen aufstellen, wird man
notwendigerweise zur Konzentration gezwungen. Gemäß
diesen Forderungen wurde die Anzahl der Fächer in der
neuen Klasse auf die folgenden beschränkt: Deutsch, Mathe -
matik, Geschichte, Muttersprache, Religion und Zeichnen.
Diese Gegenstände wurden in 6, beziehungsweise 5, 3, 2, 2,
und 3 Stunden wöchentlich vorgetragen, in Summa 21 Stunden.
In dieser Elementarklasse werden folgende, in der Elementar -
schule üblichen Fächer weggelassen: Englisch, Französisch,
Geographie, Naturgeschichte. Die übrigen 26 Unterrichts -
stunden wurden teils mit dem Studium des einen oder an -
deren der oben erwähnten Gegenstände unter Anleitung der
Lehrer, teils mit allgemein bildender Lektüre nach freier
Wahl der Schüler ausgefüllt.
Im Frühlingstermin trat eine Veränderung ein und die
Mehrzahl der Freistunden mußte einer strengeren Einteilung
und neu hinzukommenden Fächern, Schwedisch, Literatur -
geschichte, Chemie (jedes mit einer Stunde) weichen. Zwei
von den Sprachstunden mußten dem englischen Unterricht
gewidmet werden. Die Mathematik dehnt sich auf 4 Stunden
wöchentlich aus. Der Lehrgang in den einzelnen Fächern
war folgender (wobei zu beachten ist, daß einige Schüler
niederere Kurse besuchten):
DEUTSCH. Die Prinzipien beim Unterricht in diesem Fach
sind folgende. Der Unterricht wird in der fremden Sprache
selbst gehalten; das Hauptgewicht wird auf das Lesen gelegt.
Die Kinder üben sich teils im Kursivlesen von guten Jugend -
büchern und klassischen Schriftstellern unter der Leitung des
Lehrers und zu Hause, teils durch genaue sprachliche Analyse,
die ebenfalls in der deutschen Sprache unterrichtet wird.
Die Grammatik wird durchgenommen, erklärt und zusammen
mit dem Lesen gelernt. Schriftliche Übersetzungsübungen aus
dem Schwedischen ins Deutsche fördern auch das Studium
der Grammatik. Die Kinder müssen sich aber durch die
Beherrschung des sprachlichen Materials dazu vorbereiten,
so daß falsche Übersetzungen vermieden werden.
Man hat dem Lehrer dieses Faches volle Freiheit gegeben,
seinen Unterricht nach eigenem Ermessen diesen allgemeinen
Prinzipien anzupassen.
Die meisten Stücke in Vors-Schwedelins Deutschem Lese -
buch I. (teilweise Kursivschrift) wurden übersetzt und darauf
wurden Sprechübungen über das Gelesene gepflegt. Außer -
dem haben die Schüler auf eigenen Wunsch hin einige
Jugendbücher gelesen („Der Schmied von Ruhla“, „Jakob
Ehrlich“, Abschnitte aus „Tausend und einer Nacht“, „Rhein -
sagen“ u. s. w.) und sind nachher geprüft worden. Die Schüler
haben auch Geschichten aus dem Leben erzählt und deutsche
Gedichte und Erzählungen auswendig vorgetragen.
166
GRAMMATIK. Die Formenlehre und das Wichtigste der
Syntax wird wiederholt. Es werden Extemporalien geschrieben.
Jede zweite Woche eine deutsche Aufgabe.
MATHEMATIK. Nach der Ansicht der Schule muß der
Mathematik in dieser Klasse große Aufmerksamkeit zu'
gewendet werden. Der reif gewordene Verstand ist jetzt
ziemlich schweren Gedankenaufgaben gewachsen und die
Lösung dieser kommt dem Unterricht auch in anderen von
der Mathematik abhängigen Fächern zu gute.
Der Unterrichtsverlauf selbst ist sehr reformbedürftig. Man
überzeugt sich immer mehr davon, daß der Lehrplan der
Mittelklassen der öffentlichen Lehranstalten eine Änderung
erfordert, und zwar müßte das Hauptgewicht auf die prak^
tischen Aufgaben gelegt werden und müßten verschiedene
theoretische Abhandlungen in die höheren Klassen verlegt
werden. Aber in vielem sind auch die Ansichten der Refomv
freunde geteilt. Eine wichtige Frage ist z. B. die betreffs
des Geometrieunterrichts, wo noch nicht entschieden wurde,
ob das Euklidische Lehrbuch oder die neueren Versuche
vorzuziehen sind.
Die Schule hat für sich selbst eine neuere Methode auszu^
probieren gewünscht.
GESCHICHTE. Die Hauptsache für die höheren Mittel'
Schulklassen sollte die neuere Geschichte sein. Im Zusammen'
hang mit den historischen Erscheinungen des Mittelalters
und der römischen Weltherrschaft erfordert das jedoch eine
ziemlich umfassende Darstellung als Einleitung. Das ist im
Laufe dieses Jahres geschehen und die Geschichte des Mittel'
alters erscheint somit als abgeschlossen. Die Abschnitte von
kulturhistorischem Wert erfuhren eine sehr eingehende Be'
Handlung. Es wurden zusammen mit den Schülern Versuche
gemacht, den historischen Zusammenhang zwischen den Er'
scheinungen zu finden und darzustellen.
Die Geschichte des Nordens ist in die allgemeine eingefügt
worden. Man hat, wo es möglich war, Urschriften gelesen,
teils gemeinsam, teils lasen die Schüler allein unter Leitung
des Lehrers. Auf diese Weise wurden Abschnitte aus
„Tacitus“, „Amaler und Germania“, „Das Leben Karls des
Großen“ von Einhard, „Der Rolandsgesang“, „Der Koran“
Joinvilles, „Ludwig der Heilige“, Kirchengeschichte u. s. w.
gelesen. Auch historische Kritik wurde geübt, und zwar in
der Weise, daß die Schüler schriftlich einige moderne histO'
rische Streitpunkte entwickelt haben.
DIE MUTTERSPRACHE. Die Hauptaufgabe ist Aufsatz'
schreiben gewesen. Jede zweite Woche wurde ein Aufsatz
geschrieben. Bei jedem dritten Aufsatz durfte das Thema
frei ausgewählt werden. Außerdem wurden Vorträge gehalten
und die schwedische Formenlehre durchgenommen.
Es wurde vorläufig vom Prinzip der Lehranstalt, die neuere
Literatur möglichst zu pflegen, Abstand genommen und man
befaßte sich mit dem Lesen der älteren Literatur und zugleich
mit einer literarhistorischen Darstellung der Literatur des
nordischen Mittelalters in Island und Schweden bis Olavus
Petri. Gegen Ende des Frühlingstermines wurde Shakespeares
„Julius Cäsar“ gelesen.
Folgende Aufsätze wurden von dem Lehrer aufgegeben:
Warum wurde der römische Staat ein Kaisertum? — Das
Lebensschicksal eines Pferdes. — Wohin willst du fahren? —
Die Wanderung unserer Vorfahren nach dem Norden und
ihr Leben während des Steinalters. — Ein „Luciafest“ in
der höheren Samschule in Gotenburg. — Wilhelm Teil
(deutsche Aufgabe). — Eine Heidekrautfeuersbrunst in
„Landalabergen“ (von der Klasse angeschaut). — Verkehrs'
mittel. — Die Renaissancezeit. — Das Vandalenreich. —
Theoderich der Große. — Die Hauptzüge der germanischen
Völkerwanderung. — Das Ritterleben. — Gotenburg. —
Wie bindet man ein Buch ein? —
Von den Schülern selbst ausgewählte Themata: Die Berech'
tigung des Krieges. — Die Geschichte der Juden. — Die
Insel und der Badeort Särö. — Die Gotteslehre des ägyptischen
Altertums. — Engelbrecht. — Der Rhein. — Ein Skiausflug.
— Der Winter. — Der Kampf zwischen Heiden' und Christen'
tum in Schweden. — Wie ich meine Ferien zubrachte. —
Mein kleiner Bruder. — Skansen. — War es gut, daß die
Franken bei Poitiers 732 den Sieg gewannen? — Freiheit.
— Das Leben auf „Kungspatsavenejen“. — Arbeit. —
Stockholms Schloß.
RELIGION. Der Religionsunterricht in dieser Klasse sollte,
in Übereinstimmung mit der Richtung der Schule, ein durch
und durch historisches Gepräge annehmen. Es wird die
Bibel (die Apostelgeschichte) und die vier letzten Haupt'
abschnitte aus dem Katechismus durchgenommen. Von diesen
verschiedenen Teilen des Faches wurde die Bibelkenntnis
als die Hauptaufgabe betrachtet.
Die historische Methode beim ßibellesen besteht in der
Darstellung der Bücher des Alten und Neuen Testamentes
vom Standpunkt der bibelkritischen Untersuchungen der
neueren Zeit. Dies ist geschehen und das Alte sowohl
als das Neue Testament wurden auf diese Weise durch'
genommen.
Das Anwenden der historischen Methode beim Durchnehmen
des Katechismus besteht in der Erklärung derjenigen Um'
stände, unter welchen die Begriffe der Lutherischen Lehre
entstanden und in katechetische Form zusammengefaßt
wurden.
Die kirchengeschichtliche Darstellung sollte als Grundlage
für die Erklärung des Katechismus dienen. Dieser Teil des
Programmes wurde jedoch bis zur VI. Klasse verschoben.
Der Kursus des Lehrjahres ist folgender gewesen: Die
historischen und prophetischen Bücher des Alten Testaments
in bezug auf die Zeit ihrer Abfassung und ihrer Entstehung. —
Übersicht über die religiöse Entwicklung der Juden auf
Grund dieser Bücher. — Die Entstehung, die Ausbreitung
und der Sieg des Christentums im römischen Reich. — Die
Verhältnisse in Palästina zu der Zeit Christi. — Die drei
ersten Evangelien mit Rücksicht auf deren Abfassungszeit
und Entstehungsweise. — Übersicht über das Leben und
die Lehre Christi nach diesen Evangelien.
Dabei wurde kein Lehrbuch, sondern nur die Bibel und kurzes
Diktat verwendet.
ENGLISCH. Da die Sprachkenntnisse der Schüler zu Beginn
des Frühlingstermines, als der Unterricht dieses Faches be'
gann, sehr verschiedenartige waren und eines der Kinder
sogar ein Anfänger war, mußte mit den allerersten Grund'
lagen des Sprachunterrichtes angefangen werden. Der Kurs
ist folgender gewesen: Laut' und Formenlehre, Lesen, über'
setzen und mündliches Wiederholen von Dialogen und
Erzählungen.
Wörterverzeichnisse und Schreiben, teils zu Hause, teils im
Schulzimmer. Der Unterricht wurde in der fremden Sprache
selbst erteilt.
CHEMIE. Elementarkurs mit Hilfe von Experimenten. Die
Lehre von der unorganischen Natur. (Sauerstoffe, Salze, die
Verbrennung; die Darstellung von Metallen.)
ZEICHNEN u. s. w. Freihandzeichnen. (Der Unterricht
wurde während des Frühlingstermines manchmal in Museen
abgehalten.) Malen mit Aquarellfarben, Modellieren. —
Konstruktionszeichnen: Flächige geometrische Figuren im
Zusammenhang mit der Geometrie und Projektionen von
flächseitigen Figuren.
167
Der Plan für das nächstfolgende Unterrichtsjahr der VI. Klasse
dürfte nach folgendem provisorisch aufgestelltem Schema-
entwürfe festgesetzt werden:
Anzahl der Wochenstunden
aus dem Lateinischen ins Schwedische zweckmäßig gemacht
werden, muß man sicher zu schnelleren und besseren Resul -
taten gelangen. Das Studium der Grammatik würde dabei
besonders viel gewinnen. Das schriftliche übersetzen aus dem
Schwedischen ins Lateinische dient als Vorbildung zum
Herbsttennin
Frühlings -
termin
Religion
Deutsch
Englisch
Französisch
Mathematik .
Naturgeschichte und Chemie (oder
Physik)
Geschichte und Literatur
Freie Stunden und Schreiben .....
Zeichnen
Turnen und Spiel 4 / 2
Summe
28
28
DAS GYMNASIUM.
Da es für Gotenburgs höhere Samschule von unleugbarer
Bedeutung war, Klarheit über das Verhältnis zu gewinnen,
in welches die Schule zu dem, was heutzutage das Endziel
der höheren Lehranstalten ausmacht, nämlich zur Matura,
treten soll, mußte die Schule bei ihrer Organisation die nötige
Rücksicht darauf nehmen und es wurde von dem Zufall
Gebrauch gemacht, der eine Abteilung als Mädchengymnasium
anzugliedern erlaubte. Dadurch konnte auch ein lang gefühltes
Bedürfnis befriedigt werden. Bei der Einrichtung des Gym -
nasiums mußte naturgemäß einerseits auf das praktische oben
erwähnte Endziel Rücksicht genommen werden, anderseits
sollte auch mit dem Beschluß der Schule, in dieser Abteilung
einen höheren Bildungsgrad zu erreichen, was der Wunsch
jeder Schule sein sollte, gerechnet werden. Dabei ist es von
höchster Bedeutung, durch eine praktische und sinngemäße
Einteilung der Studien die Schulzeit möglichst zu verkürzen;
es war auch von großer Wichtigkeit, daß die Schüler immer
klar sahen, daß durch den Studiengang eine wirkliche Ausreife
angestrebt werde.
Dem Gymnasium war vorderhand die Lateinlinie B an -
gegliedert. Dieser Kurs umfaßt höchstens drei Jahre, aber
die Schule bot den fortgeschritteneren Schülern Gelegenheit,
die Studien in zwei Jahren zu beenden. Die Aufnahms -
bedingung für die Neueintretenden ist eine absolvierte sieben-
klassige höhere Mädchenschule. Letzten Herbst fügte man
zu diesen Anforderungen die Kenntnis der wichtigsten Grund -
züge der lateinischen Formenlehre hinzu. Durch die Kon -
zentration des Unterrichts wird eine gründlichere Bildung
und ein schnellerer Fortgang erreicht. Zu diesem Zwecke
schränkte man gewisse Vorlesungen auf bestimmte Jahres -
zeiten ein. Auch ließ man die Hausaufgaben zu sogenannten
„Wiederholungsprüfungen“ anwachsen. Die Einzelheiten des
Lehrplanes können aus folgendem Bericht entnommen werden.
LATEIN 6 Stunden wöchentlich. Das Hauptgewicht bei dem
Lateinstudium wurde in letzterer Zeit auf die Übersetzungen
aus dem Lateinischen ins Schwedische gelegt, während die
Übersetzungen von dem Schwedischen ins Lateinische neben -
sächlich wurden. Diese Übersetzungen müssen nämlich als
ein Überrest aus der Zeit betrachtet werden, da das Schreiben
und Sprechen des Lateins die Hauptsache war. Es muß
auch bemerkt werden, daß für diese Übungen in anderen
Schulen zu viel Zeit verwendet wird. Wenn die Übersetzungen
Erlernen der Syntax.
Das analytische Studium ist indessen vorzuziehen. Dieses
besteht darin, daß im Zusammenhang mit dem gelesenen
Text die grammatischen Konstruktionen erklärt werden.
Durch die beim Lesen vorkommenden Wiederholungen der -
selben Konstruktion wird die Regel beigebracht. Die syn -
tetische Zusammenfassung mag später und als Abschluß
kommen. Der Lateinunterricht in der Schule wurde in Über -
einstimmung mit diesen Prinzipien geleitet. Im Laufe des
Jahres hat man folgendes durchgenommen: Livius, BuchXXV;
Virgil Aneid L, VV. 1—600 und so viel Grammatik, als der
Text dazu Anlaß bot. Großes Gewicht wurde auf die Lehre
des Kasus, die Nominalformen des Verbs und auf den
Modus zu den Nebensätzen gelegt. Diese Teile der Syntax
wurden deshalb ziemlich ausführlich behandelt. Außerdem
wurden 15 Übersetzungen aus dem Lateinischen ins Schwe -
dische geschrieben (zehn im Schulzimmer, fünf zu Hause).
Diejenigen, welche das Examen nach zwei Jahren zu machen
wünschten, haben als Ferienaufgaben die Übersetzung des
Livius, Buch XXVI, und auch Wiederholung des früher
Gelesenen aufbekommen.
Im nächsten Schuljahr werden Ciceros De senestute und aus -
gewählte Oden des Horatius durchgenommen und außerdem
bekommen diejenigen, welche das Examen nach zwei Jahren
zu machen wünschen, für die Weihnachtsferien ein Buch
von Virgil, als Hausaufgabe. Diejenigen, welche das nicht
wünschten, werden in einem der nächstfolgenden Jahre im
Gymnasium das durchnehmen, was ihre Kollegen als Ferien -
aufgaben gemacht haben, und daneben das übrige wiederholen.
MATHEMATIK (5 Stunden). Geometrie: Die Lehre von der
Stellung der Linien zueinander sowie die Lehre von Triangeln,
Parallelogrammen, Zirkeln und mehreckigen Figuren.
Die Proportionslehre mit Anwendung auf die Geometrie.
Algebra: Die vier Spezies in ganzen Zahlen, die Lehre von
den Quadratwurzeln; Gleichungen des ersten Grades mit
einer oder mehreren Unbekannten; gewisse Gleichungen von
höheren Gradzahlen; Wurzelgleichungen; Wurzeln und
Potenzen.
FRANZÖSISCH. (3 Stunden.) Grammatik: Die Kapiteln
vom Artikel, vom Substantiv, vom Adjektiv, vom Rechnungs -
werte, vom Pronomen und von den Verben nach dem Lehr -
buch des Gullberg, Edström, Joh. Stonn: Dialogues fran^ais,
cours moyen. Übersetzungen: Alphonse Daudet: „Le petit
Chose“ und Anatole France: „Le livre de mon ami.“ Im
Zusammenhang damit Übungen im Sprechen und Erzählen.
14 schriftliche Übungen in der Schule, teils Übersetzungen,
teils freie Aufgaben. Außerdem während des Frühlings -
termines drei schriftliche Hausaufgaben.
GESCHICHTE. (2 Stunden.) Das Altertum, das Mittelalter,
die Reformationsperiode.
KIRCHLICHE GESCHICHTE. (2 Stunden während des
Frühlingstermines.) Neuzeit. Das Altertum, das Mittelalter,
die Neuzeit bis zur Reformationsperiode.
LITERATURGESCHICHTE. (1—2 Stunden.) Griechische
Literatur und Kunstgeschichte. Die italienische Literatur des
Mittelalters und der Renaissance in ausführlichen Dar -
stellungen. Ebenso die Literatur in Frankreich bis zur Re -
formationsperiode.
DIE MUTTERSPRACHE. Schriftliche Aufgaben. Zehn Auf -
gaben, davon acht in der Schule.
16S
AUFGABEN: Herbsttermin: Hannibal. Augustus. Der
Rolandsgesang. Schneefried (Viktor Rydberg). Der fliegende
Holländer’(Viktor Rydberg). Die Mareianische Wahrsagung
(Livius'XXV., 12). Süddeutschland. Die altrömische Basilika.
Die Schwierigkeit, die Handlungen anderer Menschen zu
beurteilen. Die Entstehung und Bedeutung der Klöster.
Gregorius der Große. Die Westgoten.
Die natürlichen Erwerbsquellen Schwedens. Die heilige Brigitta.
Frühlingstermin: Eine der Landschaften Schwedens. Karl
der Große. Wie hat Runeberg den Charakter des Dobeln in
„Döbeln vid Jutas“ dargestellt? Eine Dampfschiifreise. Duke
et decorum est pro patria mori (Horatius). Wie man junge
Leute Bescheidenheit lehren soll. Mohammed, Julianus und
das Christentum. Heinrich IV. und Gregorius VII. Das
Kirchenkonzil zu Nicea. Der erste Kreuzzug. Petrarca. Das
Gebirge^ und Stromsystem Skandinaviens. Zacharias Topelius.
Das Staatssystem der Freiheitszeit. Spanien unter Philipp II.
Die bürgerlichen Pflichten eines Menschen. Eine historische
Charakterdarstellung (Gustav II., Adolf, Gustav III., Philipp II.,
Maria Stuart).
DEUTSCH. (2 Stunden während des Herbsttermines.) Wieder^
holung der Formenlehre und einzelner Teile der Syntax.
Übersetzungen ins Deutsche aus den Übersetzungsübungen
von Hoppe. Übersetzungen ins Schwedische: Frau Buchholz
von Stinde. Kleinere Vorträge über gegebene oder selbst aus^
gewählte Stoffe. Sechs schriftliche Aufgaben in der Schule.
ENGLISCH. (2 Stunden während des Frühlingstermines.)
Wiederholung der Grammatik. Übersetzung von „Julius
Cäsar“ von Shakespeare und „In the Struggle of Life“ von
Massey. Erzählungen und Anekdoten werden vorgelesen und
deren Inhalt wird wiederholt; im Zusammenhang damit
Sprechübungen. Aufsätze, teils zu Hause, teils in der Schule.
NATURGESCHICHTE, (i—3 Stunden wöchentlich.) 1. Der
Bau und die Funktionen des menschlichen Körpers. 2. Das
Wichtigste aus der Gesundheitslehre. Botanik I. Systematik:
Die gleichblättrigen Pflanzenfamilien und einige von den
übrigen wichtigen Familien nach lebendem Material, mit be^
sonderer Berücksichtigung ihrer Morphologie und ihrer Be^
deutung für den Menschen. 2. Die allgemeine Morphologie
der Phanerogamen.
PHYSIK, (i—2 Stunden wöchentlich.) Die Lehre von den
Eigenschaften der Flüssigkeiten und der Gasarten; vom Laut,
von der Wärme und dem Licht. Gegen Ende des Herbsttermines
bildete sich ein freiwilliger Holzbearbeitungskurs (i Stunde)
und im Anfang des Frühlingstermines ein freiwilliger Zeichen -
kurs (i Stunde). Die gesamte Arbeitszeit außer diesen Kursen
machte 28 Stunden wöchentlich aus. Im Laufe des ganzen Lehr -
jahres wurden Montag zwischen 12—3 Uhr Schreibübungen
abgehalten. Während des Frühlingstermines hat man außer -
dem jede zweite Woche einen speziellen Schreibtag gehabt.
Zu Beginn des nächsten Herbsttermines wird das Gymnasium
aus zwei Jahreskursen bestehen. Für die in den ersten Kurs neu
Eintretenden sind das Absolvieren einer siebenklassigen höheren
Mädchenschule oder entsprechende Kenntnisse erforderlich.
Das Schulgeld beträgt 200 K pro Termin.
SCHULE UND HAUS.
Ein inniges Verhältnis zwischen Schule und Haus wird nur
dann erzielt, wenn die beiden Teile sich eine wirkliche Er -
ziehung zur Aufgabe stellen. Nur auf diese Weise kann ein
Zusammenwirken zu einem gemeinsamen Ziel ermöglicht
werden. Die Konferenzen zwischen Eltern und Lehrern
dienen dazu, gemeinsam Fragen über Schule und Haus er -
örtern zu können und Übereinkünfte bezüglich der Haus -
aufgaben des Kindes zu treffen. Bei den Zusammenkünften,
welche während des ersten Jahres teils einzeln für jede Klasse
der Elementarschule und teils gemeinsam für alle Klassen
stattfanden, wurden folgende Fragen behandelt: Uber die
Dauer der täglichen Schulzeit in den verschiedenen Klassen;
über den Nachmittagsbesuch und die freiwilligen Arbeiten
in der Schule; über die richtige Art und den Umfang der
Hausaufgaben; außerdem wurde Aufklärung über die Ur -
sachen gegeben, welche die Schule dazu bestimmten, keine
Termin- und Jahreszeugnisse auszustellen. Uber die Auf -
fassung der Schule in bezug auf die zwei letzteren Fragen
wurde nachfolgende Erklärung abgegeben. In den letzten
Wochen des Frühlingstermines wurde bei den Konferenzen
der einzelnen Klassen über die absolvierten Kurse und über
die allgemeinen Kenntnisse des Kindes Bericht erstattet.
HAUSAUFGABEN.
Das Bestreben der Schule war von Anfang an darauf ge -
richtet, das Ausmaß der Hausaufgaben nach Möglichkeit
einzuschränken. Damit beabsichtigt man, die Kinder zu
einer freiwilligen individuellen Betätigung hinzulenken und
dieselbe nach und nach an Stelle der von der Schule be -
stimmten Hausaufgaben treten zu lassen.
Die Hausaufgaben haben viele Fehler. Der größte derselben
ist der, daß die Schulzeit dadurch nicht klar und bestimmt
festgesetzt wird, sondern auch auf einen unbestimmten Teil
der freien Zeit des Kindes ausgedehnt wird. Die freiwillig
übernommene Arbeit bindet das Kind ebensosehr, aber nicht
durch eine an ihn von außen gestellte Forderung, sondern
durch die Macht des eigenen Beschlusses. Das festigt den
Charakter, gibt dem Kinde ein Recht auf seine freie Zeit
und zieht der Schule bestimmte Grenzen.
ZEUGNIS.
Seit langem schon äußerte man von verschiedenen Seiten
den Wunsch in bezug auf eine Änderung der gegenwärtigen
Form des Zeugnisses.
Das Zeugnis wird leicht ungerecht beurteilt. Es drückt oft
mehr den Grad der Begabung und des Auffassungsvermögens
als den der Arbeitslust und Mühe aus. Das Sittenzeugnis
leidet an demselben Fehler.
Ein einzelner Fehler oder ein augenscheinlicher Charakter -
mangel gilt als Totalurteil für die Schule, während diese
Beurteilung doch auf alle Seiten des Wesens des Kindes
Rücksicht nehmen sollte. Das Zeugnis zielt darauf hin, das
Begutachten der Wirksamkeit des Kindes durch die Schule
auszudrücken. Dieses Schlußurteil muß immer befriedigend
sein.
Die Schule soll dem Kinde nicht anders als mit Freund -
lichkeit und Wohlwollen entgegentreten; sie darf dem Kind
auch nicht, nachdem es seine Arbeit verlassen hat, dieselbe
als drückende Ferienarbeit und als das Bewußtsein nicht er -
füllter Pflicht mitgeben. Beim Schulschluß muß alles er -
ledigt sein.
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Früher konnte man die Zeugnisse als eine Notwendigkeit
betrachten, da die Eltern erst dadurch einen Überblick über
den Fortgang des Lernens ihrer Kinder erhielten. Jetzt ist
dies anders. Die Eltern verfolgen im allgemeinen den Untere
rieht und die Arbeit in der Schule und erhalten während
des Schuljahres die notwendigen Auskünfte über die Fort -
schritte des Kindes. Die Schule muß ihren Verpflichtungen
in dieser Hinsicht nachkommen und die Eltern über den
Studiengang ihres Kindes im laufenden Jahre genau in -
formieren. Die Samschule hat hauptsächlich aus diesen
Gründen beschlossen, den Kindern keine Termin- oder
Jahreszeugnisse auszustellen.
Anderseits erkannte die Schule die Notwendigkeit, ihr Urteil
über jedes Kind im Laufe des Jahres dann und wann
schriftlich zusammenzufassen und den Eltern mitzuteilen.
FERIENARBEITEN.
Der allgemeine Wunsch, daß die Kinder während der langen
Ferienzeit nicht ganz müßig sein sollten, bestimmte die
Einführung der Ferienarbeit.
Die Erfahrung zeigt jedoch, daß eine Änderung in der Form
der Ferienarbeiten eintreten müsse.
Die Ferienarbeit liegt wie eine Last auf dem Gewissen der
jungen Menschen und läßt sie ihre Ferienzeit nicht im vollen
Umfange genießen. Hauptsächlich aus diesem Grunde ist
die Forderung der Ferienaufgaben als einer Zwangsarbeit
in der Samschule entfallen und sind diese Arbeiten auf
Freiwilligkeit begründet.
Die Schule hat bei Beginn des neuen Schuljahres von ihren
Schülern nichts zu fordern.
Die Reformen, welche jetzt in dem Unterricht und der Er -
ziehung erwartet werden, sind von überaus ernster Art.
Es handelt sich dabei nicht bloß um Verbesserungen, sondern
vielmehr um die Grundlage ganz neuer Prinzipien.
An der Spitze dieser Forderungen steht diejenige, daß im
Unterricht und in der Erziehung auf das Recht des Kindes
Rücksicht genommen wird. Ebenso wie in das Leben der
Erwachsenen kann auch in das des Kindes ein unberechtigter
Eingriff gemacht werden.
Der Erzieher muß genau die Grenzen seines eigenen Rechtes
sowie auch die Rechte des Kindes kennen.
Ein Beweis dafür, daß das Vorhergesagte eine Hauptfrage
in der Reformarbeit bildet, wird durch den Umstand erbracht,
daß alle Gedanken sich mit dem jetzigen Religionsunterricht
und dessen Reform befassen.
Der Unterricht und die Erziehung greifen in das innerste
Wesen des Kindes ein. Und hier beabsichtigt man nun, das
ursprüngliche Recht des Kindes vor allem zu schützen. Bei
dem früheren Erziehungssystem wurde dieses Recht zumeist
unterdrückt und gekränkt. Darum soll die Durchführung
einer vollen Religionsfreiheit mit Rücksicht auf die Schüler
die Hauptfrage bei der Unterrichtsreform selbst sein. Es
handelt sich hier um den Unterschied, der zwischen dem
Unterricht in dem Fache: Religion oder Christentum und
der Erziehung zu einer gewissen Überzeugung oder einem
Bekenntnisse gemacht werden muß. Nur bei einer falschen
Auffassung wird der Lehrer letzteres als seine Pflicht be -
trachten.
Der Lehrer muß diese Dinge genau voneinander unter -
scheiden und es als seine einzige Aufgabe betrachten, die
freie Überzeugung durch seinen Unterricht zu fördern.
Dieser muß so geleitet werden, daß durch ihn die Ent -
wicklung einer möglichst selbständigen Überzeugung be -
wirkt wird.
Die Schule drängt den Schüler zu keiner bestimmten Über -
zeugung, sondern gibt ihm vielmehr die Gelegenheit, sich
eine solche selbst zu bilden. Im übrigen muß bei dem Religions -
unterricht mehr als bei den anderen Fächern auf das Recht
der Eltern Rücksicht genommen werden. Die Schule muß
im allgemeinen bestrebt sein, den Unterricht im Sinne des
diesbezüglichen Übereinkommens mit den Eltern zu leiten
und hiebei das größte Entgegenkommen zu zeigen. Das ist
besonders bei der Erteilung des Religionsunterrichts notwendig.
Der Religionsunterricht ist daher in der Samschule in der
Beziehung frei, daß die Eltern die Kinder in den niederen
Klassen von demselben dispensieren lassen können. In den
höheren Klassen muß die Schule das größte Gewicht auf die
eigenen Wünsche und den Standpunkt der Kinder selbst legen.
Wenn die Schule auf dem empfindlichsten Gebiet das Freiheits -
prinzip durchführt, wird die Freiheit des Kindes sich nach
und nach auch in allen übrigen Richtungen hin entfalten.
Die Freiheit im Spiel, in den Bewegungen, in der eigenen
Initiative auf allen Gebieten des Unterrichts, Freiheit im
Wesen und Verhalten in der Schule, in Worten und im
Handeln.
Das jetzige Erziehungsproblem wird somit in seinen Haupt -
zügen gelöst sein.
ES TRIFFT SICH ZUFÄLLIG, DASS ICH ET -
WAS PRAKTISCHE BEZIEHUNG MIT SCHU -
LEN FÜR DIE JUGEND VERSCHIEDENER
GESELLSCHAFTSKLASSEN HABE UND
ICH ERHALTE VIELE BRIEFE VON ELTERN
IN BEZUG AUF DIE ERZIEHUNG IHRER
KINDER. UNTER DER MASSE DIESER BRIE -
FE FALLT MIR IMMER AUF, WIE SEHR DER
GEDANKE AN EINE „LEBENSSTELLUNG“
ALLE ANDEREN GEDANKEN DER ELTERN
UND BESONDERS DER MÜTTER ÜBER -
WIEGT. „DIE ERZIEHUNG, WELCHE FÜR
DIESE ODER JENE LEBENSSTELLUNG BE -
FÄHIGT“ — DAS IST IMMER DIE REDE, UM
DIE SICH ALLES DREHT. SIE SUCHEN, SO -
WEIT ICH ES BEURTEILEN KANN, NIE -
MALS EINE AN SICH GUTE ERZIEHUNG;
JA, DIE BRIEFSCHREIBER SCHEINEN NUR
IN SELTENEN FÄLLEN EINEN KLAREN
BEGRIFF VON ABSTRAKTER RICHTIGKEIT
DER ERZIEHUNG ZU HABEN. ABER EINE
ERZIEHUNG, „DIE MEINEM SOHNE EINEN
WARMEN ROCK VERSCHAFFT; — DIE IHN
BEFÄHIGT, MIT SELBSTBEWUSSTSEIN IN
VORNEHMEN HÄUSERN BESUCH ZU MA -
CHEN; — KURZ, DIE IHM EIN VORWÄRTS -
KOMMEN IM LEBEN VERSPRICHT; — DAS
IST ES, WAS WIR KNIEFÄLLIG ERBITTEN
— UND DAS IST ALLES, UM WAS WIR
BITTEN.“ JOHN RUSKIN.
170
L: PERSÖNLICHE ANSICHTEN ÜBER VER,
SCHIEDENE DINGE.
Die Wahrheit reizt zum Widerspruch, weil sie gegen die
Gewohnheit geht.
Das „literarische Theater“ bleibt notwendigerweise ein Papier^
ereignis, nicht weil die Unternehmer zu wenig literarisch
sind, sondern weil die Literaten zu wenig künstlerisch sind.
Die heutige Bühne, wenn sie literarischen Ehrgeiz hat, gibt
Tendenzen statt Kunst. Die zahllosen sozialen Mißstände
lassen ein Tendenztheater zeitgemäß erscheinen, mit allerlei
Nützlichkeitsstücken vier Wochen zu spielen und dann end^
gültig abzusetzen. Diese dramatischen Tendenzstücke sind
notwendig als Unterstützung der sozialen Tagesarbeit, trefflich
geeignet, die durch Parlamentsinterpellationen, Gerichtsver^
handlungen, Leitartikel, Feuilletons, Lokalnachrichten, sati^
rische Witzblätter aufgedeckten gesellschaftlichen Schäden
wirksam zu illustrieren und das öffentliche Gewissen zu
peitschen. Daß solche Stücke gut und lebenswahr geschrieben
sind, ist schriftstellerischer Anstand.
Aber das ist kein Grund, sie als Kunst anzusehen.
Der Weg der Kunst ist ein anderer.
Eines der künstlerischen Zeichen des neuen Dramas ist, daß
es alle Künste vor neue Aufgaben stellt.
Es ist das Schlimmste, was sich zu gunsten eines Bildes,
einer Zeichnung, eines Dramas sagen läßt, daß es aus dem
„Mitleid mit der Kreatur“, aus der „Echtheit des Mitgefühls“
geschaffen ist. Entweder ist das Lob verlogen oder das Kunst'
werk. Alle schlechten Kunstwerke werden in dieser lächer'
liehen Weise gerechtfertigt.
Es ist genau so lächerlich, als ob man sagte, das „Mitleid mit
der Kreatur“ sei die Grundlage der Vivisektion. Oder: aus
„Mitleid mit der Kreatur“ hat der Wolf das Lamm gefressen.
Die Kunst hat mit dem Mitleid genau so wenig zu tun wie
die Natur.
Die Natur gestaltet, indem sie mit unschuldvoller Grausam'
keit zerstört; künstlerisch gestalten wird, wer frei von dem
unterjochenden Mitleid ist.
Die Legende von dem Künstler ist bekannt, der aus Mitleid,
den Heiland zu malen, sein Modell ans Kreuz schlug.
Die künstlerischen Naturen gehen immer über die Wünsche
ihrer Zeit und ihrer Besteller hinaus. Hoffnungslose Hand'
werker und gewissenlose Spekulanten gehen nie über diese
Wünsche hinaus; sie sind in Übereinstimmung mit dem
Publikum. Der Künstler ist nur in Übereinstimmung mit
sich und im Widerspruch mit dem Publikum; das sichert
die Entwicklung. Sich einzuleben, ist dann der Kulturfort'
schritt. Und wenn das Publikum dort angelangt ist, wo der
Künstler war, ist dieser schon weit voraus.
Beethovens Musik gleicht auch im stärksten Ausdruck mensch'
lieber Leidenschaften einer formedlen antiken Plastik, davon
jedes kleinste Bruchstück die Schönheit des Ganzen enthält.
Wagners Musik ist ein gewaltsames Gebirge, mit schroffen
Zacken und Abgründen; im ganzen mächtig und herrlich,
aber im Bruchstück wie taubes Gestein mit kristallinischen
Einschlüssen. Ein künftiger Genius wird in dem Gebirge
einen Block suchen, um wieder die ausdrucksvolle Einfach'
heit edler Plastik herauszumeißeln.
] BILDERAUSSTELLUNG [
DIE „SZTUKA“.
ZUR AUSSTELLUNG IN DER SEZESSION.
ie Vereinigung polnischer Künstler „Sztuka“ füllt einige Säle der Se -
zession mit einer interessanten Malerausstellung, die allerdings dies -
mal nicht so großartig in die Erscheinung tritt wie vor einigen Jahren.
Daran ist aber nicht die „Sztuka“ schuld. Sie hat die verständnisvolle
Mitarbeit entbehren müssen, die früher im Hause behilflich war. Es
geht daher in den Sälen ein wenig „drunter und drüber“. Abgesehen
davon, ist das Auftreten der polnischen Künstler auch jetzt sehr er -
freulich. Die „Sztuka“ verkörpert die Blüte der polnischen Kunst;
sie hat den Vorzug, noch eine Entwicklung vor sich zu haben. Die
meisten Künstler als Maler, die ihr angehören, haben in Paris den
Schwerpunkt ihrer Ausbildung gesucht; aber unter dem europäischen
Firnis glüht die angeborne Farbe des nationalen Temperaments hervor.
Der Einfluß der mondänen Gesellschaft und ihres Geschmackes einer -
seits, die heimliche Liebe des Künstlers zu seinem Land und seinem
Volk anderseits, bilden die tieferliegenden psychologischen Elemente
dieses Schaffens. Es ist aber ganz klar, wohin die Resultante geht.
Die „Sztuka“ hat sich unschätzbare Verdienste um die Erhaltung und
Erforschung der heimischen Volkskunst erworben; die Materialienhefte,
die sie aus ihren Sammlungen und Forschungen herausgibt, bieten
einen ganzen herrlichen Feldblumenstrauß naiver volkstümlicher
nationaler Kunstschöpfungen, die weitaus interessanter und wertvoller
sind als der temperamentlose mitteleuropäische Durchschnitt unserer
gewöhnlichen Kunstausstellungen. Die Ausgrabungen der „Sztuka“ sollen
nicht allein auf verschüttete Quellen aufmerksam machen, auf die
schlummernden künstlerischen Antriebe des Volkes, sondern auch auf die
tektonische Entwicklung, und sind daher weit über das ethnographische
Interesse hinaus bedeutsam. Vor allem sind sie ein Fingerzeig und
eine Warnung in betreff der unseligen Wiederbelebungsversuche durch
bureaukratische Fachschulreglements. In dieser Beziehung hat die
„Sztuka“ mit dem ungeheuren Übergewicht der künstlerischen Über -
zeugung eine ergötzliche Fehde gegen den Geist des Schematismus
geführt. Eine umfangreiche publizistische Tätigkeit — denn es galt
nicht nur zu erobern, sondern auch zu verteidigen — entsprang der
Vielseitigkeit der „Sztuka“, deren Künstlerkreis glänzende Schriftsteller
angehören. Es sei an die ausgezeichneten „Glossen über die Kunst“
von Jözef Mehoffer erinnert (Ver sacrum, Heft 14, Jahrgang 1903), die
gegen den Grafen Lanckoronski gerichtet, und um ein Restaurierungs-
attentat abzuwenden, das Recht des Künstlers in treffsicheren Sätzen
geltend zu machen suchen, wobei ein scharfer Seitenhieb auch auf das
Beuroner Kirchenhandwerk fällt, mit dem die Sezession den Ruhm
des laufenden Ausstellungsjahres zu bestreiten vermeinte. Die un -
übertrefflichen Materialienhefte der „Sztuka“, geeignet, dem Fachschul-
und Kunstunterrichtswesen eine andere Richtung zu geben, fanden
zunächst bei der Regierung wenig Verständnis; es bedurfte einer un -
gewöhnlichen publizistischen Vehemenz auch von außenstehender sach-
freundlicher Seite, um Staat und Gesellschaft in bescheidenstem Ausmaß
an dieser wichtigen Arbeit zu interessieren. Auch wegen geeigneter Be -
setzung von Lehrstellen durch künstlerisch einwandfreie Kräfte führt
die „Sztuka“ gegen den maßgebenden Unverstand in Krakau einen
heftigen Krieg; kurz, ich kenne keine andere Künstlervereinigung, die
außer ihrer spezifischen Tätigkeit mit dieser zupackenden Frische und
Überlegenheit so weitausgreifende künstlerische Interessen pflegen
würde. Es ist ganz gewiß, daß der ertragfähige heimische Boden der
Kunst reichlich zurückgeben wird, was die Künstler und ihre Sinnesver-
wandten, die ihn bebauen, an Arbeitsmühe verschwenden.
Wenn auch der faszinierende Einfluß von Paris den Horizont der
polnischen Künstler überstrahlt, so blieb doch ihr Auge ungeblendet
und angesichts der Kathedrale auf dem Wawel befähigt, das „Geheimnis
des Malerischen“ solcher Innenräume, den Zauber solcher Architekturen,
die bunte Farbenfreude und den Reichtum tektonischer Künste des Volkes
zu ergreifen. Die Urwüchsigkeit und elementare Kraft des heimischen
Elementes setzt sich in dem Schaffen der „Sztuka“ durch, aber nicht,
wie manche vielleicht denken, als eklektische Nachbildung nationaler
Vorbilder, sondern als schöpferische Eigenart, die in dem vom künst-
171
lerischen Niederschlag mehrerer Jahrhunderte reich gedüngten Boden
organisch verwachsen will und Produkte hervorbringt, die von der
Langweile zivilisatorischer Kunst erlösen wird.
Ich glaube, daß diese Lokalisierung der Kunst, das künstlerische „Ein-
wurzeln“ überall der herrschende Gedanke werden wird. Nachdem
die internationalen Einflüsse das Empfinden heftig durchrüttelt und
neuen Wind in alle Segel gebracht haben, ist es an der Zeit, das
Wurzelvermögen zu stärken, an Stelle der Äußerlichkeiten jenen Grad
von Verinnerlichung auszubilden, der zu den intimsten Geheimnissen
der künstlerischen Wirkung gehört. Bei uns, wo Verwandtes gepflegt
wird, und überall, wo dieser Sinn im Erwachen ist, wird die „Sztuka“
Verständnis und Anerkennung finden; auch in jenen Werken, wo ihr
Zweiseelen wesen mehr nach Frankreich neigt, ist Qualität, denn die
polnischen Künstler haben strenge Jury geübt. Die dekorativen Ent -
würfe von FRYCZ, MEHOFFER, die Farbenphantasien von RUCZCZYC,
die Landschaften und Studien von STANISLAWSKI, CZAJKOWSKI,
WYCZOLKOWSKI, FALAT, KAMOCKI einerseits, die feinen im -
pressionistischen Radierungen von PANKIEWICZ, die Porträte von
OLGA BOZNANSKA und AXENTOWICZ, die Blumen und Stilleben
von SLEWINSKI, um nur die hauptsächlichsten Erscheinungen anzu -
deuten, bestimmen die Physiognomie des vielgestaltigen Ausstellungs -
bildes nach den beiden charakteristischen Entwicklungsmomenten.
* . *
Im sonstigen enthält die Frühjahrsausstellung vielerlei. Gewiß viel
Gutes. Die große Plastik in der Mitte des Hauptsaales „Am Brunnen
des Lebens“ von IVAN MESTROVIC ist das Werk eines sehr begabten
Menschen, der augenscheinlich noch unter starken und unverarbeiteten
Eindrücken steht. Die symbolischen Figuren um den Brunnenstein
stecken voll Legenden von Klinger und Rodin, was überdies bei einem
jungen Menschen, der noch um den eigenen Ausdruck ringt, kein
schlechtes Zeichen ist. Ein anderer junger Plastiker, JOSEF MÜLLNER,
wird die Hoffnungen, die auf ihn gesetzt werden, vielleicht einmal
erfüllen, wenn er nicht mehr im Schatten der Akademie stehen wird.
Von den kunstgewerblichen Arbeiten sind die Handwebereien nach
Entwürfen von ZOVETTI sehr anzuerkennen; auch die Vereinigung
„Kunst im Hause“ hat zum Teil gelungene Handarbeiten ausgestellt.
Die Holzschnitte von KANDINSKY und FRANK verdienen alle Be -
achtung; ich möchte auch die Zeichnungen von JAKIMOWICZ hervor -
heben, die Bilder von VLASTIMIL HOFMANN („Der Blinde“, „Tauben“),
die malerischen Grotesken des WOJT r IEWICZ und von den Mitgliedern
die feine Kunst des FR. KÖNIG, eine an Leistikow erstarkte Arbeit von
NOWAK („Filzmoos mit dem Dachstein“ und noch einiges), TICHYS
Preisarbeit „Im Frühling“, die Entwürfe des hochstrebenden und be -
gabten KARL EDERER, und von dem unzweifelhaft frischesten Talent
der Vereinigung, FERDINAND ANDRI ein Kinderporträt mit gelb -
blühendem Wiesengrund, fast so gut wie ein Werk des Schweizers
Amiet, an das ich mich erinnere. Von den übrigen Sachen habe ich
nichts zu sagen. Es ist gewiß noch manche brave Arbeit darunter.
Aber ungeachtet einzelner Qualitäten macht die Ausstellung den Ein -
druck der Zersplitterung und Ratlosigkeit. Es war früher das hohe
Ziel aufstrebender Talente, in der Sezession als Aussteller Gast zu sein,
eine Auszeichnung, die gleichzeitig mit dem unschätzbaren Vorteil
einer straffen künstlerischen Führung verbunden war. Diese Aus -
zeichnung ist im Werte bedenklich gesunken. Die Gastlichkeit ist zwar
freigebiger denn je geworden, aber sie kann den Gästen außer der
Fraglichkeit eines Bilderverkaufes nichts geben, weil die künstlerische
Führung fehlt. Ich sehe gerade in dieser Ausstellung eine Menge
junger Leute, denen zu ihrer künstlerischen Entwicklung nichts so
sehr abgeht als ein gemeinsames Ziel, eine bedeutende selbstgewählte
Aufgabe, um in strenger Zucht die Kräfte zu entwickeln. Ich denke
an den Präsidenten selber und unter anderem an Ederer, an ein paar
junge Plastiker und etliche andere, denen zu ihrer Entwicklung die
beschwingende Macht einer Idee fehlt, die in der Rumpfsezession
augenscheinlich nicht mehr aufzubringen ist. In Ermanglung des
Kopfes hat die Jury ein weites Herz gehabt. Um mit vielem zu
prunken, hat sie auch mit Geringem vorlieb genommen. Aber Masse
ist nicht immer Kraft.
^^Nächst^^ondemummcr^^De^^chöne^GarterL
URTEILE ÜBER DIE „HOHE WARTE“.
„ALPENLÄNDISCHE HANDWERKER-ZEITUNG“ IN GRAZ schreibt
über die „Hohe Warte“: Wer noch nicht diese Halbmonatschrift ge -
sehen, wer noch nicht ihre kritischen Betrachtungen und Abhandlungen
mannigfachster Art gelesen, der mußte sich unbedingt etwas im un -
klaren gewesen sein über die gewählte Bezeichnung dieser Zeitschrift.
Hat man aber einmal einen Einblick gewonnen, den ganzen Inhalt,
wenn auch nur flüchtig überflogen, so wird die Trefflichkeit der Be -
nennung „Hohe Warte“ jedermann offenbar sein. Auf erhöhtem Posten
stehend, bleibt ihr nichts unbekannt. Alles, was Kultur atmet, wird
in populär kunstsinniger Weise beobachtet oder kritisiert, gelobt oder
verdammt, geschätzt oder verpönt, genau so, wie es naturgemäße
Anschauungen erfordern. Ein nicht genug rühmenswertes Prinzip ist
die Pflege der heimatlichen Kunst, die Kunstpflege im Hause. Fast in
allen Aufsätzen und auf allen Gebieten wird die Rückkehr zur Natur
den Künstlern, den Handwerkern sowie dem gesamten Volke warm
und aufrichtig ans Herz gelegt. Und jenen Kompetenzen, die sich wider
diesen richtigen Anschauungen auflehnen oder selbe ignorieren, werden
von der „Hohen Warte“ aus so manch wohlgezielte Hiebe versetzt.
Kunstsinnigen und überhaupt Handwerkern, die ihr Handwerk lieben,
wird die „Hohe Warte“ aufs wärmste empfohlen.
„ÖSTERREICHISCHE VOLKSZEITUNG.“ „Hohe Warte“. Begründet
von Joseph Aug. Lux. Verlag „Hohe Warte“. 2. Jahrgang.
Diese illustrierte Halbmonatsschrift hat während des ersten Jahres
ihres Bestehens den Beweis erbracht, daß in ihr ein von verständiger
Kunstbegeisterung genährter Herd für moderne städtische Entwicklung
entstanden ist. Sie hat die „Pflege der künstlerischen, geistigen und
wirtschaftlichen Interessen der städtischen Kultur“ auf ihr Titelblatt
gesetzt und der Rückblick auf bisherige praktische Erfolge, die dem
ersten Hefte des neuen Jahrganges vorangesetzt ist, zeigt, daß die
„Hohe Warte“ dieser Losung gewachsen ist. Jedes neue Heft liefert
seinem Inhalte und seiner Ausstattung nach einen neuen Beleg für die
Aufrichtigkeit und die frische Initiative, von denen die Leitung der
Zeitschrift beseelt ist.
BÜCHEREINLAUF.
W. FRED. Die Straße der Verlassenheit. Zehn Jahre. VERLAG VON
GEBR. PAETEL, Berlin.
OSKAR BIE. Der gesellschaftliche Verkehr. Band II der Sammlung
illustr. Einzeldarstellungen „Die Kultur“. Herausgegeben von
CORNELIUS GURLITT. Preis kart. M. 1-25. BARD-MARQUARDT
& CO., Berlin.
WILHELM UHDE. Der alte Fritz. Band III der Sammlung illustr.
Einzeldarstellungen „Die Kultur“. Herausgegeben von CORNELIUS
GURLITT. Preis kart. M. 1-25. BARD-MARQUARDT & CO., Berlin.
GEORG BRANDES. Anatole France. Band XX der Sammlung illustr.
Einzeldarstellungen „Die Literatur“. Herausgegeben von GEORG
BRANDES. Preis kart. M. 1-25. BARD MARQUARD & CO., Berlin.
HOUSTON STEWART CHAMBERLAIN. Arische Weltanschauung.
Band I der Sammlung illustr. Einzeldarstellungen „Die Kultur“.
Herausgegeben von CORNELIUS GURLITT. Preis kart. M. r25.
BARD-MARQUARDT & CO., Berlin.
Jahrgang I der „HOHEN WARTE“, I. und II. Halbjahr, ist in
einigen gebundenen Exemplaren noch zum alten Preis zu haben.
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Unregelmäßigkeiten in der Zustellung wollen dem Verlag der „HOHEN
WARTE“ gefälligst sofort bekanntgegeben werden.
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erscheinenden Artikel und Illustrationen.
Alle Zuschriften und Sendungen Wien, XIX. GrinzingerstraOe No. 57. Telephon 21.847.
Verlag „Hohe Warte“ (Lux & Lässig). Für die Redaktion Joseph Aug. Lux.
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I. Bauernmarkt 3.
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172
: E^= Der schöne Garten.
t
f GARTENARCHITEKTUR.
i
r Tatur ist Rohstoff. Sie wird Form und Erlebnis durch
i die Kunst. Schöne Gärten sind ein Ausdruck des
X dichterischen Erlebnisses in der Natur. Mit anderen
l ’ Mitteln ausgedrückt, kann das Naturerlebnis ein Gedicht,
ein Bild, ein Drama werden; mit Hilfe ihrer eigenen Mittel,
als Vegetation, Wasser, Erde, Stein, wird sie Architektur.
Schöne Gärten sind nicht nur schön durch das Pflanzengrün,
r die Blumen, Gräser und Bäume, sie sind künstlerisch schön
g durch die Anlage. Alte Bäume von Steinwerk sorgfältig eim
d gefaßt, wie ein Heiligtum im Schrein, sind von dem mensclv
;t liehen Geheimnis der Schönheit umgeben. Die Huldigung
n w ird Architektur, auch wenn die festen Linien des Stein«
e walls gelöst wären und verschweben würden wie der Kinder«
4 reigen Francesco Albanis um den von Genien bevölkerten
:e Baum. Um Francias Madonna bildet der Rosenhag ein lieb«
:r liches Gehäuse und der Meister der Rheinischen Schule erschuf
eine ähnliche Gartenarchitektur um die Madonna mit den
Erdbeeren; aus Blumen und Früchten erbaut Mantegna eine
herrliche Kuppel über die Anbetung und auch dann, wenn
der Gartengedanke als Selbständiges sich von der frommen
Mystik loslöst, tritt er immer wieder als Architektur in die
Erscheinung und sucht ein neues Geheimnis einzuschließen.
Die mittelalterlichen Wasser« und Mauergärten, im engen
Bereich der Stadtmauern erblüht, die strengen Klostergärten
in weißen Arkadenhöfen sind von der architektonischen
Grundlage ebensowenig zu trennen wie die Quelle der Are«
thusa in Syrakus. Die Renaissancegärten entwickeln dieses
Prinzip mit dem stärksten Bewußtsein. Nicht die Abhängig«
keit des Gartens vom Hause allein macht es: Es ist viel«
mehr das autokratische Walten des künstlerischen Geistes
mit den Naturelementen, denen er die Form geben will.
Der Gedanke ist, daß in keinem Teile des Gartens das
Gefühl der architektonischen Einheit schwinden soll. Treppen,
Balustraden, Fontänen, plastische Gruppen geben eine immer«
Francia.
Madonna im Rosenhag.
Meister der Rheinischen
Schule um 1420
Madonna mit den
□ Erdbeeren. □
173
FONTA^A DI VENE RE POSTA NEL PLANO DELL ORGANO
währende Orientierung. Nicht nur, daß Hecken und Bäume
geschnitten als Wände und Architekturformen erscheinen, sie
eröffnen stets die Perspektive auf einen spezifischen Archh
tekturteil, der nicht vergessen läßt, daß der Garten ein Kunst'
gebilde ist. Die Barockzeit betont dasselbe Prinzip, sie stellt
an die Laubwände in langen Reihen Plastiken auf, Musen
und Heroen, den olympischen Himmel, doch ist die ganze
barocke Gartenplastik im Grunde nichts anderes als skulp-
tierte Architektur. Die Barockkünstler waren Dekorateure,
aber sie verloren dabei nicht den Blick aufs Ganze. Die
Plastiken als weiße Punkte an den grünen Laubwandungen
stellen als Stützpunkte für das Auge die architektonische
Zusammenfassung her. Und wären es nur weiße Pfeiler oder
weiße Bänke, in einer bestimmten Ordnung aufgestellt, so
würden sie eine ähnliche zusammenfassende architektonische
Wirkung tun. Konstantin Somoff, als feiner Nachempfinder
der Barockkunst, hat dieses Gefühl gehabt. Die Gartenbänke
in seinem Bilde erfüllen neben den Plastiken eine architek'
tonische Funktion. Eine Zeit, die anders empfindet und die
nicht mit solcher Leichtigkeit Dekorationsstücke hervorbringt
wie die Barocke, wird das Sachlichkeitsmoment in den
Vordergrund stellen, an Stelle des Teppichbeetes die Farbe
der Blumen in breiten Flächen und an Stelle der steinernen
Ornamente und Allegorien die rein tektonische Anlage setzen.
Die Entwicklung entscheidet heute für die sachliche Gestaltung.
Eine Reihe von Entwürfen von dem jungen Architekten
Lebisch (Schule Professor Hoffmann) betont diesen tektonh
sehen Grundsatz, der für die künstlerische Gestaltung durch'
aus bindend ist.
Diese sachliche Auffassung bringt die Forderung mit, daß
ein plastisches Werk in diesem Zusammenhang ein einwand'
freies Kunstwerk sein muß. Die architektonische Sachlichkeit
läßt aber auch erkennen, daß für den Gartenkünstler wie
überhaupt für den Architekten die Verpflichtung nicht auf'
hört, mit seinen sachlichen Mitteln dichterisch zu verfahren.
Wenn Kostbarkeit gestattet ist, dann wird jedes Architektur -
glied prächtig und bewundernswert sein können, die steinerne
Quelleneinfassung mag dann ein Wunderwerk sein und der
Weg nach dem Tempel über herrliche Mosaiken führen. Unter
Umständen aber kann auf jede Mithilfe verzichtet werden,
denn der Reichtum macht nicht die Schönheit aus; das tiefste
Erleben zu gestalten, reicht das Einfachste aus.
GARTENFESTE.
K ünstlerische Gartenfeste sind ein mystischer Kult wie
die alten Naturfeste. Die Gottheit, die im heiligen
Hain und im Heiligtum des Herakles wohnt, herrscht
auch in dem ummauerten Bezirk schöner alter Gärten. Das
künstlerische Gartenfest huldigt dem Geheimnis schöner
alter Gärten, oder es wäre eine Karikatur. Die Menschen,
die an solchen Gartenfesten teilnehmen, sind nicht bloße
Zuschauer. Sie wirken mit wie Gläubige an dem Gottesdienst,
von den Schauern des Geheimnisses ergriffen, sie sind festlich
erhoben. Ihre Seelen haben die Schönheit der alten Gärten
in einer Art religiöser Schwärmerei erkannt und nun sind
diese Menschen plötzlich den Absichten der Kunst fügsam
geworden wie die Bäume oder die Steine, aus denen die
Kunst den heiligen Hain und das Heiligtum geschaffen hat.
Und wenn die Menschen wieder als Mittel und Zweck für
den Kult brauchbar geworden, kann ich mir Gartenfeste
denken, denen das Wesentliche, die mystische Weihe, nicht
fehlt. Sie sind nur möglich auf architektonischer Grundlage.
Auch die Naturspiele und Naturfeste, die eleusischen und
dionysischen Feste, die bezaubernden nächtlichen Garten'
feste und Feuerwerke der Renaissance und des Barock, die
ländlichen volkstümlichen Reigenspiele, uraltem Naturkult
entsprungen, wirken insoferne der Natur in künstlerischer
Weise entgegen, als sie in einer gewissen rhythmischen
Ordnung einen idealen Grundriß, eine verschwebende
Architektur beschreiben. In den alten schönen Gärten verweilt
der architektonische Gedanke entlang den beschnittenen
Hecken, den Rasen, den Brunnen, Balustraden, Treppen,
Sphinxen, Laubgängen und hohen Alleen. Mit dieser Archi'
tektur der Gartenfeste verbinden sich die anderen Künste,
das Ganze zu gestalten, die Kunst der Farbe, als Blumen,
Kostüme, Beleuchtungseffekte, bunte Bänder, die Kunst
der Bewegung als Tanz, Reigen oder Aufzug, oder als Dar'
Stellung, Schauspiel und tätige Mitwirkung am Kult dieses
Festes, ferner Musik als der unmittelbarste beseelte Ausdruck
aller dieser rhythmischen Künste und edle Plastik, die
mystische Weihe in festen Linien verkörpernd und um'
schlossen in der baumreichen Tiefe des Gartens von einer
grünen Pflanzenarchitektur wie von einem heiligen Hain.
Ein herrliches Kunstwerk müßte im Allerheiligsten sein,
174
wie die ausstrahlende Gnade des Buddha amida, es müßte
im Grunde des Festes sein. Es wäre die Art, ein gelungenes
und seltenes Werk der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Ich denke mir also Gartenfeste, wo Bedeutsames im Hinter^
grund steht und jede Handlung bedeutsam und groß wirkt.
Zwei Züge, vornehmlich Mädchen und Frauen in weißen
wallenden Gewändern mit Blumen im Haar und mit
flatternden bunten Bändern, steigen, von sanfter Musik oder
von sorgfältig gestimmten Chören geleitet, zu beiden Seiten
die Gartentreppen hinab, jeder Zug gleichsam ein Spiegek
bild des andern, damit der Teilnehmende Zuschauer und
Mitspieler zugleich sein kann, und nun wallen die Züge
zwischen den beschnittenen Hecken und Rasen und Blumen^
beeten, den Laubengängen und hohen Alleen entlang nach
den dichteren und stilleren Teilen des Parkes, wo sich die
Heiligtümer plastischer Kunstwerke befinden, von grünen
Laubwänden als Architektur umgeben. Ich kann mir vor'
stellen, daß die Schönheit eines solcherart aufgestellten
mystischen Brunnens auch einer wundervollen gesprochenen
Dichtung entströmen könnte und daß herrliche Worte, nach
der Art der antiken Chöre hier gesprochen oder gesungen,
eine ungeahnte Weihe hervorbringen müßten.
Man kann sich aber an Stelle dieses künstlerischen Fest'
platzes als Zielpunkt des Aufzuges auch einen einzelnen
schönen Baum denken, wo ein Reigen von den jugendlichen
Gestalten in weißen fliegenden Gewändern, nicht als archäo'
logische oder stilhistorische Wiederholung einer kunst'
geschichtlichen Reminiszenz, sondern als schöpferische Dar'
Stellung der natürlichen Anmut, bestenfalls als eine freie
künstlerische Wiedergabe lokaler volkstümlicher Kinderreigen
vorstellen. Die kostümgeschichtliche Kopie eines Aufzuges
möge bei Gartenfesten zu Gunsten selbständiger künst'
lerischer Erfindung vermieden sein. Ich kann mir aber auch
denken, daß von einem Punkte des Parkes der Blick in die
offene Landschaft gegen den Abend geht und daß der Fest'
zug durch die Baumreihen des Parkes zieht, um das Schau'
spiel der scheidenden Sonne zu genießen als eine Art Natur'
feier, die durch die Choralmusik eine rhythmische Begleitung
empfängt. Den Rückweg durch die nachterfüllten Baum'
bereiche begleiten die Laternenträger mit viereckigen bunten
Papierlaternen auf hohen Stangen, von sanfter Musik von
fernher geführt, oder von der einfachen Melodie einer Flöte,
oder den in der Tiefe des Parkes ersterbenden Schall eines
Waldhornes; aber beim Austritt aus dem waldigen Teil in
den architektonischen Bezirk des Gartens, wo die Teiche
und Springbrunnen liegen, erreiche nun, da die Nacht völlig
hereingebrochen, das Fest den Höhepunkt der Pracht durch
die Beleuchtungseffekte, die in Form von Fackeln und bunten
Lichtern die Wasserspiegel der Teiche besäumen, an denen
nun der festliche Aufmarsch vorüberzieht. Aus den schwarzen
Spiegeln leuchten die Reflexe der Lichter und verdoppeln
den Lichtschein, für einen Augenblick wäre die Feerie er'
standen, die in großartigem Maße einmal von der Phantasie
eines Burnacini bei den Gartenfesten der Renaissance ver'
wirklicht worden war und den Garten samt den Festgästen
in eine blendende Bühne verwandelte, ohne ein Stück
falscher Dekoration anzuwenden.
Wir kommen von der Vorstellung nicht los, daß Verkaufs'
buden von den Gartenfesten unzertrennlich sind. Es hängt
damit zusammen, daß die heutigen Gartenfeste keine künst'
lerische Absicht, sondern Wohltätigkeitszwecke im Auge
haben. Doch könnten auch diese Wohltätigkeitsfeste zugleich
eine künstlerische Leistung sein, wenn die Gesinnung der
Sache günstig sein würde. In diesem Falle würden nicht
geschmacklose Buden mit schlechtem Kram über den Garten
in unpassenden Formen verteilt, sondern die Buden in einem
abgesonderten Teil zu einer bunten Budenstadt vereinigt
werden, wo die Phantasie im Hinblick auf Farbe und Form
das Äußerste wagen und die Lieblichkeit einer japanischen
Geschäftsstraße hersteilen könnte. Ich will nur flüchtig am
deuten, daß das künstlerische AusstellungS' und Verkaufs'
wesen auf dieser Grundlage eine neue Form finden könnte.
Eine Gartenbau' und Plastikenausstellung wäre in keiner
Form glücklicher zu lösen als in dem angedeuteten Umriß
des Gartenfestes.
Mir aber scheint, daß unsere Zeit die Fähigkeit einer edlen
Festlichkeit verloren hat. Die üblichen Gartenfeste sind eine
Farce auf die natürliche Festlichkeit der schönen Gärten,
in denen sie in der Regel stattfinden. Sie gleichen einem
Chaos, einer geistlosen Anhäufung von alberner Dekoration,
Papier' und Stoffetzen, Basarschund und hilflosen kostüm'
geschichtlichen Nachahmungsversuchen. Die Veranstalter
haben die Mittel und Menschen nicht in der Hand, um
künstlerische Wirkungen zu erzielen und jedem Teilnehmer
175
FONTANA DIL TRITONE A CAPO IL VIALE DELLE FONTANELLE NEL CIARDINÜ
Jcl SynoT Duea M<xBe! aüa NauittUa. Architettwra del Caiialter Gio Lorcnio Bcrmm*
einen Wert mitzugeben. Musik, Beleuchtung, Feuerwerk
und sonstige Darbietung in der Art des Wurstelpraters
fallen auseinander, jeder Teil führt ein klägliches Dasein
für sich. Die Unterhaltung bewegt sich in den Extremen
von roher Ausgelassenheit oder Langeweile. Der Stempel
der Banalität, der Mangel an dichterischem Schwung, an
künstlerischer Einheit, an mystischer Bedeutung ist die
äußere und innere Signatur solcher Feste in unserer Zeit.
Den dekorativen Aufputz liefert fix und fertig die DekorationS'
anstalt, die für alle Festbedürfnisse die Papiermaché^Embleme,
die üblichen Fahnenstangen und Prunkstücke, all das
Trompetengold der falschen Festherrlichkeit, die Juxbasar^
artikel pünktlich und zur Zufriedenheit der Herrschaften
bereitstellt. Das Publikum bringt das Fehlende selbst mit,
falsche historische Trachten, falsche Lustigkeit, Roheit und
ödigkeit. Wer wirkliche Feste feiern will, muß hoch und
ernst gestimmt sein, wie zu einer religiösen Handlung. Das
Höchste der Andacht und Verehrung müßte geleistet werden,
das Künstlerische.
OB GROSS ODER KLEIN, DER GARTEN
SEHE GEORDNET UND REICH AUS; ER
SEI WOHL ABGESCHLOSSEN VON DER
AUSSENWELT. ER AHME KEINESFALLS
DIE ABSICHTEN ODER DIE ZUFÄLLE DER
NATUR NACH, SONDERN SEHE WIE ET.
WAS AUS, DAS MAN NIRGENDS ANDERS
SEHEN KANN ALS AM MENSCHLICHEN
HAUSE. WILLIAM MORRIS.
DER SCHÖNE GARTEN* VON OSKAR BIE.
D ie Beweglichkeit des Baumes, der Blume und aller
Vegetabilien besteht in ihrem Wüchse. Die natürliche
Rhythmik ihrer Bewegung ist das Aufkeimen aus dem
Samenkorn, die mannigfache Bildung des Stammes und der
Verzweigung, die sich entfaltenden Spiele der Farben auf
Blatt und Blüte, die Lebenskette des Blühens und Vergehens,
die sich jährlich auf neuer Basis wiederholt oder über längere
Zeit sich hinauszieht oder über die ganze Dauer der vegetabfi
fischen Existenz.
Wie hat sich der Genuß dieser Bewegung stilgeschichtlich
entwickelt?
Das Mittelalter kennt den Wildpark und den botanischen
Garten. Dort wächst der Wald in ursprünglicher Ungestört
heit, hier die Blume unter dem Interesse des Naturfreundes.
Dort wird die Natur belassen, die den Boden der Landwirt'
schaft oder der Jagd bildet, hier die Natur gepflegt in den
schönen einheimischen oder importierten kleinen Wundern
der Blüte. Feld und Wald, Baum und Wiese sind frei in
den Linien ihres Wuchses und ihrer Wandlungen.
Die Renaissance beginnt diese freie Beweglichkeit zu hassen.
Wo sich ihr Interesse gegenüber der Natur zeigt, sucht man
diejenigen Vegetabilien auf, die sich einer tektonischen Er'
starrung fügen, das allzu Bewegliche oder allzu schwer zu
Tektonisierende wird draußen gelassen. Die Renaissance liebt
den Rahmen und die Stilisierung der Freiheit. Sie liebt alles
Rahmenswerte und Stilisierbare und von den beweglichen
Dingen alles, was sich stereometrisieren läßt, auch unter Zer'
Störung der eigenen Natur.
Mit Wonne nähert sie sich den beweglichen Dingen, um sie
in ihre Verfassung zu zwingen, ihre freie Rhythmik in
Mathematik zu verwandeln, ihren tektonischen Gehalt zu
ihrem Stilgesetz zu machen. Sie diktiert nicht nur die Gesetze
beweglicher Festdekorationen und tragbarer Naturbestandteile,
sie stilisiert nicht nur die Erde in regelmäßigen Flächenfiguren
und die schiefen Ebenen in großen Treppen und Terrassen,
sondern sie zwingt auch den Baum, sich beschneiden zu
lassen, um Mauern, ja Gewölbe, ja ganze Darstellungen von
* Siehe Bücher, die man lesen soll, Seite 202.
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Entwurf eines illuminierten Chateau d’eau (Burnacini).
Figuren zu bilden. Sie protegiert diejenigen Bäume, wie
Zypressen und Orangen, die sich tektonisch auswachsen. Sie
bindet die Blumen zu Mosaikparterres. Sie liebt an der
Wiese nicht das Gras, sondern dessen Rand, der polygone
Formen annehmen kann. Sie bindet Gruppen gleichmäßiger
Pflanzen und Bäume nach den Regeln einer wohlgeordneten
Grundrißzeichnung. Sie frohlockt, daß die Beweglichkeit der
Vegetabilien eine verhältnismäßig so geringe ist, und benutzt
diese Geringfügigkeit, um die Bewegung ganz zu töten.
Es ist die genaueste Parallele zur bildenden Kunstgeschichte.
Das Quattrocento, zum Beispiel Cosimos Villa Careggi, hat
noch den Rest der Gotik: botanische Ordnung. Venedig,
dessen Gärten Sansovino aufzählt, eine Stadt, die die Er^
innerungen der Gotik nicht leicht fallen läßt, liebt die Botanik
länger als Rom, das im Cinquecento den architektonischen
Garten rein herstellt. Bramante im Giardino della Pigna des
Vatikans hat den Wuchs der Pflanze unter die Rhythmik
der Schere oder der Technik befohlen, um sie ohne Störung
in den Plan der großartigen baulichen Anlage aufzunehmen.
Man unterscheidet zwischen courfähigen und proletarischen
Bäumen. Zu den letzteren gehört noch lange Zeit die Eiche,
die in ihrem knorrigen persönlichen Wuchs sich unangenehm
von der Frisiertheit der Orangen und der Eleganz der Pinie
unterschied.
Ligorio, der in seinem Casino del Papa noch die Bramantesche
Methode der konsequenten Rhythmisierung des Baumbestandes
befolgte, gestattete in der oberen Terrasse seiner Villa d’Este
zum erstenmal dem höheren Baum, dem waldartigen Park,
der vor den Toren des eigentlichen Gartens bis dahin hatte
warten müssen, den Eintritt. Es war die erste bewußte
Demokratisierung. Noch freilich wird das Volk der freien
Bäume durch regelmäßige Diagonalwege abgeteilt und die
Wände der Wege werden in Heckenform beschnitten, aber
der Anfang war gemacht. In anderen italienischen Gärten,
vor allem in Frankreich, das Italiens Formen nur erweitert,
nicht verändert, ist es nun möglich, fern vom Palast, hinter
dem Giardinetto, einen wirklichen Giardino mit einer ge^
duldeten, frei wachsenden Gesellschaft von Bäumen anzu^
legen. Die englische Schule, in ihrer Entwicklung durch
Kent, Brown, Repton, läßt auch den Giardinetto fallen und
gibt dem ßaumwuchs eine Freiheit, die sich von der mitteh
alterlichen nur dadurch unterscheidet, daß sie eine bewußte
ist. Die Wiese, die von den Italienern noch in Zypressen^
alleen gerahmt, von Lenotre als festumrissener Tapis vert
benutzt wird, hat ihre Gleichberechtigung erlangt und der
natürliche Rhythmus sich bewegender Tiere und Hirten,
der Farbenwechsel der Weide wird absichtlich in den Park
einbezogen — es ist derselbe Prozeß, der sich heute noch in
Roms Villa Borghese vollzieht — bis schließlich deutsche
Gärtner, wie Pückler und Sckell, dieses landwirtschaftliche
Motiv zu gunsten der reinen Landschaft auch aufgeben.
Eine Reihe künstliclvromantischer Motive, Scherzspiele der
Natur, zu denen Chinas Gärten anregten, vergleichbar der
Dressierung von Tieren, fällt allmählich den Bedürfnissen
nach natürlichen Gestaltungen, die den Garten nicht anders
formen, als wie ihn die Natur in ihrer besten Stunde an der be^
treffenden Stelle selbst geschaffen hätte. Statt der Mauer der
Graben, statt der korporativen Hecken einzelne schöne Baum.'
exemplare, statt der Blumeninschriften die wallenden violetten
Blumenfelder des Kew Garden und seine malerisch verstreuten
Azaleen, die eine botanische Einzelheit zu einer ästhetischen
Reinkultur erheben. Man kehrt zu der unbeschränkten Natur
gotischer Zeiten zurück, nachdem man durch die Renaissance
die Veredelung der Natur und ihre bewußte Anordnung
gelernt hat. Das beetartige Bukett wird ersetzt durch die
lose, langstenglige Orchidee, deren schönste Blüte das Pro'
dukt einer konstruktiven Kultur ist.
Die bewußte Konstruktivität gibt dem modernen Verhältnis
zur Pflanze seinen Charakter. Der Tiergarten wird ausge^
holzt, nicht um seine Bäume Parade bilden zu lassen, sondern
um dem Sonnenlicht freieren Zufluß und dem Heere der
Vögel größere Lockungen zu geben. Dies ist unser Ideal.
Wir stellen das Gewächs unter die fruchtbarsten Bedingungen
der Natur. Dies ist unsere einzige Gartenbaukunst. Und
wenn wir, wie es selbst der moderne englische und auch in
neuester Zeit schon der kontinentale Garten nicht mehr
verpönt, einen kleinen Giardinetto oder eine kleine Pergola
oder einen zyressenumstandenen See nach dem Muster der
Villa Falconieri uns bauen, so tun wir dies doch nur mit
bewußtem Stilgefühl, irgend einem ästhetischen Traume
177
□ □ □ Partie aus dem Garten
der Villa d’Este in Tivoli bei Rom.
zuliebe, so wie wir Renaissanceloggien oder Empirefenster
bauen, um den Duft alter Kulturen uns vorzutäuschen. Wir
lieben die Pflanze nicht mehr, um sie zu töten, sondern um
sie leben zu sehen. Auch ohne botanische Kenntnisse haben
wir unsere Freude an den sich wandelnden Linien der
Schlingpflanzen, an jedem Blümchen, das vor unserem Fenster
seine Tage ausfüllt, an den paar Föhren, die vom Walde
um unsere Villa stehen geblieben sind, an dem weichen
Gras, über das wir laufen wollen wie die Sonntägler von
Hamptincourt, ohne daß uns eine von der Renaissance noch
nicht befreite kontinentale Polizei auf die gerichteten Wege
weist. Wenn wir den tektonischen Genuß der Vegetabilien
ersehnen, ziehen wir die ewig grünen Bäume des Südens
vor und seine trockenen Blumen und Schoten, deren Um
Veränderlichkeit etwas von der Baumäßigkeit der Renaissance
hat, während die entwurzelte Tanne wenige Wochen nach
Weihnachten ihre Nadeln verliert. Wenn wir uns aber den
rhythmischen Genuß der beweglichen Pflanze wünschen,
so halten wir uns an die heimische, an die nordische Flora,
deren Leben das Blühen und Vergehen, deren Musik der
Wechsel der Farbe ist. Auch hierin ist unsere Kultur
eine Fortsetzung der altniederländischen, deren Gartenbau
niemals den botanischen Individualismus aufgegeben hat.
Für die Haarlemer Tulpen sind die japanischen Chrysam
themen eingetreten. Wo einst italienische Taxushecken
ihre Linien zogen, sehen wir jetzt die Gewächshäuser
der englischen Blumenzucht. Wir könnten wie die Japaner
den Druck einer kapriziösen Blume als Neujahrsglückwunsch
versenden.
HECKENROSEN.
I ch träume immer davon, zu verschiedenen Jahreszeiten
schöne Gärten zu besitzen, in denen irgend eine besondere
Blume vorherrschen würde; für den Juni mit seinem
Reichtum an Blumen hätte ich mir jedoch einige ganz
bestimmte Gärten gewünscht. Und obgleich ich nicht die
Mittel besitze, meinen Wunsch, so intensiv er auch ist, ganz
zu erfüllen, kann ich doch auf einen Versuch im kleinen
hinweisen und somit meine diesbezüglichen Ideen äußern,
die dann von anderen, die begüterter sind, verwertet werden
könnten. Denn der Monat Juni erfordert einen Irisgarten,
einen Päoniengarten, einen Garten von frühen Rosen und
von Mohn, außer einem waldartigen Garten von Azaleen
und Rhododendren. Anfang Juni liegt mir der Wunsch, einen
Garten schöner wilder Rosen zu haben, am nächsten.
Ich besitze schon eine 25 Yards lange und sechs Fuß breite
sonnige Anhöhe, die mit Rosen bepflanzt ist, und mancher
wird zweifellos fragen: „Ist das nicht genug?“ Ich kann
nur antworten: „Nein, es ist nicht genug.“ Wenn man ein
Bild zu malen vor hat, dessen Inhalt und Behandlungsart
eine große Leinwand erfordern, kann man sich nicht mit
einer kleinen begnügen. Ich bin wirklich dankbar, daß ich
meine Rosenhecke habe, doch ich bin nicht befriedigt. Denn
da ich jetzt sehe, wie die Rosen zu behandeln sind und wie
reich, üppig und herrlich sie wachsen, wünsche ich sie sorg'
fähig auf meinem eigenen Boden zu ziehen, wo ich sie pflegen,
beobachten und veredeln kann, und sie schließlich so weit
zu bringen, daß sie ein Ganzes bilden, das ich, ohne mich
178
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Potsdam
Schloß Sanssouci.
zu schämen, sehen lassen kann. Und da die Blütezeit der
wilden Rosen eine kurze ist, würde ich sie mit anderen
Pflanzenarten gruppieren, die gleich nach ihnen zur Blüte
gelangen. Eine solche Art sind die Cistineaen. Und dann
würde ich das Ganze mit einem Teppich von gewöhnlichem
englischem Heidekraut bedecken, wobei die wilde Calluna
vorherrschen und die weiße Menziesia sich hie und da weit
ausbreiten sollte. Ein solcher Garten oder vielmehr eine solche
halb wilde Anpflanzung sollte jedoch die Verwendung der
wilden Rosen auch auf andere Weise durchaus nicht aus -
schließen, denn wenn ich über einen wirklichen, vollkommenen,
viele architektonische Details einschließenden Garten zu ver -
fügen hätte, würde ich die zierliche, kleine, liebliche wilde
Rose verwenden, um zu zeigen, wieviel Anmut sie auch
der wohlgeordneten, fein durchgeführten Gartenanlage zu
verleihen vermag. Denn sie ist überall und in jedem Garten
in gleichem Maße zu Hause; sie wirkt ebensogut und ist
ebenso an der die Terrasse eines Palastes umrahmenden
Steinbalustrade zu verwerten als auch auf dem schmalen,
für die Blumen übrig gelassenen Rain, der die von der Land -
straße zum Bauernhaus führenden Fußwege einfaßt.
Mein Rosengarten soll mit Gras bewachsene Pfade haben,
deren Breite und gerade oder gewundene Richtung erst an
Ort und Stelle und im Verhältnis zu der ganzen Umgebung
bestimmt werden könnte. Es ist eine der wenigen Anlagen,
die auf einem so armen, sandigen Boden, wie es der meinige
ist, leicht ausgeführt werden kann, da die Trockenheit sowohl
den Anbau von Cistusröschen als auch von wildem Heide -
kraut begünstigt, das mit den auf dem Heideboden hei -
mischen feinen Kräutern gemischt werden sollte; die Pfade
und die Anpflanzung sollten allmählich und unmerklich inein -
ander übergehen und nicht plötzlich und scharf voneinander
getrennt sein. Die Rosen selbst erfordern eine sorgfältigere
Bearbeitung des Bodens; das bloße Aufgraben ohne Düngen
genügt für das Heidekraut, das Gras und die Cistusröschen;
obwohl aber die wilde englische Abart der Gartenrosen auch
auf sandigem Boden wächst und auf armem Boden zur Not
fortkommen kann, braucht sie doch eine so lange Zeit zu
ihrem Wachstum, daß es anzuraten ist, ihren Standort durch
etwas Lauberde und mäßigen Dünger zu verbessern. Dann
werden die Rosen sich rasch entwickeln, und obwohl sie im
ersten Jahr noch wenig Fortschritte machen, stärken sie sich
während der Zeit im Boden selbst; im zweiten Jahre sehen
sie schon hoffnungsvoll aus und bieten im dritten Jahre einen
schönen Anblick. Zu den Heckenrosen gehören hauptsächlich
die einfachen und gefüllten Gartenabarten der Rosa spinosis-
sima. Es sind alte Gartenpflanzen, und obgleich ich sie immer
gesammelt habe, muß ich doch sagen, daß sich in manchem
schönen, alten, englischen Garten mehr wertvolle Variationen
der Art befinden als diejenigen, die ich mir zu verschaffen
vermochte. Die frühen Rosen, die bei mir in den ersten
Junitagen oder selbst Ende Mai blühen, gehören nur der
einen blaßrosa Abart an. Es ist eine schwächliche, sich ein
wenig schlingende Pflanze, die sich oft kaum vom Boden
erhebt; die volle Blüte ist aber von einer reizvollen, zarten
Anmut. Dann folgt die Burnet-Rose, die in großen Büschen
wächst und eine Menge gelblich-weißer, einfacher Blüten hat.
Darauf gelangt die halbgefüllte rosa Sorte zur Blüte. Ich
habe viele verschiedene Abarten davon gehabt, die sich von -
einander ein wenig der Form und hauptsächlich der Farbe
nach unterschieden. Eine oder zwei wurden entfernt, da
sie weniger schön in der Farbe waren und ich behielt
nur eine Art, die mir am besten gefiel. Sie besitzt kräftige,
schöne karminrote Blüten; die Farbe der halbgeöffneten
Blumen ist am schönsten, in diesem Stadium sehen sie auch
voller aus, als sie in der Tat sind, denn sie weisen nur drei
Reihen Blütenblätter auf. Wenn die Blume sich entfaltet
und das volle Büschel gelber Staubfäden sowie den weißen
Ansatz der Blätter sehen läßt, wird sie blasser und geht
schließlich in ein rötliches Weiß über.
Die nächste Heckenrose, die zur Blüte gelangt, ist gefüllt und
rosafarben und strömt einen starken, süßen, lieblichen Duft
aus, den vollendeten Rosenduft, das reinste Rosenöl. Vielleicht
ist es diese Süßigkeit des Duftes, die die Heckenrose zu
meinem Liebling macht, oder es mag auch die Kombination
dieser herrlichen Eigenschaft mit der Vollkommenheit der
Form sein. Wie dem auch sei, jedenfalls scheint diese kleine
Blüte mich in die Zeit vergangener Generationen zurück-
179
zu versetzen und mich auf die anmutigste Weise mit den
damaligen Blumenliebhabern in Verbindung zu bringen, denn
sie erweckt in mir mit dem lieblichen rosigen Kelch ihrer
zarten, halboffenen Blüten und dem süßen Duft das volle
Gefühl der tief wurzelnden Liebe der Engländer für ßlumem
Schönheit und der reinen Freude an ihren Gärten.
Die nächste Rose der Art, die am kräftigsten erscheint und
bald darauf zur Blüte gelangt, ist die gefüllte weiße. In
ihrem Wachstum erinnert sie am meisten an ihre Vorfahren,
die wilden Burnet-'Rosen, die dichte Büsche bilden und eine
Fülle hübsch geformter Blüten tragen. Dann folgt die gefüllte
gelbe Rose, die am langsamsten und schwächsten wächst,
aber große, lose Blüten von einem sehr zarten und schönen
blassen Gelb besitzt. Ich halte sie für eine von den gelben
österreichischen Rosen abstammende Hybridenart. Die eim
fache und gefüllte Abart der österreichischen Heckenrose
befindet sich in einer Gruppe mit ihrer wundervoll gefärbten
Verwandten, der österreichischen kupferroten Rose; sie starm
men jedoch aus dem Orient und es ist am besten, sie vor eine
schützende Mauer zu pflanzen. Bei der österreichischen kupfer--
roten Rose bildet das lebhafte Scharlachrot auf der Innern
Seite des Blütenblattes eine dünne Schicht über gelbem Grunde.
Der Maler müßte genau dasselbe Mittel anwenden, um einen
ebenso wirkungsvollen roten Ton zu erreichen. Ich bemerke,
daß Kapuzinerkresse auf dieselbe Weise getönt ist, bei den
Rosen ist die Farbenschicht jedoch noch zarter aufgelegt;
denn man kann bei dem Rosenblatt die rote Oberfläche
herunterschälen und den gelben Untergrund zeigen, was bei
der Kapuzinerkresse nicht geschehen kann. Das Gewebe des
Blütenblattes ist hier nicht so dicht und die zarteste Berührung
mit einer feinen Nadel hebt das dünne Häutchen ab und
läßt eine nasse, farblose Wunde zurück. Die obere Färbern
Schicht scheint leicht aufgetragen zu sein, und wenn man
eine nicht zu dunkle orangefarbige Blume betrachtet, kann
man an den unteren Blättern, wo der Farbenton gegen den
ausgefransten Rand zu heller wird, sehen, wie die leuchtende
Oberfläche nach und nach abnimmt und wie der gelbe Unter -
grund hie und da dort hervortritt, wo die obere Schicht der
Blume irgend eine so leichte Abschürfung erlitten hat, wie
sie mit der Hand gar nicht hervorgebracht werden kann, so
zum Beispiel durch die gegenseitige Berührung der Blüten -
blätter beim Wind. Bei den schottischen Rosen habe ich einen
Busch der Rosa altaica stehen, die von der Burnet-Rose kaum
zu unterscheiden ist, nur sind die blassen, gelblich-weißen
Blüten etwas größer, die Blätter um einen Ton bläulicher
und das ganze Wachstum kräftiger.
Auch die Hybridenart der immerblühenden Stanwellrose befin -
det sich hier. Sie verdient die Bezeichnung „immer blühend“
eher als jede andere Rose, die ich kenne, denn sie trägt außer der
herrlichen Blütenpracht Anfang Juni auch während des ganzen
Sommers stets eine Fülle wohlriechender, blaßrosa Blüten.
Die Blätter der Rosa rugosa machen sie zur Gruppierung
mit den Heckenrosen geeignet. Ich liebe nicht die Färbung
der Art rugosa und ich ziehe deshalb nur die lichtrosa und
weißen. Sie befinden sich auf dem Gipfel der Anhöhe und
neben ihnen steht jetzt ein großer, sieben Fuß hoher Busch
der schön und lange blühenden Hybridenart, Madame Georges
Bruant. Sehr lieblich ist auch die neuere gefüllte Art der
weißen Blanche de Coubert. Das ist das reinste und kühlste
Weiß, das ich bei Rosen kenne, und man ist es so gar nicht
gewohnt, eine Rose mit deutlich blauen Schattierungen zu
sehen, daß ihr erster Anblick draußen, als sie in Blüte stand,
mich angenehm überraschte, da ich den Eindruck erhielt, das sei
bei einer Rose etwas ganz Neues. Auch die gewöhnliche Dünen -
rose und die schönen Penzance-Hybriden würden in dem von mir
erträumten Rosengarten Platz finden: es müßte sich im Hinter -
grund ein ganzes Dickicht davon befinden, das nach Herzenslust
wuchert und sich an Dornen und Stechpalmen emporrankt.
Die schottischen Heckenrosen haben als Gartenpflanzen das
wohl kaum bei irgend einer anderen Rosenart zu findende
Verdienst, das ganze Jahr über in irgend einerWeise schön
zu sein; im Herbst tragen die Abarten der Burnet-Rose große
schwarze, schöne Früchte, die sich sehr gut ausnehmen, und
das Laub erhält eine reiche, satte, rauchige, bronzerote Färbung
und im Winter haben die dichten, buschigen Massen eine
angenehme warme Tönung.
Wenn ich zum Anbau des gewöhnlichen Heidekrauts für
den Heckenrosengarten riet, geschah es nicht, weil ich an
die Blüte dachte, die erst im August zu erwarten ist, sondern
mit Rücksicht auf die ruhige Färbung der Blätter, die während
der Blüte der Rosen graugrün ist und später dunkel rost -
farben wird; die Veränderung in den Farbentönen entspricht
derjenigen der kleinen Rosenbüsche. Diese Nachbarpflanzen
ahmen einander in keiner Weise nach und wetteifern auch
nicht in bezug auf die Farbe, sondern beide schreiten mit
den Jahreszeiten in einer solchen Folgerichtigkeit von ruhigen
Harmonien fort, daß jede davon in allen Stadien des Wachs -
tums durch die Nähe der andern gewinnt.
180
Alt-Wiener Gärten.
WIENER GÄRTEN.
D ie meisten alten Residenzstädte, Wien ist unter diesen,
besitzen ein dreifältiges Gartenwesen: die barocken
Gartenschöpfungen des XVIII. Jahrhunderts, ursprüng -
lich zum Sommerpalast eines Fürsten gehörig und manche der
Öffentlichkeit übergeben; die alte volkstümliche Gartenkultur
im ländlichen Umkreis der Stadt; und die neuen städtischen
Park- und Gartenanlagen.
Die erste Art, jene alten barocken Gartenschöpfungen, gehören
in gesundheitlicher und gartenkünstlerischer Beziehung zu
den wertvollsten Gütern einer Stadt, deren Physiognomie sie
wesentlich mitbestimmen. Sie überliefern einen Schatz vor -
bildlicher gartenarchitektonischer Grundsätze hinsichtlich Aus -
nützung der Terrainverhältnisse, der Anlage der Beete, Trep -
pen, Wege und der geschnittenen Laubwände, die geradlinig auf
einen zentralen Punkt zulaufen, darin sich eine schöne Statue,
ein Brunnen, eine Gartenplastik, wie von einem Hain um -
schlossen, erhebt. Sie sind Gartenkunst.
Sie sind mit den Wiener Palästen in der ersten Hälfte des
XVIII. Jahrhunderts entstanden und von daher mit den Namen
des künstlerischen Dreigestirns Fischer v. Erlach, Lukas v.
Hildebrand, Martinelli verbunden. Das Beispiel Ludwigs XIV.
weckte den Ehrgeiz, der gesicherte Frieden nach abgewendeter
Türkennot gab die Möglichkeit äußerer Prunkentfaltung.
Die Ruhmsucht, die keine Gelegenheit mehr fand, in
kriegerischen Taten zu glänzen, überbot sich nun im Glanz
der Repräsentation. Die räumliche Rücksicht innerhalb der
Stadtbefestigung setzte der Großzügigkeit architektonischer
Monumentalanlagen enge Grenzen und verwies auf die offene
Landschaft in der Umgebung. Da kein Feind zu fürchten
war, wurden die Jagdschlösser zu Sommerresidenzen erweitert
oder neue Schlösser erbaut, monumental in der Anlage und
als Sommerpalais, maison de plaisance, während der guten
Jahreszeit benützt. Die Winterpalais befanden sich in der
Stadt. In der offenen Landschaft unbeengt, entstanden mit
den Sommerpalais die großen Gartenschöpfungen, nicht als
organische Entwicklung der Stadt, sondern als Anhängsel,
einstmals ziemlich fernab gelegen, heute vom Häusermeer
der Großstadt allseits wie von einem festen Ring umschlossen,
Belvederegarten, Schwarzenberg-Garten, Augarten und zum
Teil der Park zu Schönbrunn, von anderen herrlichen
Gartenschöpfungen, die untergegangen sind, nicht zu reden.
Die genannten Gärten mit Ausnahme des Augartens, der
(Nach Stichen von Sal. Kleiner.)
eben und tiet gelegen ist, stellen glückliche gartenarchi -
tektonische Lösungen des aufsteigenden Terrains dar. Hier
hätte der heutige Gartenkünstler viel Gelegenheit, Wir -
kungen zu studieren. Das Lustschloß von Schönbrunn, ehe -
mals Jagdschloß und von J. B. Fischer v. Erlach zur Sommer -
residenz erweitert, mit großem Blumenparterre, Bassins»
Springbrunnen und mit dem Gloriette auf der Anhöhe als
krönenden Abschluß der Perspektive ist ein genialer Wurf,
was die Ausnützung des schwierigen, ansteigenden Terrains
zu Gunsten künstlerischer Wirkungen betrifft. Le Blond,
ein Schüler Le Nötres, des berühmten Gartenarchitekten
Ludwigs XIV., hat die Gartenanlage geschaffen. Indessen, es
zwingt uns nichts, Namentafeln aufzurichten. Der Stil war Ge -
meingut der Zeit und wurde mit gleicher Geschicklichkeit und
gleichem Raumverständnis von allen Künstlern behandelt.
Im Belvedere und Schwarzenberg-Garten liegen auf kleinerem
Gebiete ganz ähnliche Verhältnisse vor. Schloß und Garten,
in beiden Lagern von Fischer v. Erlach entworfen, sind als
raumkünstlerische Einheiten entzückend. Sie zeigen ein feines
Widerspiel: im Belvedere steht das Schloß auf der Höhe
und der Garten fällt in Terrassen ab; im benachbarten
Schwarzenberg-Garten ist es umgekehrt der Fall. Aber immer
ist die Lösung vollendet. Nach dem heutigen Zustande ahnen
wir kaum, was es war. Man muß die alten Bilder und Stiche
zu Rate ziehen, um das Wunder zu kennen. In steingemauerten
Kaskaden, von plastischen Gruppen und Wasserkünsten be -
lebt, hob sich Terrasse über Terrasse, von Strahlenbogen der
Fontänen überschnitten, in geschlossenen Wandflächen setzten
sich in der Perspektive die dicht verwachsenen, geschorenen
Laubwände fort, überragt von den höheren regelmäßig ge -
schnittenen Kronen, Würfel schob sich an Würfel, Freitreppen
stiegen links und rechts empor zu höheren Bassins und
abschließenden Kaskaden und Wasserwerken. Nischen in
den Laubwänden beherbergten Gartenplastiken, den ganzen
mythologischen Götterhimmel, das Blumenparterre vor dem
Schloß bot in komplizierten Arabesken eine Fülle seltener
und erlesener Blütenpracht, kegelförmig gestutzte Bäume
bilden eine grüne Architektur und lange Kübelreihen von
kugelförmig geschnittenen Orangenbäumen führten archi -
tektonische Leitlinien durch die verwirrende Zeichnung des
Blumenparterres. Eine Orangerie gehörte zu den Requisiten
der fürstlichen Hofhaltungen.
Was wir heute davon sehen, ist ein Schatten des einstigen
Zustandes. Die Kostspieligkeit der Instandhaltung, der ver-
I8l
Alt-Wiener Gärten.
änderte Zeitgeschmack, die romantische Naturschwärmerei
zu Anfang des XIX. Jahrhunderts, die nach angeblich englischem
Muster das Wildwachsen der Bäume und Sträucher be^
günstigte, sind die Ursache des Verfalls. Die Schere hörte
auf, ihren Dienst zu tun; im Schwarzenberg'Garten ist ein
Teil „Naturpark“ en miniature geworden. Damit hat die
Anlage ihren Sinn verloren. Er ist eine schöne Gartenruine.
Das Bestehende, der Belvederegarten ist glücklicher daran,
ist lehrreich genug. Die^Gartenkunst, in der heutigen Praxis
nur dem Namen nach bekannt, findet hier nichts unmittelbar
zu kopieren, denn sie hat den veränderten Zeitverhältnissen
Rechnung zu tragen, aber sie findet hier künstlerische Ge^
setze und Wirkungen, die nicht veraltern. Sie findet hier das
Beispiel, auch im kleinen Raum groß zu wirken — nur bei
strenger architektonischer Anlage möglich — sie findet hier
eine Gartenarchitektur aus Stein, aus Lattenwerk und aus
grünen von der Schere gebändigten Laubwänden, sie findet
eine Brunnenkunst, die den Wasserstrahl wieder zum künst -
lerischen Hauptmittel der plastischen Idee erhebt, sie findet
eine Gartenplastik, die in guter räumlicher Beziehung aufi
gestellt ist, sie findet zum Teil den Rasen als große env
heitliche Fläche architektonisch verwendet und schließlich
findet sie die künstlerische Bewältigung des unebenen Terrains.
Was sie nicht findet, ist die Verwendung der Blume und
ihrer Farbe zu großen architektonisch wirkenden Flächen
oder die Blume als Einzelwirkung, eine Aufgabe, dem
heutigen Künstler Vorbehalten.
Die zweite Art bodenständiger Gartenkultur liegt an der
Peripherie, in den ländlichen Vororten, zum Teil verkümmert
und verdorben, zum Teil noch gut erhalten, in Einzelheiten
wenigstens. Auch diese ist, wenn auch unbewußt, einem
künstlerischen Gesetz gefolgt.
Als grüner Gürtel mit einem ungeheuren Komplex an Wald,
Feld und Gartengrund liegen sie um die Stadt und geben
derselben eine besondere Schönheit nicht nur als Naturkranz,
sondern als Hüter und Bewahrer der älteren heimatlichen
Baukunst. Diese halbländlichen Vororte enthalten jene feinen
Beispiele alter Gartenkunst, die auf einen beschränkten Raum
im Hause angewiesen ist; sie überliefern beachtenswerte
Lösungen heimischer Vorgärten und Hausgärten.
Mit den kleinen Vorgärten sehen die Bauern^ und Winzer^
häuser aus wie schmucke Landmädchen, mit einem Blumen--
Strauß vor die Brust gesteckt. Ein hölzerner Zaun geht vor
der niedrigen Fensterreihe hin und läßt einen schmalen Fuß'
(Nach Stichen von Sal. Kleiner.)
weg zwischen den ebenfalls schmalen Beeten an Hauswand
und Zaun frei, nicht mehr. Das ganze Vorgärtchen ist ans
Haus gedrückt. Aber der schmale Streifen birgt eine üppige
Blumenwildnis. Buchs dient gewöhnlich zur Einfassung der
Beete, am Zaun steht blühender Phlox in dichten Ständen,
die Kapuzinerkresse, die Ringelblume, Pelargonien, Lobelien
und Betunien liefern die lebendigen Farben an der Haus'
mauer und in den Beeten, wo die Rosenbäume blühen. Ahorn,
von der Schere gebändigt, bildet eine grüne Architektur als
Hecke und Torbogen über der Zauntür. Auch eine Laube
kann man gelegentlich vor dem Hause finden, und wenn
nicht hier, dann sicherlich hinter dem Hause in dem eigent'
liehen Hausgarten, eine gemütliche Laube, von Wein, Geiß'
blatt oder Kletterrosen überwachsen, ebenso wie den Lauben'
gang oder die Pergola als Spender des Schattens. Im übrigen
ist es ein Blumengarten wie vorne am Hause, mit recht'
eckigen Beeten und bunten Glaskugeln, die ein leuchtendes
Farbenspiel in die Blumenpracht setzen. Die heimatliche
Flora liefert den Bestand an Bauernblumen. Einen gewissen
Gegensatz zu den vornehmen höfischen Gartenschöpfungen
des Barock und zu den volkstümlichen, in ihrer Art nicht
weniger vortrefflich gelösten alten Hausgärten, den so'
genannten Biedermeiergärten, bildet die dritte Art, die neuen
„städtischen Parks“ und „Gartenanlagen“.
Die Schablone ist überall dieselbe. Eine Verquickung fram
zösischer und englischer Gartenbaugrundsätze, die nicht zu
glücklichen Ergebnissen geführt hat. Von armseligen Draht'
gittern eingehegt, stellt ein Rasenfleck die Wiese, eine un -
ruhige, stockige Zusammenstellung von Büschen gleichsam
den Wald vor. Französische Teppichbeete und krumme Wege,
die gänzlich aus der Richtung führen, charakterisieren die
Planlosigkeit der Anlagen, die infolgedessen meistens um
gemütlich erscheinen. Es ist sehr zu beklagen, daß in dieser
dritten Kategorie von Gartenanlagen nicht die bodenständige
Tradition sorgfältiger berücksichtigt worden ist, damit sich
das Neue dem Alten würdiger anschließe. Bei öffentlichen
Anlagen, bei denen es sich oftmals nur um die gärtnerische
Ausbildung eines kleinen Fleckes Erde inmitten des Straßen'
gewirres handelt, wäre die Beachtung des alten Beispieles
besonders vorteilhaft, denn es lehrt, daß eine Gartenanlage
um so strenger architektonisch durchgeführt werden muß, je
kleiner sie ist. Die alten ländlichen Hausgärten und die
großen fürstlichen Barockgärten mit den geschnittenen Laub'
wänden geben ein schönes Vorbild. Der kleinste Fleck mag
182
Alt'Wiener Gärten.
groß erscheinen, eine grüne Einsamkeit bilden, die irgend
ein Kunstwerk wie ein Juwel umfaßt und mitten im Groß'
stadtlärm das Gefühl der Entrücktheit gewähren kann. Aber
wo ist in unseren öffentlichen Gärten die Laubwand oder
die geschnittene Hecke zu finden, wo das heimatliche Garten'
motiv, die gemütliche Laube?
Das Mißverständnis des englischen Gartens war im XIX. Jahr'
hundert herrschend geworden. Die öffentlichen Stadtgärten,
ob groß, ob klein, die bürgerlichen Hausgärten im winzigsten
Ausmaß verraten den Ehrgeiz, einen Hydepark im kleinen
darzustellen. Gewundene Wege werden im ebenen Felde
eingezeichnet, unregelmäßige Teiche künstlich angelegt, in
weiten oder engen Rasenflächen malerische Baumgruppen
gezogen und darunter — welch ein Geschmack! — blühende
Solitärpflanzen gestellt. Die Stadtparks bieten in allen Städten
das annähernd gleiche Bild.
Der Wiener Stadtpark, zwischen Parkring und Wienflußbett
gelegen, ist nach dem Fall der Stadtmauern auf einem Teil
des ehemaligen Glacis entstanden. Sein Beispiel ist für die
übrigen Wiener Stadtanlagen bestimmend gewesen, vor allem
für den Rathauspark und die Anlagen am Schillerplatz, die
geradezu dadurch auf fallen, daß sie jede architektonische
Beziehung zu den umliegenden Bauwerken verschmähen
und um jeden Preis freie Landschaft sein wollen.
Der Garten, vom natürlichen Wachstum abhängig, ist natur'
gemäß an eine langsame Entwicklung gebunden. Ein Haus
wird in einem halben Jahr bis zu einem, in seltenen Fällen
in höchstens zwei Jahren vollendet. Ein Garten, um sich zu
vollenden, braucht die zwanzigfache Zeit. Schon diese Rück'
sicht muß ihn kostbar erscheinen lassen. Und doch wird
nichts so leicht der Spekulation oder irgend einem banalen
Zweck geopfert wie das unersetzliche Gut eines Gartens.
Eine alberne Ausrede auf ein eingebildetes Verkehrsbedürfnis
und schöne Bäume, die Menschenalter zu ihrer Entwicklung
gebraucht haben, werden unbedenklich gefällt. Es ist wie
ein Mord. Die Stadt braucht Vegetation. Die Bevölkerung
hat ein Recht darauf. Und doch geschehen solche Verbrechen
am lichten Tage, ohne daß sich eine Hand erhebt.
Die Familienmoral der alten Geschlechter hat die Gärten mit
großem Aufwand gepflegt für die Nachkommen. Nun haben
die Geschlechter ihre historische Mission erfüllt. Das demo'
kratische Zeitalter, egoistisch und kurzsichtig, will rasch leben
und rasch verzehren, als käme nach ihm die Sündflut. Aber
an Stelle der weitsichtigen Familienmoral abgedankter Ge'
(Nach Stichen von Sal. Kleiner.)
schlechter ist die noch weiter ausschauende Moral der
Interessengemeinschaft des Volkes getreten, die ein starkes
Anliegen an der Gartenpflege im großen Stil haben muß.
Mit Gemeindemitteln ist diese Kulturangelegenheit heute
noch rationeller zu betreiben, als es früher dem einzelnen
Fürsten möglich war. Wie kommt es nun, daß die alten
Schöpfungen den heutigen unendlich überlegen sind? Der
Fürst der damaligen Zeit war ein Herr, der wußte, was er
wollte. Er hatte Kultur. Die heutigen unpersönlichen Kom'
missionen, Ausschüsse, Baubeamten, Inspektoren haben keine
Kultur. Und der Künstler, der den Kulturträger bilden sollte,
steht abseits.
Ein Bild Canalettos, der Schloßhof von Schönbrunn, Mitte
des XVIII. Jahrhunderts gemalt, ist in dieser Beziehung um
gemein lehrreich. Der weite Schloßhof, monumental zwar, aber
als Schauvorbereitung gegen die Pracht des Hauptschlosses und
des dahinterliegenden Gartens gebührlich zurückhaltend, ist
von buntem Leben erfüllt; courbettierende Reiter, vielspännige
Galawagen, Läufer, Edelleute zu Pferd und Fuß, Diener'
schäften, Bürger, alles vereint. Das eine ist bedeutsam:
Architektur, Garten, Interieurs, die Menschen mit ihren
Kostümen, die Wagen, alle Requisiten bilden eine voll'
kommene künstlerische Einheit.
Man vergegenwärtige sich das Heutige: das Rathaus ist gotisch,
das Parlament griechisch, die neue Gartenanlage im Geiste
Rousseaus freie Landschaft, romantisch unberührt; und die
Menschen? Ihrem Schneider zu Dank scheinen sie Kinder
der Gegenwart. Wann werden sie dafür sorgen, daß ihr Salon
zu ihrem Salonanzug paßt, ihre äußere Umgebung, das Haus,
die Stadt, die Gärten mit ihren Kleidern in Übereinstimmung
ist? Die historisch überlieferte Kunst, wenn sie echt ist, soll
unberührt gehütet bleiben; sie enthält das zu wenig beachtete
Gesetz, daß das Neue seiner Bestimmung gemäß sei. Alte
Kunst lehrt nicht Nachahmen, sondern Anwenden.
Die Frage ist also, wann wird der einzelne wieder Kultur
bekommen? Wenn alle einzelnen wieder Kultur haben,
dann wird sie auch wieder die Allgemeinheit haben, die
Gemeinde. Und dann erst werden die Dinge und auch die
Gärten wieder gut geraten.
Es wäre unbillig zu vergessen, daß im einzelnen wieder die
architektonische Wirkung bei Gartenanlagen, die mehr oder
weniger geschickte Verwendung des Blumenbeetes beobachtet
wird und daß in dem Annex zum Stadtpark, die Wienufer
entlang, der Rasen als Architekturelement hervortritt.
183
Alt'Wiener Gärten.
(Nach Stichen von Sal. Kleiner.)
DER FARBEN GARTEN« *
PROFESSOR JOSEF M. OLBRICH.
W ir stehen inmitten einer vollbrachten Tat! Heute,
nach emsiger, harter Arbeit, will ich in Worten
die große Reihe schöner, reiner Empfindungen
festhalten, die während des Aufbaues von Anfang bis zu
Ende lebendig waren, die Leute stärker, das gestrige Schwächere
besser machten und in ihrer Gesamtsumme eine höhere
Einheit zur Wirklichkeit werden ließen.
Eine GartenbaU'Ausstellung! Eine Gartenkunst'Ausstellung
im Orangeriegarten! — Welcher Künstler könnte sich der
eindringlichen Wirkung solcher Vorsätze, solcher Aufgaben
und Begriffe entziehen? War es nicht vorauszusehen, daß
nur Gutes und Bestes entstehen dürfte in dem Rahmen, der
uns zugewiesen wurde, in welchem wir alle unsere Gedanken
und Empfindungen einschließen sollten?
Wer diese Schönheit unter den Gärten kannte, wer be'
wundernd die großen, ruhigen Verhältnisse seiner Terrassen,
seiner Baumgruppen erschaute, wer inmitten dieser Schöm
heit die Frische eines sonnigen Morgens, die klare Mittags'
Stimmung, den goldenen, ruhigen Frieden der Abenddäm'
merung zu einem inneren Erlebnisse gestalten konnte, dem
erschien dieses Kunstwerk heilig; bewundernswert der
große starke Geist, der die Natur führte, Kunst zu voll'
bringen.
Und in diese mir bewußte Schönheit plante man eine Schau'
Stellung über gegenwärtige Arbeit, über gegenwärtige Garten'
kunst. Was Wunder, wenn es mich drängte, aus freien
Stücken zu versuchen, eine solche Bestrebung unserer Zeit
in den herrlichen alten Rahmen einzufügen, um beide vereint
zu einer neuen eigenartigen Schönheit zu gestalten. Un'
willkürlich dachte ich bei diesem Beginnen an die Harmonien
eines Saales, wo Kunstwerke aller Zeiten zusammengestellt
waren, eines das andere auszeichnend; mich erinnernd, er'
schaute ich Bilder aus dem Innern gotischer Dome, wie dort
eine selbstbewußte starke Zeit Barockaltäre in die senkrechte
Pracht einbaute, nicht diese verderbend, sondern den Sinn
des heiligen Raumes erfassend, diesen noch reizvoller aus'
bildete. Und so begründet, gab ich dem Drängen nach, galt
es doch, zu Schönem — Schönes, zu dem bewunderten
Großen — Entsprechendes zu ersinnen.
* Siehe Bücher, die man lesen soll, Seite 202.
Mit vieler Freude erbaute ich mir in weichem Ton das große
Wunder, das draußen in Schnee und Eis des Frühlings harrte. Von
neuem konnte ich dabei den großen Sinn der Verhältnisse, die
Abmessungen von Weg und Wiese, von Treppen und Brunnen
recht innig erfassen. Und dann, für mich zur lohnendsten Freude,
dachte ich mir das Neue in den tönernen plastischen Garten, der
vor mir lag, das Neue, das dem gewollten Plan entsprechen sollte.
Als erstes Element der zukünftigen großen Einheit empfand
ich die Blume. Klein und unscheinbar zwar zu dem großen
weiten Rahmen, doch mächtig und bestimmend in Ver'
einigung mit Gleichem. So ward mir das Beet als zweites
Element gegeben. Mit diesem empfand ich weiter die Wir'
kung von Farbe, den Eindruck von Höhe und Breite. Neben
der Blume sah ich die Staude, den Strauch, den Baum;
neben Blüten buntgefärbte Blätter. Alles künstlerische Ein'
heiten für den zukünftigen Plan! Der Zweck bestimmte nun
das Weitere — des Gärtners Arbeit und Mühe — Wissen
und Fleiß sollte in blühenden Blumen erkannt, des einen
Kunst, des andern Erfahrung Gemeingut werden. Nun kam
das Fassen aller dieser Einzelheiten, dieser Elemente und
Zweckforderungen. — Groß und gewichtig kam vom alten
Rahmen her das strenge Gesetz der Schönheit in dieser Ar'
beit und ohne Zwang verdichtete sich das Kleine zum Großen,
das Große zu Größerem, bis Gleichgewicht herrschte zwischen
den Massen des alten Gartens und des neuen Willens. Nichts
wäre zu erreichen gewesen, wenn ohne Rücksicht auf Nach'
barschaft und weitere Umgebung ein jeder ausstellende Teil
nach Zweckerfolg gerungen hätte und damit nur ein trau'
riges Bild übereifrigen Handelns, börsenmäßigen Gebarens
an Stelle ruhiger Einheit getreten wäre.
In dieser Sehnsucht nach Einheit zog ich die ersten Linien
des Neuen in das Modell des Gartenwunders. Dem hohen
grünen Baumwall, darüber Wolken ziehen, gab ich zu Füßen
die Reize der Blumen — ein weites, großes, in seiner Gesamt'
Wirkung den Baummassen ebenbürtiges Feld.
In diesen Flächen bestimmten die Forderungen des Zweck'
dienlichen und des Gartentechnischen die Weg' und Beet'
abmessungen. In diesen Beeten erblühten nun die Blumen
zu farbigen Einheiten, die wieder im Zusammenhänge mit
nachbarlichen Farbeneinheiten geschlossene, harmonische
Werte erstehen ließen. Bis an die alten Baumalleen dehnten
sich nun diese so aufgebauten Harmonien und wie ein ein'
ziges fröhliches Blütenfest sollte das Werk dem Schauenden
entgegenleuchten, als ein Werk einiger Gesinnung.
Alt'Wiener Gärten. (Nach Stichen von Sal. Kleiner.)
So dachte ich mir alles am Tonmodel und so steht es nun
draußen in Wirklichkeit und froher Sonne. Der Glaube an
solche Einheit folgte mir nach, über die Treppe bis an die
alten Lindenstände. Auch hier trat zu dem Einheitsglauben
die hohe Ehrfurcht vor dem alten Gartenbilde, die weiteres
Erschaffen stark bestimmte. Die große breitlagernde Hori'
zontale, sie durfte nicht gestört, der ebenmäßige Sinn des
großen Bildes im Anschauen nicht verwirrt werden.
Gärten mit hohen Mauern mußten so weit versinken, daß
deren oberste Begrenzung noch freien Überblick gewähren
konnte. Meiner großen Vorliebe für mauerumschlossene
Gärten durfte ich dadurch Verwirklichung geben ämd eine
Ausführung derselben wagen, ohne das Heiligtum des Alten
zu zerbrechen.
Auf meinen weiten Reisen zählten zu der Reihe selten schöner
Stunden auch jene, in welchen ich ein lebendiges, warmes
Verhältnis zu Blumen, Bäumen und stillen Gärten fand, ein
Verhältnis, das um so genußreicher für mich wurde, je
eigenartiger der Zauber in solchen kleinen blumigen Welten
lebte. Die Reihe solcher war unbegrenzt und ohnegleichen.
Stets waren es besondere Eigenschaften, die solche Mannig -
faltigkeit begründeten, stets war es aber auch die nächste
eigenartige Umgebung, die solche Gartenkunst zu über -
wältigender Einheit emporhob. Was konnte nun zu dem
tiefen Frieden, der in den alten Lindenbäumen dieses alten
Gartens webte, besser passen als der blumige Frieden mauer -
umschlossener Gärten, was konnte der Stille, die über den
Wiesen dieses Stückes Erde lag, besser entsprechen als die
Ruhe plätschernder Wässer im tiefen Gartengrund. Mein
eigenes Empfinden erstarkte an den vorhandenen Harmonien,
das Neue, Junge wuchs im Zauber der alten Schönheit deutlich
empor. So friedete ich den Frieden, so schloß ich eine eigene
kleine Welt mit Mauern ein. Das Auge Erfreuendste, die
Farbe der Blüten, diente dabei der ruhigen Schönheit und
Harmonien in gleichen Tönen erstanden aus solchem Dienen.
Das Blaue erblühte neben dem Blauen, das Rote neben dem
Roten, zu goldenen Tönen gesellten sich gelbe. Zu dem
Frieden trat nun die Größe — von blauen Meeren, von
blauen Fernen nahm ich die Farbe und weckte sie mit
Blüten wieder. Verglühen der Sonne, purpurne Wolken er -
glänzten aus rotem Gewächs, goldenes Licht entsproß dann
gelber Blumenpracht. In der Einheit lag die Steigerung.
Wie von selbst bestimmte sich weiter das Ausmaß der
architektonischen Gebilde, die der Sinn und der Zweck in
diese Gärten legte. Das strohgelb gedeckte Sommerhaus mit
goldenen Säulen neigte sich weit vor die graue Mauer, mitten
hinein unter goldgelbe Sonnenballen, große Sandsteinvasen
mit hellen Kampanilen flankierten den Stufenabgang, Per -
golen, mit gelbem Hopfen überwuchert, zierten den obersten
Mauerrand. Im tiefen roten Rosengrund lag, sonne- und
wolkenspiegelnd, klares Wasser, zwischen blauer Blütenpracht
ruhte der massive Brunnenstein, daraus kunstvolle Eisenzier
zu schimmernder Kuppel sich formte. Farbiges Relief legte
sich weich in die dichtblühenden Copeenwände, Steinbilder
standen zwischen zierlichen Klematisranken. Weich löste sich
die Mauermasse an seiner Krone, dort, wo das Licht der
Himmelswölbung gleißend aufruhte, in ein zartes Blätter-
und Blütenspiel. Solchen Empfindungen, solchen Bildern
folgte ich vertrauensvoll bei der erschaffenden Arbeit. Die
Frucht derselben liegt nun draußen vor Ihnen. Wenn Sie
dann, das frohe Fest der Blüten verlassend, vom unteren
Parterre die breite Treppe hinansteigen, so wird Ihnen vor -
erst ein Bild ruhiger Haltung entgegentreten — das frische
Grün der Wiesen, das dunkle Grün der copeenumrankten
Mauerkronen und die Herbstfarbe der alten Bäume, alles
verbindet sich zu einem stimmungsvollen Eindruck. Sie
werden bald den notwendigen Kontrast empfinden, der nach
dem farbigen Blütenfeste, das nun zu Ihren Füßen liegend
gegen Norden sich dehnt, eintreten mußte, um völlig für
das Genießen einfarbiger Schönheit vorbereitet zu werden.
Inmitten der lichten und dunklen, wagrecht und senkrecht
grünen Flächen erschauen Sie das Bild eines blätterreichen,
blütenlosen Farbengartens. Die Wiese, Lindenbäume, kürbis -
gedeckte Lauben, geschnittener Rotdorn, plätschernde Brunnen
sind die einfachsten Elemente, die ihn errichten.
In dieser grünen Basis ruhen nun die blau-, rot- und gelb -
blühenden Gärten. Gleich feingeschliffenen Juwelen sind sie
auf samtenem, smaragdfarbigem Grund gefaßt. Vor den Zinnen
der Mauer sowie im Gartengrund erschauen Sie wechselnde
Bilder, und wer es vermag, zu all den friedlichen Wesen
und Naturwundern einen innigen Zusammenhang zu finden,
dem werden dann neue Erlebnisse geschenkt. Empfindung
wird dann ausgelöst und Schauen und Leben wird reicher,
begnadeter.
Sie vernahmen bis jetzt Gedanken aus der Welt des schaffenden
Künstlers, Gedanken und Bilder, die selbstredend immer
höher stehen werden als die Früchte rastloser Arbeit, die
mit Wind und Wetter, mit Glück und Unglück zu rechnen
185
Entwürfe vom Gartenarchitekten Franz Lebisch (von Seite 186 bis 191).
haben. Was Ihnen zwischen grünen Mauern aus der Tiefe
entgegenblüht, ist ein Wille, der weiter gebaut werden will,
weitergebaut durch gärtnerische Intelligenz, durch Zeit und
reiches Wissen! Ein gesunder frischer Gedanke, noch
so unscheinbar bei seiner Schöpfung, entwickelt sich in
gleichdenkenden Hirnen zu einem Bekenntnis, das dann
immer von neuem Neues gebären wird.
So will ich denn weitergehend versuchen, Ihnen die Wege zu
zeigen, die ich noch weit in der Ferne über steile Widerstände
ziehen sehe und deren Endziel ich nur ahnen darf. Auf dem
einen Wege, der über Polizeivorschriften, Baustatute, Denk'
malschutzgesetze führt, gelangen Sie mit mir in eine Straße,
in welcher Haus an Haus nach künstlerischer Freiheit gebaut
ist. Dort sehe ich den^Vorgarten, ich sehe im grünen Schatten
einer Pergola die behagliche Eingangstür. Ich erblicke üppiges
Ranken bis über die weißsprossigen Fenster des Erdgeschosses;
über all dieser lieblichen schmucklosen Bauform das breite
schützende Dach. An Stelle der vorgeschriebenen Eisengitter
auf Mauersockel stehen weiße Holzsäulen mit vergoldeter
Kugel am Kapitäl. Ich zähle deren sechs für jedes Haus und
bin erfreut, wie schön die darauf emporrankenden Rosen
Blüten verschwenden. Bis auf Brusthöhe wachsen dazwischen
Hainbuchen, sauber mit der Schere zu einer Hecke gehalten,
darüber hinweg blicke ich auf das Vorland. Es ist ein
Blumenbeet, in gleiche Teile eingeteilt, davon das mittlere
mit blauen Lobelien sich schmückt, Staudenastern, die später
das Auge erfreuen sollen, wachsen daneben der Blüte
entgegen. Die Copeen an der Wand setzen eben blaue
Blumen an, während in blauen Töpfen am Fenstersims
blauviolette Petunien ihre Pracht entfalten. Mich überrascht
das Blühen.
Im Zurücktreten sehe ich dann Nachbarhaus und Nachbar'
haus in gleichem Sinne geschmückt. Nur an Stelle der weißen
Säulen treten dann Lichtständer oder Vasen in gleicher Zahl.
Am vierten Hause endet dieses blaue Blühen und eine Reihe
schöner Blutbuchen steht vor demselben wie eine purpurne
Wand. Darunter an der Straßenkante steht eine weiße Bank.
Dann weiter die Straße entlang blüht in den Gärten gelber
Blumenflor, bis an der Wegekreuzung ein uralter Lindenbaum
all dieser Schönheit Halt gebietet. Mit Bewunderung begreife
ich den Sinn und die Absicht der Bürger. Nicht zwanzig
Gärten liegen vor zwanzig Häusern, sondern nur drei ge'
schlossene farbenfrohe Anlagen finden das richtige schmückende
Verhältnis zu Hausmassen und Straßenbreiten.
Aus dieser erträumten Schönheit reißt Sie eine nüchterne
Gegenwart. Sie stehen in irgend einer Straße und werden
sich der Öde bewußt, die auf den sogenannten Vorgärten
lagert. Wie ein Hohn klingt mir der Name, wie ein
Schandmal für gärtnerische Arbeit, wie eine Anklage erscheint
mir das Wort, wenn ich des Reichtums von Schönheit ge'
denke, der auf so eng begrenztem Lande erstehen könnte.
Ich gebe ja gerne zu, daß dem so beliebten, fleißig zu erler'
nenden Architekturschema das gegenwärtige Vorgartenschema
völlig entspricht, aber nicht begründet ist, blühendes Leben,
blühendes Wachsen einer verknöcherten antiquierten Bau'
gesinnung unterzuordnen, die nur das eine kann, im starren
Stein das eigene Unvermögen, das Schielen nach vergangenen
Mustern, laut in die Welt zu schreien. Und wenn es auch
nicht gleich gelingt, all das bittere Weh in den Straßen aus'
zuheilen, so sollte man dort, wo man leicht beginnen könnte
— dem Vorgartenbau — alle lebendigen künstlerischen
Kräfte zuführen. Ich ersehe darin eine der vornehmsten Auf'
gaben der Blumenschmuckbewegung.
In meiner geträumten Straße schreite ich mit Ihnen nun
weiter zwischen Blumen und Bäumen und gelange so an |
herrlichen Bildern vorbei, an einen Platz mit rechteckigem
Grundriß. Die Architektur im grauen Stein, die längs der
Platzgrenzen aufgebaut ist, läßt öffentliche Ämter dahinter
vermuten. Ich fühle einfache, ruhige Monumentalität.
An den Schmalseiten dieses Platzes stehen je drei Reihen
starker Blutbuchen; der dunkle purpurne Ton der Baum'
massen fließt weich mit den grauen Farbentönen der Steine
zusammen. Im flachen Mittelviereck, von graubekiesten
Wegen begrenzt, blühen niederstämmige dunkle Rosen. Im
mitten dieser dunklen roten Blüten ein kreisrundes Wasser'
becken, darin das lichte Blau des Himmels, Sonne und Wolken
sich spiegeln. Wie ein leuchtender Kristall in ernsten ruhigen
Farbenakkorden, die Stein und Baum, Blüten und Blätter
bilden. Graue bequeme Sitzbänke unter dem dunklen Laub'
dach der Purpurbuchen lassen solches Bild in Ruhe genießen.
An Stelle dieser gedichteten, farbig einheitlichen Schönheit
steht heute ein Löwenbrunnen mit prächtigen Schalen und
Wasser rieseln von Zeit zu Zeit daraus — für ferne Wirkung
ist sein Bau ersonnen, doch dicht umstellen ihn hohe Bäume
und mäßige schematische Rasenbeete sind seine Fußzier;
kleinliches Empfinden, gedankenlose Arbeit, Zerfahrenheit
an Stelle von Einheit, Oberflächlichkeit an Stelle der Tiefe
und von ernstem Sinn.
186
d
Ich führe Sie weiter in werdende Bilder und in zukünftige
Schönheit. Draußen, im Weichbilde der Stadt gegen Osten
hin, liegen Heimstätten. Eine breite Straße zieht durch diese
bescheiden, aber charaktervoll gebaute Anlage. Baumlos
könnte man diesen breiten Weg nennen; keine Allee folgt
dem Zuge der Straße; nur alte Lindenbäume, wie sie vor
der Anlage der Straße im Lande standen, sind bald zur
linken, bald zur rechten Seite des Weges sichtbar. Uber Haim
buchenhecken sehen die Giebel und Dächer der kleinen
Häuser auf die Straße. Im Kreise stehen alte Buchen, an
der Ecke eines kleinen Straßenplatzes und in ihrem Schatten
fällt ein Quell in weiße Schalen. Zu jeder Zeit ist mir dieses
Bild willkommen und immer erfreue ich mich der ver^
streuten, bescheidenen Schönheiten, die ich im Wandern
genieße. Freundlich gefärbte Holztore stehen in den grünen
Hecken; bald ranken wilde Rosen darüber, bald stehen zu
beiden Seiten der weißen Torpfähle rundgeschnittene Rot'
dornbäume, bald wird der Eingang zur weinumrankten
Laube.
Und hinter jedem Eingang ein kleiner farbiger Garten. So
blüht zu jeder Jahreszeit vor einem Hause mit grauer Schau'
Seite ein langes schmales Beet mit gelben Blumen. Komm’
ich im Frühling vor das Tor, so sind zu Füßen gelbe Krokus
ausgebreitet, während die anderen vier Beete die Keime
späteren Blühens tragen. In weiser Reihenfolge erfüllt somit
ein Beet nach dem anderen die Aufgabe, nach dem Verblühen
des einen mit der Blüte des anderen zu erfreuen. Und wenn
dann knapp vor der Mauer „Sonnenballen“ ihr goldenes
Herbstkleid entfalten, dann beneide ich im Herzen jenen
Mann, der so bescheiden königliche Freuden spenden kann.
Und ist auch dieses letzte Blühen vorbei, dann rötet sich
das Weinblatt an den Mauern und wie ein Feuerwall unv
schließt die farbige Glut das kleine graue Haus. Es liegt wie
letzter Abendsonnenschein in den Blättern — wie letzter Gruß
eines schön verglühenden Sommers.
Ein anderes Haus in dieser Straße ist fröhlicher als Grau
und Gelb. Dort blüht es blau vom Eingang bis zum weißen
Giebel, von Nachbar bis zu Nachbargrenze. Der Weg, der
gerade nach der grünumrankten Haustür führt, ist weiß
bekiest. Ein Ziegelstreifen grenzt ihn zu beiden Seiten ab.
Auf schmalem Langbeet knapp dahinter Leberbalsam und
Eisenkraut, dann Rittersporn und Sturmhut, Staudenastern
und Wasser Strauch. Gleich blauen Stufen steigen die Blumen
nebeneinander bis zur Nachbarmauer auf, längs welcher
eine blaublühende Klematispergola den Abschluß bildet. Auf
kleinen weißen Postamenten stehen Messingvasen, gold^
glänzend in den blauen Blüten.
So erfreue ich mich an allen Toren verschiedener in sich
geschlossener Bilder, die immer und immer wieder mich
lebendig und eigenartig anmuten. Eine Harmonie verbindet
die poesievollen Heimstätten mit den Blumen und Blüten
des Vaterlandes. Alles ergänzt und unterstützt sich zu dem
einen Zweck, Haus und Garten zu einem Ruhepunkt, zu
einer friedvollen Einheit im wechselvollen Leben zu machen.
So wie hinter Hecken farbenfrohe Bilder den Wanderer er^
freuen, so wirken auch längs des Weges farbige Schönheiten.
Im Schatten schlanker Birken steht eine weiße Bank, ein
grauer Sandsteinsitz unter dem grünen Nadeldach dunkler
Fichten, zu zierlichen Farbenstreifen bilden sich die Licht'
träger, zu farbigen Flecken die Wegweiser an den Ecken.
Eine frohe Ruhe ist in all dem Erschauten. Keine Mühsal
wird dann das Verweilen auf einer solchen Gartenstraße
und nur mit Wehmut gedenkt man an solchem Orte der
häßlichen, nüchternen Straßenbilder unserer Neustadt. Man
empfindet die ganze Gedankenarmut in dem Blumenschmuck
der Fenster und Baikone, die volle gleichgültige Geschmack'
losigkeit, die sich über ganze Fronten hinzieht. Ewig das
tötende Einerlei der Geranien, die spärliche nüchterne Ver'
teilung der Farben im Straßenbild. Und auch hier ließe sich
Erfreuliches, wenn auch vorerst nur einseitig, ausbilden. Wie
farbige Bänder könnten Blumen in Holzkasten die ganze
Breite eines Hauses unterhalb der Fenster durchziehen, an
kleinen Stützen daraus Copeen emporranken. An Baikonen
erhalte man das gute Gitterwerk und schmücke ausgiebig
Tür und Fenster, die nach dem Vorbau führen. Für jedes
Haus ließe sich ein eigener Wert erschaffen, für ein ganzes
Straßenbild der richtige Farbenausdruck finden. Wie praktisch
wäre es, wenn an Stelle der Blumen' und Vasenpreise die
Preisrichter der Blumenschmuckbewegung künstlerische Pläne
verteilen würden, welche dem blumenfreundlichen Haus'
besitzer helfen könnten, seine Freude erheblich zu vermehren
und die Lust am Schmücken in zielbewußte Bahnen zu leiten.
Ein künstlerischer Rat, eine farbige Skizze, wie segensreicher
könnte solche Hilfe wirken als eine Prämie in Vasem oder
Pflanzengestalt. In dem herrlichen Städtchen Stein am Rhein
ist nach meinem Empfinden noch immer das Ideal eines ein'
heitlichen Hausschmuckes zu finden. Im Verein mit den be'
malten Hausfassaden überwältigt die farbige Harmonie der
187
Blumen jeden Beschauer und vornehmlich proklamiert dieser
Gemeinsinn der Bürger eine zukünftige Herrschaft der Farbe.
Die Gedanken führen von den Lebenden weiter nach
den Orten des langen Friedens und bilden auch hier geistige
Bilder, die mehr befriedigen als die nüchternen Eindrücke
eines nach keinerlei Prinzip geordneten Musterlagers von
polierten Granittafeln und Blumenhügeln. Obwohl die Haupt'
schuld daran den verfehlten Friedhofsanlagen beizumessen
ist, so ist auch hier der Gartenkunst der Mangel vorzuhalten,
keine höhere Einheit erstrebt zu haben. Niemals könnte
der Sinn tiefen Friedens, ewiger Ruhe besser gedeutet werden
als durch Blumen, niemals könnte der Lebende des Toten
inniger gedenken als in der stummen Sprache der Blüten.
In vielen Kreisen greift eine starke Bewegung um sich, auch
hier den trostlosen Schematismus herauszudrängen, und
mächtig setzt dieselbe ein, die Periode der polierten Granit-
platten mit den unsagbar langweiligen vergoldeten Schriften
zu stürzen und an Stelle dieses äußersten Tiefstandes den
Beginn wirklich künstlerischer Arbeit zu setzen.
Da glaube ich auch, es sei an der Zeit, das künstlerische
Wollen des Gärtners mit in diese Bestrebung zu werfen,
damit vollendete Einheit daraus emporreife.
„Im Tode sei alles gleich!“ so meint ein schönes Sprichwort!
Nur folge man dem tiefen Sinn der Worte und streue gleiche
Ruhe in Blumen aus, wohin die Ruhe und friedliches Gleich -
sein gehört. In tiefen Purpur hülle man die Felder der
Gräber, dunkles Violett umschließe ganze Gruppen, daraus
die grauen Steinmale erwachsen. Längs der Wege stehen dann
Zypressen, Blutbuchen an den Grenzen der Gräberfelder.
Weiße Blüten entsprießen dann Kindergräbern, die im
Schatten weißgerindeter Birkenhaine vereint zusammenliegen,
Eichenpappeln umschließen das große, weite, stille Quartier
der Toten. Der Gartenkunst bleibt auch hier die Lösung
Vorbehalten.
Hundertfältig wären die Beispiele, die ich Ihnen in Worten
schildern könnte, unbegrenzt die Reihe der Gedanken, welche
neuen, stets andersgearteten Aufgaben ihre Entstehung ver -
danken.
Die künstlerische Schaffenskraft, das künstlerische Empfinden
wird immer von neuem sich mit Wärme den Arbeiten zu -
wenden, in welchen die Blume, der Strauch, der Baum als
aufbauende Elemente auftreten. Nicht allein der Reiz solcher
Einzelelemente begeistert zu neuem Schaffen, zu neuem Er -
finden, auch die gewaltigen Nachbarelemente der Natur, die
Luft, das Himmelsgewölbe, die Sonne, die Sterne, Wasser
und Stein, die nächste und weitere Umgebung.
Eine Fülle von Gedanken löst jedes Wort aus, niemals
gleichartig, je mehr das eine oder das andere Element in
der Harmonie des zu Schaffenden das Übergewicht und die
Bedeutung erhält. Und immer ist neben dem Stofflichen
die Farbe das treibende Moment, das Licht allein, das
hundertfältig sich in Blüten und Blättern bricht, eine Basis
neuen künstlerischen Gebärens.
Das leuchtende Wunder, das aus den Blumen strahlt, es
drängt nach neuen Wegen; zu neuen Wegen findet sich
neuer Rhythmus. Neue Werte erscheinen dann in dem großen
Gebiete der Gartenkunst und mit ihnen umwälzende starke
Kräfte.
Eine mächtige Bewegung im Volke geht nach gesunder
V erinnerlichung.
Nach Jahrzehnten grober Äußerlichkeiten und oberflächlichen
Leichtsinnes — die breite Basis des gedankenlosen Schemas
— besinnt sich der Mensch endlich auf sich selbst. Rück -
kehr zur Natur hieß es zuerst, daraus sich dann ein Recht
entwickelte, selbst denken und selbst empfinden zu dürfen
— den ungesunden symbolistischen Eigenheiten einer nerven -
schwächenden Decadence in Kunst und Literatur folgte ein
wachsendes Bedürfnis nach Ruhe und Einfachheit.
Nicht unbegründet gliedert sich die zeitgemäße Architektur
in große ruhige Flächen, nicht umsonst vollzieht sich eine
Wanderung hinaus aus der Städte Unkultur nach dem ge -
sunden frischen Land.
188
Gartenstädte nennt man das Ergebnis solcher Wandlungen
und mit diesen neuen Gründungen erweitert sich die Arbeit
des Gartenkünstlers zu einer heiligen Aufgabe. Nicht ohne Sinn
hat das Volk das Wort „Garten“ vor das Wort „Stadt“ gesetzt
und dann, zusammengefügt, einen neuen Begriff bezeichnet.
Schon hat sich das einfache Haus aus unserer Zeit charakte -
ristisch entwickelt! Aus unserer Zeit heraus wird sich auch
der neue Garten entwickeln, der zu dem festen Kern des
Hauses in Harmonie und Einklang steht. Ruhe und Einheit
wird dann in allen Dingen liegen, die Haus und Garten er -
bauen. Das widerwärtige Schema, das wie ein unglückseliger
Alp auf allem Schaffen liegt, es wird an den einfachen Holz -
pfählen eines heimischen Hausgartens zerschellen und neuem
Empfinden, neuen Ideen den Weg freigeben müssen.
Das Licht, das farbige Wunder, wird uns durch seinen Zauber
die Einheit und Ruhe bringen, wonach eine Volkssehnsucht
verlangt. Und mit dem Lichte, mit den Farben zieht das
Märchen wieder in unseren Garten, in unser Heim.
So werden wir gerecht, einem Empfinden unserer Zeit ent -
sprechenden Ausdruck zu verleihen. Die nächste Zukunft
gehört dem Gartenkünstler, aber nur jenem Künstler, der
frei von überliefertem Wissen aus eigenem seelischen Besitz
heraus neue Werte zu prägen versteht, neue Werte, die im
Gleichklang stehen zu einer unaufhaltsam sich entwickelnden
ZEITKUNST.
Nicht Namen, sondern Taten, nicht Begriffe, sondern Wirk -
lichkeit verlangt eine solche Entwickelung. Nicht umfassende
Kenntnis von Namen und Begriffen, nicht praktisches Wissen
wird dabei vorwärtshelfen, sondern jenes große Gut, das in
uns allen mehr oder weniger lebendig wirkt — die Phantasie,
die Empfindung.
An diese Göttergabe in jedem einzelnen appelliere ich mit
meinen Worten und mit meiner Arbeit und glücklich wäre
ich, mit dieser einen weiteren aufbauenden Stein in das
Denkmal gefügt zu haben, das von unserem Schaffen, von
unserem Willen später Kunde geben soll.
L.: ANSICHTEN.
NATURALISMUS UND STIL.
DER UNTERSCHIED: Der Naturalismus verbirgt den Stil,
der Stil verbirgt den Naturalismus. Hier ist kein Gegensatz,
sondern Entwicklung. Eines ist die Konsequenz des andern.
DAS GESETZ DER NATÜRLICHEN FORM: Es ist für
den Naturalismus durchaus verbindlich. Es liegt auch dem
Stil zu gründe. Die Studien der Stilisten sind erfüllt von
fanatischem Naturalismus. Der Stil enthält diesen und noch
etwas mehr: er entwickelt aus der NATÜRLICHEN Form
das höhere Gesetz der ORGANISCHEN Form.
DAS GESETZ DER ORGANISCHEN FORM: Die Kraft
und Wärme des Empfindens, das intuitive Schaffen des
Künstlers macht das Unwirkliche wahr. „Dichterkünste“
nennt es Goethe. Man macht es den Stilisten zum Vorwurf,
daß ihr Schaffen nicht die Wirklichkeit enthalte. Aber enthält
denn der Naturalismus die Wirklichkeit? Das Schaffen des
Künstlers bildet nicht die Wirklichkeit nach. In schön ge -
malte Äpfel, und seien sie noch so täuschend, kann man
nicht beißen. „Das Ding an sich“ kümmert den Künstler
nicht, er hat es nur mit seinen Impressionen zu tun. Sein
Schaffen wird erst dann künstlerisch interessant, wenn es der
Wirklichkeit bewußt entgegengesetzt ist. Sein Streben wird
auf alles andere gerichtet sein denn auf die Nachahmung
der Natur, weil er weiß, daß er sie nicht nachahmen kann.
Wie sehr die Schönheit des Waldes in den verschiedenen
Zuständen des Tages, wie etwa bei Sonnenuntergang, ergreift,
der Künstler hat keine Möglichkeit, ihn darzustellen, wie er
wirklich ist, mit der verwirrenden Fülle von Stämmen,
Lichtern, Schattierungen, Ästen, Zweigen, Blüten, Früchten
und Blättern in mannigfaltigster Stellung und Verschlungen-
heit. Vor diesem Reichtum an Details steht der Künstler
189
machtlos. Je mehr er sich auf alle Einzelheiten, die die Größe
des Ganzen ausmachen, einlassen wollte, desto kläglicher und
aussichtsloser wäre sein Beginnen. Wäre er statt Maler Gold'
schmied und wollte nur einen Zweig aus Steinen und Edeh
metallen formen, so würde er an der unerreichbaren Volk
kommenheit des natürlichen Zweiges um so sicherer scheitern,
je mehr er sich auf die Imitation der Wirklichkeit einließe,
die obendrein meistens verbunden ist mit einer furchtbaren
und nutzlosen Vergewaltigung des Materials. Die Natur
selbst zwingt den Künstler zur Abstraktion, zur Darstellung
des Unwirklichen. Er beschränkt sich auf seine Ausdrucks'
möglichkeiten und gibt weniger und mehr als die Natur.
Jedenfalls etwas, das ihr entgegengesetzt ist, weil es anderen
Absichten entspringt. Er verwendet die natürlichen Formen
in einem anderen Geiste und in der Sprache eines anderen
Materials. Was ihn in dem Labyrinth der unwirklichen Welt,
die er der wirklichen entgegensetzt, leitet und vor dem Kopf'
stürz ins Wahnwitzige und Vernunftwidrige schützt, ist die
organische Idee. Sie drückt aus, wie die Natur gearbeitet
haben würde, hätte sie des Künstlers Phantasie und Mittel.
Der kühnste Stilist ist der sorgfältigste Naturbeobachter.
DER RHYTHMUS VON FORM UND FARBE. Aber auch
der bewußte Naturalist ist ein latenter Stilist. Nur als solcher
erreicht er das Äußerste an Ausdruck. Die Natur selbst, indem
sie sich gegen Nachahmungen wehrt, stößt ihn auf diesen
Weg. Man stelle sich eine große Masse Menschen oder eine
Masse Häuser gegen Sonnenuntergang vor, eine Vielheit der
unterschiedlichsten Erscheinungen, der interessantesten Bau'
formen. Kein Künstler wird sich nur einen Augenblick lang bei
der Absicht aufhalten wollen, die Physiognomien dieser unter'
schiedlichen Menschen, die Details dieser Bauformen in der
Massenhaftigkeit dieser Abenderscheinung darstellen zu wollen.
Der goldene Abend am Himmel und die dunkle Masse auf
der Erde: zwei wunderbare farbige Kontraste, zwei gegen'
einander gerichtete Ströme von Licht und Farbe, einander
bekämpfend und zugleich in wunderbarer Harmonie zusammen'
fließend, das ist es, was der Maler zu ergreifen trachtet.
WHISTLER bildete daraus seinen Stil: Nokturno in Blau
und Silber, Nokturno in Blau und Gold. Wasser, Häuser,
Lichter, Feuerwerk in eine Harmonie von Blau mit Gold
oder Silber aufgelöst, in einem Rhythmus, den wir als Musik
empfinden würden, wäre es nicht Farbe. Aber das Werk
lebt für sich allein in dem Material, aus dem es geschaffen,
unübersetzbar. Ein Bild ist gemalt, weil Farbe empfunden
wurde, eine Plastik wird geschaffen, weil Form empfunden
wurde. Eine Zeichnung entsteht, weil das Bedürfnis nach
Mitteilung in künstlerischer Form vorhanden ist. Aber die
Natur selbst zeigt in ihren Beispielen, daß die Farbe der
Form entgegengesetzt ist. Sie gehorchen einem anderen Gesetz.
Die Natur lehrt den Stil. Die Maler lieben die Nebel von
Holland, aber nicht um die Formen klarer zu sehen, sondern
um die Farbe klarer zu sehen, den Stil.
BILD UND STUDIE. Das Bild im Bewußtsein der Fläche
strebt zur Architektur. Die Wand ist die Heimat des Bildes.
Selbst die Werke der niederländischen Maler waren Archi'
tekturteile, ein Stück Malerei in den Lichtkreis eingesetzt,
der durch die kleinen aufzuschließenden Öffnungen der großen
geschlossenen Fensterladen auf die Wand fiel. Bilder, die
nicht nach der Verbindung mit der Architektur verlangen,
sind Studien. Die meisten Werke des Naturalismus sind
Studien. In dieser Form ist der Naturalismus die Vorstufe
zur höheren Einheit des Stils. Der Stil ist die beziehungS'
reiche Einheit der Künste untereinander. Der Maler abstra'
hiert aus der Natur die Farbe, nicht die Farbe der Dinge,
sondern die Farbe der Wirkung, als das wiedergefundene
Paradies und vereinigt sie in der Fläche zu den Schöpfungen
seiner Phantasie. So unwirklich diese Dinge sind, so sind
sie doch die einzige künstlerische Wirklichkeit.
DIE PLASTIK. Auch die Plastik ist Teil der Architektur.
Niemals wird der Bildhauer zum bloßen Naturabschreiber
herabsinken; niemals wird er die verwirrende Fülle und
Zufälligkeiten der Natur vortäuschen wollen, wenn er auf
künstlerische Wirkung hält und das Panoptikum vermeiden
will. Jede Plastik ist edel, wenn sie den Schein der Wirklich'
keit vermeidet. Die heutige naturalistische Denkmalplastik
ist also durchaus unedel. Je mehr sie sich an die banale
Wirklichkeit klammert, desto mehr beweist sie, daß der
Künstler keine Phantasie hatte. Das Blattwerk an den Kapitälen
und Hohlkehlen gotischer Dome ist künstlerisch, weil es
jede Täuschung vermeidet, niemals den Ausdruck des Stein'
materials vergewaltigt, ungeachtet der organischen Beziehung
zur heimatlichen Flora, die als Erinnerungswert in dem
Steingebilde lebt. Der Blumenflor, der aus dem Steingebilde
hervorblühte, ist architektonisch gegliedert und geordnet.
Der Steinmetz konnte nur jene Zahl von Stengeln, Blättern,
Blumen und Beeren herausheben, die notwendig waren, um
das Werk zu überranken, er durfte sie nur so weit unter'
meißeln, als notwendig war, die tote Fläche zu beleben.
Das Höchste, was der Bildhauer in seinen Gebilden darstellen
kann, ist, daß Stein Stein ist. Die Plastiken alter Gärten
sind im Grunde Architekturteile, um die räumliche Einheit
des Gartens zu betonen. Ihre Skulptur ist Dekoration.
BAUKUNST. Sie ist das vollkommenste Beispiel, wie die
unwirkliche menschliche Illusion zur Wirklichkeit wird. Die
Abstraktion aes räumlichen Denkens ist in ihr Sichtbarkeit
geworden. Alle Künste machen entweder eine malerische
oder eine körperliche Abstraktion sichtbar. Aber darin ist die
BauKunst Königin, daß sie die räumliche Beziehung aller
Künste herstellt. Ihr Wesen ist die beste Anwendung der
Künste. Sie wendet die Künste so an, um sie in sichtbaren
oder fühlbaren Einklang mit dem Menschen zu bringen. Sie
ist absolut Gegensatz der Natur, wie alle Künste, die ihr,
beziehungsweise dem Menschen dienen. Die Natur kümmert
sich um den Menschen nicht; sie gehorcht anderen Gesetzen
190
und geht über ihn hinweg. Sie wird seinem Schönheitsgefühl
erst vertraut, wenn er ihren Gegensatz, die Kunst, in ihr
verwebt. Was der Mensch aus der Natur herausliest, ist
das mögliche oder ermöglichte Menschenwerk, von der
Ackerfurche und vom Feldzaun bis zu den kunstgeweihten
Tempeln. Die Baukunst ist das Prinzip, auf das der Mensch
die unreale Wirklichkeit seiner Phantasiewelt begründet.
DAS KLEID. Das Kleid sei organisch, das heißt, es lasse
der natürlichen Bewegung des Menschen jede Freiheit. Das
Kleid ist künstlerisch, wenn es organisch ist und zugleich
der Körperform entgegenwirkt, sie gleichsam auflöst. Das
griechische Gewand ist in diesem Sinne künstlerisch; ein
unerschöpfliches Widerspiel der Gewandfalten und des
darunter befindlichen Körpers und so organisch, daß es keine
Bewegung hemmt oder unedel macht. Das griechische Gewand
hat Stil. Das moderne Frauenkleid hat noch alle künstlerische
Möglichkeit, weil es die Taille negiert, der Körperform
widerspricht und diese gerade dadurch ausdrucksvoll macht.
GARTENKUNST. Sie ist die augenfälligste und glücklichste
Negation der willkürlichen Natur. Der naturalistische Garten,
der die willkürliche Natur im kleinen Rahmen nachahmen
will, bleibt stets eine klägliche Karikatur. Die Kunst will
auch im Garten einen Gegensatz zur Natur schaffen. Sie ver^
wendet die Pflanzen nach dem architektonischen Prinzip, das
den Ausdruck der menschlichen Illusion festigt. Sie gibt
Bäumen und Büschen die Gestalt von Kugeln, Kegeln und
Würfeln als Architekturbestandteilen, bildet aus Pflanzenwuchs
gründämmerige Wände und Nischen, die sie mit dem Lächeln
der Faune, der Kühnheit der Heroen und der Melodie der
Brunnen erfüllt. Aus Blumen bringt sie Farbenströme hervor,
in bunten Gleichnissen das Blau der Ferne, das Gelb und
Rot des Morgen^ und Abendhimmels in weiten Beeten abzu^
spiegeln. Sie setzt das geheimnisvolle Schweigen der Sphinxe als
Hüterinnen an die obersten Stufen, die sehnsüchtig auf und
nieder gleiten. In steinumfaßten Wasserspiegeln zieht sie die
huschenden, sonndurchglänzten Wolkenbilder in den Garten -
grund und zwingt das flüssige Element in kunstvollen Strahlen
gleichsam aus scherzender Laune emporzuschießen. Im Gegen -
satz zu dieser spielenden Heiterkeit, gekrönt von der Gesellig -
keit des Wohnhauses, legt sie weiterhin an das untere Ende
des Gartens als dunklen Saum den Ernst der Bluteschen, wo
das Raunen und Stöhnen des Windes wohnt und fern am
Horizont aus der abschließenden Gartenmauer die Einsamkeit
eines Turmes die Wipfel überragt.
Bis hieher reicht der herrliche Triumph der schönen Garten -
kunst, schön in der Selbstherrlichkeit machtvollen, mensch -
lichen Ermessens.
DAS THEATER. Die Bühne ist die berufene Schatzhüterin der
künstlerischen Illusion, die über banale Wirklichkeit trium -
phiert. Aber im heutigen naturalistischenTheater mit dem Guck -
kasten einer banalen Wirklichkeit ist die Schatzhüterin zur
gemeinen Stallmagd herabgesunken, die jeden Unrat des engen
aussichtslosen Wirklichkeitsbereiches zu einem Düngerhaufen
aufzukehren sucht. Dieses naturalistische Theater mit den
täuschenden Fälschungen von Wirklichkeitserscheinungen hat
keine Aussicht auf Erhebung, es muß mit seinen Reporter -
stücken gewissermaßen hinter der viel originelleren alltäglichen
Wirklichkeit Zurückbleiben. Die Reportage auf der Bühne in
bezug auf Kostüme, Ausstattung, Worte, Handlungen ist das
Zeichen des Verfalles der Bühne als Kunstwerk. Die Bühne
wird sich aus diesem Verfall wieder heben, wenn der Guck -
kasten mit dem Panoptikuminhalt abgeschafft und die
aussichtslose pfründnerhafte Konkurrenz mit der gemeinen
Wirklichkeit aufgegeben ist. Das Dekorationswesen des
Theaters muß wieder zur Architektur zurückkehren, Bühne
und Zuschauerraum als architektonische künstlerische Ein -
heit wie das antike Theater oder der Schauplatz der Mysterien
Die Kirche ist mit dem antiken Theater viel verwandter als
die heutige Bühne. Wir wollen wie die Edelleute zu Shake -
speares Zeiten alle auf der Bühne sitzen, darum sei der ganze
Zuschauerraum Teil der Bühne, wie in der Kirche die Apsis
als Ort der mystischen Handlung ein architektonisch ein -
heitlicher Teil der Kirche ist. In einem solchen Theater sei
Raum für die Bewegungsfreiheit der Zuschauer, herrliche
Kunstwerke seien darin aufgestellt, gleichsam aus der Archi -
tektur hervorwachsend, zwischen Blumen und Lorbeerbäumen,
wie es mit allerdings verbrauchten Requisiten noch immer
in der Kirche geschieht. Die theatralische Handlung werde
wieder zum bedeutungsvollen Mysterium, Licht, Farbe, Form,
Bewegung, Worte, als Malerei, Plastik, Tanz, Dichtung, Musik
zu einer ausdrucksreichen architektonischen Einheit verbunden.
Es ist nur ein kleiner Schritt weiter, die Zuschauer in die
Handlung einzubeziehen, wie es die Kirche bei ihren Theater -
aufführungen, den österlichen Festen, Fronleichnam etc. in
Form von Aufzügen immer noch tut. Je mehr sich das
Theater von dem naturalistischen Abklatsch entfernt, desto
mehr wird es von dem Lebensgefühl in seinen künstlerischen
Kreis ziehen und desto stärker wird es auf das Leben zu -
rückwirken.
Die unerhörtesten Wirkungen stehen dem Theater zu Ge -
bote, wenn es sich der Wirklichkeit bewußt widersetzt. In
der Wirklichkeit ist alles banal, in der Illusion, dem Wider -
spruch der Wirklichkeit, ist alles gesteigert. Der Wirklichkeit
gelingt nichts, der Phantasie alles. Das Theater der Illusion
ist befähigt, jedes Gefühl, jedes Geheimnis, jede Angst, jeden
Kontrast, das Niegesehene sichtbar zu machen, eine Wirk -
lichkeit, die ist und nicht ist.
DER TANZ. Den berühmtesten Tänzerinnen ist jede Glieder -
puppe überlegen. Archäologie, griechische Pose, Gainsborough,
191
was immer der Ausgangspunkt moderner Tanzkünste war,
keine der Tänzerinnen vergaß das stereotype blödsinnige
Lächeln, das Kompliment vor dem Publikum, alle zurecht
gemachten Natürlichkeiten, die so unnatürlich sind. Keine
ergab sich in jene Vergessenheit der Illusion, in jenen
Ernst tiefer Versunkenheit, den man mitunter im tanzenden
Bauernvolk wahrnimmt. Diese berühmten Tänzerinnen
ahmen nur nach, sie suchen irgend eine bestehende Wirk'
lichkeit nochmals zu machen und machen sie naturgemäß
schlecht. Ob von griechischen Vasenbildern oder barocker
Geziertheit geholt, es ist immer Abklatsch. Wogegen die
Gliederpuppe niemals nachahmt. Sie ist sich selbst Gesetz.
Sie hat den Ernst und die Illusion, Selbstvergessenheit oder
Selbstherrschaft, eine Unbewußtheit, die dem höchsten
Bewußtsein gleichkommt. Ihre Bewegungen gelten keinem
Publikum, sie gelten ihr selbst. Sie kehren immer zu ihrem
Mittelpunkt, der ihr Schwerpunkt ist, zurück. Jede Er -
schütterung, jeder Stoß klingt in rhythmischen Bewegungen,
in Harmonie aus. Die Erneuerung der Tanzkunst kann
nur von der Gliederpuppe ausgehen.
DIE SCHAUSPIELKUNST. Auch die Schauspielkunst hat
eine ganze Zukunft von der Marionette zu hoffen. Die
Schauspieler der heutigen naturalistischen Bühne benehmen
sich fast ausnahmslos wie die Friseure. Jede ungewöhnliche
Dichtung wird an ihnen zu schänden. In einem Stück Holz
als Arm oder Bein einer Marionette steckt mehr Geist als
in einem ganzen solchen Kerl. Maeterlincks mystische Spiele
sind eigentlich noch unaufführbar, es sei denn durch Puppen.
An der Puppe ist zu lernen, daß auch hier die Kunst der
Natur entgegenwirkt. Niemals würde die Puppe durch ein
Übermaß von Bewegung die Wirkung bedeutender Worte
abschwächen. Ja, gerade die vollständige Regungslosigkeit
der Puppe erhöht die Wucht tragischer Worte durch die
Wirkung des Kontrastes. Unsere Schauspieler werden
turbulent, wenn ihnen der Dichter bedeutende Worte in den
Mund legt. Die Puppe hat die Herrschaft über sich. Das
Erschütterndste sagt sie in unerschütterter Haltung, sie ahmt
die Worte nicht durch Bewegung nach und macht dadurch
die Worte noch größer, noch furchtbarer. Wenn sie aber
einmal die Hand zu einer einfachen Geste erhebt, dann
wirkt die Geste mit der Kraft eines unerwarteten Ereignisses.
Dagegen wirken die Gesten unserer Schauspieler banal,
weil wir sie bei jedem Kellner oder Zahnarzt zu sehen
gewohnt sind — sie sind eben der „Natur“ oder der Wirk -
lichkeit abgelauscht. An der Puppe ist alles unwirklich und
groß. Die ergreifendsten Wirkungen sind vorderhand nur
noch im Puppentheater möglich.
DIE DICHTUNG. Der Geist der Dichtung negiert die
Wirklichkeit und gibt ein Höheres dafür, die Illusion.
Dichtung ist nicht Abschrift, nicht Abklatsch, nicht Reportage.
Die Dichtung gibt den Künsten eine geistige Wirklichkeit
und die Künste geben der Dichtung Sichtbarkeit. Sie stellt
im Reiche der Phantasie die äußersten Bezirke des heiligen
Haines fest, wo die Kunst ihr Höchstes wagen kann und
muß. Aus den mystischen Dichtungen Maeterlincks erwachen
nicht nur die unwirklichen Mächte unseres Blutes, die
Ängsten und Ahnungen des Herzens, das Geheimnisvolle
jenseits der Wirklichkeit und die Furcht vor dem Un-
192
Blumen von
E. R. Weiß, Hagen i. W.
Siehe Text Seite 200.
geschehenen, vor den kommenden Ereignissen zu gestaltetem
Dasein, sondern es werden daraus Architekturen, Gärten,
Fontänen, sichtbare Kunst, entstehen und in der Sprache
ihres spezifischen Materials das Geheimnis der Dichtung offem
baren.
Es wird immer das Geheimnisvolle sein, das Wunderbare,
das Schreckhafte, vor allem aber das Ungewöhnliche, das
Persönliche. Aber was der Wortdichtung möglich ist, gilt
nicht immer wörtlich für das Material der anderen Künste.
Was in der Abstraktion der Wortdichtung wundervoll ist,
kann in der Wiederholung durch das reale Material anderer
Künste leicht banal erscheinen. Es ist bereits gesagt: die
Kunst soll nicht die Worte wörtlich nachahmen. Sie suche
auf ihrem eigenen Wege, durch die Natur ihres spezifischen
Materials zu ähnlichen Wirkungen zu gelangen, durch jene
künstlerische Abstraktion, die bei der Natur studiert und
sich bewußt von dem Naturalismus entfernt. Innerhalb
ihrer künstlerischen Logik, dem Gesetz der organischen Form
gemäß, ist der Dichtung jedes Maß von Übertreibung an -
gemessen. Ihre Todsünde ist das Gewöhnliche; sie ist keinen
Wahrheitsbeweis schuldig, sie braucht sich keinen anderen
Maßstab gefallen lassen als den ihrer eigenen Phantasie.
Das Unerhörte, Karikaturistische, Groteske, Paradoxe, jedes
ungewöhnliche Mittel, die Gewöhnlichkeit der Erscheinungen
durch neue Offenbarungen zu beschämen, ist ihr gerade
recht.
Die banale Wirklichkeit, den Naturalismus zu überwinden,
ist in Gemeinschaft mit allen Künsten ihr eigentliches
Ziel. Die Natur ist schön als Natur, die Kunst ist schön
als Kunst.
AUFERSTEHUNG.
Brave Leute sind nicht fromm.
Nur großen Sündern und großen Ketzern winkt der Heiligen -
schein. Ketzer oder Sünder, das waren die Heiligen.
Religiöse Menschen sind immer ketzerisch.
Gnadenreiche Madonnen! Die fromme Gebärde, das züchtige
Lächeln sind der schönen Sünde stärkste Mittel. Sie sind
durchaus überzeugend. Ohne die Sündhaftigkeit wäre diese
Haltung absolut nichtssagend.
Die Sünde ist das Natürliche; alles andere ist Kunstform,
die sie uns bequem oder angenehm macht. Schließlich ist
auch die Moral eine (wenn auch abgebrauchte) Kunstform,
welche die geheiligte Sünde gesetzmäßig regelt. Ist eine Sünde
langweilig und abgebraucht, der Geistigkeit entkleidet, dann
tritt ein neues Reizmittel an ihre Stelle. Es ist immer in
erster Linie eine Kunstfrage. Jede neue Kunst ist die Ver -
geistigung eines neuen Sündenfalles, eine Frucht vom Baume
der Erkenntnis. Jede neue Kunst zeugt Ketzer und Märtyrer,
die später sicher heilig gesprochen werden. Dann sind sie
eigentlich erst reif, bekämpft zu werden.
193
DAS MYSTERIUM.
In der Dichtung lebt der Schmerz einer Seele, die über
die gewöhnliche Beobachtung des Nächstliegenden hinaus^
gegangen und vor dem großen Unbekannten steht, von
dem das Leben umgeben ist. Wir mögen uns häuslich
und wohnlich in unserem Dasein einrichten und hinter
den festen Wällen menschlicher Satzungen und Ordnungen
uns geschützt glauben gegen die geheimnisvollen Mächte,
deren Brausen wir von draußen her vernehmen. Aus dem
tiefen und unerschütterlichen Vertrauen, das jede in der
Allheit ruhende Kreatur hegt, schöpfen wir den Glauben an
freundliche Vorsehungen, die den Kreis unseres Machtbezirkes
mit mildem Lichte erfüllt und die Meinung an eine Vorher^
bestimmung und Regelung des unbekannten Alls nach mensch^
lichem Gerechtigkeitsgefühl nährt. Das blinde Walten um
schuldig grausamer Naturmächte in und außer uns, die
augenscheinlich von anderen uns völlig unbekannten Gesetzen,
Ursachen und Zielen bestimmt sind und als Verhängnis
oder Tod eintreten, hat dieses Vertrauen, das die Art zu ihrer
Erhaltung vielleicht nötig hat, nicht ganz zu erschüttern
vermocht. Während der unheimliche Gast schon in unseren
Mauern weilte, hat die Erkenntnis, daß unser Leben das
Allerwichtigste und Maßgebendste im ganzen Weltall ist, eher
zugenommen als abgenommen und die selbstgenährte Flamme
unseres unbedingten Wissens leuchtet als das einzige Gestirn
in dem Weltbereich, wo alles andere dunkel und unbestimmt
ist. Aber nicht weniger wichtig ist die Erkenntnis, daß unser
Leben nichtig ist und daß die Naturmächte kein Interesse
an unseren Geschicken haben. Diese Erkenntnis ist notwendig,
sie drängt zu Wachsamkeit und zur Beschäftigung mit dem
Unerforschlichen, von dem wir alle abhängig sind. Jeder wie
immer Schaffende sieht sich alsbald vor das Rätsel unseres
Daseins gestellt und seine Aufgabe weist ihm die Rolle eines
Kämpfers zu, der nicht die Ruhe des Bürgers hinter den
gesicherten Dämmen genießt, sondern der auf den Wällen
steht und seinen Blick auf das geheimnisvolle Kreisen und
Fluten unbekannter Lebensmächte richtet. Alle Arbeit des
Dichters, Denkers oder Künstlers ist auf dieses große Um
bekannte gerichtet, das unserer Weltanschauung die rechte
Tiefe und Stärke gibt. Ja, man kann sagen, daß jede Leistung
um so bedeutsamer und wertvoller ist, je größer der Anteil
jenes Mysteriums daran ist. Dagegen steht fest, daß die
Werke, die nur alltägliche Tatsachen, platte Selbstverständ'
lichkeiten, keine neuen Werte in die Welt gesetzt haben,
als quantités négligeables zu betrachten sind. Die Unsterblich^
keit der schöpferischen Geister beruht im wesentlichen in
der Unsterblichkeit des ewigen Problems, für die in den ver^
schiedenen Zeiten und verschiedenartigen Individualitäten bloß
der Ausdruck wechselt oder die Formel. Kants „Ding an sich“
bildet den märchentiefen Hintergrund aller menschlichen Ur^
mythen und Legenden; es steht als fatalistische Schicksalsmacht
hinter den Dramen der griechischen Tragiker seit Äschylus
und erlebte im klassizistischen Frankreich seit Corneille als
„heroische Pflicht“ eine seltsame Nachblüte; die Mystiker des
Mittelalters verehrten es in christlicher Glaubensfurcht und in
den Dramen Maeterlincks ist es der fast ausschließliche Inhalt
der Handlung: die tödliche Angst vor dem Ungeheuerlichen,
das Eingreifen feindseliger Mächte, die unpersönlich und unfaß^
bar sind und gerade die zartesten, untätigsten Blüten am leiclv
testen befallen. Gerade in unserer Zeit der reifen und reichen
Erkenntnisse und Aufklärungen sind die Rätselfragen des
Daseins größer und deutlicher geworden; wer immer sich be^
müht, das Leben zu deuten, schreitet über die Wirklichkeit
hinaus und sucht die Wahrheit des Unwirklichen zu erweisen.
BONLODORI VON LAFCADIE HEARN.*
♦ ♦
U ber die Berge nach Tzuma, dem Lande des Kamiye,
des Götterzeitalters. Eine viertägige Korumafahrt mit
kräftigen Läufern vom Stillen Ozean bis zur Japanü
sehen See; denn wir haben die längste und wenigst befahrene
Route gewählt.
Der größte Teil dieser Reise führt durch Täler, Täler, die sich
immer zu höheren Tälern öffnen, während der Weg ansteigt —
Täler zwischen Bergen von Reisfeldern, deren Hänge sich in
eingefriedeten Terrassen aufbauen, die wie ungeheure grüne
Treppenstufen aussehen. über ihnen liegt der Schatten dunkler
Zederm und Fichtenwälder und über diesen bewaldeten
Gipfeln sieht man dunkelblaue ferne Hügel, überragt von
zackigen, nebelgrauen Silhouetten. Die Luft ist lind und
windstill und die Entfernungen sind von zarten Nebeln ver -
schleiert. Und an diesem duftigsten aller blauen Himmel,
diesem japanischen Himmel, der mir immer höher erscheint
als irgend ein anderer Himmel, den ich je gesehen, schweben
Tag um Tag nur vereinzelte, durchsichtige, weiße, wallende
Gebilde herum, wie Geister von Wolken, die auf dem Winde
reiten. Aber manchmal, wenn der Weg emporsteigt, ver -
schwinden die Reisfelder für eine Weile: Gerste-, Indigo-,
Roggen- und Baumwollfelder besäumen eine Strecke weit
den Weg, der dann wieder in Waldesschatten versinkt.
Das Allüberraschendste aber sind die Zedernwälder, die ab
und zu die Straße begrenzen. Niemals habe ich außerhalb
der Tropen eine Baumvegetation so dichter und kerzengerade
aufstrebender Stämme gesehen — jeder Stamm steht kahl und
aufrecht wie eine Säule. Diese Baumwand bietet das Schau -
spiel einer bleichen Säulenmasse, die sich zu einer Wolke
dunklen Laubwerks emportürmt, von solcher Dichtheit, daß
man über sich nichts sehen kann als in Schatten verlorenes
Gezweig. Und die wenigen Lichtungen in der Palisade der
dunklen Stämme sind nachtschwarz wie das Dunkel in Dorés
Föhrenwäldern.
Man sieht keine großen Städte mehr; nur Dörfer mit stroh -
gedeckten Häuschen schmiegen sich in die Falten der Hügel,
jedes mit seinem buddhistischen Tempel, dessen spitzes,
blaugraues Ziegeldach über die Strohdächer hinausragt und
seiner Miya (Shintoschrein), mit dem Torii davor, gleich
einem großen Ideogramm aus Stein oder Holz.
Aber noch überwiegt der Buddhismus; jeder Hügelgipfel hat
seine Tera und die Buddha- oder Bodhisattva-Statuen tauchen
am Wegrain mit der Regelmäßigkeit von Meilensteinen auf.
Oft ist eine Dorftera so groß, daß die sie umgebenden Häus -
chen der Landbevölkerung wie kleine Nebengebäude aussehen;
und der Reisende begreift nicht, wie ein so kostspieliges
Gotteshaus von einer so dürftigen Gemeinde erhalten werden
kann. Und auf Schritt und Tritt machen sich die Zeichen
des milden Glaubens bemerkbar; seine Ideogramme und
Symbole sind auf den Felsenflächen eingemeißelt, seine
Bilder lächeln dich aus jeder schattigen Straßennische an, ja,
manchmal ist es, als ob die buddhistische Seele der Land -
schaft selbst ihr Gepräge aufgedrückt hätte, dort, wo die
Hügel so sanft hinausschweben wie ein Gebet. Und wieder
andere haben gewölbte Kuppeln wie das Haupt Shakas und
das sie um wuchernde wellige Farnkraut gleicht dem Gekräusel
seiner Locken.
Aber nach und nach, indem die Tage verstreichen und wir
auf unserer Reise immer mehr in den höheren Westen ge -
langen, werden die Teras immer seltener. Die buddhistischen
Tempel, an denen wir vorüberkommen, sind klein und ärm -
lich und der Bilder am Wege werden immer weniger. Dafür
* Siehe Bücher, die man lesen soll, Seite 202.
194
mehren sich aber die Symbole des Shyntüglaubens und seine
Miyas werden immer imposanter und größer. Und überall
tauchen Toriis auf und türmen sich höher vor den Zugängen
zu den Dörfern, vor den von seltsamen und grotesken,
steinernen Löwen und Füchsen gehüteten Tempelhöhen, vor
altersgrauen, bemoosten Felstreppen, die zwischen Schatten
dunkler uralter Zedern und Fichten zu Schreinen emporführen,
die im Dämmerlicht heiliger Haine modern,
ln einem kleinen Dörfchen sehe ich gerade über dem zu
einem großen Shintötempel führenden Torii einen ganz be^
sonders merkwürdigen kleinen Schrein. Ich kann uer Ver^
suchung nicht widerstehn, ihn näher zu betrachten. An
seiner geschlossenen Tür lehnen viele kurze, knorrige Stäbe
in einer Keihe, iVlmiaturkeulen. Ohne Bedenken schiebt sie
Akira beiseite, öffnet die 'f ür und fordert mich auf, einen
Blick in das innere zu werfen. Ich erblicke nur eine Maske —
die Maske eines Kobolds, eines iengu — unbeschreiblich
grotesk mit einer ungeheuren IMase, so grotesk, daß es mich
reut, sie angesehen zu haben.
Die Stabe sind Votivgaben, aenn es ist der Glaube verbreitet,
daß wenn man einem Tengu einen solchen Stab darbringt,
man ihn dazu bewegen kann, seine Feinde von einem abzm
halten. Obgleich alte japanischen Abbildungen diese Tengus
in Koboldgestalt darstellen, sind die TengmSamas doch Gott'
heiten — Gottheiten niederer Ordnung, Meister der Fecht'
kunst und jeglicher Waffenführung.
Und noch andere Veränderungen machen sich allmählich
bemerkbar. Akira klagt, er könne die Sprache des Volkes
nicht mehr verstehen, denn unser Weg führt uns durch
Dialektdistrikte. Auch aie Bauart der Hauser ist verschieden
von der aer Dörfer der nordöstlichen Gegend. Ihre hohen
Strondächer sind seltsam mit Strohbündein dekoriert, die an
einem mit dem Dachfirst parallel lautenden, aber diesen um
zwei Fuß überragenden Bambuspfähl beiestigt sind. Die
Hautfarbe aer Bauern ist auch dunkler ais die der Landleute
im Kordosten —■ und ich sehe nicht mehr jene reizenden,
rosigen Gesichtchen, die mir bei den Frauen des Distriktes
Tokio aufgetailen smu. Die Bauern tragen auch andere Hute,
zugespitzt wie die Strohdächer jener i empelcnen am Wegrain,
die seltsam genug „An“ genannt werden (was Strohhut
bedeutet).
Das Wetter ist so warm, daß man die Kleider als eine Last
empfindet, und wenn wir auf unserem Wege an kleinen
Dörfchen vorüberkommen, sehe ich viel gesunde, reinliche
Nacktheit. Hübsche nackte Kinder, gebräunte Männer und
Knaben, nur mit einem weißen, weichen, schmalen Tuch um
die Lenden, liegen schlafend auf dem mattenbedeckten Boden,
denn alle Bapier schieb wände sind fortgenommen, um der
Luft freien Zutritt zu lassen. Die Männer scheinen leicht
und biegsam gebaut, aber ich sehe keine rechte Muskulatur —
die Linien der Gestalten sind immer gerundet. Fast vor
jedem Haus kann man auf kleinen Keisstrohmatten Indigo
in der Sonne trocknen sehen.
Die Landleute blicken verwundert auf den Fremden. Bei
verschiedenen Stationen, wo wir haltmachen, kommen Männer
an mich heran, um meine Kleider zu betasten, wobei sie
sich mit demütigen Verbeugungen und gewinnendem Lächeln
wegen ihrer so natürlichen INeugierae entschuldigen und
meinem Dolmetsch allerlei wunderliche Fragen stellen. Santtere
und gutmütigere Gesichter habe ich nie gesehen und sie sind
auch wirklich der Spiegel ihrer Seele.
Ulld mit jedem lag unserer Weiterfahrt wird das Land
schöner — von jener phantastischen Landschaftsschönheit, die
man nur in vulkanischen Ländern trifft. Waren nicht jene
dunklen Zedern' und Fichtenwälder und dieser ferne, zarte.
traumhafte Himmel und das weiße, weiche Licht, ich könnte
in manchen Momenten unserer Reise glauben, ich sei wieder
in Westindien und stiege über die Bergketten von Dominique
und Martinique. Und manchmal ertappe ich mich auch
wirklich darauf, wie ich am leuchtenden Horizont nach Palmen
und Ceibas ausblicke. Aber das helle Grün der Täler und
der Bergabhänge unter den Wäldern ist nicht das Grün
junger Palmen, sondern das von Reisfeldern — tausend und
aber tausend winzigen Reisfeldern, nicht größer als Haus'
gärtchen, durch niedrige, serpentinenartige gewundene Dämme
voneinander getrennt.
Während wir am Rande eines Abgrundes — tief unter uns
die Reisfelder — dahinrollen, erblicke ich im eigentlichen
Herzen der Bergkette, in der Höhlung eines die Straße über'
ragenden Felsens, einen kleinen Schrein und wir machen
halt, um ihn zu betrachten. Unbehauene Felsblocke bilden
die Seiten und das abfallende Dach des Schreins; drinnen
lächelt eine rohgemeißelte Bildsäule der BatT'kwan'on — der
Kwamon mit dem Pferdekopf — und davor sieht man Feld'
blumensträuße und eine irdene Weihrauchschale und Opfer'
gaben aus getrocknetem Reis sind ringsum ausgestreut. Gegen
alle Erwartung, die der seltsame Name hervorruft, hat diese
Kwan'on'Gestait keinen Pferdekopf, bloß auf der von der
Göttin getragenen Tiara ist ein Pterdekopf eingemeißelt.
Und der symbolische Sinn wird genugsam durch eine vor
dem Schrein aufgestelite Holzsotoba erläutert, die unter
anderen Inschriften die Worte tragt: „BafJ'Kwan'ze'on
Bosatsu gyTT'ba bodai han ye.“ Denn Batü'kwaii'on beschützt
die Pferae und aas Vieh des Bauern und dieser fleht nicht
nur, sie möge diese seine treuen Diener vor Krankheit be'
wahren, sondern auch ihre Geister nach dem Tode in einem
glücklicheren Lebenszustande auferstehen lassen. Neben
der Sotöba hat man ein ungefähr vier Fuß im Quadrat
großes hölzernes Kahmenweru aufgestelit, angefüllt mit
kleinen Fichtenholztäfelchen, die so genau Kante an Kante
aneinandergesetzt sind, daß sie eine glatte Flache bilden.
Und auf diesen stehen in Reihen von tlunderten und Aber'
hunderten die Namen aller derer verzeichnet, die für die
Statue und den Schrein etwas beigetragen haben. Die am
gegebene Zahl ist zehntausend. Ader die ganzen Unkosten
Können nicht zehn japanische Dollars (Jen) überschritten
haben, woraus ich schließe, daß keiner der Spender mehr
ais ein Rin (ein Zehntel eines Cent) beigetragen haben
konnte, denn die rtyakushos sind unsagbar arm. Die
Entdeckung dieses Schreins inmitten dieser ßergeinsamkeit
erfüllt micn mit einem angenehmen Gefühl des Geborgen'
seins. Man kann führwahr nichts als Gutes von einem
Völkchen erwarten, das in seiner Herzensgüte so weit geht,
sich das Seelenheil seiner Kühe und Pferde angelegen sein
zu lassen.
Als wir rasch einen Abhang hinabfuhren, weicht mein
Kurumaya so plötzlich zur Seite, daß ich heftig zusammen'
fahre, denn der Weg führt an dem Rande eines schroffen,
mehrere hundert Fuß tiefen Abgrunds entlang. Dies geschah
aber nur, um einer harmlosen Natter nichts zu leide zu tun,
die gerade über die Straße huschen wollte. Die Natter ist so
wenig eingeschüchtert, daß sie, nachdem sie den Wegrand
erreicht hat, den Kopf wendet, um uns nachzublicken.
Und nun beginnen seltsame Zeichen in allen diesen Reis'
feldern aufzutauchen. Überall über die reifende Saat sehe
ich Dinge, wie weiß befiederte Pfeile hinausragen Gebet'
pfeile: ich ergreife einen, um ihn zu betrachten. Der Schaft
ist ein dünner, ungefähr bis zu einem Drittel gespaltener
Bambusstab. In der Spalte ist ein Streifen starken, weißen,
mit Ideogrammen bedeckten Papieres, ein Ofuda oder
195
Shintüamulett eingeklemmt und die gespaltenen Enden des
Rohres sind gerade darüber wieder zusammengefügt und
festgebunden. Aus einer kleinen Entfernung gesehen, hat
das Ganze das Aussehen eines langen, leichten, gutgefiederten
Pfeils. Der erste, den ich untersuche, trägt die Worte: „Yu^
asaki-jinja^kozen^somchu^an-zen.“ (Von dem Gotte, dessen
Schrein vor dem Dorfe des Friedens steht.) Ein anderer
trägt die Inschrift: „Miho-'jinja^shö'gwan'jü^jugO'kitö-shugo,“
was bedeutet, daß die Gottheit des Tempels Miho-jinja jeder
an sie gerichteten Bitte Gehör schenkt. Beim Weiterfahren
sehe ich überall die weißen Gebetpfeile über die grüne
Reisfläche schimmern und sie werden immer zahlreicher.
Soweit das Auge reicht, sind die Felder davon gesprenkelt,
so daß die grünende Flur wie mit weißen Blumen übersät
erscheint.
Manchmal bemerke ich auch rings um ein kleines Reisfeld
eine Art magischer Hecke, von kleinen Bambusstäben
gebildet, die ein langes Seil tragen, von dem lange Strolv
halmfransen herabhängen und dazwischen in regelmäßigen
Abständen Papierschnitzel (Goheis) die Symbole sind. Das
ist das Shimenawa, das heilige Shintöemblem. In diesen
heiligen Bannkreis findet der Reif keinen Eingang, keine
sengende Sonne dörrt die jungen Schößlinge; und wo die
weißen Pfeile schimmern, werden die Heuschrecken nicht
überhandnehmen, noch diebische Vögel Schaden anrichten.
Vor allen Unbilden ist solch ein Feld geschützt.
Aber nun blicke ich vergebens nach Buddhas aus, vorbei
ist es mit den großen Teras, man sieht keinen Shaka, keinen
Amida, keinen Daimichi'Nyorai, selbst Bosatsu haben wir
hinter uns gelassen; Kwamon und ihre heilige Sippe ist
verschwunden. Wohl ist ja Kohsin, der Herr der Wege,
noch mit uns — aber er hat seinen Namen gewechselt
und ist eine Shintügottheit geworden — er heißt jetzt Saruda^
Hiko no mikoto; und seine Gegenwart künden nur die
Statuen der drei mystischen Affen, die seine Diener sind —
Mizaru, der seine Augen mit den Händen bedeckt und
nichts Böses sieht;
Kikazaru, der seine Ohren mit den Händen bedeckt und
nichts Böses hört;
Iwazaru, der seinen Mund mit den Händen bedeckt und
nichts Böses spricht.
Doch nein! EIN Bosatsu hat sich noch in der Zauber^
atmosphäre dieses magischen Shintöismus erhalten. Noch
immer sehe ich in langen Zwischenräumen am Wegrand
das Bildnis Jizö^-Samas, des entzückenden Spielgenossen der
toten Kinder. Aber auchjizö ist ein wenig verändert; selbst
in dieser sechsfachen Darstellung, Roku-Jizö, erscheint er
nicht stehend, sondern auf seinem Lotos sitzend und ich
sehe keine Steine vor ihm aufgeschichtet wie in den öst'
liehen Provinzen.
Von der Höhe eines ungeheuren Bergabhangs senkt sich
plötzlich der Weg zu einem Gewirr hochgiebeliger Dächer
und bemooster Dachtraufen, zu einem Dörfchen, wie ein
Farbendruck aus dem Bilderbuch des alten Hiroshige —
ein Dörfchen, dessen Farben und Töne den Farben und
Tönen der Landschaft gleichen, in der es liegt. Dies ist
KamiTchi' in dem Lande Hüki.
Wir machen vor einer stillen, altersgeschwärzten kleinen
Herberge halt, deren greiser Wirt herbeieilt, um uns zu
begrüßen, während eine schweigende sanfte Menge von
Landleuten — meist Frauen und Kinder, die Kuruma unv
ringen, um den Fremden zu begucken, zu bestaunen, ja,
sogar seine Kleider mit schüchterner, lächelnder Neugier zu
betasten. Ein Blick auf das Antlitz des greisen Herbergs^
vaters bestimmte mich, bei ihm einzukehren. Ich muß hier
bis morgen bleiben: denn meine Läufer sind zu müde, um
noch heute abend die Reise fortzusetzen.
So mitgenommen von Zeit und Wetter das Häuschen von
außen scheint, so entzückend ist es im Innern. Seine polierten
Treppen und Baikone sind so makellos blank, daß sie gleich -
sam wie Spiegelflächen die nackten Füße der Hotelmädchen
wiederspiegeln — die reinlichen Zimmer duften so lieblich,
als wären ihre weichen Matten eben erst ausgebreitet worden
und die Blätter der Blumen an den aus irgend einer schwarzen
kostbaren Holzart geschnitzten Säulen des Alkovens (toko)
in meinem Zimmer sind ein Wunder an Schönheit. Der
dort hängende Kakemone ist ein Idyll — Hotei, der Gott
des Glücks, gleitet in einem Boote über einen schimmernden
Strom in das Geheimnis eines purpurumwobenen Abends.
So entfernt auch dieser Weiler von jedem Kunstzentrum
ist, so sieht man in diesem Hause doch keinen einzigen
Gegenstand, der nicht den japanischen Sinn für Formen -
schönheit offenbarte. Die alten goldgeblumten Lackarbeiten,
die wunderbare Büchse, in der Süßigkeiten (kwashi) auf -
bewahrt werden, die durchsichtigen Porzellanweinkelche mit
der leichthingeworfenen Zeichnung einer einzigen Garneele,
die Teetassen, deren Untersätze gekräuselte Lotosblätter aus
Bronze sind, selbst der eiserne Kessel mit dem Drachen-
und Wolkenmuster und das Messing-Hibachi, dessen Henkel
buddhistische Löwenköpfe sind, entzücken das Auge und
erfreuen die Phantasie. Und wirklich, wo man heutzutage
in Japan etwas völlig Uninteressantes in Porzellan oder
Metall sieht, etwas alltäglich Banales oder Häßliches, kann
man beinahe sicher sein, daß dieses abscheuliche Etwas
unter fremdem Einfluß entstanden ist. Aber hier bin ich
noch im alten Japan und wahrscheinlich hat noch kein
europäisches Auge vor mir auf diese Dinge geblickt.
Ein herzförmiges Fenster lugt auf den Garten hinaus —
einen wunderlichen kleinen Garten mit einem winzigen
Weiher und Miniaturbrücken und Zwergbäumen — wie
die Landschaft auf einer Teetasse — natürlich sind auch
schöne Steine da und einige anmutige Steinlaternen oder
Türö, wie man sie in Tempelhöfen aufstellt. Und darüber
sehe ich Lichter durch das warme Dämmer — farbige
Lichter —, die Laternen des Bonku, die man vor allen
Häusern aufgehängt hat, als Willkommsgruß für die er -
warteten lieben Geister der Abgeschiedenen. Denn nach dem
alten Kalender, nach dem man in dieser alten Provinz rechnet,
ist dies die erste Nacht des Festes der Toten.
Wie in allen anderen kleinen Dörfchen, wo ich mich unter -
wegs aufgehalten, finde ich die Bewohner liebenswürdig
gegen mich, von einer Herzlichkeit und Höflichkeit, die man
sich nicht vorstellen kann, die unbeschreiblich ist und die
man in anderen Ländern gar nicht kennt, ja, die man selbst
in Japan nur im Innern des Landes findet. Ihre schlichte
Höflichkeit hat nichts Gemachtes; ihre Güte ist durchaus
unbewußte Güte — beide kommen gerade aus dem Herzen. Und
nach kaum zweistündigem Beisammensein mit diesem liebens -
würdigen Völkchen ruft seine Art, mir entgegenzukommen,
im Verein mit dem Gefühl meiner gänzlichen Unfähigkeit,
solche Güte zu erwidern, einen abscheulichen Wunsch in
mir wach: Ich wünsche, diese entzückenden Menschen möchten
mir irgend ein unerwartetes Übel zufügen, etwas erstaunlich
Böses, etwas abscheulich Schlechtes, so daß ich nicht genötigt
wäre, ihnen nachzutrauern, was ich sicherlich tun werde,
sobald ich sie verlassen muß.
Während der alte Wirt mich zum Bad geleitet und darauf
besteht, mich selbst zu waschen, als wäre ich ein Kind,
bereitet seine Frau für uns ein köstliches kleines Mahl,
bestehend aus Reis, Eiern, Gemüsen und Süßigkeiten. Sie
196
macht sich große Sorge, ob es ihr auch gelingen wird,
meinen Geschmack zu treffen, selbst nachdem ich mehr als
genug für zwei Personen gegessen habe, und erschöpft sich
in Entschuldigungen, mir nicht mehr bieten zu können.
„Fische gibt es heute keine,“ sagte sie, „denn heute ist der
erste Tag des Bonku, des Festes der Toten, der auf den
13. Tag des Monats fällt. Am 13., 14. und 15. des Monats
darf niemand Fische essen, aber am Morgen des 16. Tages
gehen die Fischer auf Fang aus; und jeder, dem beide Eltern
noch am Leben sind, darf davon essen. Aber wer Vater
oder Mutter verloren hat, darf selbst am 16. Tag keinen
Fisch essen.“ Während die gute Seele so plaudert, schlägt
ein seltsamer Schall aus der Ferne an mein Ohr — ein
Schall, den ich von den Tänzen in den Tropen her kenne,
ein regelmäßiges, abgemessenes Händeklatschen. — Aber
das Händeklatschen ist sehr sanft und ertönt in langen
Intervallen — und in noch längeren Intervallen hallt zu uns
ein dumpfes, wuchtiges Dröhnen, — die Schläge einer großen
Trommel, einer Tempeltrommel.
„O! Wir müssen hingehen, es ansehen,“ ruft Akira, „das
ist das Bomodori, der Tanz des Festes der Toten. Und Sie
werden das Bomodori hier tanzen sehen, wie man es sonst
in den Städten nirgends sehen und hören kann, das Born
odori der uralten Zeiten, denn hier ist alles so geblieben,
wie es war; aber in der Stadt ist alles anders geworden.“
So mache ich mich eilends auf den Weg, bekleidet mit nur
einem jener leichten, weitärmeligen Sommergewänder —
Yukata — die alle japanischen Hotels den männlichen
Gästen zur Verfügung stellen. Aber die Luft ist so warm,
daß ich selbst in diesen, so dünnen Kleidern leicht transpiriere.
Doch die Nacht ist göttlich — ruhevoller, klarer, tiefer als
europäische Nächte, mit einem großen, weißen Mond, der
wunderliche Schatten zugespitzter Dachtraufen, sichelförmiger
Giebel und wundersame Silhouetten festlich gekleideter
Japaner zeichnet. Ein kleiner Knabe, der Enkel unseres
Wirtes, geht mit einer scharlachroten Laterne voran, wir
folgen; und das sonore Echo der Getas, das Koro'koro der
Holzpantinen erfüllt die ganze Straße, denn gar viele kommen
denselben Weg wie wir, um den Tanz zu sehen.
Eine kurze Strecke geht es durch die Hauptstraße; dann
einen kleinen engen Durchlaß zwischen zwei Häusern
passierend, gelangen wir auf einen weiten, offenen, vom
Mondlicht umfluteten Platz. Das ist der Tanzplatz; aber der
Tanz ist für eine Weile unterbrochen worden. Ich blicke um
mich und sehe, daß wir uns in dem Hofe eines uralten
Buddhatempels befinden. Das Tempelgebäude selbst, ein
niederer, langgestreckter Bau, ist zu der Veranstaltung nicht
herangezogen worden. Verödet, dunkel und leblos streckt es
seine lange, niedere, spitze Silhouette zum Sternenlicht empor
— es ist jetzt zu einer Schule umgewandelt, sagt man mir.
Die Priester sind weg, die große Glocke ist fort, die Buddhas
und die Bodhisattvas sind verschwunden, alle bis auf einen —
einen Jizö aus Stein, der mit abgebrochener Hand und ge -
schlossenen Lidern im Mondschein lächelt.
In der Mitte des Hofes steht ein Bambusgestell, auf dem
eine große Trommel ruht; und ringsherum hat man Bänke
aufgestellt, Bänke aus dem Schulhaus, auf denen Landleute
sitzen. Man hört ein Stimmengesurr, Stimmen von Menschen,
die in gedämpftem Tone sprechen, wie in Erwartung von
etwas Feierlichem — und ab und zu Kindergeschrei und
leises Mädchenlachen. Und weit hinter dem Hof über einer
niedrigen Hecke dunkler, immergrüner Sträucher sehe ich
milde, weiche, weiße Lichter und eine Schar großer, grauer
Formen, die lange Schatten werfen. Und ich weiß, daß die
Lichter die weißen Laternen der Toten sind, wie sie nur in
Friedhöfen hängen, und daß die grauen Formen Silhouetten
von Gräbern sind.
Plötzlich erhebt sich ein Mädchen von seinem Sitz und schlägt
auf die große Trommel. Das ist das Signal für den Tanz
der Seelen.
Aus dem Schatten des Tempels gleitet ein Zug Tanzender
in das Mondlicht und macht plötzlich halt — lauter junge
Frauen und Mädchen in ihren erlesensten Gewändern: die
Größte führt den Zug an, ihre Genossinnen folgen, nach der
Größe geordnet, und kleine Mädchen von zehn und zwölf
Jahren beschließen die Prozession. Gestalten, leicht beschwingt
wie Vögel — Gestalten, die einem unwillkürlich die traum -
haft schwebenden Figuren auf antiken Vasen in Erinnerung
rufen; wären nicht die weiten, phantastisch wallenden Ärmel
und die wundersamen, breiten Gürtel, man wäre versucht,
jene entzückenden japanischen, sich dicht an die Knie
schmiegenden Gewänder für Nachahmungen der Zeichnungen
griechischer und etruskischer Künstler zu halten. Und nach
einem zweiten Trommelschlag beginnt ein Schauspiel, das
Worte unmöglich wiedergeben können, etwas Unsagbares —
ein Tanz, eine Phantasmagorie, eine Offenbarung.
Wie auf ein gegebenes Zeichen gleiten alle zusammen mit
dem rechten Fuß einen Schritt vorwärts, ohne die Sandalen
vom Boden zu heben, und alle strecken beide Hände nach
rechts mit einer seltsam fließenden Wellenbewegung und
einer lächelnden geheimnisvollen Verbeugung. Dann wird
der rechte Fuß zurückgezogen, mit einem abermaligen Hände -
winken und geheimnisvollen Neigen. Dann treten alle mit
dem linken Fuß vor und wiederholen die früheren Bewegungen
mit einer halben Wendung nach links. Dann machen alle
zwei Schritt nach vorn, mit einem einzigen leichten Hände -
klatschen und hierauf werden die früheren Gesten abwechselnd
nach rechts und links wiederholt; alle sandalenbegleiteten
Füße gleiten zusammen, alle die biegsamen Körper, alle die
weichen Hände winken zusammen, neigen und wiegen sich
zusammen. Und so geheimnisvoll, langsam schließt sich die
wallende Prozessionsbewegung zu einer großen Runde, die
den mondbeglänzten Hof und die Zuschauermenge umkreist.
Und immer winken die weißen Hände gleichzeitig, wie ge -
heimnisvolle Zauber webend, bald innerhalb und bald außer -
halb des Kreises, bald mit erhobenen, bald mit gesenkten
Armen, und alle die elfenhaften Ärmel huschen durchein -
ander wie große Fittiche. Und die gleichzeitige Bewegung
all der kleinen Füßchen vereinigt sich zu einem solchen
Rhythmus, daß wenn man darauf sieht, man sich gleichsam
hypnotisiert fühlt, als mühte man sich, ein fließendes,
schimmerndes Wasser mit den Blicken festzuhalten.
Und diese magische Betäubung wird noch gesteigert durch
die lautlose Stille ringsum; niemand spricht, auch keiner der
Zuschauer. Und in den langen Pausen zwischen dem langen
Händeklatschen hört man das Zirpen der Grillen in den
Bäumen und das Shu-shu der den Staub leicht aufwirbelnden
Sandalen. Womit, frage ich mich innerlich, kann diese ver -
glichen werden? Mit nichts. Aber es suggeriert einen som -
nambulen Zustand — Träumer, die zu fliegen träumen,
wachend träumen.
Und mich überkommt der Gedanke, daß ich hier etwas un -
erdenklich Altes vor mir sehe, etwas, das den Uranfängen
des orientalischen Lebens angehört, vielleicht dem dämmer -
haften Kamiyo selbst, dem magischen Zeitalter der Götter;
einen Somnambulismus der Bewegung, dessen Bedeutung seit
zahllosen Jahren der Vergangenheit anheimgefallen ist. Und
immer unwirklicher wird das Schauspiel mit seinem stummen
Lächeln, seinem schweigenden, geheimnisvollen Neigen, wie
das Grüßen unsichtbarer Beobachter — und ich frage mich.
197
ob nicht bei dem allerleisesten Ton alles wie ein Spuk für
immer verschwunden sein würde und nichts übrig bliebe
als der modernde Hof, der verödete Tempel und die zer^
brochene Statue des Jizü mit jenem geheimnisvollen Lächeln,
wie ich es auf dem Antlitz der Tänzerinnen sehe.
Unter dem gleitenden Mond inmitten der Runde fühle ich
mich wie in einem Zauberbann. Und fürwahr, dies ist Be -
zauberung — ich bin berückt, berückt von dem geisterhaften
Winken der Hände, von dem rhythmischen Gleiten der Füße
und vor allem von dem Wallen und Wogen der wunder -
samen Ärmel, schemenhaft, lautlos, sammetweich wie der
Flügelschlag großer tropischer Fledermäuse. Nein — nichts,
was ich je geträumt, ließe sich damit vergleichen — und
bei dem Gedanken an die uralte Hakaba hinter mir, mit
den geheimnisvollen Willkommsgrüßen ihrer Laternen und
den geisterhaften Vorstellungen, die sich an diese Stunde
und diesen Ort knüpfen, überrieselt mich ein namenloser
Schauer, unter Gespenstern zu weilen. Doch nein! Diese an -
mutigen, schweigenden, winkenden Gestalten gehören nicht
zu den schattenhaften Gästen, für deren Kommen die weißen
Feuer entzündet wurden — ein Sang voll klarer, bebender
Süßigkeit wie ein Vogelruf löst sich von Mädchenlippen
und fünfzig weiche Stimmen fallen ein:
„Soröta soroimashita odoriko ga soröta,
Sorokite, kita hare yukata!“
„Dem Auge gleichförmig (wie Reisähren im Felde), alle gleich
in sommerliche Festgewänder gekleidet, hat sich die Tänzer -
schar versammelt."
Und wieder nur das Zirpen der Grillen, das Shu-shu der
Sandalen, das sanfte Händeklatschen und der wogende,
schwebende, feierliche Tanz fährt fort, magnetisch langsam,
mit einer seltsamen Anmut, die gerade in ihrer Naivität so
alt scheint wie der Hügelkranz, der sie einschließt.
Jene, die dort den jahrhundertlangen Schlaf schlafen unter
den grünen Steinen, wo die weißen Laternen sind, und ihre
Väter und ihrer Väter Väter und die unbekannten Gene -
rationen vor ihnen, begraben auf Friedhöfen, die seit Tausenden
von Jahren vergessen sind, auch sie haben sicherlich auf
ein Schauspiel wie dieses geblickt. Ja, dieser von den jungen
Füßen aufgewirbelte Staub war menschliches Leben und
sang und lächelte ebenso unter demselben Mond „mit
wallenden Schritten und winkenden Händen“.
Plötzlich wird das Schweigen durch den Gesang tiefer Männer -
stimmen unterbrochen. Zwei Riesen haben sich der Runde
angeschlossen und führen sie nun an. Zwei prächtige Bauern -
burschen aus den Bergen, fast nackt und um Haupteslänge
die ganze Versammlung überragend. Ihre Kimonos sind wie
Gürtel um den Leib gerollt und lassen ihre Bronzeglieder
der Luft und der Sonne ausgesetzt. Sie sind sonst mit nichts
bekleidet als mit ungeheuren Strohhüten und weißen Tabis,
die eigens für dieses Fest angefertigt werden. Nie vorher
habe ich unter diesem Volke solche Muskeln gesehen, aber
ihre lächelnden, bartlosen Gesichter sind hübsch und gut -
mütig wie die japanischer Knaben. Sie scheinen Brüder zu
sein, so gleichen sie einander in ihrem Körperbau, ihren
Bewegungen und dem Klang ihrer Stimmen, als sie den
Gesang intonieren:
„No demo yama demo ko wa umiokeyo,
Sen ryö kura yori ko ga takara.“
„Ob im Felde geboren oder auf Bergeshöhen, weit kostbarer
als ein Schatz von tausend Ryos ist ein Kind.“
Und Jizü, der Freund der Kindergeister, lächelt durch das
Schweigen.
Diese Seelen sind eins mit der Naturseele, ungekünstelt und
rührend ist ihr Denken, wie die Anbetung jener Kishibojin,
zu der die Frauen beten. Und als die Strophe verklungen
ist, antworten die süßen Frauenstimmen:
„Omou otoko ni sowasanu oya wa,
Oya de gozaranu ko no kataki.“
„Die Eltern, die sich der Vereinigung ihrer Tochter mit dem
Geliebten widersetzen, sind nicht des Kindes Eltern, sondern
seine Feinde.“
Und Lied folgt auf Lied und der Kreis wird immer größer
und die Stunden fliegen dahin, unbemerkt und ungefühlt,
während der Mond über die blauen Hänge der Nacht herab- ,
schwebt.
Plötzlich rollt ein tiefes, leises Dröhnen über den Hof, der
sonore Ton irgend einer Tempelglocke, die die zwölfte Stunde
verkündet. Alsogleich ist der Bann gebrochen, wie das
Wunder eines Traumes, das ein Laut zerstört: Der Gesang
verstummt, die Runde löst sich unter sanften Lachkaskaden
und unter Plaudern und leise vokalisierten Rufen von
Blumennamen, die Mädchennamen sind, und Abschiedsgrüßen:
Sayönara! Und Tänzer und Zuschauer wenden sich unter
lautem Geklapper der Getas gleichzeitig heimwärts. Und
indem ich mich von der Menge treiben lasse, ganz benommen,
wie jemand, der plötzlich aus dem Schlafe aufgeschreckt
worden ist, überkommt mich eine undankbare Regung.
Dieses liebe Völkchen mit dem hellen Silberlachen, das
jetzt neben mir dahertrippelt, auf den lärmenden kleinen
Getas und seine Schritte beschleunigt, um noch rasch einen
Blick auf den Fremden zu werfen — alle die Elfen waren
noch eben eine Vision archaischer Anmut, Illusionen der
Nekromantik, köstliche Phantome — und ich fühle einen
leisen Groll gegen sie, daß sie sich jetzt in solch schlichte
Dorfmädchen verwandeln.
Nachdem ich mich zur Ruhe gelegt, sinne ich dem Grunde
der seltsamen Empfindungen nach, die dieser schlichte,
einfache, ländliche Chor in mir ausgelöst hat.
Unmöglich, mir die Melodie mit ihren phantastischen
Intervallen und der Chromataik der Töne zurückzurufen
— ebensowohl könnte man versuchen, das Vogelgezwitscher
dem Gedächtnis einzuprägen — aber der unsagbare Zauber
umschwebt mich noch.
Abendländische Melodien erwecken in uns Empfindungen,
die wir definieren können, Empfindungen, uns so vertraut
wie die Muttersprache, auf uns vererbt von all den vorher -
gehenden Generationen. Aber wie die Empfindungen erklären,
die uns ein primitiver Sang erweckt, der so grundverschieden
von aller abendländischen Melodik ist, ja, selbst unmöglich
in den Tönen niederzuschreiben, die die Ideogramme unserer
musikalischen Sprache sind? —
Und die Empfindung selbst, was ist sie? Ich weiß es nicht
— aber ich fühle, sie ist etwas unendlich Älteres als ich
selbst — etwas, was nicht bloß einem Ort und einer Zeit
angehört, sondern in der Freude oder dem Leid alles Seins
unter der Sonne des Universums mitvibriert. Und ich frage
mich, ob das Geheimnis nicht vielleicht in irgend einer
unbewußten, spontanen Harmonie jener Melodie mit dem
ältesten Sang der Natur liege, in einer unbewußten Ver -
wandtschaft mit der Musik der Einsamkeiten — mit allem
Trillern und Zirpen des Sommerlebens, das zu der großen
süßen Stimme der Erde verschmilzt.
GOTT DER ALLMÄCHTIGE SCHUF ZUERST
EINEN GARTEN. UND, FÜRWAHR, DER
GARTEN IST DIE REINSTE DER MENSCH -
LICHEN FREUDEN. BACON.
198
DIE KRITIK.
VON OSKAR WILDE.
Erklären heißt einschränken.
(Das Bildnis Dorian Grays.)
Der kritische Geist ist es, der neue Formen schafft. Das
Schaffen neigt dazu, sich zu wiederholen. Jede neue Schule,
die sich erhebt, verdanken wir dem kritischen Geiste und
ebenso jede neue Gußform, die der Kunst sich darbietet...
Jede neuauftauchende Schule flucht der Kritik. Aber ihr
Dasein verdankt sie dem kritischen Geiste. Bloße schaffende
Kraft neuert nicht, sondern wiederholt.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst I.)
Ich möchte die Kritik ein Schaffen aus Geschaffenem nennen.
Denn wie die großen Künstler von Homer und Äschylos
bis zu Shakespeare und Keats nicht dem Leben selbst ihre
Stoffe entnahmen, sondern dem Mythus, den Sagen oder
alten Erzählungen, so behandelt der Kritiker Stoffe, die
andere für ihn gleichsam schon gereinigt, denen sie schon
Form gegeben haben. Ja, ich gehe noch weiter: Die höchste
Kritik gibt die reinste Form persönlichen Eindrucks und
ist also in ihrer Art schöpferischer als das Schaffen selbst.
Denn sie kann an keinem äußeren Maßstab gemessen
werden. Sie ist ihre eigene Ursache und ist, wie ein Grieche
sagen würde, in sich und für sich ein Ziel und Ende. Sie
ist durch keine Fesseln der Wahrscheinlichkeit gebunden.
Keine gemeine Berechnung der Möglichkeit, jene feigen
Rücksichten im langweiligen Kreislauf des wirklichen Lebens,
gehen sie an. Man kann von der Dichtung an die Welt der,
Tatsachen appellieren, über der Seele aber gibt es keine
Instanzen... Denn die höchste Kritik ist nichts anderes als
ein Erzählen von seiner eigenen Seele.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst I.)
Für den Kritiker ist das Kunstwerk nur der Ausgangspunkt
für ein neues, eigenes Werk, das nicht notwendig irgend
eine sichtbare Ähnlichkeit mit dem besprochenen Werke
zu haben braucht. Das wichtigste Merkmal der schönen
Form ist, daß man hineinlegen kann, was man zu sehen
wünscht. Die Schönheit aber, die der Schöpfung ihren alh
gemeingültigen ästhetischen Wert verleiht, macht wieder
den Kritiker zum Schaffenden und raunt ihm tausend Dinge
zu, an die der Künstler nicht dachte, der die Statue meißelte,
das Bild malte, die Gemme schnitt.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst I.)
Die Kritik erfordert viel mehr Kultur als das Schaffen...
Einen dreibändigen Roman kann jeder schreiben. Dazu
braucht man weder etwas vom Leben noch von der Literatur
zu wissen. Für den Kritiker liegt die größte Schwierigkeit
darin, überhaupt irgend einen Maßstab aufrecht zu erhalten.
Wo kein Stil ist, ist natürlich jeder Maßstab unmöglich.
Die armen Leute sind nur noch die Berichterstatter der
literarischen Polizei. Sie zeigen die Taten der Gewohnheits^
Verbrecher in der Kunst an.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst I.)
Ein Kritiker ist ein Mensch, der es versteht, seinen Eindruck
von schönen Dingen in einen anderen Stil oder in ein
neues Ausdrucksmittel zu übertragen.
(Das Bildnis Dorian Grays.)
Ein Kritiker ist ein Mensch, der uns ein Kunstwerk in
einer neuen Form zeigt. Wer aber ein neues Verfahren
anwendet, ist ein Kritiker und ein Schaffender zugleich.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst II.)
Der Kritiker zeigt uns das Kunstwerk immer in einer
neuen Verbindung mit unserer Zeit. Er erinnert uns immer
daran, daß große Kunstwerke etwas Lebendiges sind — ja,
daß sie das einzig Lebendige sind.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst II.)
In der ästhetischen Kritik kommt alles auf den Standpunkt an
(Fingerzeige: Die Wahrheit der Masken.)
Die höchste Form wie die niedrigste Form der Kritik ist
eine Art Selbstbiographie.
(Das Bildnis Dorian Grays.)
Sicher ist das erste Erfordernis einer ästhetischen Kritik,
seinen Eindrücken Gestalt zu geben.
(Fingerzeige: Stift, Gift, Schrifttum.)
Ein Kritiker kann im gewöhnlichen Sinne des Wortes gar
nicht gerecht sein. Nur über Dinge, die einen nichts angehen
kann man unparteiisch urteilen. Das ist auch der Grund,
warum ein unparteiisches Urteil niemals Wert hat. Wer
beide Seiten einer Frage sieht, sieht gar nichts... Nur ein
Auktionator kann unparteiisch und gleichmäßig alle Kunst*
schulen bewundern.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst II.)
Gerade wie die Kunst eines Landes nur durch die Berührung
mit der Kunst fremder Völker das eigene abgeschlossene
Leben gewinnt, das wir ein nationales nennen, so kann
umgekehrt der Kritiker die Persönlichkeit und das Werk
anderer nur dann auslegen und deuten, wenn er seine eigene
Persönlichkeit so stark wie möglich betont. Je stärker seine
Persönlichkeit in die Auslegung eindringt, umsomehr
Wirklichkeit erhält die Auslegung, umsomehr befriedigt
und überzeugt sie, um so wahrer ist sie.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst II.)
Der feinfühlige Kritiker wird jene aufdringlichen Kunstarten
ablehnen, die nur EINE Botschaft zu bringen haben und
nachher stumm und unfruchtbar sind. Er sucht nach einer
Kunst, die sein Träumen und seine Stimmung befruchtet
und durch ihre unirdische Schönheit jede Deutung als wahr,
aber keine Deutung als endgültig erscheinen läßt.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst I.)
Das erste Erfordernis für den Kritiker ist: Temperament —
ein Temperament, das für die Schönheit und die mannig -
faltigen Eindrücke, die uns die Schönheit gibt, auf das
feinste empfänglich ist.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst II.)
Die Kunst wendet sich zunächst weder an den Intellekt
noch an das Gefühl, sondern einzig an das künstlerische
Temperament. Und dieser „Geschmack“ wird unbewußt
geleitet und erzogen durch die häufige Berührung mit den
besten Werken, bis er endlich eine Art richtigen Urteils wird.
(Fingerzeige: Stift, Gift, Schrifttum.)
Kein Kunstwerk darf nach Gesetzen beurteilt werden, die
nicht aus ihm selbst abgeleitet sind: Die Frage ist nur, ob
es in sich geschlossen ist oder nicht.
(Fingerzeige: Stift, Gift, Schrifttum.)
199
Man sagt den Kritikern bisweilen nach, sie läsen die Bücher
gar nicht durch, die sie besprechen sollten. Das tun sie
auch nicht, sollten es wenigstens nicht tun. Täten sie es,
sie würden ihr ganzes Leben zu Menschenhassern. Es ist
auch gar nicht nötig. Um Lage und Wert eines neuen
Weines zu bestimmen, braucht man kein Faß leer zu trinken.
Es sollte doch leicht genug sein, nach einer halben Stunde
zu entscheiden, ob ein Buch etwas taugt oder nicht. Wer
Formensinn hat, hat an zehn Minuten genug.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst I.)
Unsere Kritiker scheinen kaum zu wissen, daß der Ursprung
der Dichtung und Malerei der gleiche ist und daß jeder wahre
Fortschritt in der Ergründung der einen auch eine ent-
sprechende Vervollkommnung in der Erkenntnis der andern
mit sich bringt.
(Fingerzeige: Stift, Gift, Schrifttum.)
Der Satz, der Künstler sei der beste Kunstrichter, ist so
falsch, daß man sagen kann: Ein großer Künstler kann nie
über Werke anderer urteilen und kaum sogar über seine
eigenen. Jene Stärke der Anschauung, die einen Menschen
zum Künstler macht, beschränkt schon durch ihre Stärke
seine Fähigkeit zu feinerer Abschätzung . . . Gerade, weil
jemand etwas nicht machen kann, kann er es beurteilen.
Denn das Schaffen engt den Gesichtskreis ein, während die
Betrachtung ihn erweitert.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst II.)
Was überhaupt bei uns modern ist, verdanken wir den
Griechen. Was bei uns veraltet ist, verdanken wir dem
Mittelalter. Die Griechen haben uns das ganze System der
Kunstkritik gegeben. Wie fein ihr kritischer Sinn war,
können wir schon aus der Tatsache schließen, daß sie ihre
Kritik hauptsächlich an der Sprache übten. Denn im Ver--
gleich mit der Sprache ist das Material des Malers oder
Bildhauers beschränkt und gering. Die Sprache hat nicht
nur Töne, so lieblich wie die der Leier oder Laute — Farben,
so reich und lebendig wie irgend welche, die die Leinwand
eines Venezianers oder Spaniers zieren — plastische Form,
so stark und sicher, wie sie nur je sich in Bronze oder
Stein offenbarte. Ihr gehören auch Gedanken und Leidem
schäften und Geistigkeit und diese gehören ihr allein. Hätten
die Griechen keine Kritik geschaffen außer ihrer Kritik der
Sprache, sie blieben doch die größten Kunstrichter der Welt.
Wer die Gesetze der höchsten Kunst kennt, kennt die Grund -
sätze aller Künste.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst I.)
Das XIX. Jahrhundert wurde ein Wendepunkt der Geschichte,
und zwar durch zwei Männer, durch Darwin und Renan.
Der eine war der Kritiker des Buches der Natur, der andere
der Kritiker der Bücher Gottes. Wer das nicht einsieht, ver -
kennt die Bedeutung einer der wichtigsten Epochen in der
Entwicklung der Welt. Das Schaffen bleibt immer hinter
der Zeit zurück. Die Kritik führt uns.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst II.)
Die Verpflichtung, dem Chaos Form zu geben, läßt nicht
nach, wenn die Welt fortschreitet. Nie war die Kritik nötiger
als jetzt. Nur durch sie kann die Welt sich bewußt werden,
wohin sie gekommen ist.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst II.)
Die Zukunft gehört der Kritik.
(Fingerzeige: Kritik als Kunst II.)
BLUMENSTÖCKE VON
E. R. WEISS. HAGEN i.W
Mit Bildern auf Seite 192 und 193.
B ei früherer Gelegenheit wurde die Geschichte des Blumen -
stückes erzählt. Die Betrachtung ist bei dem Alt-Wiener -
oder Biedermeierblumenstück stehen geblieben, dessen
Vorzüge in einer realistischen Kleinmalerei und in einer
genauen Wiedergabe der morphologischen Details bestand.
Der Kunstfreund und der Pflanzenkenner mußten in gleicher
Weise befriedigt werden. Das Stück sollte nicht nur interessant,
sondern auch belehrend wirken. Die Blumenmaler arbeiteten
wie sorgfältige Illustratoren. Den modernen Pflanzenbüchern
fehlt die Mitwirkung dieser emsigen, peinlich sauberen
farbigen Pflanzenstudien. Der moderne Maler sucht in ihnen
andere künstlerische Wirkungen. Als Träger der Farbe in
früher nie gesehener Schönheit und Heftigkeit behandelt
der Impressionismus die Blumen. Ihre farbige Erscheinung
ist das Wichtige. Die großen Impressionisten Manet, Cézanne,
Monet haben diese Gattung gepflegt. Sie wurde bereits charak -
terisiert. „Ihre Blumenstücke und Stilleben sind nicht mit
dem Verstand, mit dem Wissen oder der Erinnerung zu er -
greifen, sondern nur mit den Augen zu genießen, bestimmt,
eine wunderbare, leuchtende Fülle von lebendigen Farben
zu vereinigen. Die kümmerliche und naturgetreue Nach -
bildung der Blumen war nicht Sache der Franzosen; die
getreueste Nachbildung kann schließlich niemals die echte
Blume ersetzen, niemals ihren Duft, die Vergänglichkeit
ihres Lebens, die zu ihrer Schönheit gehört, wiedergeben,
ln einen solchen unnützen und aussichtslosen Wettbewerb
mit der Wirklichkeit mochten sich diese geistreichen Künstler
nicht einlassen. Aber was sie von den Blumen und Früchten
in der Malerei wiedergeben konnten, war das Geheimnis der
farbigen Wirkung.“
Andere Maler sind auf diesen Wegen gefolgt und haben
das ganze farbige Paradies erobert. Viele Studien von Blumen
und Stilleben sind als Zeichen der wiedererwachten Farben-
und Blumenfreude erstanden. Karl Schuch, dem Kreise
Leibeis und Trübners angehörig, nach dem Vorbild Cézanne
schaffend, hat diese Gattung fast ausschließlich gepflegt. Ein
jungmoderner Künstler, E. R. Weiss, H. i. W., hat einen
neuen Stil des Blumenstückes entwickelt. Er vereinigt die
Farbenanschauung des Impressionismus mit dem Kompo -
sitionsgedanken des biedermeierlichen Blumenstückes. Sein
Blumenstück wirkt dekorativ. Mit hellen und kühnen Farben
verlangt es nach Räumen mit weißen Wänden, nach freund -
lichen Wohnräumen, die licht und luftig sind. Dort werden
sie eine überraschende Wirkung ausüben, die in den Aus -
stellungen, wo die Bilder gelegentlich zu sehen waren, kaum
geahnt werden konnte. Lichte Räume mit weißen Wänden
brauchen starke Farben, die wirken müssen, wie ein Stück
frischer, bunter Bauernmalerei. Die Blumenstücke von Weiss
geben diesen Effekt. Ein bäuerliches Element klingt auch
bei ihnen durch, wenngleich durch die kultivierte und poetisch
empfindende Persönlichkeit des Künstlers reflektiert. Was
in der ursprünglichen bäuerlichen Darstellung naiv erscheinen
würde, ist hier ein wenig sentimental. Die Gefühlsseligkeit
ist ja eine Tugend des Biedermeier redivivus. Viel Schönes
ist dabei zu empfinden. Die Sträuße stecken in schönen
Bauernkeramiken, in köstlichen alten Geburtstagsgläsern,
Dinge, die das lyrische Herz mit Wehmut ergreifen, aber
nebst diesen Bekenntnissen einer schönen Seele ist das
Geheimnis der modernen Farbenanschauung da, als das
Wesentliche.
200
I "~~l VERSCHIEDENE r l
KULTUR - ANGELEGENHEITEN.
EINE ENGLISCHE AUSSTELLUNG VON COTTAGES.
s hat den Anschein, daß in England jeder Durchschnittsarchitekt
in der bürgerlichen und ländlichen Bauweise das leistet, was auf
dem Kontinent schon auf den Anspruch einer ungewöhnlichen Künstler'
schaft berechtigen würde. Hier ist es das Ausnahmsweise, dort das
Selbstverständliche. Es liegt daran, daß in England der Architekt von
einem Laienpublikum unterstützt wird, das Kultur hat und Bedürfnisse
kennt, die nicht von dem Firnis internationaler Moden, sondern von
der wurzelfesten lokalen und nationalen Eigenart bestimmt sind. Diese
Bedürfnisse sind eine organisch begründete Notwendigkeit geworden
und der Hausbau hat davon das Gepräge. Bei uns büßt der Architekt
unter der Indolenz des Publikums. Seine Arbeit huldigt in der Regel
einer oberflächlichen, albernen Stilfrage. Während England eine aus-
gezeichnete bürgerliche Hausbauweise entwickelt, entstehen auf dem
Kontinent alierortens größere und kleinere Wohnbauten, Landhäuser etc.,
die eine wahre Schmach sind. In England war es kürzlich möglich,
eine große Anzahl billiger Einfamilienhäuser anzulegen, sie zuerst als
Ausstellung zu eröffnen und sie später der Benützung für ihre Käufer
zu übergeben. Die Veranstaltung ging von der Londoner Zeitschrift
„The County Gentleman“ aus. Ein riesiges Komitee, darunter namentlich
der englische Adel stark vertreten war, hatte sich gebildet, das Acker'
bauministerium und zahlreiche andere offizielle Körperschaften leisteten
das Ihrige, den Gedanken zu verwirklichen. Nicht weniger als 85 Bau'
firmen und Architekten haben Entwürfe geliefert, die in einem Buch
gesammelt erschienen sind und ausnahmslos ausgezeichnete Gedanken
verkörpern. Auch bei uns zu Lande wird viel gebaut, Arbeiterhäuser
und kleine Wohnbauten, aber es ist ein unerhörter Skandal, mit welcher
Leichtfertigkeit und Gleichgültigkeit gegen alle Forderungen, deren
Erfüllung in England zur unvermeidlichen Selbstverständlichkeit
gehört, dies geschieht. Von dieser Stelle aus wurde der mehrfache
Versuch unternommen, unser Publikum und namentlich die berufenen
Mächte für eine ähnliche Aktion zu gewinnen. Vielleicht wirkt das
englische Beispiel belebend auf das schlummernde Interesse.
HEIMISCHE BAUWEISE.
in Architekt JOSEF BICHLMEIER in Aeschach bei Lindau hat die
heimische Bauweise für den Kreis von Schwaben und Neuburg
studiert und auf dieses Studium seine Entwürfe für neue einfache Wohn-
gebäude aufgebaut. Eine Auswahl dieser Beispiele, alte und neue, ist
als Flugschrift bei der Süddeutschen Verlagsanstalt, München, zum
Preise von M. 1-20 erschienen. Die alten Beispiele sind wunderschön
und die neuen nehmen sich in dieser Nachbarschaft recht gelungen
aus. Es ist glücklicherweise nicht das einzige Beispiel, das in Süd'
deutschland das Bestreben zeigt, im Anschluß an gute heimische Vor-
bilder die kleinen Baumeister und das baulustige Publikum in der
Kleinstadt und auf dem Lande zu einer anständigen Bauweise zu
erziehen. Neuartige bauKÜNSTLERISCHE Erscheinungen sind dabei
allerdings nicht zu erwarten; aber ist es denn nicht lächerlich, bei
jeder kleinen Alltagsaufgabe nach BAUKUNST zu verlangen? Was zu
verlangen ist, ist ein gutes BauHANDWERK. Schriften wie diese sind
geeignet, die Hebung des Bauhandwerkes zu fördern. Wenn meine
Stimme so weit reichen würde, dürfte in dem Kreise Schwaben und
Neuburg Bichlmeiers Schriftchen in keinem Hause fehlen. Auch über
den Kreis hinaus müßte das Beispiel weiter wirken und zu ähnlichem
Streben anregen. Es täte überall sehr not. Ganze Länderstriche werden
von einzelnen Baumeistern in der unverantwortlichsten Weise ver'
schandelt. Unter solchen Umständen erregt es fast Bewunderung,
wenn ein Baumeister das Selbstverständliche tut und das Studium
lokaler Baugedanken zur Grundlage seines Schaffens macht.
SCHWEIZERISCHE VEREINIGUNG FÜR HEIMATS -
KUNST.
ie neue Vereinigung will versuchen, durch Vorträge, Veranstaltungen
typischer Vorführungen (Gegenüberstellung von guten und schlech'
ten Beispielen), durch Ausstellungen sowie namentlich durch Heraus-
gäbe der in der ersten Nummer vorliegenden, voraussichtlich monatlich
erscheinenden illustrierten Zeitschrift, die Allgemeinheit für das Ver-
ständnis des wirklich Schönen in Natur und Kunst heranzubilden.
Sie geht dabei von der Ansicht aus, daß nur eine Hebung des all'
gemeinen Geschmackes und eine auch dem Volk verständliche Pflege
des Schönen das Land vor weiteren Verunstaltungen jeder Art bewahren
und einer erfreulichen Zukunft entgegenführen kann.
ARBEITERWOHNHÄUSER IN TRIEST.
ie Triester Stadtgemeinde hat beschlossen, zur Unterbringung von
zirka 500 Familien 500 Wohnungen für den Kostenbetrag von
1,400.000 Kronen zu errichten. Diese 500 Wohnungen bestehen zum
großen Teil aus je einem Zimmer mit Herd und zum andern Teil
aus Zimmer mit Küche. Weder von Bädern noch sonstigen hygienischen
Einrichtungen ist die Rede. Es ist auch nicht die Absicht vorhanden,
kleine Häuser für Ein- und Zweifamilien mit Anlagen von Küchen-
gärten, Spielplätzen und sonstigen Einrichtungen zu schaffen, die
heute zu den Selbstverständlichkeiten dieser sogenannten Wohlfahrts-
institutionen gehören. Wenn man bedenkt, daß die Arbeiterfamilien
in der Regel sehr kinderreich sind, dann kann man sich vorstellen,
was für ein Elendshaufen diese Wohlfahrtseinrichtungen zu werden
versprechen, wo ein Baublock Hunderte von Wohnungen umfassen
und jede Wohnung, bestehend aus einem Raum mit Herd oder mit
einem kleinen Nebenraum als Küche, je eine vielköpfige Arbeiter -
familie einpferchen soll. Man kann nur mit Grauen an die gesund -
heitliche und moralische Verwahrlosung denken, die durch eine solche
Munifizenz der Triester Stadtgemeinde gezüchtet wird. Dieser Wohl-
tätigkeitsakt stellt sich bei näherer Betrachtung als ein Profitgeschäft
dar. Für diese Hundelöcher soll nämlich eine Jahresmiete von 136,
beziehungsweise 180 Kronen eingehoben werden, in Summa jährlich
86.300 Kronen, was einer nahezu 9% Verzinsung der Anlagekosten
gleichkommt. Wohltun trägt Zinsen! Es ist eine sehr dringende Frage,
ob es für die Gemeinde wichtiger ist, durch eine umsichtige, allen
modernen Anforderungen entsprechende Wohnungsfürsorge die Lebens -
haltung der Arbeiterschaft im größten Maße zu heben oder, einem
Profitgeschäfte zuliebe, einen Arbeiterbezirk zum hoffnungslosen Sumpf
zu stempeln. Der Gemeinde werden daraus keine guten Früchte er -
wachsen. Sie will die Regierung ersuchen, ein Auge zuzudrücken,
wenn diese Arbeiterwohnungen nicht den Anforderungen des Gesetzes
entsprechen sollten. Ich meine, daß es sehr notwendig ist, an die
Regierung zu appellieren, daß sie beide Augen sehr offen halte, und
ich hoffe, daß sich Menschenfreunde finden, die sich ins Mittel legen.
WOHLDORF, DIE HAMBURGER GARTENSTADT.
ch kann mir kein freundlicheres Gegenbeispiel zu der besprochen
geistigen und moralischen Minderwertigkeit des besprochenen
Triester Projektes denken als die deutsche Gartenstadtbewegung, die
im Anschluß an das englische Beispiel von der deutschen Garten-
Stadtgesellschaft betrieben wird. Die neuesten Mitteilungen dieser
Gesellschaft berichten über das Fortschreiten des neuen Kulturgedankens,
der nun in allen Teilen Deutschlands Wurzeln schlägt. Auch aus
Hamburg kommt ein Zeichen, daß auf dem dortigen Boden Ähnliches
wachsen will. Ein Büchlein schildert die herrliche Landschaft und
alte Volkskultur, aus der das Neue organisch hervorgehen soll, eine
Hamburger Gartenstadt in Wohldorf, die rationelles und schönes
Wohnen inmitten der Ländlichkeit ermöglichen soll. Der Sache ist
gutes Gedeihen zu wünschen, das Interesse der Bevölkerung und der
berufenen Künstlerschaft.
201
□ BÜCHER, DIE MAN LESEN SOLL. □
NEUE GÄRTEN. VON PROF. JOSEF M. OLBRICH. Ein Künstler,
der mit den Worten eines Dichters den Sinn des eigenen Werkes er -
klärt, wie es Olbrich in einem Vortrag über seinen „Farbengarten“
anläßlich der XVIII. Hauptversammlung deutscher Gartenkünstler getan
hat, ist in unserer banalen Zeit eine ungewöhnliche Erscheinung. Das
künstlerische Machtbewußtsein und die Begeisterung, die in dem Werk
und in den Worten liegen, werden weiter wirken. Die Liebe und das
Verständnis für schöne Gärten im deutschen Volke werden von da
her eine Stärkung erfahren und der veredelte Begriff von schöner
Gartenkunst wird herrschen. Nebst der Rede über den „Farbengarten“
hat Prof. Josef M. Olbrich zahlreiche Bilder und Pläne seines Werkes in
einem Band : NEUE GÄRTEN, BEI ERNST WASMUTH in Berlin verlegt.
GÄRTEN. VON PAUL SCHULTZE-NAUMBURG. Im Verlage von
Georg D. W. Callwey ist ein Ergänzungsband mit Bildern zu dem be -
kannten Gartenbuch als Band II der Kulturarbeiten von Paul Schultze-
Naumburg erschienen. Der Ergänzungsband enthält eine große Reihe
von entzückenden Gartenbildern, die in den eigentlichen Textbänden
keine Aufnahme finden konnten und nun als selbständiges Bilderbuch
neues Anschauungsmaterial für einfache gute Gestaltungen bringen.
Ein besonderer Text war hiezu nicht notwendig, da die prinzipiellen
Erörterungen, die sich an die verschiedenen Formen des Gartens an -
knüpfen, im Hauptband II zu finden sind. Allen Freunden der Kultur -
arbeit und insbesondere jenen, die schöne Gärten lieben, ist auch dieser
Bilderband wärmstens zu empfehlen. Die Durchsicht des Buches ist
ein genußreicher Spaziergang durch Gartenschönheiten, die einst zu dem
besten Schmuck der deutschen Erde gehörten. Es ist aufs dringendste
zu wünschen, daß die Worte dieses Buches fruchtbar werden und
helfen, daß bei Neuanlagen die Schönheit der alten Gärten wieder
gefunden werde. Insbesondere den Gartenbauschulen und den an -
gehenden „Kunstgärtnern“ möchte ich diese Werke Schultze-Naum-
burgs als Schulbücher anempfehlen, um sie zum Studium der älteren
heimischen Gartenkultur anzuregen. Das Schema der unleidigen so -
genannten englischen Landschaftsgärtnerei, die mit falsch verstandenen
französischen Gartenprinzipien verquickt ist, würde dann vielleicht vor
der besseren Erkenntnis fallen, daß die regelmäßigen organischen
Gartenanlagen, die aus der vergangenen bürgerlichen Kultur über -
liefert sind, ungleich wertvollere Vorbilder sind.
LOTOS. VON LAFCADIO HEARN. In gleicher Ausstattung wie „Ko-
koro“ ist in der literarischen Anstalt von Rütten & Loening in Frank -
furt ein neuer Band von Lafcadio Hearn unter dem Titel „Lotos“ er -
schienen. Kein Japan-Schilderer hat es vermocht, in das Wesen der
japanischen Volksseele so einzudringen und das Leben so anschaulich
zu schildern, daß es den Europäern fast verständlich wird, als es der
Dichter vermocht hat. Lafcadio Hearn war ein dichterischer Beobachter,
der die schwere Kunst des Sehens besaß. Er hat in Japan alles gesehen,
viele Dinge, die der bloß wissenschaftliche Reiseschilderer nicht be -
merkt, flüchtige Erscheinungen, die dem künstlerischen Auge nicht
entgehen und, wie gering sie scheinen mögen, recht bedeutsam sind.
Man kann sagen, Lafcadio Hearn hat mit Vorliebe die kleinen Züge
geschildert, aber in seiner Schilderung sind sie groß geworden und das
Bild ist liebenswert und fein, wie es niemals in den Schilderungen
anderer Kenner, die sich nur auf das allgemeine Wesen beschränken,
erschienen ist. Eine jüngst erschienene allgemeine Darstellung, „Die
japanische Volksseele“ von Okakura, erschienen im Verlage von
C. W. Stern in Wien, ist, abgesehen von dem geschmacklosen Um -
schlag, ein sehr verdienstliches Büchlein und jenen zu empfehlen, die
eine rasche Orientierung über die Eigenart des japanischen Volkes
gewinnen wollen. Persönlicher Gewinn aber ist erst dann zu erwarten,
wenn die Sache ein seelisches Erlebnis geworden ist. Durch Lafcadio
Hearn wird Japan auch für die Leser ein seelisches Erlebnis. Das ist
der Wert der Bücher „Kokoro“ und „Lotos“.
DER TANZ. VON OSKAR BIE. Die mitgeteilte Leseprobe über den
schönen Garten gibt eine Andeutung über den Reichtum des im Ver -
lag von Bard, Marquardt & Co. in Berlin erschienenen Buches. Dieses Buch
selbst ist ein schöner Garten, reich an Perspektiven, schönen Aus -
blicken und entzückenden Ansichten. Oskar Bie faßt den Begriff des
Tanzes an der Wurzel, als Rhythmus und führt den Gedanken an
allen Beispielen durch, die sich ihm darbieten. Das Fest der Elemente,
der Tanz im Dienst als Rhythmus der Arbeit, der gesellschaftliche
Verkehr, der Gesellschaftstanz, das Kunstwerk des Tanzes, das Ballett,
die Musik, das sind die Hauptkapitel, aus denen sich sein Werk über
die rhythmischen Künste aufbaut. Jeder dieser Abschnitte bildet ein
ungeheures Gebiet von Wahrnehmungen, schönen Gedanken und
geistreichen Untersuchungen, die der Autor durch ein erstaunlich
reiches historisches Material vertieft. Ein eminent künstlerisches Werk
ist zu stände gekommen, die heterogenen Stoffe sind zu einer organischen
Einheit verschmolzen durch die subjektive Auffassung des Verfassers,
die im Mittelpunkt steht. Sonach behandelt das Werk nicht so sehr
die Dinge, die es bespricht, sondern vielmehr die Reagenzen, die diese
Dinge auf einen sehr subtilen, geschmackvollen Geist hervorgebracht
haben. Es ist ein Buch, voll von Impressionen, kunstvoll verwoben
wie ein kostbares Spitzengewebe, das Werk eines Schönheitssuchers,
der die Schönheit überall findet, wo er sie finden will. Seiner Führung
mag sich jeder getrost anvertrauen, der in Kunstfreude wandern will.
Der Weg ist immer kurzweilig und reich an Gewinn. Es' liegt im
Geiste der Darstellung, daß auch Unscheinbares bedeutsam wird, die
Vergangenheit wird Gegenwart und sie ist immer interessant, bei
welchem Zipfel auch sie der Autor erfaßt. Das Buch ist mit vielen sehr
gewählten Illustrationen versehen, was seinen Wert unendlich erhöht.
Es verdient besondere Anerkennung, daß die Verlagsanstalt keine
Mittel gescheut hat, das Werk auf das geschmackvollste auszustatten.
Karl Walser hat den Buchschmuck gezeichnet; Druck und Satz ist
klar und sauber und der Einband gibt dem Ganzen eine schöne Äußerlich -
keit. Es ist somit eine Freude für den Leser und Liebhaber.
] PREISAUSSCHREIBEN. [
Dem Sänger des LIEDES DER ARBEIT, dem Organisator der pro -
letarischen Gesangvereine in Österreich, JOSEF SCHEU, soll ein GRAB-
MONUMENT gesetzt werden, würdig des Künstlers, des Kämpfers des
Menschen.
Zu diesem Zwecke wird hiemit einelDEENKONKURRENZ ausgeschrieben
und die österreichischen Bildhauer werden eingeladen, sich an ihr mit
PLASTISCHEN ENTWÜRFEN im Modell von ‘/io der natürlichen Größe
zu beteiligen. Das Grabmonument soll das Schaffen, die überlebende
Bedeutung des Verewigten künstlerisch zur Anschauung bringen; eine
Porträtplastik ist daher nicht in erster Linie bedingt, wohl aber ist
die Anbringung etwa eines Porträtmedaillons sehr erwünscht.
Die WAHL DES MATERIALS für die Ausführung ist dem Künstler
überlassen, doch soll dem Modell die Angabe beigefügt sein, in welchem
Material der Entwurf, beziehungsweise die Ausführung gedacht ist. Der
Flächenraum für das Grabmonument beträgt i'4o Meter Länge und
1-26 Meter Breite; es bleibt freigestellt, ob der ganze Raum oder nur
ein Teil davon in Anspruch genommen wird. Als GESAMTKOSTEN
für die Herstellung des Grabmonuments ist die Summe von 7000 Kronen
festgesetzt. Drei Preise von je 300 Kronen sind für die besten Entwürfe
bestimmt. Die Ausführung wird in engerer Konkurrenz einem der
drei preisgekrönten Künstler übergeben.
Die Entwürfe sind bis LÄNGSTENS 31. MAI 1906 im Sekretariat des
ARBEITERHEIMS FAVORITEN, X. Laxenburgerstraße Nr. 10, Mez -
zanin, einzuliefern und mit einem KENNWORT oder Motto zu ver -
sehen; ein geschlossenes Kuvert mit demselben Kennwort oder Motto
und der Aufschrift PREISAUSSCHREIBEN soll an das SCHEU -
DENKMALKOMITEE unter der Adresse der Redaktion der Arbeiter -
zeitung gerichtet sein und Namen und Adresse des Künstlers enthalten.
Die Jury besteht aus den Herren: Dr. V. ADLER, Architekt Hubert
GESSNER, Professor Jos. HOFFMANN, Kunstschriftsteller Jos. Aug.
LUX; für den Verband der Arbeitergesangvereine Eduard JENIK, für
den Gesangverein „Freie Typographia“ Karl ZÖRER.
Wegen etwaiger Auskünfte wende man sich an das Scheu-Denkmal -
komitee; etwa erwünschte biographische Anhaltspunkte bietet die
Nummer der Arbeiter-Zeitung vom 13. Oktober 1904.
WIEN, am 4. April 1906.
DAS SCHEU'DENKMALKOMITEEr
202
AUFRUF
ZUR GRÜNDUNG EINES NIEDERÖSTER.
REICHISCHEN LANDESMUSEUMS IN WIEN.
J edes Kronland unserer Monarchie besitzt heute sein Landesmuseum.
Nur Niederösterreich, ihr Stammland, in dessen Gauen so oft die
Geschicke des Gesamtreiches entschieden worden sind und von welchem
seine Kultur den Ausgang genommen hat, entbehrt noch immer eines
solchen Museums. Zu einer Zeit, da man Museen nur als Sammel-
statten und bunte Schaustellungen betrachtete, waren wohl die anderen
großen Sammlungen Wiens der Gründung eines Landesmuseums hin -
derlich und noch heute wird von manchen Seiten im Hinblick auf
jene Sammlungen und Museen ein Landesmuseum als überflüssig be -
zeichnet. Ganz und gar mit Unrecht, denn die anderen Sammlungen
vermögen teils wegen ihres allgemeinen, teils wegen ihres zu speziellen
Charakters nicht die Aufgaben eines Landesmuseums zu erfüllen. Ein
niederösterreichisches Landesmuseum im modernen Sinne muß der
Veranschaulichung und Erforschung der Vergangenheit und Gegen -
wart des Landes in Natur und Kultur dienen. Es soll durchaus keine
bloße Sammelstelle sein, obwohl es allen den künftigen Funden, allen
den Objekten, welche sonst dem Verfalle oder dem Verkaufe an in-
und namentlich ausländische Händler und Sammler ausgeliefert
wären — leider ist bereits so vieles unrettbar verloren —, eine sichere
Zufluchtsstätte werden möge. Das Landesmuseum soll aber vor allem
durch seine systematische Anordnung und Ausgestaltung einen Mittel -
punkt der wissenschaftlichen landeskundlichen Forschung bilden und
es soll auch eine Stätte der Volkserziehung werden.
Von diesen Gedanken geleitet, hat der Verein für Landeskunde von
Niederösterreich die Gründung eines niederösterreichischen Landes -
museums in Wien angeregt. Vom hohen Landtage des Erzherzogtums
Österreich unter der Enns mit der Aufgabe betraut und unterstüzt,
im Einvernehmen mit verwandten wissenschaftlichen Vereinen und
Gesellschaften Wiens, deren Vertreter sich zu einem Musealausschusse
vereinigt haben, hat er nunmehr in seiner Generalversammlung am
17. Februar 1906 den Beschluß gefaßt, die Gründung eines Landes -
museums zu fördern und als Beauftragter des Musealausschusses die
Geschäftsführung in den Musealangelegenheiten zu übernehmen.
Der Verein für Landeskunde von Niederösterreich und die mitunter -
zeichneten Vereine und Gesellschaften wenden sich daher an alle, denen
die Erforschung ihres engeren Heimatlandes am Herzen liegt, an alle,
welche ihr Heimatland lieben, mit der Bitte, ihn bei seinem großen
und schwierigen Werke zu unterstützen.
Jeder, der dem Vereine für Landeskunde von Niederösterreich als
ordentliches Mitglied (Jahresbeitrag K r—, Einschreibegebühr K 2-—)
beitritt, kann bereits sein Scherflein dazu beitragen. Wer außer dem
Jahresbeiträge zu Musealzwecken einen jährlichen Betrag von K 20'—
zahlt, wird FÖRDERER. STIFTER leisten entweder einen einmaligen
Betrag von K iooo-— oder einen jährlichen von K 50'— für die Museal -
zwecke. Die Namen der Stifter werden in einem künftigen Museal -
gebäude verewigt werden.
Der Verein nimmt jedoch auch Spenden von Geld und passenden
Musealgegenständen sowie Widmungen unter Wahrung des Eigen -
tumsrechtes entgegen und ist auch für Mitteilungen über Funde, Ge -
legenheitskäufe u. dgl. dankbar.
Zuschriften sind zu richten an das Sekretariat des Vereines, Wien,
L, Herrengasse 13.
SO MÖGEN DENN ALLE VATERLANDSFREUNDE ZUSAMMEN -
HELFEN ZUR GRÜNDUNG DES NIEDERÖSTERREICHISCHEN
LANDESMUSEUMS IN WIEN — ZUM NUTZEN UND FROMMEN
DER WISSENSCHAFT, ZUR BILDUNG UND ERZIEHUNG DER
JUGEND UND DES VOLKES, ZUR HEBUNG UND STÄRKUNG DES
HEIMATSINNES UND DER VATERLANDSLIEBE UND ZUR EHRE
UND ZIERDE DES LANDES NIEDERÖSTERREICH.
Der Verein für Landeskunde von Niederösterreich. Der
Altertumsverein in Wien. Die Anthropologische Gesellschaft.
Die Numismatische Gesellschaft. Die österreichische Gesell -
schaft für Münz- u. Medaillenkunde. Die k. k. Zoologisch -
botanische Gesellschaft. Die Wiener Mineralogische Gesell -
schaft, Der Verein für österreichische Volkskunde.
BÜCHEREINLAUF.
EDUARD VON MAYER. Die Seele Tizians. Band II der Sammlung
„Führer zur Kunst“. Herausgegeben von DR. HERM. POPP. Mit
3 Photogravüren, 3 Vollbildern und i Abbildung im Text. Preis
M. i*—. PAUL NEFFS VERLAG (MAX SCHREIBER), Eßlingen.
HANS SEMPER. Das Fortleben der Antike in der Kunst des Abend -
landes. Band III der Sammlung „Führer zur Kunst“. Heraus -
gegeben von DR. HERM. POPP. Mit 3 Vollbildern und 30 Ab -
bildungen im Text. Preis M. r—. PAUL NEFFS VERLAG (MAX
SCHREIBER), Eßlingen.
DR. LUDWIG WOLTMANN. Die Germanen und die Renaissance in
Italien. Mit über 100 Bildnissen berühmter Italiener. THÜRINGSCHE
VERLAGSANSTALT, Leipzig, 1905.
LEBENSGESCHICHTE EINES MODERNEN FABRIKSARBEITERS.
Herausgegeben und eingeleitet von PAUL GÖHRE. Preis brosch.
M. 4-50, gebd. M. 5-50. Verlegt bei EUGEN DIEDERICHS, Jena
und Leipzig, 1905.
BROCKHAUS’ KLEINES KONVERSATIONSLEXIKON. Fünfte voll -
ständig neu bearbeitete Auflage. Mit zahlreichen Abbildungen und
Karten. 2 Bände, 66 Lieferungen. Lieferung i—4. VERLAG F. A.
BROCKHAUS, Leipzig, 1905.
SCHULTZE-NAUMBURG. Kulturarbeiten. Neue Bilder zu Band II.
Gärten. Brosch. M. 3’—. VERLAGSBUCHHANDLUNG GEORG D.
W. CALLWEY, München.
GUSTAF AF GEYERSTAM. Alte Briefe, Novellen. Geh. M. 3’5o, gebd.
M. 4-50. VERLAG S. FISCHER, Berlin.
„KIND UND KUNST.“ Monatsschrift für die Pflege der Kunst im Leben
des Kindes. II. Jahrgang, Heft 4, 5, 6, 7. Vierteljährlich M 3-50.
VERLAGSANSTALT ALEX. KOCH, Darmstadt.
ERNST SCHUR. Der Fall Meier-Gräfe. Betrachtungen über die deutsche
Kunst und Kultur der Gegenwart. Preis M 3'—. IM EIGENEN
VERLAGE, GROSS-LICHTERFELDE—WEST bei Berlin, 1905.
R. HAMANN. Rembrandts Radierungen. 137 Abbildungen, 2 Licht -
drucktafeln und Text. VERLAG BRUNO CASSIRER, Berlin, 1906.
KNUT HAMSUN. „Schwärmer“, Roman. VERLAG ALBERT LANGEN,
München.
RICHARD SCHAUKAL. „Großmutter. Ein Buch von Tod und Leben.“
M 3--, geb. M 4’—• DEUTSCHE VERLAGSANSTALT, Stuttgart.
HERMANN BAHR. „Dialog vom Marsyas.“ IV. Band der Monographien -
serie „Die Kultur“. Herausgegeben von CORNELIUS GURLITT.
Preis M 1-25. BARD-MARQUARDT & CO„ Berlin.
W. FRED. „Benvenuto Cellini.“ Band XXXXIV der Monographienserie
„Die Kunst“, herausgegeben von RICHARD MUTHER. Preis M rzs,
BARD-MARQUARDT & CO„ Berlin.
SPECTATOR. „Berliner Klubs.“ Band XXV der Großstadt-Dokumente.
Preis M r—. VERLAG HERMANN SEEMANN NACHFOLGER,
Berlin, SW. 11.
DR. FRANZ HOENIGER. „Berliner Gerichte.“ Band XXIV der Großstadt-
Dokumente. Preis M r—. VERLAG HERMANN SEEMANN NACH -
FOLGER, Berlin, SW. 11.
R. H. FRANCÉ. „Das Liebesieben der Pflanzen.“ In farbigem Umschlag,
reich illustr., mit 3 bunten Tafeln. 85 Seiten 8°. M r—. VERLAG DES
KOSMOS, GESELLSCHAFT DER NATURFREUNDE, Stuttgart.
LAFCADIO HEARN. „Lotos. Blicke in das unbekannte Japan.“ Preis
geh. M 5 —, geb. M r—. LITERARISCHE ANSTALT RÜTTEN UND
LOENING, Frankfurt a. M.
ERDMANN HARTIG. „Erziehung zur bürgerlichen Baukunst.“ Preis
M —-6o. VERLAG M. JACOBIS NACHFOLGER, Aachen, 1906.
ILLUSTRIERTER KUNSTHISTORISCHER PRACHTKALENDER. Alt -
fränkische Bilder. XII. Jahrgang, 1906. Preis M r—. HERAUS -
GEGEBEN TN DER KÖNIGL. UNIVERSITÄTS-DRUCKEREI VON
H. STÜRTZ in Würzburg.
203
OSKAR WILDES SÄMTLICHE WERKE In deutscher Sprache. I. Band:
GEDICHTE. Übersetzt von OTTO HAUSER. II. Band: „DORIAN
GRAY.“ Übersetzt von W. FRED. III. Band: „DER GLÜCKLICHE
PRINZ.“ Übersetzt von RUDOLF LOTHAR. IV. Band: „EIN HAUS
AUS ÄPFELN DER GRANATE.“ Übersetzt von FRIEDA UHL.
Wien und Leipzig, WIENER VERLAG.
NIKOLEI LJESSKOW. Bandl: „DER VERRZAUBERTE PILGER.“ Aus
dem Russischen übersetzt von KLARA BRAUNER. III. Aufl. Band II:
„DER TOUPET'KÜNSTLER.“ Übersetzt von KLARA BRAUNER.
III. Aufl. Band III: „DER VERSIEGELTE ENGEL.“ Übersetzt von
KLARA BRAUNER. III. Aufl. Band IV: „LADY MACBETH DES
MZENSKER UMKREISES.“ Übersetzt von KLARA BRAUNER.
ID. Aufl. Band V: „AM ENDE DER WELT.“ Übersetzt von KLARA
BRAUNER. Band VI: „DAS TIER.“ Übersetzt von KLARA
BRAUNER. III. Aufl. Band VII: „DER STÄHLERNE FLOH.“ Über -
setzt von KLARA BRAUNER. III. Aufl. WIENER VERLAG, Wien
und Leipzig.
LIEBESBRIEFE BERÜHMTER MÄNNER UND FRAUEN. Band I:
„NAPOLEON AN JOSEFINE.“ Band II: „SCHILLER AN LOTTE.“
Band III: „GEORGE SAND AN ALFRED DE MÜSSET.“ Band IV:
„LENAU AN SOPHIE LÖWENTHAL.“ Band V: „HEINRICH VON
KLEIST AN SEINE BRAUT.“ WIENER VERLAG, Wien und
Leipzig, 1906.
„CHINESISCHE LYRIK.“ Deutsch von HANS HEILMANN. Band I der
Sammlung „Die Fruchtschale“. VERLAG R. PIPER & CO., München.
PLATENS TAGEBÜCHER. Im Auszuge herausgegeben von ERICH
PETZET. Band II der Sammlung „Die Fruchtschale“. VERLAG
R. PIPER & CO„ München.
FRIEDRICH SCHLEGELS FRAGMENTE UND IDEEN. Herausgegeben
von FRANZ DEIBEL. Band III der Sammlung „Die Fruchtschale“.
VERLAG R. PIPER & CO„ München.
AMIELS TAGEBÜCHER. Deutsch von Dr. ROSA SCHAPIRE. Band IV
der Sammlung „Die Fruchtschale“. VERLAG R. PIPER & CO.,
München.
ADALBERT STIFTER. Eine Selbstcharakteristik, ausgewählt und ein-
geleitet von PAUL JOSEF HARMUTH. Band V der Sammlung
„Die Fruchtschale“. VERLAG R. PIPER & CO., München.
JÖRG WICKRAM. „DER GOLDFADEN.“ Erneuert von KLEMENS
BRENTANO. Band VI der Sammlung „Die Fruchtschale“. VERLAG
R. PIPER & CO„ München.
THOMAS THEODOR HEINE. Band I „Moderne Illustratoren“ von HER -
MANN ESSWEIN. Preis einzeln M. 3-—. VERLAG R. PIPER & CO.,
München.
HANS BALUSCHEK. Band II „Moderne Illustratoren“ von HERMANN
ESSWEIN. Preis einzeln M. y—• VERLAG R. PIPER & CO., München.
H. DE TOULOUSE-LAUTREC. Band III „Moderne Illustratoren“ von
HERMANN ESSWEIN. Preis einzeln M. 3-—. VERLAG R. PIPER
& CO., München.
EUGEN KIRCHNER. Band IV „Moderne Illustratoren“ von HERMANN
ESSWEIN. Preis einzeln M. 3-—. VERLAG R. PIPER & CO„ München.
ADOLF OBERLÄNDER. Band V „Moderne Illustratoren“ von HER -
MANN ESSWEIN. Preis einzeln M. 3.—. VERLAG R. PIPER & CO.,
München.
ERNST NEUMANN. Band VI „Moderne Illustratoren“ von HERMANN
ESSWEIN. Preis einzeln M. 3-—.VERL AGR. PIPER & CO„ München.
EDVARD MUNCH. Band VII „Moderne Illustratoren“ von HERMANN
ESSWEIN. Preis einzeln M. 3-—.VERLAG R. PIPER & CO., München.
OSKAR BIE. „DER TANZ.“ Mit Buchschmuck von KARL WALSER
und 100 Kunstbeilagen. Preis M. 25.— in Leder geb„ bei BARD,
MARQUARDT & CO., Berlin, 1906.
ROBERT THOMAS. Unter Kunden, Komödianten und wilden Tieren.
Lebenserinnerungen. VERLAG FR. WILH. GRUNOW, Leipzig, 1905.
FERDINAND GREGORI. Natur und Liebesstimmungen deutscher
Dichter. Buchschmuck von FIDUS. Brosch. M. 1-40, kart. M. r8o,
Leinenband M. 2-—, in Geschenkband in Karton M. s’—. MAX
HESSES VERLAG, Leipzig.
HANS BETHGE. Deutsche Lyrik seit Liliencron. Mit 8 Bildnissen.
Brosch. M. i - 40, kart. M. r8o, in Leinenband M. 2’—, in Geschenk -
band M. 3‘—• MAX HESSES VERLAG, Leipzig.
TH. VOLBEHR. Gibt es Kunstgesetze? Band I der Sammlung „Führer
zur Kunst“. Herausgegeben von DR. HERM. POPP. Mit 3 Photo -
gravüren und 3 Abbildungen im Text. Preis M. r—. PAUL NEFFS
VERLAG (MAX SCHREIBER), Eßlingen.
SCHULZE RUDOLF. „Die Mimik der Kinder beim künstlerischen
Genießen.“ Fünftes bis zwölftes Tausend. Preis 60 Pf. R. VOIGT-
LÄNDERS VERLAG, LEIPZIG.
DERI MAX. „Das Rollwerk in der deutschen Ornamentik des sech -
zehnten und siebzehnten Jahrhunderts.“ VERLAG SCHUSTER &
BUFLEB, BERLIN, 1906.
PILO MARIO. „Psychologie der Musik.“ Deutsch von Chr. D. Pflaum.
Brosch. M. 4-—, geb. M. 5—. VERLAG GEORG WIGAND, LEIPZIG.
KAPFF E„ Dr. „Die Erziehungsschule.“ Ein Entwurf zu ihrer Ver -
wirklichung auf Grund des Arbeitsprinzips. Preis M. rzo. VERLAG
JULIUS HOFFMANN, STUTTGART.
MONTELIUS OSKAR. „Die Kulturgeschichte Schwedens,“ mit 540 Ab -
bildungen. VERLAG E. A. SEEMANN, LEIPZIG. 1906.
GOERINGER IRMA. „Kinder der Seele.“ Roman. Preis M. 3*—. VERLAG
EGON FLEISCHEL & CO., BERLIN, W.
GABELENTZ GEORG VON DER. „Das Glück der Jahnings.“ Roman.
Preis M. 3-50. VERLAG EGON FLEISCHEL & CO„ BERLIN, W.
MARTENS KURT. „Kreislauf der Liebe.“ Eine Geschichte vom besseren
Menschen. Preis M. 2-—. VERLAG EGON FLEISCHEL & CO.,
BERLIN, W.
KELLER HEINRICH. „Im Dienste der Menschheit.“ Roman. Preis M. s'—.
VERLAG EGON FLEISCHEL & CO„ BERLIN, W.
INHALT DES DOPPELHEFTES 13 U. 14:
Gartenarchitektur. — Gartenfeste. — Der schöne Garten. Von Oskar Bie. —
Heckenrosen. — Wiener Gärten. — Der Farbengarten. Von Professor Josef
M. Olbrich. —L.: ANSICHTEN. Naturalismus und Stil. Auferstehung. Das
Mysterium. — Bon-Odori. Von Lafcadie Hearn. — Die Kritik. Von Oskar
Wilde. — Blumenstücke. Von E. R. Weiss. H. i. W. — VERSCHIEDENE
KULTURANGELEGENHEITEN. Eine englische Ausstellung von Cottages.
Heimische Bauweise. Schweizerische Vereinigung für Heimatskunst. Ar -
beiterwohnhäuser in Triest. Wohldorf, die Hamburger Gartenstadt. —
Bücher, die man lesen soll. — Preisausschreiben. — Aufruf zur Gründung
eines niederösterreichischen Landesmuseums in Wien. — Büchereinlauf.
Jahrgang I der „HOHEN WARTE“, I. und II. Halbjahr, ist in
einigen gebundenen Exemplaren noch zum alten Preis zu haben.
Später Preiserhöhung!
Einbanddecken für den I. Jahrgang werden auf Bestellung
nachgeliefert.
Mit diesem Heft beginnt das II. Semester des II. Jahrganges.
Aushaftende Abonnementsbestellungen wollen sofort erneuert
werden, um keine Verzögerung in der Zustellung zu verursachen.
Unregelmäßigkeiten in der Zustellung wollen dem Verlag der „HOHEN
WARTE“ gefälligst sofort bekanntgegeben werden.
NACHDRUCKVERBOT für sämtliche in den Heften der „Hohen Warte"
erscheinenden Artikel und Illustrationen.
Alle Zuschriften und Sendungen Wien, XIX. Grinzingerstrafle No. 57. Telephon 21.847.
Verlag „Hohe Warte“ (Lux & Lässig). Für die Redaktion Joseph Aug. Lux.
Für den österreichischen Buchhandel in Kommission bei: HUGO HELLER, WIEN
I. Bauernmarkt 3.
Druck von Christoph Reisser’s Söhne, Wien V.
204
SONDER- WIEN UND DIE KÜNSTLERISCHEN
Doppelnummer: GEMEINDEAUFGABEN I.
ÜBERBLICK.
Nur ein Bruchteil des grossen Themas konnte in diesem Hefte
erörtert werden; andere Hefte über diesen Gegenstand werden
folgen. Die mannigfaltigen Erscheinungen eines grossen Stadt -
lebens erfordern eine gesonderte Darstellung; ich beginne mit
jenen Stadtteilen, wo noch ein Werden ist und manches Übel
abgewendet werden kann. Es ist DAS STADTGEBIET AM
FU SSE DES KAHLEN GEBIRGES, wo Ländliches und Städtisches
einander begegnen; über Landschaften und Ortschaften orientieren
die Bilder und im Zusammenhang damit der Text 5 Wiener
Vorstadtkultur, Der Wald- und Wiesengürtel, Der Nordosten
Wiens, „Wenn du vom Kahlenberg. . . . “; weitere moderne
und historische Interessen betreffen s Tote Architektur, Altwiener
Haustore, Läden und Trachten; Literatur und Wiener Musik.
WIENER VORSTADTKULTUR.
D ie Bezirke, die um den inneren Stadtkern gelagert
sind, bilden eine amorphe Masse. Die Zentrali -
sation der Gemeindeverwaltung hat sie entmündigt,
die Spekulation hat ihre bauliche Entwicklung über -
nommen und ihnen den Stempel einer gleichmässigen
Schablone aufgedrückt. Öde und Unwohnlichkeit ist
ihr Merkmal. Die „schöne Fassade“ ist für den Zu -
stand der Dinge ebenso bezeichnend wie der Mangel
des Bades fast bei allen Wohnungen, die grösseren
nicht ausgeschlossen. Wer durch die nüchternen, stau -
bigen, trotz der auffallenden Breite und Helligkeit tristen
Strassenzüge, die meistens peinlich geradlinig verlaufen,
fährt, ahnt nicht, dass sich an ihrer Stelle einstmals
entzückende Ortschaften befanden, von denen hie und
da ein altes, bei aller Verwahrlosung immer noch an -
sprechendes Haus, ein plastisches Wahrzeichen, ein
Restchen Garten, ein alter Friedhof legendenhafte
Kunde gibt Der Regulierungsplan hat die ursprüng -
lichen Strassen- und Platzverhältnisse nicht berück -
sichtigt und die überlieferte lebensvolle Anlage
durch die Abstraktion des Generalregulierungsplanes
brutalisiert. In einzelnen Punkten wird durch Auf -
stellung von Denkmälern und kleinen gärtnerischen
Anlagen ein Verschönerungsversuch unternommen,
aber sie bleiben immer äusserlicher Zierrat; die Schön -
heit muss an den Dingen sein, sie kann nicht an -
geheftet werden, wie man ein Schmuckstück anheftet
Je weiter man zur Peripherie kommt, desto stärker
tritt die ursprüngliche bodenständige Kultur zutage.
Obschon eingemeindet und mit neuen Bezirksnamen
versehen, haben sich in den äusseren, von Gärten,
Weinbergen, Wald und Wiesen umschlossenen länd -
lichen Vororten mit dem alten architektonischen Be -
stand die lieblichen Ortsnamen erhalten: Dornbach,
Neuwaldegg, Gersthof, Pötzleinsdorf, Neustift am
Walde, Sievering, Grinzing, Heiligenstadt. Man kann
heute noch innerhalb der Stadtgrenzen Wiens aufs
Land gehen. Die genannten Orte sind noch immer
beliebte Sommerfrischen. Die Namen anderer, von der
Stadterweiterung aufgesogenen und spurlos verschwun -
denen Orte: Rudolfsheim, Fünfhaus, Ottakring, Wein -
haus, sind noch im Munde des Volkes wie verklun -
gene Sagen. Die genannten, noch erhaltenen Ort -
schaften am Fusse des Kahlenberges haben zum grossen
Teil ihren Kulturcharakter bewahrt, obgleich die
Schabionisierung von der Stadt aus auch hier riesige
Fortschritte macht. Trotzdem ist noch ein Rest eigenen
Gemeindelebens und in der Bevölkerung ein starkes
Heimatgefühl vorhanden. Trotz der Einverleibung
sind diese Orte noch immer ein Individuum, die an -
deren Bezirke eine Nummer. Dort gilt es, Bestehendes
zu erhalten und vor der Schabionisierung zu retten,
hier wird alles von neuem zu machen sein. Wir
können vorläufig nichts tun, als die geistige und
künstlerische Einsicht der jungen Generation wappnen,
um sie zu befähigen, einmal die schweren Fehler der
letzten dreissig bis vierzig Jahre gut zu machen. □
Diese noch ursprünglich gebliebenen Vororte inner -
halb des Wiener Gemeindefriedens sind kraft ihrer
eigenen überlieferten Kultur noch immer zu einer
gewissen Selbständigkeit befähigt und im wesentlichen
Vorteil den anderen gewöhnlichen Stadtbezirken gegen -
über. Diese anderen gewöhnlichen Stadtbezirke, an
Ausdehnung und Bevölkerungszahl grösser als eine
mittelgrosse Provinzstadt, wie etwa Salzburg, gleichen,
für sich allein betrachtet, einem Lebewesen niedrigster
Ordnung, das zwar einen grossen Magen, aber nicht
die edleren Organe zu einem höher entwickelten Da -
sein besitzt, um die Kulturaufgaben innerhalb eines
205
der so grossen Gemeindebezirkes selbständig zu lösen.
Wer in London gelebt hat, weiss, dass jeder Bezirk ein
hochentwickeltes Gemeindeleben aufweist und selb -
ständig an der eigenen Kultur arbeitet. Jeder Bezirk
besitzt ein eigenes Theater, oft deren mehrere, ein
grosses Klubhaus, grosse Spielplätze, grosse Park -
anlagen, Schwimmanstalten, vortrefflich bestellte grosse
Bibliotheken, eigene Museen, eigene höhere Bildungs -
anstalten, kurz, ein eigenes geistiges Leben, das selbstver -
ständlich baulich zum Ausdruck kommt. Jeder Bezirk
ist gleichsam eine selbständige Stadt und arbeitet
künstlerisch für sich. Bei uns arbeitet nur die innere
Stadt, der alte Stadtkern mit dem Ring und seinem
nächsten Anhang, für die Kultur, aber in einer Weise,
die heute naturgemäss internationalen Anstrich hat.
Die Bezirke hängen geistig von ihr vollständig ab.
Die Pflege der lokalen städtischen Kultur, die ihre
Aufgabe wäre, ist vollends vernachlässigt, und darum
bietet das Ganze ein so farbloses Bild. Einige Vor -
stadttheater lassen Wunsch und Möglichkeit erkennen,
die Bezirke wieder zu eigenen Kulturzentren zu ent -
wickeln. Es ist nur auf Grundlage einer verwaltungs -
politischen Autonomie möglich. □
Die sogenannten Rathäuser in den Bezirken sind
blosse Zweigstellen der Verwaltung. Der Gemeinderat
und Stadtrat unter dem Vorsitz des Bürgermeisters
und seiner Beisitzer ist zentralisiert und entscheidet
für alle Bezirke. Diese kommunale Verfassungsform
ist historisch begründet und überliefert aus der Zeit,
da die Stadt noch nicht die enorme Ausdehnung
hatte wie heute und die gemeinsamen Aufgaben, die
die ganze Stadt gleichmässig betreffen, zu lösen waren,
vor allem die Beleuchtungs-, Verkehrs- und Gesund -
heitsfragen. Die Schattenseiten dieser Verfassung treten
heute schon stark hervor in den Mängeln des General -
regulierungsplanes, in der Schabionisierung des Stadt -
bildes und in der Erlahmung des individualisierten
Gemeindelebens innerhalb der einzelnen Gemeinde -
bezirke. □
Die Zukunft liegt offen. □
Die Entwicklung wird von der Dezentralisation der
Gemeindeverwaltung den Ausgang nehmen. Die
gemeinsamen Angelegenheiten, die das Stadtganze be -
treffen, werden unter dem Vorsitz eines Oberbürger -
meisters beschlossen werden; in allen Fragen, welche
die individuelle Entwicklung der Bezirke betreffen,
werden diese autonom handeln müssen. Wenn die
Rathäuser in den Bezirken wieder ihren ursprüng -
lichen Sinn bekommen haben und den natürlichen
Schwerpunkt ihres Stadtteiles bilden, dann wird das
Gemeindeleben in den Bezirken wie eine Hochflut
schwellen. Der amorphe Koloss der Riesenstadt, zer -
legt in einen Kranz von Städten, der Absolutismus
der Zentralverwaltung, ersetzt durch ein Bündnis von
selbständigen und individualisierten Stadtregierungen,
die Millionenstadt als Städtebund, das ist die Kristalli -
sation der amorphen Masse. Die Bezirke, auf sich
selbst gestellt, müssen notgedrungen einen Wettkampf
untereinander bestehen, und das Interesse der Bürger -
schaft wird naturgemäss darüber wachen müssen,
die höchste Wohnlichkeit, die besten Gesundheits -
verhältnisse, das grösste Mass von Schönheit und
Kultur auf lokalem Boden zu entwickeln. □
Wenn die ganze Stadt schön und angenehm sein soll,
dann muss diese Schönheit und Annehmlichkeit in
allen Teilen gleichmässig entwickelt sein. Das kleinste
Stück einer Stadt soll immer noch soviel des Guten
enthalten, um auf die Herrlichkeit des ganzen Gebildes
schliessen zu lassen, wie ein Fragment einer antiken
Plastik unfehlbar die Vollendung des übrigen Teiles
offenbart. Mindestens aber soll der räumlich über -
wiegende Teil einer Stadt, im Hinblick auf Kunst
und Kultur, nicht einer toten Schlacke gleichen, wie
es heute leider in Schön-Wien der Fall ist Zu diesem
Ende ist in den neuen, in den letzten Jahrzehnten
ausgebauten Stadtbezirken nahezu alles von neuem
zu tun. In bezug auf Wohnhaus und Stadtplan
müssen die aufgeklärten künstlerischen, sozialen und
hygienischen Grundsätze zur Geltung kommen, die
vor allem ein Haus nicht wegen der Fassade, son -
dern wegen der Wohnzwecke für Kulturmenschen
errichten. Die Trennung der Geschäfts- und Ver-
kehrsstrassen, die von den eigentlichen Wohnstrassen
durchweg mit Rasen und grünen Pflanzungen zu
versehen sind, bilden eine grundlegende Forderung
für den modernen Städtebauer. Der einzelne Stadt -
bezirk als Kulturzentrum wird aus seinem eigenen
geistigen und künstlerischen Leben die Institutionen
entwickeln, die den lokalen Gedanken zum Ausdruck
bringen, nebst Rathaus das Theater, Museum, Biblio -
thek, Lese- und Redehalle, Konzerthaus, Park, Sport -
plätze, Denkmäler, schöne Brunnen, Ausstellungen,
Gewerbehallen und sonstige Wohlfahrtseinrichtungen,
die im Einzelnen und im Gesamten den Inhalt einer
organischen und eben darin künstlerischen architek -
tonischen Strassen- und Platzanlage bilden. □
Wir werden einen solchen Umschwung nicht erleben.
Es ist die Arbeit dreier folgender Generationen, und
es ist die Frage, ob ein solches Ziel jemals annähernd
verwirklicht werden wird. Aber in allem, auch dem
Geringsten, das gestaltet wird, soll das Bild einer ganz
harmonischen Durchbildung den Leitstern bilden, wenn
das Wenige gut geraten soll. Immer soll es zum
Ganzen gehen. □
In den ländlichen, noch erhaltenen Vororten liegen die
Umstände günstiger. Dort hätte man nur auf dem
Bestehenden weiterzubauen. Die Grundlinien sind dort
von Haus aus gegeben. Man müsste sich vor dem
Grundfehler des voreiligen Zerstörens und Schabloni-
sierens hüten, was leider nicht zu erwarten ist. Wenn
die Fähigkeit, Werte zu erkennen und zu unter -
scheiden, heute herrschend wäre, in den schlichten
und schier unscheinbaren Gebilden dieser Ortschaften
würde die Architektur alles finden, was ihr heute
fehlt: den Anschluss an die Heimat und an das
Leben des Volkes. p
206
DER WALD- UND WIESENGÜRTEL UND DIE
HÖHENSTRASSE DER STADT WIEN.
er Wald- und Wiesengürtel und die Höhenstrasse der Stadt
Wien verfolgen einen doppelten Zwecks vor allem soll
dadurch der Stadt die Zufuhr reiner Luft gesichert, dann
aber auch die Möglichkeit eines erfrischenden Aufenthaltes im
Freien und ästhetischer Anregung den Bewohnern dauernd ge -
wahrt oder in erhöhtem Masse neu geboten werden. □
Die Art der Anlage ergibt sich aus der Bodengestaltung und
aus der Entwicklung der Stadt. Der älteste Teil Wiens erhebt
sich auf einem Hügel an einem Arm der Donau, ungefähr 5 km
südlich von der Stelle, wo der grösste Strom des westlichen
und mittleren Europas in die von Bergen umschlossene Ebene
des sogenannten Wiener Beckens ein tritt. Um diesen, im Laufe
der Zeit erweiterten, ursprünglichen Kern haben sich nach und
nach zuerst die „Vorstädte“ und darauf auch die „Vororte“ in
Form eines inneren und äusseren Ringes angeschlossen, durch
die radial vom Zentrum die grossen Verkehrsadern an die Peri -
pherie reichen, so dass es kaum eine andere Grosstadt gibt, bei
der das allmähliche Wachsen vom Mittelpunkte aus so deutlich
zu erkennen ist. Dabei musste die Stadt zum grossen Teile die
Hügel der früheren Umgebung hinansteigen, und heute ist das
Häusermeer an einzelnen Stellen schon ganz nahe an das Wald -
gebirge herangerückt, das sich im Norden und Westen der Stadt
ausdehnt. □
Aber nicht nur in der radialen Anordnung der Verkehrswege,
sondern auch in der eigentümlich konzentrischen Anlage einiger
Hauptstrassenzüge kann man noch die Entwicklung der alten
Kaiserstadt aus einer Festung zur freien Grosstadt erkennen. An
der Stelle der alten Festungswerke, welche die Innere Stadt um -
gaben, läuft ein breiter Strassenzug, die RINGSTRASSE und
der FRANZ JOSEFS-KAI, mit einer Fülle anschliessender
Gärten und Plätze; Etwa 2 bis 3 km davon entfernt erstreckt
sich an der Stelle der Umwallung der Vorstädte, die aus der
Zeit Prinz Eugens stammte, eine Strasse von ausserordentlicher
Länge (13*8 km) und Breite (75*86 m), die GÜRTELSTRASSE,
die zum Teil schon sehr hoch über dem Wasserspiegel der
Donau liegt. Mit ihren Gartenanlagen und freien Plätzen kann
die Gürtelstrasse, in deren Zug sich der Prater und der Augarten
gewissermassen einfügen, gleich der Ringstrasse als eine Anlage
aufgefasst werden, die nicht nur dem Verkehre dient, sondern
auch alle einmündenden Strassen mit frischer Luft versorgt.
Zugleich eröffnet sie eine Reihe anregender Blicke in die um -
gebenden Stadtteile und selbst ins Gebirge. □
Mit dem riesigen Wachsen der Stadt haben nun aber auch die
äusseren, ursprünglich ländlichen Bezirke einen mehr und mehr
städtischen Charakter angenommen, und es ist nach der bis -
herigen Zunahme vorauszusehen, dass Wien um die Mitte
unseres Jahrhunderts eine Bevölkerung von vier Millionen er -
reichen und der ländliche Charakter an der Peripherie des Stadt -
gebietes vollständig verschwunden sein wird. □
Der natürlichen Gestaltung der äusseren Stadtgebiete ent -
sprechend, zerfällt der Wald- und Wiesengürtel in verschiedene
Teile. □
Im Westen und Nordwesten reicht das Gebirge bis in das
Gemeindegebiet herein. Diese Strecke, vom Kahlengebirge an
der Donau bis zum Eintritt des Wienflusses in die Stadt, umfasst
die grösseren Höhen und noch innerhalb des Gemeindegebietes
bedeutende Waldungen, die auch fast vollständig in den Gürtel
einbezogen werden sollen. Da der Wald- und Wiesengürtel
als einen Hauptzweck die Sicherung der Zufuhr reiner Luft
in die Stadt verfolgt, so war die Erhaltung der grünen Flächen
an der westlichen und nördlichen Grenze auch wegen der in
Wien vorherrschenden westlichen Windrichtung von besonderer
Bedeutung. Im Südwesten ist der Wald durch den an die
Grenze der Stadt anstossenden kaiserlichen Tiergarten ohnehin
auf unabsehbare Zeit gesichert. Der breite, unverbaute Gürtel
an der westlichen und nordwestlichen Stadtgrenze kann zugleich
als ein Schutzdamm gegen das Übergreifen der Bebauung auf
die andere Seite des Waldes jenseits des Stadtgebietes ange -
sehen werden. Eine selbständige Verbauung in grösserer Aus -
dehnung ist aber dort um so weniger zu befürchten, als die
Bodengestaltungen immer bewegter und die Hänge immer steiler
werden. □
Wegen der hohen Lage des Gürtels in dieser Strecke und
mit Rücksicht auf die ausserordentliche natürliche Schönheit
der Landschaft, die schon bisher die Spaziergänge der Wiener
hauptsächlich in diese Richtung gelenkt hat, erschien es doppelt
angezeigt, gerade in diesem Gebiete auch für eine leichtere Zu -
gänglichkeit zu sorgen, was durch die später zu besprechende
„Höhenstrasse“ in ganz besonderem Masse erreicht werden wird.
Die Gesamtfläche der in diesem Teile für den Wald- und Wiesen -
gürtel bestimmten Grundstücke beträgt 1720 ha, wovon 1174 ha
auf Waldbestand, der Rest auf Wiesen entfallen. □
Der Wald- und Wiesengürtel soll eine Erholungsstätte für alle
Schichten der Bevölkerung sein, kein Ziergarten mit beschränkter
Bewegungsfreiheit. Darum werden die grünen Flächen, soweit
sie schon bestehen, nach Möglichkeit in dem natürlichen Zustand
belassen? wo sie neu geschaffen werden müssen, ist eine Art
Waldpark mit ausgedehnten Gehölzgruppen und grossen Wiesen
beabsichtigt. Doch sollen einzelne Teile der vor dem Wald
liegenden Flächen auch gärtnerisch ausgeschmückt werden, ins -
besondere ist dies aber bei jenen Strecken der Fall, die mitten
im dichter verbauten Stadtgebiet die einzelnen grossen Anlagen
miteinander verbinden. Auch zur Errichtung von Spiel- und
Sportplätzen wird reichlich Gelegenheit geboten sein. □
Das Gesamtausmass der vom Wald- und Wiesengürtel bedeckten
Bodenfläche beträgt mit Einschluss der Lobau rund 4400 ha.
Die heute in Wien bestehenden öffentlichen Gartenanlagen haben
ungefähr ein Ausmass von 917 ha. □
Von der am rechten Ufer des Donaustromes gelegenen Boden -
fläche der Stadt wird nach Durchführung des Projektes fast ein
Achtel von den grünen Flächen des Wald- und Wiesengürtels
bedeckt sein. □
Einen wesentlichen Bestandteil des ganzen Projektes bildet die
„HÖHENSTRASSE“. In der gewaltigen Ausdehnung von
29 km und in der mittleren Höhe von 183 m über dem Spiegel
des Donaustromes (also höher als der Stephansturm) läuft sie
hin an den Abhängen des Wienerwaldes, vom Donaustrom bis
zum Wienfluss. □
Die Höhenstrasse hat den Zweck, den von ihr durchzogenen
Teil des Wald- und Wiesengürtels leichter zugänglich zu machen,
vor allem aber soll sie eine AUSSICHTSSTRASSE allergrössten
Stiles sein. □
207
Man könnte damit die Anlagen einiger anderer Städte ver -
gleichen, so insbesondere in Italien, dem klassischen Lande des
künstlerischen Städtebaues, die „Hügelstrasse“ (Viale dei Colli)
zu Florenz (J86t angelegt) und die Passeggiata Margherita zu
Rom (1884 angelegt). Doch sind diese naturgemäss von viel
geringerer Ausdehnung. C
Die neue Höhenstrasse verläuft im allgemeinen so nahe dem
Waldrande, dass von zahlreichen Punkten aus auf ihr der Über -
blick über ganz Wien und noch weit darüber hinaus möglich
sein wird. □
In dem von der Höhenstrasse durchzogenen Teil des Wald-
und Wiesengürtels liegt längs der unregelmässigen Begrenzung
der gegen die Stadt hin zungenartig auslaufenden Waldbestände
ein Wiesenstreifen von ungleicher Breite, die eben so ausge -
mittelt wurde, dass von jeder Stelle des oberen Randes der
freie Blick auf die Stadt gewahrt ist. □
Vielfach geht jedoch der Strassenzug selbst auch mitten durch
den Wald, wodurch dem Auge eine willkommene Abwechslung
geboten wird. □
Die Höhenstrasse ist als FAHRSTRASSE gedacht, ihre Stei -
gungen sollen 60°/oo nicht überschreiten, so dass Wagen noch
in leichtem Trabe fahren können. Die Breite der Fahrbahn
wurde mit 8 m angenommen? stellenweise sollen zu beiden
Seiten der Fahrbahn Alleen angelegt werden. Der Gehweg wird
in selbständiger Ausbildung durch die anstossenden Wald- und
Wiesenflächen, die an hiezu geeigneten Stellen auch gärtnerisch
behandelt werden können, geführt werden. □
ANFANG und ENDE der Höhenstrasse liegen einerseits in
der Fortsetzung der vornehmen Villenstrasse der Hohen Warte,
anderseits in der Fortsetzung der bedeutendsten radialen Ver -
kehrsader, der Mariahilferstrasse. Im übrigen wird sie an vielen
Punkten sowohl durch die bereits bestehenden Hauptstrassen-
züge (Währingerstrasse, Gersthoferstrasse, Pötzleinsdorfer Allee,
Aiszeile, Hernalser Hauptstrasse, Ottakringerstrasse und Stein -
hofstrasse) mit der Stadt verbunden sein, als auch durch neu
anzulegende Strassenzüge und Verbesserung bereits bestehender
Fahrwege (dies insbesondere in der Richtung gegen den Kahlen -
berg). Dadurch wird es möglich sein, die Fahrt oder den
Spaziergang nach Belieben auch auf einzelne Teilstrecken zu
beschränken. □
Auf der Höhe des 273 m über dem Donaustrom gelegenen
Dreimarksteines bei Salmannsdorf, über den die Höhenstrasse
führt und der schon von der Stelle, wo die Währingerstrasse
in die Ringstrasse einmündet, aus sichtbar ist, soll ein AUS -
SICHTSTURM von etwa 30 m Höhe errichtet werden, der
nebenbei als Wasserturm für die höchstgelegenen Teile der
Stadt benützt werden wird. Ausserdem wird sich wohl in Zukunft
Gelegenheit ergeben, einzelne andere Punkte durch Architekturen,
Denkmäler oder in anderer Art auch künstlerisch auszuschmücken.
Die Höhenstrasse bietet schon an sich grosse LANDSCHAFT -
LICHE SCHÖNHEITEN in reichster Abwechslung, vor allem
aber gewährt sie WEITE AUSBLICKE von der grössten land -
schaftlichen, geschichtlichen und auch naturwissenschaftlichen Be -
deutung. Da unten liegt an dem mächtigen Strom die alte
Kaiserstadt, umgeben von dem grünen Gürtel, wie ein kost -
barer Edelstein von einer kostbaren Fassung. Hoch über das
Häusermeer empor ragt Wiens Wahrzeichen, der Stephansturm,
vielleicht der schönste gotische Turm der Welt. Über die wohlig
gerundeten Kuppen des Wienerwaldes und das kulturreiche
Wiener Becken schweift das Auge bis an die Grenzgebirge des
Erzherzogtums, die sich im Schneeberg bis über 2000 m erheben,
während jenseits der Donau die fruchtbare Ebene sich fast ins
Endlose verliert. □
Unwillkürlich verknüpft sich der Rundblick mit Erinnerungen
an die grossen Ereignisse, die Wien mehr als einmal zum Mittel -
und Wendepunkt der europäischen Geschichte gemacht haben.
Die „Türkenschanze“ und das Kahlengebirge, von dem herab die
vereinigten christlichen Heere zum Entsätze Wiens von der zweiten
Türkenbelagerung vor drangen, gemahnen an die Zeit, da Wien
seine welthistorische Sendung dadurch erfüllt hat, dass es das
ganze Abendland von der Gefahr des Islams endgültig befreite?
das Marchfeld war wiederholt die Wahlstatt, auf der die Geschicke
grosser Ländergebiete entschieden wurden, so im Kampfe Rudolfs
von Habsburg mit Ottokar und in den Kriegen Napoleons,
der hier bei Aspern — das heute ein Teil Wiens ist — seine
erste Niederlage in offener Feldschlacht erlitt, und stromabwärts
gewahrt man die Höhen, die über Carnuntum emporragen, der
wichtigen Grenzfeste des Weltreiches der Römer. Ja, selbst in
Zeiten, die aller menschlichen Erinnerung unendlich weit voraus -
liegen, erschliesst sich hier ein Ausblicks das geschulte Auge
des Geologen erkennt mit voller Sicherheit (an einer Stelle
Zwischen Grinzing und dem Kahlenberg und dann an den
Bergen bei der Mündung der March) die Ufer des Meeres,
das vor ungezählten Jahrtausenden das Wiener Becken aus -
gefüllt hat. □
Die Gemeinde Wien veröffentlicht in Form einer Broschüre, die
im Kommissionsverlag von Gerlach & Wiedling erschienen ist,
das ganze Projekt, dem fünf Pläne beiliegen. Eine Vergleichung
mit London, Paris und Berlin ergibt, dass Wien verhältnismässig
das grösste Gesamtausmass an Wald-, Garten- und Wiesenflächen
besitzt. Die Idee des Wald- und Wiesengürtels ist gut zu heissen,
insoferne sie die Erhaltung des Garten- und Waldgebietes sichert.
UNNATÜRLICH ERSCHEINT MIR DIE EINRICHTUNG
DES HAUSBESITZERTUMS. DAS HAUS - BEINAHE
DAS PERSÖNLICHSTE UNTER DEN ÄUSSEREN DIN -
GEN, GLEICHSAM DIE WEITE HAUT DES DASEINS -
SOLLTE MIT DEM EINZELNEN VERWACHSEN SEIN,
WIE ES DIE SCHNECKE MIT IHREM HAUSE IST.
STATT DESSEN MACHT MAN EIN GESCHÄFTSOBJEKT
DARAUS! STATT DESSEN BAUT MAN MIETSKASER -
NEN! ES IST SCHMERZLICH, ZU SEHEN, DASS DIE
LEUTE DER AUFENTHALT IN DIESEN RÄUMEN
NICHT SCHMERZT. WIE UNECHT DAS VERHÄLTNIS,
ZEIGT SCHON DER VERLOGENE STIL DIESER
BAUTEN. OUCKAMA KNOOP.
208
TOTE ARCHITEKTUR.
ZUM AUSBAU DER WIENER HOFBURG.
Über den Ausbau der Hofburg scheint das gleiche Schicksal
verhängt wie über den neuen Berliner Dom: DASS DAS
WERK VERALTET, EHE ES VOLLENDET IST. Es liegt
nicht an dem langsamen Bauen, das den künstlerischen Urheber
und den Wandel der Kunstanschauungen am eigenen Körper
erlebt; es liegt, beim Burgbau wenigstens, daran, DASS ES
SEIT ZEHN JAHREN IM STILLSTAND VERHARRT,
dass es nichts von dem Wandel der Kunstanschauungen, nichts
von dem neuen künstlerischen Geschlecht, das sich durchge -
rungen, empfangen hat. Das Werk ist tote Architektur, weil
es keine Spur von dem Leben verkörpert, das ausserhalb seiner
Mauern flutet, tote Architektur, weil es nicht die künstlerischen
Kräfte assimiliert, die den Ausdruck dieses Lebens verdichten
und die der Aufgaben harren, tote Architektur, weil es in seiner
Durchführung nicht unsere Zeit ausdrückt, nicht das Können
und Wollen der neuen bildnerischen Kräfte wie einen verjün -
genden Lebensstrom in seinem Organismus wirken lässt, und
die Aufgaben oder, was wichtiger ist, die AUFTRÄGE versagt,
die die Kunst zu ihrer Entfaltung und Entwicklung braucht.
Im allgemeinen ist es bedauernswert, dass durch Flick- und
Stückwerk viel Geld vertan wird und nichts vom Fleck geht.
Viel beklagenswerter aber ist, dass die grossen Aufgaben, die
keine Wiederholung erleben, vorübergehen, ohne dass die künst -
lerische Entwicklung an ihnen erstarken konnte. Die heutigen
Erbauer, die das Erbe der künstlerischen Urheber angetreten
haben, geben vor, es im Geiste des Urhebers fortzuführen und
vollenden zu wollen. Sie geben also vor, ein Bauwerk, das vor
zwanzig Jahren begonnen wurde, so herzustellen, als ob es vor
Zwanzig Jahren vollendet worden wäre. Sie tun darin etwas,
was sie eigentlich nicht können und was dem Geiste des Ur -
hebers durchaus zuwider ist. Dieser Urheber würde sich als
Künstler, wenn er noch am Werke sein könnte, dem verän -
derten künstlerischen Zeitgeist gar nicht verschlossen haben,
WEIL DAS WESEN DER LEBENDIGEN BAUKUNST
DARIN BESTEHT, DIE ANDEREN LEBENDIGEN
KÜNSTE AUF DAS BESTE ANZUWENDEN. Die heutigen
Erbauer wenden nicht die lebendigen künstlerischen Kräfte an;
sie nageln die Ausführung auf den Standpunkt der Künste des
Jahres 1886, in dem der Bau begonnen wurde, fest; das Werk
ist aus diesem Grunde TOTE ARCHITEKTUR, die in dem
Masse für die Kunstentwicklung unfruchtbar ist, als LEBEN -
DIGE BAUKUNST fruchtbar ist. Unsere Stadt hat Beispiele
eines viel langsameren Bauens; der Stephansdom umfasst die
künstlerische Arbeit der Geschlechter während vieler Jahrhun -
derte von der romanischen Bauweise bis zum Barock ver -
körpert das Werk den Niederschlag des wechselnden Lebens
und der veränderten Kunstweisen, echt historisch, das heisst,
„der eigenen Zeit gemäss“ und dem Volke verständlich, also
volkstümlich wie jede lebendige Baukunst, die das edelste Er -
zeugnis des Volkes, die Blüte des künstlerischen Neuschaffens,
anwendet. Dagegen ist tote Architektur niemals volks -
tümlich. O
Man muss die Stunde wählen, um an dieser toten Architektur
die lebensvollen Züge zu ergreifen, die das Bauwerk dem künst -
lerischen Urheber GOTTFRIED SEMPER verdankt. Nach
Sempers Projekt soll ein gleiches Gebäude gegenüber dem
neuen Burgbau entstehen; diese beiden Hemicyklen, die alte
Burg, zwei grosse Triumphbögen, die die Ringstrasse überspannen,
die anschliessenden Hofmuseen und als Abschluss an der
Lastenstrasse die Hofsattelkammer sollen die Wandungen eines
gewaltigen Platzgebildes darstellen, das zu den herrlichsten
Schöpfungen neuer Monumentalarchitektur gehören könnte. In
der Dämmerung erst, wenn die kleinlichen ornamentalen Formen
der Fassade von der Dunkelheit verhüllt oder schier ausgewischt
sind und die einfachen Umrisslinien der Baumasse geschlossen
und daher machtvoll hervortreten, wird die Grösse des Bau -
gedankens lebendig. Hasenauer, der, mit der Ausführung des
Semperschen Projektes beauftragt, die Hofmuseen baute und
den neuen Burgbau 1886 begann, verfügte über die Kunst, die
in den achtziger Jahren möglich war. Die Schwächen, die
namentlich bei den Hofmuseen empfindlich hervortreten als das
äusserliche Streben, einer inhaltlosen Feierlichkeit alles zum
Opfer zu bringen, sind längst erkannt. Selbst Hasenauer würde,
wenn er noch am Schaffen wäre, an den eigenen Fehlern
gelernt haben. Sicherlich würde er heute nicht mehr auf dem
Niveau der achtziger Jahre zurückgeblieben sein. Was könnte
denn nun im Wege stehen, die festen Umrisse des ursprüng -
lichen Projektes mit jener Blüte von Kunst zu erfüllen, die
heute lebendig und wirklich möglich ist ? □
Was nun im Wege steht, ist der BUREAUKRATISMUS, der
der eigentliche Bauleiter geworden ist. Der künstlerische Geist
ist gewichen und der Geist der FETTEN PFRÜNDE hat
sich in dem halbvollendeten Gemäuer eingenistet. Eng ver-
schwistert mit diesem Geist ist die falsche knickerische Spar -
samkeit, die in der Regel nur der andere Ausdruck einer uner -
laubten Verschwendung ist. Unfruchtbare Anwendung von
Mitteln ist immer Verschwendung, ebenso wie jene Unrechte
Sparsamkeit, die Fruchtbarkeit verhindert. Der Bureaukratismus
arbeitet eigentlich nur für sich. Seine Unentbehrlichkeit sucht
er zu beweisen, indem er sich an die Vorschrift klammert, die
beim Burgbau in Gestalt der Projekte vom Standpunkt der
achtziger Jahre vorliegt. Jede persönliche künstlerische Initiative
eines Architekten, der heute an die Aufgabe herantritt, geht an
diesem Bureaukratismus, der den Künstler an die Wand drückt,
zugrunde. Das ist der Grund, warum seit zehn Jahren Stillstand
herrscht und im Laufe der Zeit langsam ein toter Architektur -
körper abgelagert wird. Langsam, denn alle künstlerischen Säfte
stocken hier. Der Bureaukratismus, die unpersönliche Kom -
mission, hat keine künstlerischen Bedürfnisse, keinen grosszü -
gigen, auf das Monumentale gerichteten Sinn, kein Organ, um
die Mission eines solchen Bauwerkes für die lebendige Kunst
und für die Zukunft zu erfassen. Sie hat nur den Instinkt der
niedrigsten Lebewesen, den gemeinen Selbsterhaltungstrieb. □
Die unpersönliche Kommission ist auch nicht befähigt, die
Mängel einer Stilarchitektur der achtziger Jahre zu erkennen
oder sie zu verbessern, weil sie selbst noch von denselben ver -
jährten architektonischen Anschauungen befangen ist. Eine Ar -
chitektur, die, wie bei den Hofmuseen, in einer imposanten
Stiegenanlage den künstlerischen Zielpunkt sucht und diesem
falschen Pathos jede sachliche und persönliche Rücksicht opfert,
konnte bestenfalls dem protzigen Parvenügeschmack vor zwanzig
bis dreissig Jahren genügen; es ist dem Kaiser nicht zu ver -
denken, dass er die vornehme Zurückhaltung der alten Burg
213
mit der aufdringlichen und künstlerisch wenig gehaltvollen Ar -
chitekturmacherei der neuen Anlage nicht vertauschen will.
Diese stillschweigende Ablehnung des Kaisers ist in der Tat
die empfindlichste und gerechteste Verurteilung einer bomba -
stischen Stilmacherei, die gleichsam aus der Schublade, wo die
palladianischen Architekturkopien liegen, herausgezeichnet wird
und deren Anwendung heute als ein unfehlbares Merkmal
künstlerischer Unfruchtbarkeit und Mangel eigenen schöpfe -
rischen Empfindens anzusehen ist. Heute, da jeder König vom
Schottenring sich ein ebenso effektvolles Haus wie der Kaiser
von Österreich bauen lassen kann und bauen lässt, ist das Ar -
chitekturideal der siebziger und achtziger Jahre kein Ziel mehr.
Dass der Kaiser als der eigentliche Bauherr sein Interesse an
dem Neubau aus begreiflichen Gründen versagt, ist der tiefere
Grund, der dem lähmenden Bureaukratismus Gelegenheit gibt,
sich wie ein Schimmelpilz reichlich auszuleben und das Wachstum
namentlich in künstlerischer Hinsicht zu hemmen. Die Eunu-
chenhaftigkeit, die immer die Äusserlichkeit eines vergangenen
Stils nachzuäffen sucht, für Staats und Hofgebäude die Formen
des Renaissancepalastes oder des Barockschlosses als Abglanz
absolutistischer Selbstherrlichkeit, vergisst völlig, dass sich eine
solche, heute bereits lächerlich gewordene Architekturkomödie
jeder Börseaner leistet und dass die edle und gehaltvolle Ein -
fachheit mancher Räume der alten Burg ungleich kaiserlicher
erscheint und den puritanischen Lebensgewohnheiten des Bau -
herrn durchaus angemessen ist. Es gibt mehr als ein Beispiel,
welches zeigt, dass die zurückhaltende Einfachheit, wenn sie
mit durchaus erlesener Kunst erfüllt ist, an das Kunstvermögen
die höchsten Aufgaben stellt und zu ungeahnten Wirkungen
gesteigert werden kann, denen wahrscheinlich nicht die Teil -
nahme des kaiserlichen Bauherrn und gewiss nicht die des
Volkes und der fähigen Künstlerschaft, sicherlich aber die des
ganz unfähigen Bureaukratismus versagt bliebe. □
Man kann auch die Frage anders stellen und mit Recht be -
haupten, dass der Kaiser hier nicht privater Bauherr ist, sondern
dass der Staatsgedanke entscheide und dass das Bauwerk daher
in erster Linie von volkskünstlerischen und auch von volks -
wirtschaftlichen Interessen geleitet sei. Es ist klar, dass im
Grunde der Erörterung diese Auffassung liegen muss. Wenn
die kunstliebende, voraussehende und fördernde Persönlichkeit
des Bauherrn, der künstlerische Bedürfnisse hat, fehlt, dann
können die leitenden Interessen nicht aus dem Bureaukratismus,
sondern nur aus der Blüte der Künstlerschaft hervorgehen, die
fähig ist, neue Aufgaben zu erkennen und zu lösen. Nur sie
kann aus der toten Architektur lebendige Baukunst machen.
Das in seinen zahlreichen weitverästelten Zweigen neu belebte
und befruchtete Kunstgewerbe harrt eines grossen, weithin sicht -
baren Beispieles, das als Bekräftigung und Sicherung des noch
ungewissen Besitzes dient, einer Aufgabe, an der es sich unter
seinen führenden Künstlern entwickelt, einer fruchtbaren Betä -
tigung, zu der dieser Bau mehr als einen hinreichenden äusseren
Grund gibt, der dadurch eine höhere erziehliche Bedeutung
gewänne als alle Museen, Fachschulen, Gewerbeförderungen,
Almosengebereien, die Bedeutung einer ausstrahlenden KÜNST -
LERISCHEN TAT. Die Belebung, die von hier ausstrahlt,
ist ein wirtschaftlicher Gewinn nicht allein im Hinblick auf den
unmittelbaren Bedarf am Bauwerk, sondern vor allem im Hin -
blick auf die Erhöhung und Belebung der künstlerischen Lei -
stungsfähigkeit, der Qualität und des Geschmacks, die auch
den Fernstehenden zuteil wird und im allgemeinen eine Kraft -
erhöhung bedeutet. Aber ausser dem Kunstgewerbe, mit allem,
was drum und dran hängt, käme es wieder darauf an, den
Zusammenhang der Plastik und der Malerei mit der Archi -
tektur, das reine und abstrakte Wesen echter Baukunst, die
Grundzüge der Gartenkunst, des Denkmalwesens an diesem
grossen Burgbauprojekt nach Sempers Plan zu zeigen, Gedanken,
deren Träger heute wenige Künstler sind, die aber immerhin
da sind, um auf allen diesen furchtbar verrotteten Gebieten
neue, im Wesen natürlich uralte und ewige Kunstziele sichtbar
zu machen und Vorbilder aufzustellen. Solche Beispiele sind
ungeheuer notwendig in einer Zeit wie heute, da der grosse
Bedarf an Denkmälern, Plastiken, Architekturen, Gartenan -
lagen etc. in einer unverständigen, für die Bildung in geistiger
und künstlerischer Hinsicht gänzlich wertlosen Weise befriedigt
wird, die einmal dazuführen muss, dass man sich all dieser
„Verschönerungen'' als des Ausflusses einer innerlich ganz ver -
wahrlosten Zeit schämen und die Kosten bedauern wird
müssen, die so unfruchtbar angelegt worden sind. Die Künstler,
die Höheres und Vorbildliches zu schaffen vermögen, Archi -
tekten, Bildhauer, Maler, sind vorhanden; sie sind natürlich
nicht an dem Burgbau tätig, sonst wäre dieser ohnehin glänzend
und mit fieberhaftem Eifer geführte lebendige Baukunst. □
Der Staat hätte die Pflicht die Qualitäten zu kennen und sie
zu berufen. Aber es ist mit dem Burgbau nicht viel anders
wie mit den meisten Hof-, Staats- und Kommunalbauten. Sie
sind tote Architektur. Man muss immer wieder fragen: Wozu
erzieht der Staat Künstler, wozu hat er sie? Wozu gibt es denn
überhaupt eine staatliche Kunstpflege? Die äusserlich verwahr -
losten Bureaus der Kunstreferenten im Unterrichtsministerium
sind charakteristisch für das Verhältnis des Kunstamtes zur
Kunst. Wenn Minister und Beamte in diesem Ressort nicht
die Auffassung teilen, dass vor allem die höchste künstlerische
Qualität eine volkswirtschaftliche Funktion hat und dass sie
an diesen grossen Werken der Gegenwart zum Ausdruck kommen
muss, dass die staatliche Kunstförderung keinen anderen Sinn
haben kann als dies zu erwirken oder zu erstreiten, dann muss
ich sagen, dass niemals Menschen ihre Aufgabe weniger ver -
standen und ihre Pflicht schlechter erfüllt haben. □
Es ist möglich, dass unter der Herrschaft der unpersönlichen
Kommissionen die Initiative, den umfassenden Entwurf Sempers
auszuführen, gänzlich versiegt ist. Es wäre im Gedanken an
die tote Architektur kaum zu beklagen, und es wäre tief zu
beklagen, wenn man die Entfaltungen bedenkt, die mit Hilfe
der vorhandenen neuen Begabungen möglich wären. Mit dieser
Rücksicht muss alles darangesetzt werden, der vorhandenen
und kommenden künstlerischen Kraft das Glück einer schöpfe -
rischen Arbeit zu gewähren, in der das lebende Geschlecht sein
Eigenstes und Höchstes versucht. Nur im Hinblick auf die
Besten ist zu erwarten, dass aus dieser toten Architektur im
weiteren Arbeitsgange eine lebendige Baukunst ersteht. □
KUNST IST NICHT NACHAHMUNG DER WELT,
SONDERN WIEDERGEBURT DER WELT. □
□ OUCKAMA KNOOP.
214
ALTWIENER HAUSTORE.
L 'habitude tue l'imagination, sagt J. J. Rousseau. Wir beachten
* heute kaum mehr, wie viel Schönheit in unseren alten
Strassen zu finden ist. So gewohnt sind wir sie. Oder sind
wir unempfänglich geworden? Die Kunstwanderungen haben
die Blicke wieder auf manche einsame Schönheit gelenkt, die
darum einsam ist, weil die Sinne fehlen, sie zu bewundern.
Denn sie lebt von der Bewunderung und darbt ohne sie. Eine
solche darbende Schönheit sind die alten Haustore an den noch
erhaltenen Profanbauten der Wiener Barockzeit. Eine Festlich -
keit ist an ihnen, die niemand teilt. Mit ihrer verwitterten
Heiterkeit stehen sie wirklich einsam im Alltag da. Wahre
Triumphpforten sind sie, an denen sich der repräsentative Cha -
rakter des ganzen Hauses zum stärksten Ausdruck verdichtete,
zu einem Jubelschrei, der den Nahenden begrüsst und sein Ge -
fühl emporriss, dass er hochgestimmt in das Haus einzog. □
Mächtige Säulen flankieren das Portal, wuchtige Atlanten tragen
den Torbogen mit dem michel-angelesk gebrochenen Giebel,
dazwischen Wappenkartuschen angebracht sind, allerliebst un -
gebärdige Putti, freundliche Genien und Musen oder auch
Kriegstrophäen, Waffenembleme, Blumenguirlanden und Urnen.
Die ganze Herrlichkeit sieht ziemlich gestrig aus. Verwildert
und verwüstet, wie ein Festsaal nach dem Schmaus. Ein wenig
katzenjämmerlich. Die Lebensform ist abgestorben, eine leere
Hülle blieb. Das alte, sieggewohnte Lächeln ist an dem Antlitz
solcher Bauten stehen geblieben, obzwar längst die Seele ent -
flohen ist, von der es einst ausstrahlte. Das Kleinbürgertum ist
in die verlassenen Wohnstätten der alten Geschlechter einge -
zogen und hat seine mehr oder weniger geschmacklosen Schilder
an die festlichen Tore gehängt. Es will keine Feste im Alltag,
und die bewegten Formen sind ihm zuwider. Hühneraugen -
operateure, Niederlagen feuerfester Kassen, Strumpfwirker und
Handschuhmacher, das zünftige Kunterbunt von Handwerks -
und Gewerbebanden kündigt sich an Tafeln an, die in Kreuz
und Quer an den Portalen befestigt sind und keine Pietät für
die grosse Vergangenheit bekunden, die sich an den Toren
offenbart. Die Grösse ist entschwunden, ein kleines Leben ist
in die verlassenen Stätten eingezogen und hat sich dort auf
seine Art breit gemacht. Und zwar mit Recht, mit jenem grossen,
unbestreitbaren Recht, das die Überlebenden besitzen. Nur eine
unbillige Sentimentalität kann verlangen, dass dieses neue Leben
zugunsten einer ausgestorbenen Herrlichkeit, die nur mehr ein
lapidares Dasein führt, auf seine Existenzansprüche, die es in
den Schildern VERKÜNDET, verzichte. Ein starker Kontrast
besteht zwischen dem, was die Mauern einst VERKÜNDETEN
und was nun in ihrem Schatten lebt. Der Kontrast zweier
Zeitalter, der hocharistokratischen, vom Glanz der wahrhaft
kaiserlichen Hofhaltung und der leuchtende Kriegsruhm der
Prinz Eugen-Zeit, und der bescheidenen kleinbürgerlichen Epoche
des unmittelberen Vor- und Nachmärz. In diesem Kontrast
liegt ein pikanter Reiz, den nur die alten, muffeligen Häuser
mit ihren Prachttoren aufzuweisen haben. Die Grösse und Klein -
heit, die Ruhmredigkeit und das Philistertum, die sich an diesen
Toren bekämpfen, streiten mit wechselndem Glück. Bald ge -
winnt das eine die Oberhand, bald das andere. Einmal scheint es,
als ob das ganze erbärmliche Schilderwesen die architektonische
Macht erdrücken wollte, dann aber, zu gewissen Stunden, tritt
diese mit solcher Gewalt hervor, dass man, wie von einer plötz -
lichen Entdeckung befangen, überrascht und ergriffen das leib -
hafte Gesicht einer abgestorbenen Zeit lebendig werden fühlt. Das
vergangene Leben ist in den Torwinkeln solcher Häuser noch
immer mächtig. Und in solchen Augenblicken bekommt alles
gleich ein anderes Ansehen. Vertiefte, geheimnisvolle Züge. □
Das Hotel Klomser in der Herrengasse erscheint gar nicht
hotelmässig. In dem wappengekrönten Portal mit dem in den Tor -
bogen gezwängten Balkonfenster, dem Rüstzeug und den Vasen,
sowie den Reliefs an den Vasensockeln lebt das Andenken der
fürstlich Batthyänyschen Familie fort, welche einst dieses Haus
bewohnt, und die ursprüngliche Schönheit des Einganges kann
selbst durch die neuere Verunstaltung der Fassade nicht ganz
umgebracht werden. □
An den meisten der bedeutsamen Tore rankt eine alte Legende
fort. An dem Portal des Trattnerhofes, wo das alte Wiener
Gasthaus „zur Tabakspfeife“ sein Schild hat, dürfte die etwas
unartige Stellung des rechten Atlanten aufgefallen sein. Der
ungewaschene Volksmund will wissen, dass der reichgewordene
Bauherr sich an einer Gegenüberwohnenden rächen wollte,
welche die Bewerbungen des armen Jünglings schnöde abwies und
später nach dem zu Wohlstand Gekommenen ihre Netze auswarf.
Die Singerstrasse enthält manche schöne Tore. Der schönsten
eines ist das Portal des Palais Breuner. Ein Stadthauptmann,
der zugleich Architekt war, hatte sich den Palast erbaut. Gleich
stellt sich die Frage ein: Wie kommt ein Stadthauptmann zu
so fürstlichen Mitteln, um den Palast zu unterhalten ? Die
Chronik weiss keine Antwort darauf, denn von dem inneren
Leben der Stadt vor zweihundert Jahren ist uns wenig über -
liefert. Die einzige Quelle ist das Bauwerk selbst, und es sagt
von der Prachtliebe nicht nur der Adeligen, sondern auch der
Bürgerlichen der damaligen Zeit nicht wenig aus. □
Dass die ehrsamen, in Gott ruhenden Handwerker, Kauf -
leute, Weinbauern etc. an ihrem eigenen Hause die
Kunst nicht vermisssen wollten, beweist neben vielen
Beispielen auch das Haus in der Langengasse, dessen Tor
als figural-plastische Dekoration eine Darstellung der Trinität
zeigt und darauf hinweist, dass der Hausherr in jener frommen
Zeit wahrscheinlich Mitglied der Dreifaltigkeits-Bruderschaft war.
Kunstgeschichtlich ist es ein artiges Beispiel des Stils von Gio -
vanni Giuliani (des Lehrers von Raphael Donner), der als
Laienbruder in Heiligenkreuz 1744 starb. □
Manch anderes Privathaus zeigt den grossen Stil der besten
Meister der damaligen Zeit, so dass man oft glaubt, es mit dem
Palast eines Fürsten zu tun zu haben. Den Toren verdankten
die Strassen ihren besten und schönsten Schmuck. Architektur
und Plastik sehen wir nur an ihnen zu schönem Bunde ver -
mählt. Eine feine Lehre für den Künstler liegt darin. Heute
sehen wir an den neuen Bauten wertlosen plastischen Zierrat
die ganze Fassade empor; drei, vier Stockwerke hoch Figuren,
Reliefs, Masken, dem Auge entrückt und eigentlich niemandem
zur Freude. Die alten Bauten geben weniger und mehr. Sie
bewahren an ihren Fassaden grosse architektonische Strenge,
aber an gut sichtbarer und bedeutsamer Stelle gestatten sie sich
den Luxus einer edlen Plastik, in welchem der Sinn des Hauses
und seiner Bewohner zu einem verdichteten und einem fast
überwältigenden Ausdruck kommt. Die ganze Kunstfreude der
Vorfahren lebt darin. □
215
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3|
Altwiener Geschäftsläden
216
DER NORDOSTEN WIENS,
E ine Kulturaufgabe, in der die modernen wirtschaftlichen,
sozialen und künstlerischen Interessen verschmelzen, bietet
das Neuland im Nordosten Wiens, wo sich ein rascher
Umwandlungsprozess vom ländlichen zum industriellen Charakter
vollzieht, der alle ursprünglichen Verhältnisse über den Haufen
wirft. Werden die heute herrschenden Lebensmächte dieser
harrenden Aufgabe gewachsen sein? Es ist die Frage, ob diese
neuen Grosstadtteile und ihre weitere Umgebung nach dem
Worte Ruskins verschimmelte Schwären, die sich in Fetzen und
Flecken über das Land verbreiten, oder ob sie ein heiliges
Gartenland bilden sollen, mit dem gesunde und schön gebaute
Städte umgürtet sind. Der Anblick einzelner, dort mitten im
freien Feld aufragender Zinskasernen mit elenden Woh -
nungen lässt eine schlimme Zukunft befürchten, anderseits
lassen der grossenteils unbebaute Zustand des Landes, die
billigen Bodenpreise und der Rest ländlicher Tradition die
Möglichkeit einer glücklichen Gestaltung offen. Man lehnt diese
Möglichkeit gern mit dem Hinweis auf schlechte Windrichtungen,
die die Dünste und Miasmen der Grosstadt zuführen, ab.
Müssen nicht Tausende von Menschen dort ihr Leben verbringen
und erwächst da nicht die vermehrte Pflicht, dem neuen Indu -
striebezirk den Charakter einer Gartenstadt zu geben, um das
Dasein von so vielen auf eine gesunde Grundlage zu stellen?
Wenn das geschieht, dann ist auch von den schlechten Winden
nichts zu fürchten, deren Schädlichkeit stark übertrieben wird.
Hier also erschliesst sich ein ungeheures und dankbares Gebiet
für eine weitsichtige Gemeindepolitik, die natürlich von höheren
Gesichtspunkten als den eines Spekulationsbauwesens geleitet
sein muss. Sehen wir denn nicht, von England ausgehend, eine
praktische Sozialpolitik in der sogenannten Gartenbaubewegung
in Holland, Belgien und Deutschland inzwischen Entwicklungs -
fähiges bilden? □
Industriebezirk und Gartenstadt sind keineswegs entgegengesetzte
Begriffe, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat; sie
stellen vielmehr eine glückliche Einigung eines modernen Wirt -
schafts- und Lebensprinzipes dar. Ja, es ist sogar die Garten -
stadtbewegung aus dem Industriewesen hervorgegangen, wie die
Anlagen der englischen Musterarbeiterdörfer Port Sunlight und
Bournville zeigen, aus denen die ganze Bewegung abgeleitet
wird. Diese Arbeiterkolonien sind die ersten modernen Grün -
dungen, in der die wirtschaftlichen, sozialen und künstlerischen
Bestrebungen Hand in Hand gehen. Es sind ausserordentlich
geglückte Operationen, die dem Wohnungselend mit all seinen
hygienischen, wirtschaftlichen und ethischen Misständen ein
Ende bereiten. Bournville Z. B., eine Gründung des Kakao -
fabrikanten Cadbury, ist ein blühender, gesunder Ort, der heute
über 500 Cottages besitzt, die in einer ebenso sachlichen als
künstlerischen und auf der altheimatlichen Tradition beruhenden
Anlage die einzig richtige Wohnweise mit dem Ein-, höchstens
Zweifamilienhause gewährt und alle erforderlichen Räume unter
starker Betonung der Nutzräume, als Küche, Schlafzimmer,
Badezimmer mit Kalt- und Warm Wasserleitung, vorgesehen hat,
wozu noch für jedes Haus so viel Gartengrund zu rechnen ist,
als eine Familie selbst bebauen kann. Diese Häuser, die in
künstlerischem Betracht infolge der Hinweglassung allen un -
nützen Zierates als Muster entzückender Einfachheit gelten.
sind dadurch ausgezeichnet, dass sie, trotzdem die Konstruktion
des Hauses und der Bestandteile in der modernen maschinellen
Massenherstellung nach einem oder zwei Modellen vorgenommen
ist, überall der Schablone ausweichen, weil es der Architekt
verstanden hat, durch eine in jedem Hause je nach der Lage
und den besonderen Bedürfnissen individuelle und daher
malerische, abwechslungsreiche Anwendung der im Grunde
gleichen Mittel die Einförmigkeit zu brechen, indem er dem
einen Haus eine Vorhalle oder ein Vordach, dem anderen ein
Erkerfenster etc., und zwar immer da, wo es das andere nicht
hat, und namentlich, indem er die geraden Gassenlinien zu
vermeiden sucht und durch gewisse Unregelmässigkeiten, wofern
sie künstlerisch oder natürlich sind, anmutig wechselnde Strassen-
bilder erzielt. Stellt man sich vor, dass der Ort Parkanlagen,
Spielplätze, Bibliotheksgebäude, Vortragssäle, Lernstätten, ein
Versorgungsheim und ein Waisenhaus besitzt, so hat man einen
genauen Begriff von diesem Kulturzentrum. Trotz der Ver -
zinsung des Anlagekapitals und der billigen Hausmieten für die
eigenen und fremden Arbeiter wirft die Anlage, die der Gemeinde
Zum Geschenk gemacht wurde, Überschüsse ab, die zunächst
zum weiteren Ausbau verwendet werden. Ganz ähnlich ist die
Anlage von Port Sunlight. Auf diesen Erfahrungen fussend,
hat eine Ebenezer Howard die sogenannte Gartenstadtbewegung
hervorgerufen, die den Zweck hat, Niederlassungen zu gründen
und grosse Industrien zu bewegen, ihren Sitz auf das Land zu
verlegen, aus denen die Gartenstädte hervorgehen sollen. Das
Territorium der ersten dieser Gründungen ist festgelegt 35 eng -
lische Meilen nordöstlich von London zwischen Hitchin und
Baidock. Die Geldmittel wurden durch Aktien aufgebracht und
ein genauer Plan ausgearbeitet. Dem Lageplan zufolge, der in
Übereinstimmung mit den von der Natur gegebenen Bedingungen
und sorgfältiger Schonung des Vorhandenen, vor allem der
bereits bestehenden Bäume und Baumgruppen, entworfen worden
ist, soll bei Gruppierung der Häuser auf Mannigfaltigkeit und
Anmut Bedacht genommen werden, ebenso wie auf natürliche
Rücksichten in bezug auf Sonnenseite, Windrichtung und be -
rechenbare andere Naturerscheinungen. Dass die Hausbauten
die gute heimische, will sagen die englische Landhausadition
aufnehmen und fortentwickeln und sich auf diese Art dem
Landschaftsbilde harmonisch einfügen werden, ist als selbstver -
ständlich zu betrachten. Die Anlage soll einen mässigen Umfang
haben und sich um ein Zentrum gruppieren, das einen Park
bildet, darin Schulen, Museen, Theater und andere öffentliche
Institutionen Platz finden. Bei späterer Entwicklung und Be -
völkerungszunahme sollen neue Nachbarzentren mit einigen
Stadtgebilden entstehen, durch Wald und Feld genügend weit
auseinandergehalten, und auf diese Art ein weitmaschiges Gefüge
von Gartenstädten bilden, durch die modernen Verkehrsmittel
trefflich miteinander verbunden. Die Fabriken, Wohnhäuser und
Markthallen, von dichtem Grün umstellt und dem Auge entzogen,
sollen so gelegen sein, dass der Wind den Lärm, Staub und
Rauch von den Wohnbezirken hinwegführt. Dass auch das
einer ästhetischen Durchbildung fähig ist, bedarf kaum der
Erwähnung. ^
Die englische Bewegung hat in Holland, und zwar in den Delfter
Fabriken van Maarkens eine, wenn auch anders organisierte
Verwirklichung gefunden, und in Belgien und Deutschland hat
sie eine sehr emsige Agitation für die Kolonisation im Sinne
2J8
von Gartenstädten, die sich auf industrieller Grundlage entwickeln
wollen, hervorgerufen. Sie weist der Volkswohnungspolitik aller
Industriestaaten den rechten Weg, der zu einem sehr wünschens -
werten Ziel führt: gewerbliche und industrielle Dorf- und Stadt -
anlagen gesund und zweckmässig zu bauen und auf die Höhe
eines Kunstwerkes zu bringen. Nach einem Worte Oskar
WILDES IST DAS EIGENTLICHE ZIEL DER VERSUCHE
UND AUFBAUE DER GESELLSCHAFT AUF EINER
GRUNDLAGE, DIE DIE ARMUT UNMÖGLICH MACHT.
Diese Bewegung auf österreichischen Boden übertragen, finden
wir auf den teils noch jungfräulichen Land- und Stadtbezirken
im Nordosten Wiens ein ausgezeichnetes Operationsgebiet, auf
dem sich eine solche Anlage durchführen liesse, die, wenn sie
im obigen Sinne künstlerisch behandelt wird, gar nicht anders
als gesund und zweckmässig sein wird und einen Zuwachs an
Schönheit und Reichtum für das Land bedeuten soll. □
Aber dem steht manches entgegen. Vor allem die städtische
Wirtschaftspolitik selbst. Das würde uns sogar jeder Greisler
und sonstiger Gemeindepolitiker erklären, dass die Sache gar
nicht durchführbar ist wegen der Bodenspekulationen und der
enormen Grundverteuerungen, die jede Cottagebildung für die
arbeitende Bevölkerung unmöglich macht. Nun, wenn die Ver -
hältnisse schon so beschaffen sind, ist dann nicht um so ver -
mehrte Ursache, hier den Spaten einzusetzen? Die dringendste
Aufgabe, ohne die es einen ernsten Fortschritt zu diesem nicht
gibt, ist die Eindämmung des Spekulationsunwesens durch weit -
gehendes Enteignungsrecht, Einführung des Verkaufsrechtes der
Gemeinde bei Zwangsverkäufen, als ein Mittel, das Gemeinde -
gut auf billige Weise soviel als möglich zu vergrössern und
gerecht zu verteilen, ein Idealgedanke des amerikanischen
Agrariers Henry George, um zu jenen einfachen, gesünderen
Besitzverhältnissen zu gelangen, die schon bei den germanischen
Vorfahren und im Mittelalter als Lehenswesen die wirtschaft -
liche und besitzrechtliche Grundlage bildeten, die in moderner
Form im sogenannten Erbbaurecht wiederkehrt.
Es handelt sich für uns zunächst darum, den Weg zu zeigen,
den die Entwicklung gehen wird. Es wird dahin kommen
müssen, dass die wahren Träger der modernen Kultur, die
einen grossen Sinn und ein warmes Herz für unsere sozialen
und kulturellen Interessen haben, also hervorragende Architekten,
Künstler und Ingenieure, Sozialpolitiker, verwaltungserfahrene
Juristen, die Aufgabe der Gemeindeverwaltung übernehmen, um
die grosse Stadt- und Landbebauungsfrage in einer für das
Wohl der Allgemeinheit und für die Schönheit des Landes zu -
träglichen Weise durchzuführen. Es kommt der ganzen Mensch -
heit zugute, wenn der drohenden Degeneration weiter Volks -
schichten in wirksamer Weise Einhalt geboten wird.
WÜRDE MAN SO LEIDENSCHAFTLICH GEGEN DEN
SOZIALISMUS WETTERN, WENN MAN SICH NICHT
GESTEHEN MÜSSTE, DASS MAN VON IHM SCHON
GANZ UMGARNT IST? OUCKAMA KNOOP.
„WENN DU VOM KAHLENBERG “
s ist ein Unterschied, ob man als gewöhnlicher Pflastertreter
gedankenlos über die Ringstrasse trottet oder ob man mit
offenen Sinnen, schauend und beobachtend auf das Ungewöhn -
liche, Seltsame, Eigenartige ausgeht und den leisen Stimmen
horcht, den Liedern, die nach Eichendorff in allen Dingen
schlummern. Darum kehre ich von meinen Spaziergängen nie -
mals heim, ohne eine Bereicherung oder Belehrung erfahren
oder eine Entdeckung gemacht zu haben. Vielleicht bin ich
von einer Art romantischem Hang für alles zeitlich Ferne, für
alles Vergangene oder Halbvergangene getrieben. Denn ich
liebe die alten Häuser mit ihrem menschlichen Geruch, der
von den Schweisstropfen der Angst, der Sorge, der Lebensmüh’
und Sterbensnot so vieler Geschlechter erzählt, ich liebe die
stillen Vorstadtgassen, wo das Grosstadttreiben nur in ver -
worrenen Lauten fern hereintönt und die alte Kultur im Aus -
gedinge lebt, ich liebe der Urväter Hausrat, den die guten
Alten mit zärtlicher Sorgfalt aufgehäuft und behütet haben, die
alten, sauberen, blitzblanken Schränke, über die Gross -
mütterchens zitternde Hände täglich scheuernd hinfuhren, ich
liebe die verblichenen Züge, den nachsommerlichen Glanz dieser
Dinge von gestern, denn es ist so viel Geschichte, so viel
„Seele“ in ihnen. Ich liebe die heimlichen, seltsamen Glücks -
gefühle, die solche Orte, Strassen, Häuser und Wohnungen
gewähren. Dass man das jemandem begreiflich machen könnte!
Ich liebe aber gar nicht unsere modernen, grosstädtischen
Strassenzeilen mit ihren schablonenhaften, nichtssagenden
Fassaden und trachte darum je schneller desto lieber hinauszu -
kommen in jene kleinen, verhutzelten Vororte, die neben der
grossen Schwester zwar ein recht armseliges Aschenbrödel -
dasein führen, dafür aber noch immer von einem Schimmer
Romantik umhaucht sind. Dort geht es zuweilen recht kunter -
bunt zu. Städtische und ländliche Kultur begegnen einander an
der Pheripherie der Stadt, neue Häuserzeilen schieben sich in
das Ackerland hinein und zwischen Obstgärten und Wein-
geländen, Mietskasernen und moderne Landhäuser neben
schlichten, alten Wohnbauten und Bauerngehöften; alles ziem -
lich regellos durcheinander, und dabei ein fortwährendes Nieder-
reissen und Neuaufbauen. In diesen Gebieten mache ich meine
„Entdeckungen'', von denen ich hier erzählen will.
Vor allem habe ich hier den Hausgarten gefunden. Jene alten
Hausgärten, Biedermeyergärten, die, mit Liebe gepflegt und ge -
pflanzt, einer blühenden und duftenden Blumenwildnis gleichen,
mit geraden Wegen zwischen den steinumfassten Rabatten und
den grossen Glaskugeln, die ein Stück Himmel in den Garten
legen, Reflexe verbreiten, ein wahres Netz von Lichtstrahlen
inmitten der Farbenpracht, so dass jeder, der durch den Haus -
flur einen Blick davon erhascht, von einer unstillbaren Haus -
gartensehnsucht ergriffen wird. ^Vas die neuen Familienhäuser,
die Cottages, als Garten gepflanzt haben, kann mit dieser
reizenden Hausgartenpoesie nicht verglichen werden. Diese neue
Gärten passen zu den affektiert vornehmen Häusern. Da finden
wir in den Villenvorstädten um jedes Haus einen winzigen
Gartengrund nach den Grundsätzen der naturalistischen Schule
behandelt, einer romantischen Theaterszenerie nicht unähnlich,
mit Grotten, Springbrunnen, Felsenpartien, geometrischen
Blumenbeeten, Gartenfiguren aus gebranntem und glasiertem
219
Ton, Hirschen, Zwergen, Riesenpilzen und anderen ähnlichen
Geschmackswidrigkeiten. Was sind solche Gärten gegen die
trauten Altwiener Gärten ? Nichts sind sie, lieber Leser. □
Nicht immer haben die kleinen, alten Vorstadthäuser einen
ganzen Garten. Aber eine Laube haben sie. Eine weinum -
sponnene Laube, darin sich's am Abend schön sitzen lässt,
während auf dem Streif Erde vor der Laube längs der Haus -
wand die Rosenstöcke duften. Geranien und Nelken stehen in
den Fenstern. Dahinter wird ein Silberscheitel mit einem
weissen Häubchen sichtbar. Grüss Gott, Frau Mutter! Die
Tage sind gezählt. Und wenn ich wiederkomme, dann ist viel -
leicht das Fensterbild verschwunden und vielleicht auch das
freundliche Häuschen mit dem Zaun, und an seiner Stelle
steht irgendein protziger Neubau hinter einem Stachel -
drahtzaun. Was die alten Häuser so lieblich macht, das
ist die Freiheit ihrer Formen. Breit und behäbig liegen sie da,
der Ausdruck eines inneren Wohlbehagens, einer gewissen
Sorglosigkeit, und trotzdem ein ganz organisches Wachstum,
das von den Bedürfnissen bestimmt ist. Wie frei diese Fenster
angeordnet sind! Gar nicht symmetrisch. Und diese sanften,
aber ganz unregelmässigen Ausladungen der Fenster und Erker.
Das ganze Haus hat dadurch eine ungemein sprechende
Physiognomie. Es ist schier „vermenschlicht^. Und diese
reizenden Dächer und Dachfenster. Das Dach ist eine Haupt -
zierde. Wie eine behäbige Haube ist es aufgestülpt und zu -
gleich von der kleidsamsten Art. Wie freundliche Menschen -
augen blinzeln die Dachluken herab. Aber ganz lustig anzu -
sehen sind erst die Schornsteine. Das muss man den alten
Baumeistern wohl lassen, dass sie es verstanden, das Wesen
der Sache zu betonen und dabei so viel individuelle Freiheit
Zu bewahren. Die Kunstregung kann man an den alten
Schornsteinen deutlich verspüren. Der Schornstein, der den
Rauch der Herdflamme den frei ziehenden Winden überbringt,
ist gleichsam ein Gruss an die Freiheit, ein Ausdruck der ge -
steigerten Lebensfreude, den sich der Erbauer erlaubt, wenn er
das Haus glücklich zur Höhe gebracht. Er ist daher immer ein
Symbol. Er verbindet das Haus mit den luftigen Elementen,
mit Wolken und Himmel. Mit seinen oft grossen Ausladungen
nach oben schiebt er sich über die Nachbarhäuser als Riesen-
haupt, als Ausschauender. So vermenschlicht ist er. Oder er
drückt durch absonderliche Bildungen seine nahe Beziehung
zum formenreichen Wolkenheim aus. Weissgetüncht und hoch -
aufstrebend, fast immer monumental gebildet, scheint er sich
den lichten Wolken zu vermählen, leuchtet er auf dem tief -
blauen Grund des reinen Firmaments. Die neuen Häuser haben
eine solche Schönheit nicht aufzuweisen. Nur alte Bauten
besitzen die so überaus malerische, kühne Silhouette von Dach
und Schornstein. Des letzteren jüngerer Bruder ist ein Nieder -
gangstypus. Nüchtern und nichtssagend, mit trostloser Regel -
mässigkeit verteilt, erscheint er nur mehr als notwendiges Übel,
mit dem der heutige Baumeister in der Regel künstlerisch
nichts anzufangen weiss. Er drückt keine Lebensfreude aus, er
ist kein Schmuck, kein Wahrzeichen, kein Symbol. Er ist ein
langweiliger, temperamentloser Geselle. Ein Kind seiner Zeit.
Auch die Tore und Torbildungen erregen vielfach Bewunde -
rung. Aber der Blick, der darauf fällt, dringt schon ins
Innere, in die Höfe, und verleitet, durch den Hausflur zu
schreiten. Denn es sieht oft recht seltsam aus in den alten
Höfen. Dass die Grossväter eine feine Kultur besassen, beweist
schon der Sinn für die Ästhetik der Pflanze. Es ist kaum ein
alter Hof ohne irgendein Grünes. Einen sah ich, dessen
Wände waren von wildem Wein umwachsen, und davor
standen der Reihe nach blühende Oleanderbäume in Holz -
kübeln, was einen ganz wundersamen, märchenhaften Zauber
ausübte. Ein anderer ist der Länge nach von echtem Wein
überwölbt wie eine Pergola, und darunter hängen zur Reifezeit
schwere Trauben herab. Ich gehe weiter und vergesse beinahe,
dass ich noch wirklich in unserer Stadt bin. So bäuerlich,
kleinstädtisch sieht es in jenen entlegenen Stadtgebieten am
Fusse des Kahlengebirges aus. □
Drüben hämmert ein Schmied. Verzeihe, Meister Wieland,
meine Neugierde. Städter wissen kaum, was eine echte und
rechte Schmiede ist. Die ich meine, das ist eine solche.
Nebenan ist ein Altwiener Krämerladen. Gut zweihundert
Jahre alt. Ein junges, dralles Weib, mit einem Kind am Arm,
erzählt vom Urgrossvater, der diese Einrichtung schon besessen.
Und dann eine lange Familiengeschichte. Erinnerungsreich, wie
hier alles ist. Und die Menschen selbst, die hier eingewohnt
sind, tragen ererbte Züge. Kinder und Mädchen mit staunenden,
fragenden Augen, die in die Ferne sehen. Kinder und Greise,
merkwürdig ähnlich. Und während drüben die Schmiede
hämmert, lärmt die Jugend auf der Strasse und aus einem
Hofraum tönt das Gekeife eines Weibes. Die schweren Schritte
der Weinhauer schallen auf dem Pflaster und in dem schönen,
fliesenbelegten Hofe eines sehr vornehm aussehenden Barock -
hauses. Einer steht dort im Kreise mehrerer Männer und
schenkt aus einem Kruge Wein. Das Bild erinnert mich an
ausgestorbene italienische Paläste, wo nunmehr schwere Bauern -
stiefel über den Estrich schreiten und Prunksäle als Getreide -
magazin verwendet werden. □
Auch hier in den einstigen Patrizierhäusern spielt sich nur
mehr ein kleines, armseliges Leben ab. Das fühlt man ganz
deutlich, dass eine absterbende Kultur sich hier fortfristet. Zu -
stände und Dinge, die in der Auflösung begriffen sind und
deren Untergang manche als persönliches Leid empfinden, weil
sich Kindheitserinnerungen mit diesen grossväterlichen Verhält -
nissen verbinden. Ich kann dem leisen, heimlichen Drängen
nicht widerstehen, in eine solche alte Stube einzutreten. Längst
Begrabenes wird wieder lebendig; Bilder aus frühen Tagen, die
vergessen schienen. Da sind die steifen Biedermeyermöbel, der
kleine, elende Krimskrams, den ein langes Leben hier aufge -
häuft hat. Jeder Gegenstand hat seine Geschichte. Und der
eine, der sie kennt und der in diesem Gemach haust, ist ein
nahezu hundertjähriger Greis. Die Haut liegt pergamentartig
um die riesigen Knochen, seine lichten Augen sehen staunend,
fragend in die Ferne, wie bei jenen Kindern. Er weiss so viel
und möchte erzählen, und immer verliert er den Faden. Wenn
er nur sagen könnte, was er gefühlt und erlebt! Hinter jeder
Hecke, hinter jedem Treppenwinkel blüht ein Roman. Ich
halte es in dem Raum nicht mehr aus, ich glaube unter
lauter Verstorbenen zu sitzen. Nein, es ist doch nichts für uns
Neuen, Heutigen. W^ie trefflich der junge Wein mundet, den
man hier im Grünen trinkt. Vom Abendhimmel zeichnet sich
in schöner Silhouette das Kahlengebirge ab; drüben glänzt die
Donau. Und ich freue mich wieder, ein Kind der Gegenwart
zu sein, an dem Heute mitzubauen und damit das Morgen
220
Beispiele:
Gegenbeispiele :
Alte und neue Wohnhäuser,
alte und neue Vorgärten
in den ländlichen Vororten
Altes und Neues im Wiener Stadt -
bereich am Russe des Kahlengebirges
(Siehe „Wenn du vom Kahlenberg ..“)
222
slStt.
Altes und Neues im Wiener Stadt-
bereich am Fusse des Kahlengebirges
(Siehe „Wenn du vom Kahlenberg..“)
Beispiele:
Gegenbeispiele:
Alte und neue Wohnhäuser,
alte und neue Vorgärten
in den ländlichen Vororten
vorzubereiten. Was gestern ist, möge versinken, denn das
Leben, das es hier führt, ist doch nur ein Scheinleben. Ein
Absterben. Aber die Spur des verwehenden Lebens möchte ich
einfangen, den Roman, der in all den Dingen liegt, möchte
ich erzählen. Lieber Greis, mir ergeht es wie dir. Die ganze
rührende Geschichte kann man wohl nachfühlen, aber man
kann sie gar nicht ergreifend genug erzählen. Versuche es,
lieber Leser, auf meinen Wegen zu gehen und nachher bei
einem Glas Donauperle alles zu bedenken. Und du wirst
sehen: gerade das Beste und Tiefste und Geheimste lässt sich
nicht aussagen. □
EIN ARCHIV DES HERZENS.
(Liebesbriefe aus neun Jahrhunderten. — Rittersbrieflein aus dem XV. Jahrhundert. —
□ □ Adalbert Stifters letzter Brief an Fanny Oreipl.) □ □
M annsräuschlein nannte man im XV. Jahrhundert die Ge -
liebte — alte Liebesbriefe überliefern die Ekstasen dieses
Räuschleins. Erlebte Romane sind es, kleine und grosse Tra -
gödien, oder doch tragische Momente, da die Betroffenen „dem
Schicksal näher stehen als sonst“. Von vielen wissen wir, dass
ihr Leben im Schatten ging, weil das Schicksal gegen sie ent -
schied. Wo Sehnsucht ist, ist nicht immer Erfüllung. Sehnsucht
und Entsagen ist der schmerzliche Grundton des Jubels, der in den
Briefen lebt. Und nannte man's nur ein „Räuschlein“ in Schmerz
und Glück, so war's doch ein Lebensfest, eine Steigerung des
Gefühls, die zu dem Ungewöhnlichen befähigt. Der alte Kram
von Liebesbriefen, der unter dem Plunder verjährter Moden
aus der vollgestopften Kommode der Jahrhunderte hervorge -
zogen wird, trägt noch immer ein Echo des Lebens, das nicht
ersterben kann. Die Gräber öffnen sich, in der Moderluft klagt
eine Seele, wie Lazarus kommt es hervor, ein Seideknistern,
ein Flüstern, Wispeln, angstvolle Gebärden, ein Stimmengewirr
wie von einer Opferherde, ein Liebeslispeln von einem Leichen -
mund, der die Flamme des ersten Eides beschwören möchte —
wo Schweigen und Vergessen ist, zittert der Nachhall der fernen
Brandung. Wie matt und schal ist die Dichtung, verglichen mit
diesem Archiv des Herzens, wie Lichtenberg die Liebesbriefe
nannte, darin mit elementarer Kraft das Leben dichtet und,
ganz unliterarich, ein gar köstlich Stück Literatur schafft:
„DEUTSCHE LIEBESBRIEFE AUS NEUN JAHRHUNDER -
TEN“, von Dr. Julius Zeitler zusammengestellt und in einem sehr
schönen Bande in seinemVerlag (Julius Zeitler, Leipzig 1905) heraus -
gegeben, sind eigenartigste und edelste Literatur, Dokumente
des menschlichen Herzens, auch im stammelnden und unbehol -
fenen Ausdruck inniger und tiefer als es je formvollendete Ge -
dichte sind, und gerade darum schön und am schönsten. Eine
sehr treffende Stelle der einleitenden Sätze Zeltlers möchte ich
in diesem Zusammenhang betonen: „In seinem ganzen Leben
kann ein Mensch nur einen solchen Liebesbrief schreiben; jeder
spätere, bei der zweiten oder dritten Liebe, ist bewusster, raffi -
nierter, gelernter. So gibt es in einer Liebe nur EINEN Liebes -
brief, die vorhergehenden sind blosse Vorläufer, und die späteren,
wenn sie nicht in einem Werbebrief mit einmal abbrennen, sind
bloss eine innigere Freundschaft. So fehlt in einer Liebe, in der
es diesen Brief nicht gibt, eigentlich die Spitze. Diese Art von
Briefen sind die bedeutsamsten des ganzen Lebens. Und das ist
das Charakteristische: wo der Mann um das Weib wirbt, da ist
er mehr Mann als bei jedem anderen Geschäfte, mit den
stärksten Empfindungen drängen sich ihm in diesen Augen -
blicken starke, schöne, grosse Worte auf die Lippen. Diese Mo -
mente können einen sonst trockenen Nüchterling zum Schrift -
steller, ja zum Dichter steigern, in diesen Empfindungen gewinnt
er Grösse, sein edelster Charakter tritt heraus. Ist der Zauber
verblichen, steht der Philister wieder da.“ CH
□ □□□□□□□□□□□□□DG
Aus der glänzenden Reihe der flammenden Liebesschwüre hebe
ich einen hervor, der vielleicht der zarteste, empfindungsmäs-
sigste, zum lyrischen Gedicht gesteigerte Liebesbrief der einzigartigen
Sammlung ist, ein ritterliches Liebesbriefchen aus dem XV. Jahr -
hundert. □
„Vare hyn du clenis bryffeleyn, und grüsse mir dy allir libiste
meyn, grüsse sy nicht alleyne mit dem Munde, sundir mit
meyns herczen gründe, ach libistis frageleyn czart, ich habe
mich ken dir ny werle geoffenbart, und dir och meyn leyt ny
geclagt, das ich so gar vorborgene libe truck in meynem herczen
off dich du allirlibiste meyn. Meyn hercze begert gar inniclich,
das dyr meyn wille würde kant, ich mag das sprechen sicherlich,
meyn hercze ist sere vorwunt von dir, o meyn granat, meyn
paradys bistu is czart libiste Juncfraw meyn, meyne wunne,
meyn loyst, meyn leyd vortryb, vor alle dy werlede ich dich
eyn, unde wulmdistu mich czu eynem dynir haben, mit all
dem das ich vor mag eyntrofftelich loyn sulttu entphogen. Ach
trofftelich lyb unvorczagt stroftu mich nicht czu desser vart, so
byn ich alle meynir froegeden queyd. — (elende byn ich) —
Mir libit so sere deyn libbiche gutte, das ich keyne rue mag
gehaben, wy wol das ich dir byn zu ferre. Idoch habe ich dich
stete in meynen gedancken, unde ich will nicht abelossen, off
genade, ich immyr warten will, wen ich habe dich lyb in ganczen
czuchten, dorczu in allen eren, alle meyn hot gancz czuflucht
czu dir, du kanst mich wol irneren, wen das geschyt, so werde
ich froe, unde myn hercze lebit gancz in frageden, hy loys
mich vorstan, wy mirs sal irgan, wen ich mich, ab got wyl,
czu dir wende. Ach seliges reyns frageleyn czart, du salt tragen
mit trawen der eren cleyd und ab dir do imand andirs sagit,
der meynt dich nicht mit trawen, ach seyligis fragen waz wiltu
nur, sundir vorwar dein ere fulge gote unde seynir lere, daz
mag dich nymmer reugen. Ach czartir got, bis eyn huttir der
wesesn, das ist czarter Juncfraw, dy ich meyne, daz nicht werde
betrubit Ir stulzer, junger leyb, ach got, ir leyt vortreyp und
alle den, dy fruntlichen von Ir kosten, wen von rechter libe so
kompt leyd, daz ich wol irfunden, meyn hercze ist in trweren
gar bereyd, meyn fragede ist gancz verswanden — (Elende byn
ich) — Mit stetir hulde unde ganczer trwe mustu du mir lyb
seyn alzu vore. Ich hoffe daz sal nich nicht berewen. Gott
gebe dir czey hundirt unde czwey phumt gudir nacht. Gedencke
an mich, alzo ich an dich, nicht mee begere ich, Gewunschet
225
czu collen an dem reyne in eyme cleynen kemyrleyne, behald
dys in geloben und in ganczem trwen by euch/' □
□ □□□□□□□□□□□□□□□
Einen sehr wertvollen und für das Schicksal und Schaffen eines
ganzen Dichterlebens bedeutsamen Brief habe ich in der Samm -
lung vermisst. Ich bringe ihn im folgenden zum Abdruck,
damit er bei einer neuen Auflage des Buches in die Sammlung
aufgenommen werden mag. Es ist Adalbert Stifters Brief an
seine geliebte Fanny Greipel. Dieser Brief ist der Schlüssel zu
allen seinen Dichtungen, in denen der zur Resignation abge -
tönte, unverwundene Liebesschmerz nachklingt und der in der
Verklärung seines „Nachsommers" von einem späten Glück
der Erfüllung träumt. Wie ein roter Faden zieht durch all sein
Schaffen diese unerfüllte Liebessehnsucht, deren lebensechtes
Zeugnis in diesem Ausdruck des ungebrochenen heissen Em -
pfindens vorliegt. □
Liebe teure Freundin!
Oberplan ist mir fürchterlich leer, und nur Du allein beschäf -
tigest immer mein Herz — ein unsägliches Gefühl, halb
Trauer und halb Seeligkeit, ist seit der Vermählung Schifflers
mit Marie in mir — zweier Menschen, deren Geschichte so enge
mit unserer verbunden ist, und deren Glück so hart mit unserem
Unglück kontrastiert, da ich jenes Gefühls des tiefsten Mitleides mit
mir selber seit jenem Hochamte zu Christianberg nicht Meister
werden kann. Seitdem weiss ich es, Du liebest mich noch — ich
hab' es wohl gesehen, wie Du während der heiligen Handlung etwas
zurücktratest, um Dich dem Anblicke zu entziehen, und wie Du
später verweinte Augen hattest; meinem Auge, das nur immer Dich
suchte, ist es gar nicht entgangen, wie Dein Inneres in schweren,
traurig-schönen Erinnerungen arbeitete, und mein Herz sagte es
mir, dass wir uns in diesem Augenblicke in gleichen Gefühlen
begegnen. Du bist ein Engel, den ich nie verdiente. Du hast
von Deinen Eltern die unerschöpfliche Herzensgüte geerbet, mein
heiliger Engel bist Du, so rein und gut — und ich konnte das
an Dir tun, was ich tat! Seit Du sagtest, Du habest dergleichen
nicht von mir erwartet UND ICH HABE DIR ERBARMT,
seither ist ein Schmerz in mir, so heiss und strafend, dass ich
nichts als die Sehnsucht habe: könnte ich doch an Deinem
unschuldigen, keuschen Herzen diese Last recht in bitteren
Tränen ausweinen, ob's nicht doch Linderung gäbe. Als sie
sagten: du werdest Huber heuraten, fuhr der Geist der Eifer -
sucht in mich, und da wurde der Plan gedacht, Dich und alle
Vergangenheit zu vergessen, und weil der Schmerz doch zu
nagen nicht aufhörte, so suchte ich, wie es in derlei Fällen
immer zu gehen pflegt, in neuer Verbindung das Glück, das
die alte, erste versagte, und spiegelte dem verwaiseten Gefühle
vor: nun bist Du ja geliebt und glücklich — — ach und ich
war es doch nicht. Es gibt nur eine, eine einzige Liebe, und
nach der keine mehr. Gekränkte Eitelkeit war es — zeigen
wollt' ich Eurem Hause, dass ich doch ein schönes, wohlha -
bendes und edles Weib zu finden wusste — — ach, ich hatte
über dem Experimente bald mein Herz gebrochen. Je weiter
zur Vermählung hin ich es mit Amalien kommen liess, desto
unruhiger und unglücklicher ward ich. Dein Bild stand so rein
und mild im Hintergrund vergangener Zeiten, so schön war
die Erinnerung und so schmerzlich, dass ich, als ich Amalien
das Wort künftiger Ehe gab, nach Hause ging und auf
dem Kissen meines Bettes unendlich weinte — UM DICH. Du
warst ja doch immer trotz meiner vorsätzlichen Selbstverhärtung
die Braut meiner Seele — Du warst doch immer die Heilige, zu
der mein besseres Innere betete — und wie oft suchte ich Deine
Briefe hervor und las sie alle durch. Erst als ich stark genug
war, das neue Band zu zerreissen und ihr alles zu sagen und
aus meiner Selbstquälung zu klarem Entschluss zu kommen —
erst da, als Amalie sagte: Ich danke Ihnen für Ihre Aufrich -
tigkeit und achte Sie, dass Sie Ihrer ersten Liebe treu blieben
— erst dann kehrte wieder ein unendlich süsser Friede in mein
Herz, als hättest Du gesagt: Ich liebe Dich ja noch und ver -
kenne Dein gutes Herz nicht. □
Ich habe dies alles nicht etwa gesagt, um mich zu rechtfertigen,
nein, sondern mein Benehmen zu erklären. Hätte ich Dein ein -
faches, schuldloses Gemüt, so hätte ich still geduldet, nicht
durch Trotz mein Herz herabgewürdigt und einem anderen
Wesen Kummer verursacht. Freilich sagen die Leute: Du hattest
nichts gegen sie gefühlt. Euer Vertrag war ja aufgehoben —
als ob ein Herzensbündnis mit WORTEN zu Null gemacht
werden könnte!! Wäre es von mir blosse Untreue gewesen,
warum hätte ich dann plötzlich wieder gebrochen? Als weil
mir mein Verstand sagte, ich soll nicht mich und sie unglücklich
machen; denn ich liebte sie nicht, und sollte mir ihr Kuss Wohlge -
fallen sein, so musste ich mir DEINE Lippen dazudenken. — Aber
gut, alles ist vorüber, und diese Begebenheit hat neuerdings gezeigt,
wie unbesiegbar meine Liebe zu Dir; sie ist die letzte Ver -
irrung meines Gefühls gewesen und hat aber das Gute bewirkt,
dass ich nun sanft und stille sein will und in reiner und schöner
Liebe Dein Bild in mir aufhängen und schmücken werde mit
der liebreichsten Verehrung immer und immer fort. Ich fühle
jetzt schon eine solche Zufriedenheit in mir, wie ich sie seit
Zwei Jahren nicht gehabt habe, und ich fühle, wie sie immer
steigen wird. □
Nun noch eins: wenn Du ein Herz, das so hart von seinem
wahren Ziele irrte, das aber bereute und umkehrte, nicht ver -
schmähen willst, wenn Deine Güte noch einen Rest alter Liebe
und Zärtlichkeit aufbewahret, so nimm meine Liebe, die ich
Dir als eine demütige Gabe anbiete, wieder an und heile meine
Wehmut mit freundlicher Zärtlichkeit —- ich weiss, was ich Dir
dann schuldig bin, und nie, so lang ich lebe, soll ein unsanftes
Wort Dein Herz betrüben oder eine Handlung Dein Gemüt
verletzen. Kein Mann auf Erden liebt Dich MEHR als ich,
weil Dich keiner MEHR kennt als ich, und keiner kann Dich
glücklicher machen. Sagst Du Ja (und Du wirst das, weil Du
SO gut bist), so werde ich mit Deinen Eltern reden und ihnen
dartun, dass eine Verbindung zwischen uns ganz und gar nicht
ungereimt sei, und um ihre Einwilligung bitten. Sagst Du aber,
Du liebst mich nicht mehr, so will ich es leiden, wie auch das
Herz wehe tut, und ich will nur allein Dich zur Braut meiner
Ideen machen und Dich fort lieben, bis an meinen Tod. □
Ich schrieb dies alles, weil ich fürchte, dass zu einer Unterredung
keine Zeit ist. Übrigens will ich keineswegs, dass dieses Blatt
ein Geheimnis bleibe zwischen uns, im Gegenteil, berate Dich
mit Deiner Mutter und bitte sie, dass sie mit mir rede. □
Lebe wohl, ich bin ewig Dein Dich innigst liebender Freund
A. Stifter.
Oberplan, am 20. August 1835. □
226
EINE ERGÖTZLICHE GESCHICHTE.
AUS DEM WIENER THEATER-ALMANACH FÜR DAS
JAHR 1796.
ir entnehmen dem Almanach folgende amüsante Groteske:
„Auf dem Lande hat sich die Schauspielkunst, wie bekannt,
noch immer in ihrer primären Gestalt erhalten. Irgendein
Mann oder auch eine Frau, die soviel Barschaft besitzen, dass
sie sich einige Szenen und Kleider vom Trödelmarkt anschaffen
können, werben unter herumziehendem, herrenlosem Gesindel
Mitglieder einer Schauspielergesellschaft an, besteigen mit diesem
jämmerlichen Vorräte von Personen und Sachen, wie einst
Thespis, einen Karren, fahren durch die Provinzen herum und
brandschatzen die gutmütige Einfalt der sehelustigen Bauern.
Eine ähnliche sogenannte FLIEGENDE TRUPPE setzte sich
den verflossenen Sommer zu PENZING an, einem Dorfe, das
an das kayserliche Lustschloss Schönbrunn stösst und von Städtern
häufig bewohnt und besucht wird. Unter derselben befand sich
ein Friseur, Herr Sandersky, der sich vorzüglich in den Rollen
junger Helden, Ritter, Prinzen und dergleichen auszeichnete.
Dieser spielte nun auch den Hamlet. Um sich vom Gehalte
dieses Prinzen einen richtigen Begriff zu machen, will ich seine
in ihrer Art einzige Einladung des Publikums zu dieser grossen
Haupt- und Staatsaktion wörtlich abschreiben. □
HOHE UND GNÄDIGSTE GÖNNER!
Da Herr Sandersky schon einigemahl die Ehre hatte, in Agnes
Bernauerin als Albrecht aufzutreten; so macht er diesmahl seine
unterthänigste Einladung auf dieses so berühmte Trauerspiel,
verspricht, nachdem er sich alle Mühe gegeben hat, den Prinzen
Hamlet auf Begehren eines hohen und gnädigen Adels gut ein -
zustudieren, Sie, hohe und gnädige Gönner, auf das beste zu
unterhalten, indem er alle Kräfte anstrengen wird, seine durch
vielen Fleiss erfundene Bilder gut anzubringen. Insonders hofft
er den Beyfall in dem Monologe SEYN UND NICHT SEYN
zu erhalten, weil er eine Arie dazu verfasst hat, die sowohl
pathetisch, tragisch als unterhaltend lustig seyn wird. Seine
Phantasien werden Bilder entwerfen, worüber Natur und Kunst
sich entsetzen muss, auch wird es an Kleidungen und Dekora -
tionen nichts ermangeln, um nur unsere gnädigsten Gönner
nach Wunsch zu täuschen.
In der sichersten Hoffnung eines zahlreichen Zuspruchs verharrt
er voll Achtung
Dero ganz unterthänigster Knecht
MAXIMILIAN SANDERSKY.
Der Leser mag diese Einladung selbst beherzigen, ich will nur noch
erzählen, wie die Ausführung von statten ging. Obschon unser
Prinz am Tage der Vorstellung bereits den ganzen Vormittag
zu Pferde alle umliegenden Dörfer besucht und Zuschauer ge -
worben und hierauf als Friseur die ganze Gesellschaft frisiert
hatte, bestanden seine BILDER, wie er sich ausdrückt, doch
in den beschwerlichsten Verzerrungen aller Gliedmassen, im
Toben, Wüten, Schäumen und Stampfen. Ein Augenzeuge ver -
sichert mich, dass man einem gewöhnlichen Menschen kaum
die Kraft Zutrauen sollte, einer so wütenden Gestikulation nicht
zu unterliegen. Aber nun erst den feinen Teil seines Spiels.
Dass er HYPERIONS LOCKE in eine PENSIONSLOCKE
verwandelte, dass er die Worte: hier ist ein Magnet (Ophelia),
der STÄRKER ZIEHT, in: der MEHR ZÜCHTET, verkehrte
und so fort, will ich übergehen, aber die Art, wie er den Anfang
des Monologs, die Worte SEYN ODER NICHT SEYN,
emblemisierte, darf nicht verloren gehen. Er trat mit einem
Stückchen brennenden Unschlittlicht auf und sagte: SEYN —
dann blies er es aus und setzte hinzu: UND NICHT SEYN.
Das Licht dampfte so stark, dass das Publikum über Gestank
klagte, der artige Prinz wusste sich aber zu helfen, fuhr mit
Zwey Fingern zierlich durch den Mund und löschte das Licht
vollends aus.“ D
AUSSTELLUNG DER KUNSTGEWERBESCHULE.
ie Möglichkeit einer guten Kunstschule hängt von dem
Glück ab, dass sie künstlerisch bedeutende Persönlich -
keiten als Lehrer hat. Sie hängt nicht von den Systemen,
den Schulerlässen und Vorschriften ab, denn keine Art von
System oder Methode, und wäre es die beste, kann einen ge -
ringen Lehrer bedeutend machen. Es gibt nur EINE Art von
System, das zur Erhaltung einer guten Kunstschule notwendig
ist: dass die stärksten und unabhängigsten Künstler mit dem
Schulkreis verbunden werden. Es ist keinesfalls eine Frage von
untergeordneter Wichtigkeit, wie mit den jungen menschlichen
Begabungen gewirtschaftet wird, und die Gesamtheit hat aus
vielen Gründen ein Interesse daran, dass wir eine sehr gute
Kunstschule besitzen. Es gibt aber keine andere wahrhaft er-
spriesslichere Möglichkeit, Talente zu bilden, als durch die Kraft
des lebendigen Beispiels, das die Persönlichkeit des Lehrers
gibt. Auf diese ist in der Tat das Schicksal der Schule und
der Schüler gestellt; ob Leben herrscht und die Fähigkeit, die
neuen Aufgaben zu erfassen, ist eine Frage, die von der Stellung,
die der Lehrer in der Kunstentwicklung einnimmt, entschieden
wird. Es ist gar nicht festzustellen und keineswegs in ein System
zu bringen, wie die Macht des Persönlichen auf die Entfaltungen
wirkt; es ist das Geheimnis guter Kunstschulen. Dagegen ist
es gar kein Geheimnis, dass Lehrkräfte, die seit zehn Jahren
hoffnungslos stagnieren, nicht mehr als den Anschein bewirken
können, als ob die Welt seit zehn und mehr Jahren stillge -
standen sei. LI
Es zeigt sich nun, wie notwendig diese Kunstschulausstellung
ist, damit nicht der Glaube entstehe, dass dort alles künstlerische
Leben eingeschlafen sei. Es ist nicht nur für die Schule selbst
wichtig, die sich Rechenschaft darüber geben muss, wo Fort -
schritte zu verzeichnen und wo Stillstand, es ist auch für die
Öffentlichkeit von Interesse, die wissen will, ob das österreichische
Kunstgewerbe die Hoffnung hat, sich gegen den mächtigen
Aufschwung des Auslandes zu behaupten. Wirtschaftspolitische
Gründe sprechen ein gewichtiges Wort mit. Eine Schule, die
nicht das Ungewöhnliche leistet, wird für das Leben und für
die Zukunft nicht einmal das Gewöhnliche leisten können. Zu
diesen Besorgnissen liegt nun kein Anlass vor, dank der Schulen
der Professoren Hoff mann, K. Moser, Czeschka, Metzner, Czischek,
Larisch etc. Direktor Beyer kann sehr stolz darauf sein, einer
Anstalt vorzustehen, die solche ausgezeichnete Ergebnisse liefert.
Es kann ihm nicht der Vorwurf gemacht werden, dass es in seinem
Institut nicht vorwärts gehe; die jungen Leute dieser Schulen bauen
Häuser, legen Gärten an, richten Wohnungen ein, versuchen sich
in allen möglichen Materialien, plastische und dekorative Ideen
auszudrücken, machen Handarbeiten, Buchschmuck, Bilder -
bücher, schöne Schriften etc. etc., dass es eine Freude ist. Und
sogar die beklagte entschwundene Volkskunst ist in der Kinder -
kunst durch Czischek zu neuem Leben gebracht. Das Ent -
scheidende an diesen Leistungen ist, dass die jungen Leute
wirklich können, was sie hier zeigen, und dass viele von ihnen
für die Bedürfnisse des Kunstgewerbes und der Industrie erfolg -
reich tätig sind. □
227
1=1 BÜCHER, DIE MAN LESEN SOLL. =
BAND XX, BRANDES, ANATOLE FRANCE. Brandes hat
in der Einleitung zu der von ihm herausgegebenen Sammlung
„Die Literatur^ in kurzen Zügen die Eigenart des Essais und
des Essaiisten geschildert; mir kommen seine Sätze jetzt, da
ich über das France-Buch sprechen soll, in den Sinn i sie scheinen
mir der beste Weg zum Schriftsteller und seinem Werke. Be -
geisterung und Gegensatz sind die Quellen, aus denen der
Essaiist schöpft; er will nicht ewig Gültiges niederlegen, nicht
objektiv sein, geht daher nicht wie — leider zu oft — der
wissenschaftliche Literat „eine Vernunftehe mit seinem Thema
ein“, sondern schreibt wie ein Liebender. Etwas von dem Inhalte
des Buches auszugsweise wiederzugeben, hiesse das wie ein
Geschmeide gefügtes Kunstwerk zerstören; Dichter und Darsteller
gehen zu sehr in ein Wesen zusammen. Mein Urteil ist daher
kurz: Brandes hätte für seine Ausführungen über Essais kein
besseres Beispiel geben können als dies vorliegende Meisterwerk.
SERVAES, ALBRECHT DÜRER (R. MUTHER, „DIE
KUNST“, Bd. 42). Dürer ist uns Streitern von heute ein Führer
im Kampfe geworden: über eine einseitige Verfechtung der
künstlerischen Ausdrucksmittel hinaus sehnen wir uns nach dem
schönen Tonklange von Form und Inhalt; um so mehr Wert
gewinnt für uns die vorliegende Dürer-Schrift, die nicht eine
Analyse der Werke, sondern eine scharf umrissene Darstellung
von Dürers Persönlichkeit bietet. Über die Grenzen seiner Zeit
und Heimat wächst Dürer zur Ewigkeitserscheinung und reiht
sich so unseren Grössten an, deren Erkenntnis uns erst heute
aufzugehen beginnt. Servaes Dürer-Buch ist ein würdiges Gegen -
stück zu seiner Klinger-Monographie („Die Kunst“, Bd. 5). Die
Vorzüge beider liegen in der Tiefe der Auffassung und in der
Kraft des Ausdruckes. Von den Abbildungen, die dem Buche
beigegeben sind, verweise ich besonders auf zwei nach Hand-
Zeichnungen angefertigte, eine „Ruhe auf der Flucht“ und eine
„Madonna auf dem Bette“, die uns Dürers Heimlichkeit be -
sonders nahe bringen. □
„DIE LITERATUR“, HERAUSGEG. VON G. BRANDES.
Band XVII, G. Ubell, Die griechische Tragödie. Die meisten
Kritiker lehnten, wie Beckmesser nur „nach den Regeln“ ein -
lassend, Hofmannsthals „Elektra“ aus Prinzip ab; ein Vergehen
gegen die ewigen Gesetze der Schönheit sei es, ein Verbrechen,
ein Werk hellenischer Kunst in den Empfindungskreis unserer
Tage umzudichten. Dass wir tatsächlich ein Recht darauf haben,
weist Ubell in der vorliegenden Schrift nach, der er besser den
Titel „Die Renaissance der griechischen Tragödie“ gegeben
hätte; er spricht nicht von der Art der Ausführungen der
Tragödien, die wir uns durch Rückschlüsse von der bildenden
Kunst (bes. Reliefplastik) vergegenwärtigen können, nicht von
der Bedeutung der Werke für ihre Entstehungszeit, sondern für
unsere heutige Zeit, und von den Zeichen, die uns auf eine
Wiedergeburt der antiken Tragödie schliessen lassen: einem
Naturgesetze gemäss folgt auf den konsequenten Naturalismus
die Sehnsucht nach dem durch die Griechen begründeten grossen
Stile. Wilamowitz' Übersetzungen dringen in weite Kreise, es
folgt die Neudichtung der „Elektra“ und Aufführungen der
Originaldramen. Euripides, der unter den Tragikern der heutigen
Zeit am nächsten steht, wird wieder entdeckt, wir hören von
seiner wundervollen Bakchendichtung. Am besten wird Ubell
bei der Analyse der neuen „Elektra“ und bei der Gegenüber -
stellung Euripides—Grillparzer auf Grund der „Medea“; sein
Ziel — die Verfechtung jenes Rechtes — erreicht er durch den
Hinweis auf die Stellung der alten Dichter zueinander und zu
ihren Themen: ihnen wären Neudichtungen der alten Stoffe
am verständlichsten gewesen; ihr Glück war es, die FORM
immer mehr zur Reife bringen zu können, denn der GEGEN -
STAND ihrer Dichtungen war Volksgut. Werden wir je soweit
kommen? □
„FÜHRER ZUR KUNST“, HERAUSGEGEBEN VON DR.
HERM. POPP, Verlag Paul Neff (M. Schreiber), Esslingen.
Die richtige Würdigung dieser neuen Kunstbücher gewinnen
wir durch einen Vergleich mit verwandten Erscheinungen, be -
sonders mit Muthers Sammlung „Die Kunst“. Während diese
Bändchen sich immer mehr einer subjektiven Analyse der
Künstlerpersönlichkeiten zuwenden, verfolgen die „Führer zur
Kunst“ den Zweck, das Kunstwerk selbst nach seinen künstle -
rischen Qualitäten dem Leser zu erschliessen oder abgegrenzte
Gebiete aus der künstlerischen Kultur (künstlerische Wohnungen,
Hochzeitsfeste der Renaissance, Bildnismalerei etc.) in angemes -
sener Sachlichkeit einem grösseren Leserkreise vorzuführen. Vor
der Besprechung der bereits erschienenen Bändchen, die nur
eine beiläufige Information geben will, sei der trotz des billigen
Preises (I Mark pro Band) guten Ausstattung der Sammlung
gedacht, der wir in Anbetracht ihrer Vorzüge und ihres wich -
tigen Zweckes eine weite Verbreitung wünschen, □
Die einleitende Veröffentlichung stammt aus der Feder TH.
VOLBEHRS und handelt von der Frage: „GIBT ES KUNST -
GESETZE ?“ Nicht die Gesetze selbst, sondern nur die Wege,
auf denen man sie zu finden gesucht hat und noch finden wird,
werden dargelegt; Volbehr geht aus von Lessings und Goethes
„Laokoon“ als den klassischen Versuchen, aus EINEM Werke
allgemein gültige Regeln abzuleiten; er berührt Gogarths „Zer -
gliederung der Schönheit“ sowie Zeisings und Göringers Ar -
beiten über den goldenen Schnitt und weist an einer Dürerschen
Proportionsstudie nach, dass den Resultaten der letzteren die
Allgültigkeit fehlt, mögen sich auch ihre Beobachtungen über
weitere Gebiete erstrecken. Die Haltlosigkeit des Gesetzes
vom „physischen Zusammenhänge der Dinge“ ergibt sich aus
Studien über das Vorkommen des Mäanders bei den entgegen -
gesetzten Völkerschaften; nach einem Hinweise auf die ver -
schiedenen Erklärungsversuche der ägyptischen Plastik legt der
Verfasser an der Analyse von Rembrandts „Hochzeit des Simson“
dar, wie Taine in seinen Arbeiten den äusseren, kulturellen Ein -
flüssen in der Kunst die im Individuum begründeten Gesetze
nachstellt. In umgekehrter Reihenfolge kommt nun Volbehrs
positive Arbeit mit dem Ergebnisse, dass es Kunstgesetze gibt,
dass sie aber nicht konstruierte, geistreiche Erfindungen gelehrter
Männer sind, sondern Gesetze des Lebens. NATURGESETZE,
gegründet auf der Aufnahmefähigkeit und Schaffenskraft, Die
physiologischen Kunstgesetze findet der Leser in der Schrift
des Verfassers über „Bau und Leben der bildenden Kunst“
(Teubners Sammlung „Aus Natur und Geisteswelt“, Bd. 68).
Diese beiden Schriften können allen denen, die in die Lebens -
fragen der Kunst eindringen wollen, nicht warm genug em -
pfohlen werden. W. v. S.
Nächste Sondernummer: Ungarische Volkskunst
r
Jahrgang I der „HOHEN WARTE“, I. und II. Halbjahr, ist in einigen
gebundenen Exemplaren nocli zum alten Preis zu haben. Später
Preiserhöhung!
Einbanddecken für den I. Jahrgang werden auf Bestellung nachgeliefert.
Unregelmässigkeiten in der Zustellung wollen dem Verlag der „HOHEN
WARTE“ gefälligst sofort bekanntgegeben werden.
NACHDRUCKVERBOT für sämtliche in den Heften der „Hohen Warte“
erscheinenden Artikel und Illustrationen.
Alle Zuschriften und Sendungen Wien, XIX. Grinzingerstrasse Nr. 57, Telephon D 58.
Verlag „Hohe Warte“. Für die Redaktion Joseph Aug. Lux.
Für den österreichischen Buchhandel in Kommission bei: HUGO HELLER, WIEN,
I. Bauernmarkt 3.
Druck von Jacques Philipp, vorm. Philipp & Kramer (v. Leiter : M. Bandler), Wien VI.
228
□ SONDER-□
DOPPELNUMMER:
STÄDTESTUDIUMi BRÜNN.
OFFENE UND GESCHLOSSENE
BAUWEISE.
VON PAUL SCHULTZE-NAUMBURG.
E s ist eine Eigenheit unserer Zeit, dass gerade die Bestre -
bungen, die auf die Wohlfahrt der Menschen gerichtet
sind, so oft genau das Gegenteil von dem erzielen, was
sie anstreben. Aus der Beobachtung, dass die ganzen Bau -
anlagen älterer Zeiten den Bewohnern weniger Luft und Licht
gaben als die Erkenntnis moderner Hygiene für notwendig oder
doch wünschenwert hält, entstehen unzählige Bauverordnungen,
die aus der besten, lautersten Absicht hervorgingen. Niemand
wird leugnen können, dass sich durch sie die Behörden die
Berücksichtigung mancher hygienischen Erkenntnis erzwungen
haben. Aber mit was für unsinnigen und zwecklosen Opfern ist
das erreicht! Und wie häufig schoss man vollkommen daneben.
Es kann hier nicht der Ort sein, im einzelnen alle Bauvor -
schriften unseres Landes einer Kritik zu unterziehen; nur an
einzelnen Beispielen möchte ich erörtern, wohin papierne Vor -
schriften führen, besonders wenn das lebendige Gestaltungsgefühl
daneben fehlt.
Um in gewissen neuen Stadtteilen die genügende Licht-
und Luftzufuhr zu erzwingen, haben eine sehr grosse Anzahl
Städte für gewisse Strassen oder Stadtteile eine aufgelöste Bau -
weise mit dem sogenannten Bauwich vorgeschrieben. Das heisst,
man erliess die gesetzliche Bestimmung, dass die Häuser mit
ihren Mauern nicht aneinander stossen durften, um so lange,
ununterbrochene Strassenfluchten zu bilden, sondern man schrieb
vor, dass jedes Haus in diesen Strassen einen Abstand von so
und so viel Meter vom Nachbarhaus haben müsste. Wohl
gemerkt: es handelt sich hier nicht um weit gebaute Garten -
strassen mit geräumigen Gartengrundstücken, in denen sowie -
so jedes Haus freistehend gebaut wird und weit vom Nachbar -
haus entfernt steht, wie etwa aus Abbildung S. 234 ersichtlich ist.
Sondern es handelt sich um Abstände von drei, vier, fünf oder
auch sechs Metern, die zwischen den einzelnen Häusern nur
hohe, schmale Lücken reissen. Der Anblick solcher Strassen ist
meist entsetzlich, denn dort, wo sowieso keine eigentlichen
Landhäuser entstehen, sondern die Baupolizei mit Gewalt eine
offenere Bauweise erzwingen muss, entstehen selbstverständlich
Häuser, die mehr den Charakter von Mietswohnungen tragen,
d. h. die einige Stock hoch sind und dementsprechend auch in
ihrem Äussern einen Mietshauscharakter zeigen müssen. Ein paar
Bilder, wie Abbildungen S. 234 u. S. 237, werden von der Unerfreu-
lichkeit des Anblicks rasch überzeugen. Sie sind ohne jede Liebe
hingebaut, von vorn besehen nicht schöner als ihre Rückseiten,
die bei dieser Bauanordnung überall sichtbar sind. Es wird wohl
niemand geben, der die Behauptung aufstellen möchte, dass eine
solche Hausanordnung schön sei. Man wird gern einräumen,dass eine
geschlossene Häuserflucht für solche Art von Häusern schöner
sei als die klaffenden Lücken von ein paar Metern. □
Aber, wird man sagen, wir müssen unserer Gesundheit dieses
Opfer an Schönheit bringen. Denn Gesundheit ist wichtiger als
Schönheit. Solche allgemeine Sätze wollen meist nicht viel
besagen, denn man müsste erst genau feststellen, was Gesund -
heit eines Volkes bedeutet und ob die Gesundheit eines
Volkes ohne Schönheit überhaupt möglich ist, kurz, man
müsste etwas tiefer ergründen, als Schlagworte es zu tun
pflegen. Aber nehmen wir einmal an, die Schönheit müsste
zurücktreten, wenn der Gesundheit ein Vorteil gewonnen wäre,
eine Kombination, die nach meiner Überzeugung nie an -
zutreffen ist. Der Gesundheit also sei ein guter Dienst geschehen,
wenn man die geschlossene Bauflucht mit unzähligen kleinen
Lücken versieht. '
Untersuche man einmal genau, was die Folge dieser neuen
Hausanordnung ist. Nehmen wir den bei dieser Bebauungs -
weise sehr häufigen Fall an, dass die Häuser in kleineren
Garten- oder auch nur Hofgrundstücken liegen, die zu den
Mietswohnungen gehören und die für die „offener“ gebauten
neuen Strassenanlagen doch besonders charakteristisch sein sollen.
Ja, man müsste annehmen, dass eigentlich um dieser Gärten
willen die ganze Liebesmüh des Bauwichs erfunden sei, denn
für die Wohnungen sind die Vorteile des Bauwichs sehr proble -
matische. Dem mit den kärgsten Mitteln ganz freigestellten
Hause ist allerdings die Möglichkeit geboten, nach allen vier
Seiten Fenster zu legen. Was die Fenster auf den beiden Seiten,
die dem Nachbarhause zugewendet sind, für einen Vorteil
bringen sollen, ist nicht erfindlich. Denn ein Fenster, dem auf
einige Meter Nähe eine hohe Mauer gegenübersteht, ist nicht
sehr erfreulich. Der Beweis dafür aber, dass ein Haus, das
zwischen zwei Brandmauern eingebaut ist, weniger helle oder
weniger luftige Zimmer haben müsste, ist nicht zu erbringen.
Es müsste ein kläglicher Baumeister sein, der die Aufgabe, in
einem Haus, das rechts und links von Brandmauern eingeschlossen
ist, alle Zimmer vortrefflich zu lüften und zu beleuchten, nicht
spielend löste. Die Aufgabe ist ja auch schon so tausendfach
gelöst worden, dass diese Möglichkeit nie bestritten worden ist.
Wir sehen also, die Gelegenheit, in einem derart freigestellten
Hause Fenster auf zwei Seiten mehr anzulegen, ist belanglos,
ja, sie ist schädlich. Denn die Grundrisslösung vereinfacht sich
die Sache und nimmt Fenster nach den ungünstigen Seiten zu.
229
Im Falle Fier Brandmauern ständen, wäre sie gezwungen, die
Fenster der Strasse zu und dem Garten zu anzulegen, die durch
Flügelbauten usw. noch vermehrt werden könnten. Dagegen
tritt ein Nachteil hinzu, der gerade bei den Häusern weniger
Wohlhabender, wie sie hier doch meist in Frage kommen,
wesentlich ins Gewicht fällt: VIER Aussenmauern bieten eine
umfangreichere Abkühlungsfläche als ZWEI Aussenmauern und
zwei Brandmauern, die sich mit dem Nachbarhaus verbinden,
und diese Abkühlungsfläche erfordert im Winter eine reich -
lichere Heizung; ausserdem ist der Ausbau von vier Fronten
teurer als der von zweien. □
Des weiteren wären die Vorteile oder Nachteile für den Garten
Zu untersuchen. Man werfe zu diesem Zweck zunächst einen
Blick auf Grundriss S. 231. Auf dem zweiten sind die Grund -
stücke in der Weise angeordnet, wie die Bauordnungen sie
zumeist erzwingen, d. h. zwischen der Strasse und dem Hause
ist ein unbebauter Streifen gelassen, auf dem ein sogenannter
Vorgarten angebracht ist. Auch zwischen den einzelnen Häusern
sind solche Streifen unbebaut geblieben. Nun wird jeder un -
befangene Betrachter sofort auf die Idee kommen, dass die
Grundstücke auf dem linken Bild doch wohl weit grösser sein
müssten als die auf dem rechten Bild. Dem ist jedoch nicht so,
sondern beide Grundstücke haben vollkommen gleiche Grösse,
wovon sich ein jeder durch Berechnung beider Flächeninhalte
leicht überzeugen kann. Allerdings ist auf ersterem weit
mehr TATSÄCHLICH BENUTZBARER Platz vorhanden
als auf dem anderen; das rührt jedoch nur von der besseren
Ausnutzung des Raumes her. Dadurch, dass die Häuser mit
ihren Brandmauern zusammenrücken, wird das Grundstück
wesentlich schmäler und dafür länger. Diese gestreckte Form
ist, wie die Erfahrung langer Zeiten bestätigt hat, für die An -
lage eines Gartens die günstigere. Denn es entsteht eine lange
Perspektive, die nicht allein für das Auge, sondern auch als
Wandelbahn angenehm ist. Überhaupt ist erst auf so einer
Grundfläche die Anlage eines Gartens möglich, während die
Flächen des Vor- und Zwischengartens verloren gehen. Sie
gehen verloren; oder hat schon jemand einmal einen Menschen
in seinem Vorgarten sitzen sehen? Oder würde es ein Ver -
gnügen sein, zwischen den beiden eng aneinander gerückten
Häusern auf und ab zu laufen? Es ist zu einleuchtend, dass
der Garten links eine weit angenehmere Gestaltung bietet, als
dass das noch weiter bewiesen werden müsste. Aber, spricht der
„Praktiker“ unserer Zeiten, es ist eben ein Opfer, das der
Schönheit auf Kosten der Gesundheit gebracht wird. □
Untersuchen wir weiter, was für die Gesundheit mit dem Vor -
garten und dem Zwischenraum zwischen den Häusern gewonnen
worden ist. U
Der Vorgarten macht, dass die Hausfronten einen grösseren
Abstand von den gegenüberliegenden erhalten und die Strasse
sich mit etwas Grün umgibt. Nun pflegen die Strassen ja zu -
meist heute schon recht breit angenommen zu werden, auch
ohne Vorgärten; breit genug jedenfalls, um das Gefühl der
Enge in der Strassenfront nicht aufkommen zu lassen, besonders
wenn der Höhe der Bebauung Schranken gezogen sind. Eine
gewisse Breite genügt für die Bedürfnisse. Ein breiter Vorgarten
geht auf Kosten der aufzuwendenden Privatmittel und sollte sich
bei denen, die mit ganz knappen Mitteln rechnen müssen, von
selbst verbieten. Ist die Strasse breit genug, um das Anlegen
von Baumalleen zu rechtfertigen, so dürfte eine solche
schattenspendende Anlage jedenfalls mehr Nutzen und Schön -
heit hervorbringen als die üblichen Vorgärten. Der Streifen
Grün aber, den die Vorgärten zumeist mit sich bringen,
ist fast immer so kümmerlicher Natur, dass er kaum
geeignet ist, wirkliche Freude zu bereiten. Ich will gar
nicht behaupten, dass ein unbebauter Streifen zwischen Haus
und Strasse nicht auch eine schöne Gestaltung annehmen
könnte; nur ist für einen Garten dann mit den zwei oder drei
Metern nichts getan, und am wenigsten in der Weise, wie die
Baupolizei durch Vorschriften von niedrigen Sockelmauern,
Eisengittern, Wegfallen von Vorbauten, von Gartenhäusern,
von Lauben meist noch erzwingt. Doch das ist ein eigenes
Kapitel. Der Zwischenraum zwischen den Häusern ist für den
Garten verlorener Raum, was niemand bezweifeln wird. Zu -
meist geht ja auch der Eingang zum Hause an einer Seite
durch, der unnötig wäre, wenn man von der Strasse aus von vorn
das Haus beträte. Er ist Raumverschwendung ohne Gewinn
nach irgendwelcher anderen Richtung. Dass der ganze Garten
durch all dieses bis zur Unbenutzbarkeit zerrissen wurde, sahen
wir schon. Dass Luft, Licht und Sonne durch die Anwendung
des Bauwichs in die unbebauten Flächen hineingeführt werden
sollen, dürfte auf einer unrichtigen Beobachtung beruhen. Schon
ein Blick auf die Abbildungen widerlegt das. Dazu kommen nun
noch die anderen „Vorteile“, die die Bauvorschriften uns auf -
zwingen. □
Ein jeder Mensch, der auch nur etwas Gefühl für Gartenleben
hat, weiss, dass hier Stille und Abgeschlossenheit unerlässliche
Bedingungen sind. Die Lücken zwischen den Häusern werden
aber zu Kanälen, die alles das den Gärten zuführen, was wir
in ihnen NICHT haben wollen: Wind, Staub, Strassenlärm
und fremde Blicke. Man denke sich zunächst einmal die Gärten
aus, wie sie nach den guten Beispielen entstehen können. Da
zieht sich wie eine breite Mauer die geschlossene Bauflucht der
Häuser entlang; auf der anderen Seite stossen ähnliche Gärten
an, die ebenfalls wie von einer Mauer von Häusern in ge -
schlossener Bauflucht abgegrenzt werden. Auf diese Weise sind
die Gärten gleichsam von einem hohen Schutzwall umgeben,
hinter dem der Lärm der Strasse tosen kann und höchstens
gedämpft herüberdringt. Auch vor den Winden sind sie so ge -
schützt. Was das für Gärten ausmacht, davon weiss zwar die
moderne Gartenbaukunst sehr wenig. Wer sich von der Frucht -
barkeit solcher geschützten Gärten überzeugen will, der suche
einmal alte, fürstliche Küchengärten auf. Dort schuf man durch
hohe Mauern geschützte Höfe, in denen die Tafelfrüchte ge -
zogen werden. Auch bei kleinen Anlagen wird man sich von
der erstaunlichen Fruchtbarkeit solcher geschützten Gärten
leicht überzeugen können. Sogar dem Staube bietet die ge -
schlossene Bauflucht eine Art Widerstand, so dass die Gärten
ihm nicht in so hohem Grade ausgesetzt sind. Endlich sind sie
den Blicken von der Strasse her vollkommen verschlossen. □
Das Haus- und Stadtbild, das durch diese uniforme Gestaltung
entsteht, ist ein so unsagbar kümmerliches, dass es bewusst
oder unbewusst einem jeden Bewohner sich fühlbar machen
muss. Hält man sich gar dagegen, was in Stadtteilen, die für
Wohnzwecke und nicht für Geschäftshäuser gebaut sind, ge -
schehen ist und was bei besserer Einsicht hätte gemacht werden
können, so ist das Resultat betrübend. Nicht wesentlich anders
230
232
DKM
liegen die Verhältnisse dort, wo es sich nicht um Gartengrund -
stücke handelt, sondern wo die grösste Fläche des Terrains zu -
gebaut werden darf, wie auf Abbildungen S. 234, 235 und 237.
Und doch hätte man sich für etwas Besseres so leicht Rat holen
können; man hätte nichts"anderes gebraucht, als einmal die
zahlreichen Gartenstrassen-Anlagen des XVIII. und des frühen
XIX. Jahrhunderts recht zu betrachten und sich über deren
Mittel klar zu werden. □
ST. PÖLTEN.
FRIEDHOFEINGANG, ALT UND NEU.
on kunstsinniger Seite werden uns die Bilder des alten
und neuen Friedhofeinganges als Beispiel und Gegenbei -
spiel übersendet, die in einem geradezu schreienden Kontrast
stehen. Dazu wird bemerkt, dass zwar auch der alte Eingang
durch den Ausbruch der Fenster und die Anfügung eines ge -
schmacklosen Portales ziemlich verunstaltet und ausser Zusammen -
hang mit der daneben befindlichen Kapelle gebracht worden ist,
dass er aber trotzdem den „Ort des Friedens“ unvergleichlich
würdiger und harmonischer abschliesst als das Gegenbeispiel.
Dieses, der Eingang zum neuen Friedhof mit der protzigen
Überschrift, den mageren Torpfeilern, ist eines jener unerträg -
lichen Industrieprodukte, die als schlechte Surrogate allenthalben
an Stelle früherer einfacher künstlerischer Lösungen auftreten.
Ein solches fatales Produkt ist übrigens auch der dazu gehörige
neue Friedhof, der durchaus den Eindruck eines geschäftsmässig
systematischen Grabsteinlagers macht, während der alte einem
jetzt allerdings ganz ungepflegten Garten gleicht. □
DIE HIMMLISCHE UND IRDISCHE LIEBE.
Aus dem epischen Gedicht „Jesus puër“ von Pater Ceva (J678 J737).
D ie Nacht sank itzo herab. Die Vögel lagen schlummernd
in den zarten Nestern, die Weste auf den Zweigen der
Bäume und die Seen zwischen ihren Ufern. Du hättest
geschworen, diese schliefen fest und die auf ihren Oberflächen
sich malenden Sterne seien ihre allerliebsten Träume. Als die
leichte Fröhlichkeit vom hellgestirnten Himmel mit schnellem
Gefieder wie in einem sanften Regen herabsank, von jenem
Geiste 1 begleitet, der das Blut rege macht und die Brust mit
Entzückung erfüllt. Muntere Bergziegen gaben ihm den Namen,
aber in der Sprache des alten Latiums bleibt er unnennbar.
Er tut den Malern nicht selten, am öftesten aber den Dichtern,
als ein Freund und Liebling der Musen, reichen Vorschub, i
Nun war ein Schäfer mit Namen Didymus, der, schon längstens
in den himmlischen Knaben verliebt, sich vor Ehre hielt, sein
Gespiele zu sein. Er wusste die Winde vorherzusagen und was
jedes auf- oder untergehende Gestirn mit sich bringt, auszulegen.
Fern vom Geräusche der Städte hatte sich seine Jugend allein
um das Haberrohr bekümmert, ohne dem Geringsten der
Sterblichen jemals zu nahe zu treten, beglückt, dass ihn keine
vorsichtige Klugheit wachsender Jahre annoch mit Sorgen
beladen, sein freies und unbesorgtes Gemüt ihm aber Freunde
erworben hatte. Diesem setzte sich, schon spät in der Nacht,
dieser fröhliche Geist auf die Schultern. Lang ging er nach -
sinnend dahin, endlich ward er mit Entzückung befallen und
geriet auf den artigen und holden Einfall, ob nicht die Saiten -
spiele seiner Freunde unter die Fenster der heiligen Jungfrau
zusammengebracht, ein Lied dazu gesungen und der freundliche
Schlaf vom Himmel auf die ermüdeten, allerliebsten Fremdlinge
gelockt werden könnte. Doch, wie könnte dieses itzo geschehen,
da es recht unhöflich wäre, in dunkler Nachtzeit an ihre stillen
Hütten anzuklopfen und sie zu erschrecken. So dachte er bei
sich selbst und ward von abwechselnden Begierden beunruhigt
und hin und her getrieben, als seine dichterischen Freunde, von
ebendemselben göttlichen Geiste angeweht, ihm entgegenkamen.
Einer hatte eine Zither mit elfenbeinernen Wirbeln, der andere
eine Leier von Ebenholz, dieser einen stählernen Triangel; jeder
dasjenige Instrument, wodurch er den guten Landleuten, wenn
sie ihr mühsames Tagwerk geendigt hatten, ein Vergnügen zu
machen gewohnt war. Kein Vergnügen ist süsser und lebhafter
als das, so ohne Zeitverlust und ohne lange Zurüstungen auf-
geboten und zuwege gebracht wird. Die Schäfer Elpin, Ligus,
Alcino und Montan kamen also einer nach dem anderen her -
bei, so wie jeder in seinem Gemüte durch die göttliche
Begeisterung angeregt war. Ihre Häupter waren mit Kränzen
von lebhaftem Mohn oder wohlriechenden Veilchen und Rosen
umwunden. Sie zauderten nicht lange, sondern stimmten, als
sie bei hellem Wetter an die bekannten Türpfosten heran -
kamen, auf ihre Instrumente herabsehend, leise die Saiten und
forschten mit lauschenden Ohren den rechten Ton, spannten
dieselben stärker an oder liessen sie nach, so wie die lehrende
Flöte es befahl. Als sie jetzt alle zu spielen bereit waren und
jeder aus Höflichkeit den anderen die Ehre, anzufangen, über-
liess und die tiefe Stille zu brechen nicht der erste sein wollte,
sprach Didymus: „Da will ich denn allein singen und eurem
1 Capriccio.
EIN MENSCH MUSS SICH, EBENSO WIE EIN BAUM,
NICHT WENIGER IN DIE BREITE ALS IN DIE HÖHE
ENTWICKELN KÖNNEN, WENN ER EINE HARMO -
NISCHE ERSCHEINUNG WERDEN SOLL. DAZU BE -
DARF ER DES RAUMES; UND DARUM IST ES IN
UNSEREN ÜBERVÖLKERTEN STÄDTEN SO SCHWER,
VOLLKOMMEN UND SCHÖN AUSGEBILDETE GEI -
STIGE INDIVIDUEN ZU FINDEN.
WERDEN LEUTE VON FREIEM HERZEN SICH ZU
MILLIONEN IN EINE SCHUTTHALDE VON BACK -
STEIN TREIBEN LASSEN? — IHRE STÄDTE WERDEN
NUR SO GROSS SEIN, DASS JEDER DEN KREIS
SEINER MITBÜRGER ÜBERBLICKEN KANN - SOLLTE
ICH EINE ZAHL GEBEN, SO WÜRDE ICH ACHTZIG -
TAUSEND ALS DIE ÄUSSERSTE GRENZE BEZEICHNEN.
DER MASSTAB EINER KULTUR IST DIE DAUER,
WELCHE SIE VERSPRICHT. OUCKAMA KNOOP.
239
freundlichen Streite ein Ende machen. Denn, wenn euch das
holde Kind hört, so besorg’ ich, es werde die ganze Nacht
durch seine wachenden Augen nicht wieder schliessen wollen}
so bezaubernd sind alle eure Gesänge dem hörenden Ohre. Aber,
dass ihr's wisset, meine Absicht ist, ein solches Lied zu singen,
das den Schlaf mit List herbeilocken und ankirren, freundlich
dann festhalten und ihn zuletzt überreden soll, über alle Augen -
lider nach und nach Ruhe und Schlummer gemächlich aus -
zugiessen. Sobald ihr aber gewahr werdet, dass er mit seinen
Brüdern vom gestirnten Firmamente herabgesunken, so müsst
ihr manierlich stillehalten, damit sie sich sämtlich auf jene
niedrigen Fenstergesimse niederzulassen nicht abgeschreckt oder
scheu gemacht werden. Sie sind leicht zu erkennen: bunte,
kurze Fittiche stecken aus ihren Schultern hervor} weisse Mohn -
kränze umschlängeln ihre Stirne und sie bewegen so gelinde
die Äste der Pappeln, dass man sie nicht einmal flüstern höret.”
Nachdem er diese Erinnerung weislich vorausgesendet, brach
er das Stillschweigen der Nacht und fiel in seiner Freunde
harmonische Lauten auf folgende Weise singend ein; □
„Der irdische Amor strich in der Welt umher, seit geraumer
Zeit krank, seit geraumer Zeit matt. Denn in einem gewissen
Garten hatte er goldfarbene Apfel gestohlen, welche ihm, weil
eine Schlange dieselben vergiftet hatte, übel bekamen. Er
seufzte seitdem immer nach etwas, er wusste selbst nicht, was
es war: es war ein Genesungsmittel, das er nirgends zu finden
wusste. Er kam zum goldreichen Ganges und trank} aber sein
Durst wuchs und wuchs noch mehr, als er den Tages geschlürfet
hatte. Am erythräischen Meere setzte er sich ans Ufer und
las Muscheln auf} als er aber eine derselben erbrechen wollte,
klemmte sie ihm den zarten Finger, dass er ihn mit einem
Traubenblatt umwickeln und mit einem Faden verbinden
musste. Ermüdet erreichte er Cypros. — Doch was erzähle ich
alles so genau? Auf dem ganzen Erdboden fand der arme
Amor weder Linderung noch Ruhe. Unglückseliger Flüchtling!
Weisst du nicht, welcher unbekannte Erdstrich zu deinem
Tröste noch übrig ist? Dachtest du an Idume nicht? —Jetzo
kam er an dessen Gestade und — (haltet ein wenig inne,
denn etwas, es ist einem Vogel ähnlich, hat sich zwischen
jenen Zweigen niedergesetzt. Es ist ein überaus schöner Schlaf,
und nun hoffe ich, mein Gesang soll mehrere seinesgleichen
zu Garne bringen.) Er kam, sage ich, mehr als jemals ermüdet
an die Gestade Idumens und trank itzt den Jordan. Als er
aber, wie ein irrend Schäfchen, im Felde hin und her lief und
alle Lüfte und alle Wege mit seinen Klagen erfüllte, sah ihn
die holde Mutter eines Himmelskindes weinen, hielt ihn mit
verbreiteten Armen in seiner schüchternen Flucht auf, gab ihm
Zuckerbrot, tat auch solche süsse Worte und unwiderstehliche
Überredungen dazu, dass er sich endlich ergab und unter ihr
Dach ging. Hier gewöhnte er sich, Milch und Honig zu speisen,
und bezeigte nach und nach eine solche Zufriedenheit über
seinen Zustand, dass er denselben nicht um alle Königreiche
vertauscht hätte. Hier liess er nun eine Kur mit sich vor -
nehmen, lernte die Hände falten und auf den Knien, die Augen
gegen die Sonne gewendet, alle Tage sein Gebet verrichten
und ward vom schleichenden Fieber endlich be — (haltet
wiederum ein wenig ein; denn, wo ich nicht irre, hat sich noch
ein kleiner Schlaf aufs Vordach gesetzet. In der Tat, er ist so
klein, dass man ihn kaum sehen kann, aber goldbesprengte,
schimmernde Flügel verraten ihn. Nun ist der dritte noch übrig;
aber auch der wird in kurzem auf die Leimstange herabfallen.)
Er ward also, sage ich, vom schleichenden Fieber befreit. Aber
ach! Von welcher kurzer Dauer war deine Wiedergenesung,
bedauernswürdiger Knabe! Der du, so wollte es das grausame
Schicksal, nächstens eines gewaltsamen Todes sterben solltest.
Denn unter eben derselben dürftigen Hütte war ein anderer
Amor; aber im Olymp geboren und göttlichen Ursprungs. Der
hielt den irdischen (ob er gleich mit ihm unter einem Dache
wohnte), weil solcher leichtsinnig, und zwar mit dem Munde
wohl beredt, aber von Leibe schwach war, gering und schlug
ihn, als er nach seiner Gewohnheit eines Tages von seinen
Taten auf schnitt und ihn herausforderte, ich weiss nicht von
ebengefähr oder in einem ernsten Kampfe, darnieder. Zwar
flehte er aus dem Staube um Gnade und bestrebte sich, mit
Vorhaltung der Arme und Hände den grausamen Streich ab -
zuhalten, aber vergebens: er empfing unter dem Herzen eine
tiefe, tödliche Wunde, und alle seine Tränen, alle seine Bitten
trugen die Winde spottend davon. Blutend und so schwach,
dass er seinen Körper kaum nachziehen konnte, schlich er zur
Waldherberge zurück und warf sich auf das Lager, das ihm
von weichen Lindenblättern gebettet worden. Hier fand er zu
allem Glücke, fürwahr ein wunderreicher Umstand, dass seine
Wunde so süss, so allerliebst war, dass er weder Arznei
gebrauchen, noch die milde Blutquelle zustopfen, noch gestatten
wollte, dass weiche Binden und Umschläge um dieselbe geleget
würden, bis ihm alle Kräfte mit dem Blute davonrannen und
der Lebensfunke verlosch. O, wie bedaure ich dich, allerliebster
Knabe! — Aber was bewegte dich auch, bei so grosser Un -
gleichheit der Kräfte deine Waffen einem Stärkeren entgegen -
zusetzen? Doch empfange den Trost, der selbst im Tode noch
süss ist, ob du ihn gleich jetzo nicht genugsam beherzigen
wirst. Siehe! Sobald er dein holdes Gesicht und die fürchterliche
Wunde sah, zerfloss er in Tränen, erfüllte Täler und Lüfte
mit Klagen, warf sich über dich hin, drückte seine holden
Lippen so brünstig auf deine, hielt mit schlanken Armen deine
kalten Glieder so fest und so lang umschlungen, bis das ent -
flohene Leben wieder in dich zurückkehrte und aus zween
Amorn nur einer wurde. Nicht anders, o Gottheit, lockst und
ziehest du unser Herz, wenn es der alten Welt satt und über -
drüssig geworden und nicht weiss, wo es ruhen soll, mit
wunderbarer Holdseligkeit in deine Gemeinschaft und erquickest
es, wann es matt worden, wie mit Äpfeln, helfst ihm die Seile
Zerreissen, die es an das Irdische binden, und gibst ihm endlich
Flügel, sich emporzuschwingen, ganz himmlisch zu werden. Und
jetzo leget eure Saitenspiele nieder. Die Fabel ist gesungen und
ich darf sie nicht länger machen. Denn sehe ich in der stock -
dicken Finsternis recht, so fällt endlich mit silberbeglänztem
Gefieder der letzte Schlaf vom Sterngewölbe hernieder; er geht
mit seinen Brüdern zwischen den Blumen auf und ab, und
itzt fliegen sie zusammen aufs heilige Haus. Einer lässt sich
auf dem taubenweissen Haupte des gottseligen Greises nieder,
ein andrer schliesst dem Himmelskinde mit schimmerndem
Finger die Augen zu, währenddem der dritte sachte, wie auf
den Zehen herbeischleichend, von hinterher der unbefleckten
Mutter das milchweisse Gesicht mit beiden Händen sanft um -
schlingt. Indessen durchfliegt das ruhige Stillschweigen, den
Finger auf die Lippen haltend, die Welt, und die Engel löschen
die nächtlichen Himmelslampen aus. Du aber, o feuchte Nacht,
wirfst deinen Schleier über die heilige Hütte und befiehlst, nach
Hause zu gehen, damit sechs schwarzbelockte Stunden, welche
nette, helfenbeinerne Körbchen in den Armen tragen (in welchen
lauter artige Träume auf Rosen sitzen), ihren leichten Fuss ins
Gemach zu setzen um unseretwillen nicht länger Anstand
nehmen. □
Gehet dann, geschickte Saitenspieler, jeder nach seiner Hütte,
euch, deren süsse Töne meinen schwachen Gesang unterstützet
haben, unterstützet, wenn der Tod sein Blutpanier über euern
sterbenden Teil schwingt, das göttliche Kind. Es stosse euern
Kahn sanft an die himmlischen Ufer, euch dorten unter die
Harfenspieler am Berge Gottes zu stellen, wo ich euch Wieder -
sehen werde, euer verklärter Gespiele im Reiche der Un -
sterblichkeit.“ □
So sprach er und itzt fiel ein kühler und wohlriechender Regen
vom Firmamente herunter. Jedweder schlug sein Oberkleid über
sein Spiel und floh mit dem Wunschei Gute Nacht! Gute
Nacht! Die engen Gassen und gewölbten Hallen antworteten lauti
GUTE NACHT ! GUTE NACHT! □
KÜNSTLERSINN IST EINFALT IN DER BESTEN BE -
DEUTUNG.
DIE KINDERGLEICHE UNSCHULD DES GENIES IST
VIEL ZU REIN, UM VON MORAL ZU WISSEN.
KÜNSTLERISCHE KEUSCHHEIT HALTEN DIE DURCH -
SCHNITTSREZENSENTEN FÜR KÜNSTLERISCHE IM -
POTENZ.
IN DER KUNST GIBT ES NUR ZWEI DINGE : SCHAF -
FEN UND GENIESSEN j WAS DARÜBER IST, DAS IST
VOM ÜBEL. ABER UNSEREN PROFESSOREN ER -
SCHEINT IM GRUNDE DIE KUNST ALS EINE WISSEN -
SCHAFT.
WAHRHEIT IST DIE MORAL DES DICHTERS, WENN
MAN VON EINER SOLCHEN REDEN WILL. EIN
SCHRIFTSTELLER, DER UM GESELLSCHAFTLICHER
ANSCHAUUNGEN WILLEN DIE AUFRICHTIGKEIT
SEINES SCHAFFENS BEEINTRÄCHTIGT, IST EBENSO
VERÄCHTLICH WIE EIN RICHTER, WELCHER, UM
PERSÖNLICH ZU GEFALLEN, DAS RECHT BEUGT.
OUCKAMA KNOOP.
STÄDTESTUDIUM VOM STANDPUNKTE DER
HEIMATLICHEN KULTUR. 1
X.
BRÜNN.
ine künstlerisch so übelberatene Stadt wie Brünn liefert
unendlich mehr Beispiele der baukünstlerischen Unfähig -
keit, als sich in diesem kurzen Überblick zeigen lässt.
Brünn war eine schöne Stadt; wenn sie den Ruf der Hässlich -
keit hat, so verdankt sie ihn ihrer heutigen Verschönerungssucht.
Was an Brünn schön ist, sind die Reste einer alten Bauzeit
bis vor 1850, für deren Schätzung den heutigen Brünnern
augenscheinlich das Organ fehlt. Zwar geschieht alle Zerstörung
im Namen des Fortschrittes und des Verkehrsbedürfnisses, also
unter den günstigen Anzeichen einer Entwicklung. □
Ein flüchtiger Blick auf das Gesamtbild von einst und jetzt
lässt erkennen, dass diese äussere Entwicklung der Stadt von
allen guten Geistern so ziemlich verlassen ist. Der formale
Niedergang ist keineswegs eine isolierte Erscheinung, sondern
Ursache und Wirkung anderer Umstände und nicht zuletzt von
Einfluss auf die wirtschaftliche Lage. Das Fehlen einer mittleren
Bevölkerungsschichte, die eine reichere Lebensführung an Ort
und Stelle entfaltet, tritt im Gegensatz zu den früheren Jahr -
zehnten heute schon klar zutage; das Fabrikantenwesen einerseits,
die Arbeiterschaft anderseits, der Gegensatz von Arm und
Reich begegnen sich in dieser Stadt mit ziemlicher Schroffheit.
Beide Schichten sind heute noch nicht der Entwicklung eines
mannigfaltigen und reichen Stadtwesens günstig. Das heutige
Stadtbild liefert diesen Beweis. Wie tief stehen die Ansprüche
und Bedürfnisse der heutigen begüterten Leute im Vergleich zu
den aristokratischen Lebenshaltungen, von denen die alten, ver -
lassenen Brünner Palais einen verblichenen Abglanz überliefern,
ganz abgesehen davon, dass diese heutigen begüterten Leute es
keineswegs mehr zu ihrer Lebensregel machen, ihre Einkünfte
in der Stadt zu verzehren und über ein gewisses Minimum
materieller Genüsse hinaus Ansprüche zu erheben. Anderseits
sind die kleinen bürgerlichen Klassen insgesamt der Arbeiter -
schaft im Zustande ihrer wirtschaftlichen Gebundenheit nicht
berufen, eine hohe Kultur zu entwickeln. Wer Kraft fühlt,
versucht sich ausserhalb der Vaterstadt. □
Man findet also in Brünn als Hauptkontingent der Bevölkerung
Industrielle, Beamte und Arbeiter. Sie bilden den Organismus,
den man Fabriksstadt nennt, wie es andere Stadtorganismen
gibt, die mit Vorliebe Kunsstadt bezeichnet werden. Für das
Ungeheuerliche solcher Erscheinungen ist noch kein Empfinden
erwacht. Eine Stadt, die sich wie Brünn einseitig als Fabriks -
stadt entwickelt, gleicht einem Lebewesen niederer Ordnung, das
Zwar mit den Werkzeugen seines Stoffwechsels ausgerüstet ist,
aber alle höher entwickelten Sinnesorgane entbehrt, um die
Schönheit des Himmels und der Erde, der Natur und der
Kunst zu erfassen. □
Die Fortschritte der Industrie und Technik kommen dem Stadt -
leben für die harmonische Ausbildung der schöpferischen Kräfte
noch keinesfalls zugute. Ich spreche dem grossen Durchschnitt
der Industrie den Takt und die Fähigkeit ab, ihre Erzeugnisse
der Menschheit in einer Form zu bieten, die sie zur Fort-
1 Fortsetzung der Reihe aus dem I. Jahrg., siehe Seite: 36 f 162» J64, 209» 226» 290» 308»
322» 324» und aus dem II. Jahrg. der »»Hohen Warte“» Seite 120. Q
24t
bildongf ihrer Kultur brauchbar macht. Die zahlreichen Er -
findungen und Erzeugungen sind nicht so sehr ein Ergebnis
der gestaltenden Notwendigkeit, als vielmehr blosser geschäft -
licher Ausbeutung. Die Hast, mit der aus spekulativen Gründen
die Neuheiten einander jagen, lässt es als unmöglich erscheinen,
ihren Wert und ihre Ausdauer zu erproben und als organische
Gebilde des gesamten menschlichen Gestaltens künstlerisch zu
adeln. Die Unnatürlichkeit dieser Zustände tritt heute fast in
aller Welt in die Erscheinung. Allein Brünn mit dem Spezial -
vorzug einer Fabriksstadt hat einen besonderen Anteil daran.
Der ganze neue Baucharakter der Stadt ist der Ausdruck der
Hilflosigkeit den Stoffen und Formen gegenüber. Es sind
Gebäude, deren Wesen durch die Eisenkonstruktion bedingt
ist und die durch Steinarchitekturen maskiert sind, die ein
lügenhaftes Scheindasein führen. Allenthalben an Strassenecken
finden sich als Bekrönung der Zinskasernen Türme, die weder
aus der Baukonstruktion oder dem Baugedanken organisch
hervorwachsen, noch irgendeinen inneren Zweck zu erfüllen
haben. rj
Das Schlagwort des sogenannten Baustils lautet: gemässigte
Barocke. Die Brünner sind fasziniert von diesem Wort, wohl
deshalb, weil Brünn aus der guten Barockzeit eine Anzahl
vornehmer Bauwerke besitzt, die mit dem Dünkel ungebildeter
Emporkömmlinge durch die neue „Barock“ ersetzt oder durch
die barbarische Restaurierungswut zerstört werden sollen. Was
in der ganzen übrigen Welt bis zur Banalität wiederholt wird,
ist dieser Stadt noch nicht zum Bewusstsein gekommen, dass
es ein ebenso lächerliches als trauriges Beginnen ist, den stili -
stischen Ausdruck einer vergangenen Zeit wiederholen zu wollen.
Die Stadt hat nicht die Einsicht gewonnen, dass die „gemässigte
Barocke“ ein Trug ihrer unfähigen Bauleute ist, die mit un -
zureichenden künstlerischen und materiellen Mitteln nur
schlechte, in jeder Hinsicht fälschliche Kopien alter Fassaden -
studien herzustellen vermögen. □
Bei Neuanlagen, Villenvierteln usw„ liegt das künstlerische Un -
vermögen offen da. Die Entwicklung des Stadtbauwesens, der
Villen- und Gartenstadtanlagen, die sich in England über
50 Jahre vorbereitet hat und den Kontinent künstlerisch be -
fruchtet, ist an der Brünner stark betriebenen Bautätigkeit vor -
übergegangen, ohne einen Eindruck zu hinterlassen. Es ist nicht
der leiseste Versuch gemacht worden, das Neuschaffen auf die
Höhe moderner Kulturansprüche zu bringen. Nur die schlechten
Beispiele der kontinentalen grosstädtischen Bauweise werden
von diesen kleinen Städten mit affenartiger Behendigkeit nach -
geahmt. Dagegen brüsten sich diese Städte auch darin mit
Modernität, dass sie das Zerrbild einer Sezession, so wie sie
sich in der Absicht einer mehr oder weniger schwindelhaften
Industrie darstellt, zu verkörpern sucht. Es ist sonach allzu
begreiflich, dass der Stadterweiterungsplan ebenfalls von keiner
künstlerischen Einsicht geleitet wird. □
Auf allen Kongressen und in allen möglichen Zeitschriften
werden die künstlerischen Grundsätze des Städtebauwesens er -
örtert, 1 und viele Städte verdanken der Befolgung dieser Er -
kenntnisse Schönheit, Gesundheit und Wohlstand. Es gehört
zu diesen Grundsätzen, dass der Reichtum an alter Baukunst,
wozu nicht nur die monumentalen Palastarchitekturen, sondern
1 Siehe „Misstände der gegenwärtigen Grosstadtanlagen“, Heft 3, I. Jahrg. der „Hohen Warte“.
auch die schlichten Bürgerhäuser der älteren Zeit gehören, auf
das schonungsvollste erhalten werden. In diesen alten Bau -
werken, ihren Anlagen, ihren Strassen und Platzbildungen und
in ihren sonstigen Denkmälern und Kunstwerken, die sie
beherbergen, liegt ein unersetzlicher Wert für die Stadt, der,
wie noch angedeutet werden wird, auch wirtschaftlich wichtig
ist. 1 Es ist allerdings nicht zu leugnen, dass im Laufe der Zeit
den alten Werken der Untergang beschieden ist. Aber der
natürliche Gang dieser Dinge ist unendlich langsamer als die
Arbeit jenes Pöbels, der sich in hohen Kommissionen zusammen -
tut und sich mit Vorliebe an schönen alten Architekturen ver -
greift. Der Vorwand des Verkehrsbedürfnisses ist fast durch -
weg unstichhältig. Es gibt kein Verkehrsbedürfnis, das uns
Zwingt, wertvolle alte Gebäude niederzureissen, harmonisch ge -
bildete Stadtteile „aufzuschliessen“, sämtliche Wohnstrassen in
Verkehrsstrassen zu verwandeln und die Ruhe und Wohnlich -
keit aus sämtlichen Strassengebieten zu vertreiben. Denn der
beabsichtigte Zweck wird auf diese Weise niemals erreicht
werden. Was dagegen sicher erreicht wird, ist, dass jener Teil
der gebildeten Einwohnerschaft, die ein reicheres Kulturleben
in der Stadt zu entwickeln vermögen, dieser grosstädtischen
Ode den Rücken wendet. Was die Stadt dabei verliert, ist
nicht nur eine Einbusse an Bedarf für den Alltag, sondern jener
unberechenbare Wert, den eine umfangreiche und hoch-
entwickelte Lebensführung nach allen materiellen und imma -
teriellen Richtungen hin darstellt. Es wäre eine gar nicht
uninteressante Aufgabe, durch eine Statistik festzustellen, welche
Summe von Lebenswerten durch eine einzige grosse Persön -
lichkeit hervorgerufen werden. Die handwerkliche, industrielle,
geistige und künstlerische Tätigkeit einer Stadt wird am
höchsten gedeihen, wenn sie nicht für den Export und den
fremden Markt schaffen muss, wo eine erbitterte Konkurrenz
auf die wirtschaftliche Lage der Erzeuger drückt, sondern wenn
die Arbeit der eigenen Stadt zugute kommt und sich an den
unmittelbar gesehenen und empfundenen Bedürfnissen ent -
wickeln kann. Eine solche Wirtschaft setzt allerdings einen
hochentwickelten Konsumentenstand voraus, der befähigt ist,
Qualität zu erkennen und zu fördern. □
Die Gemeindepolitik hat ein ausserordentliches Interesse daran,
die Stadt mit all diesen inneren und äusseren Anziehungs -
kräften auszustatten, um einen solchen Bevölkerungskreis zu
fesseln und zu erweitern. Deutsche Städte: München, Darm -
stadt, Dresden, geben ein Beispiel dieses Bedürfnisses. Allein
unsere österreichischen Nester, die das Glück haben, einen
solchen Schatz an alter Kultur zu besitzen, sind ängstlich
bemüht, die Allüren einer schlechten Grosstadt anzunehmen.
Sie haben aus diesem Grunde längst aufgehört, das zu sein,
was sie einmal waren: selbständige Kulturzentren, in denen
das Wesen ihres Landes als der engeren Heimat den inten -
sivsten geistigen und künstlerischen Ausdruck empfing. Sie
suchen heute nicht mehr in ihrer Charakteristik, sondern in
ihrer geistlosen Schablone das Heil. □
Die Produktion steht demgemäss unter dem Einfluss des wenig
gekannten und unpersönlichen Weltmarktbedürfnisses und über -
sieht vollends die Fülle von spezifischen Aufgaben, die für den
heimatlichen Markt zu erfüllen wären. Nachdem aber dieser
242
1 Siehe „Volkswirtschaft des Talents* 4 , Heft 21—26, I. Jahrg,, und Heft I—JO, II, Jahrg. der
„Hohen Warte**. g
Beispiel
BRVNN
\hilcjo 'Brim Marchionatus Momuice
Beispiel
Gegenbeispiel
Brünner Stadtansichten in Beispielen und Gegenbeispiel
243
Beispiel
Beispiel
244
Der Brünner Dom in überlieferter Form
Gegen -
beispiel
Der Brünner Dom in überlieferter Form
Die sogenannte Wieder -
herstellung des Doms .
ssm
Beispiel und Gegenbeispiel
Der grosse Platz mit der Michaeli-Kirche im Jahre 1820
Der Platz in heutiger Gestalt nach dem Abbruch der Kirche
Markt sein Publikum verloren bat und die Stadt alle An -
strengungen macht, die Vorbedingungen eines in jeder Hinsicht
erspriesslichen Daseins zu zerstören, wird man sich nicht wundern
dürfen, dass trotz der trügerischen Zeichen eines Scheinauf -
schwunges nur ein unerquickliches Dasein in den Mauern dieser
Stadt ist und dass wirtschaftliche Rückwirkungen mannigfacher
Art zu spüren sind. □
Brünn war einstens sicherlich ein sehr angenehmer Aufenthalt;
heute empfinden es jene, die ausharren müssen, als eine Ver -
bannung. Schliesslich will kein Mensch in einer hässlichen
Stadt leben. Andere Städte, die von einer künstlerisch gut
beratenen und voraussehenden Gemeindepolitik geleitet sind,
setzen alles daran, ihre Eigenart zu behalten und in den Neu -
bildungen den höchsten Grad von künstlerischer und sonstiger
Vollendung zu erreichen, soweit es heutzutage möglich ist. Zur
Gesundheit gehört wesentlich das Schöne. Soll der Ort gepriesen
und durch das Leben und Schaffen bedeutender Menschen aus -
gezeichnet werden, so muss er alle Glücksmöglichkeiten einer
höheren Gesittung erschliessen können. Um solches zu bewirken,
scheinen nach dem Stande der Dinge die leitenden Faktoren
dieser Stadt nicht berufen. Was sie für schön und erstrebens -
wert finden, ist, soweit es sich in dem neuen Stadtbilde aus -
drückt, ein Zustand, der den gebildeten Sinnen als ein Greuel
erscheinen muss. Der Grad von wirklicher und volkstümlicher
Wohlfahrt und Kultur, den eine Stadt in der Zukunft der
nächsten drei Generationen erreichen kann, drückt sich im
Stadtplan aus. Nur ein ganz oberflächlicher Vergleich der
heutigen Ansicht mit den alten Stadtbildern enthüllt die Blossen
der neuen Entwicklung. Was sich in den neuen Stadtgebilden
Zeigt, ist nichts Fertiges; etwas, das nie ein Fertiges werden
kann. Die alten Baureste des alten Stadtkernes halten dem
Drängen der spekulativen Generation nicht stand. Keine
Institution ist vorgesehen, um der Stadt das Juwel der alten
Anlagen nach Möglichkeit ganz zu erhalten und bei der Stadt -
erweiterung dem Gedanken Geltung zu verschaffen, dass eine
Stadt ein organisches Kunstwerk darzustellen hat, das in allen
Funktionen das höchste Mass von Sachlichkeit und Vollkommen -
heit zu erfüllen hat. 1 Dazu gehört, dass Geschäftsstrassen von
Wohnstrassen getrennt seien, 1 dass der Verkehr sich nament -
lich in den Hauptadern der neuen Anlagen konzentriere, 1 dass
der Wohnhausbau die Bildung von Strassen, schönen, ge -
schlossenen Plätzen, zahlreichen Gärten mit grosser sachlicher
und künstlerischer Einsicht zu behandeln hat, was schliesslich
nicht von erwerbsmässigen Bauunternehmern, Spekulanten oder
vom Bureaukratismus erwartet werden kann. Eine Stadt, die
auf Schönheit Wert legt, wird Mittel und Wege zu finden
wissen, um zu erreichen, was ihr frommt. □
Obzwar Brünn nur zwei Schnellzugsstunden von Wien entfernt
ist, so hat es dennoch den Anschein, als ob die künstlerische
Entwicklung, die bei uns ebensogut wie in anderen hervor -
ragenden Kulturzentren erfolgt ist, Jahre brauchen müsste, um
nach Brünn zu gelangen. Im Gesamtbild ist noch kein An -
zeichen wahrzunehmen, dass die Provinz, die sich mit über -
raschender Schnelligkeit alles Ungeratenen von auswärts
bemächtigt, auch an dem Guten, das da und dort in Entwicklung
begriffen ist, ein Vorbild nimmt. Ähnliches ist von dieser Stelle
aus bei anderen Anlässen wohl oft gesagt worden. Um nicht
1 Siehe Heft 3, I. Jahrg. der „Hohen Warte“, wie oben.
zu ermüdenden Wiederholungen Zuflucht nehmen zu müssen,
sollen die Hinweise genügen, die auch für diese Stadt gelten. 1
Denn wie ungünstig auch die künstlerische Bilanz der Stadt
sein mag, es ist dennoch zu erwarten, dass ein, wenn auch
sehr kleiner Bruchteil der Einwohnerschaft diesen Zustand als
deprimierend empfindet und nur der Stärkung bedarf, um in
den Zerstörungsgang einzugreifen. □
Vieles ist allerdings umgebracht und als unwiderbringlich ver -
loren zu betrachten; manches ist indessen noch zu retten, und
was die Zukunft an Möglichkeiten des Bessermachens bringt,
ist nicht abzusehen. In einer sehr wichtigen Sache, die den
Dom betrifft, ist leider nichts mehr zu ändern. Unsere Bilder
zeigen ihn in seiner alten Erscheinung, wie ihn der künstlerische
und geschichtliche Werdegang der heutigen Generation über -
liefert hat. Was auch zur Rechtfertigung der neuen Türme
gesagt werden mag, vom künstlerischen Standpunkte ist diese
Zutat fast einer Zerstörung des ehrwürdigen alten Gemäuers
gleichzusetzen.- 2 Dass die führenden Kreise vor einer solchen
heillosen Verhunzung nicht zurückschrecken, gewinnt fast den
Charakter einer traurigen Selbstverständlichkeit, wenn man die
anderen, kaum weniger krassen Fälle der neueren Bautätigkeit
betrachtet. 3 □
Ein Beispiel dieser Gewohnheitsverbrechen liefert unsere Ab -
bildung des bestandenen Mittrowsky-Palais, eines mit primo
stucco reichverzierten alten Bauwerkes, das niedergerissen wurde,
um einer elenden neuen Brünner Mietshaus-Architektur Platz
Zu machen. Das entzückende alte Landhaus soll (?) durch eine
Rampe „verschönert'' werden. Hier ist vielleicht noch zu helfen,
wenn es dem besonnenen Teil der Bürgerschaft gelingt, das
Attentat abzuwenden. Unsere Illustrationen liefern noch eine
weitere Reihe von Beispielen und Gegenbeispielen, die die vor -
nehme alte Brünner Bauart der schlechten neuen Brünner
Architektur entgegensetzt. Es sind nur einige wenige Beispiele
aus der Unzahl der Fälle, die nicht zu erschöpfen sind. □
Ein besonders schlimmes Beispiel jedoch ist der grosse Platz.
Mit dem Abbruch der Michaeli-Kirche begann die systematische
Zerstörung des typisch Brünnerischen Platzgebildes. Es fielen
die alten Gebäude, die Geschlossenheit des Platzes und der Platz -
wendungen wurde gelöst, und schliesslich blieb von dem Platz
nichts übrig als eine nüchternste, formlose Erweiterung einer
Strasse. Unsere Bilder zeigen ihn in der alten und neuen Ge -
stalt. Geradezu amüsant ist der lächerliche Versuch, 4 neben der
St. Jakobskirche ein neues Haus im „gotischen" Stil herzu stellen,
um eine „Übereinstimmung" mit der Kirche zu erzielen. Dass
die alte Schönheit des Kirchenplatzes — und nicht bloss dadurch
— vollständig umgebracht ist, kann man aus unseren unzu -
reichenden Bildern erkennen. □
Die Fälle lassen sich ins Unzählige vermehren. Wenn der kunst -
sinnige Teil der Bevölkerung diesen Appell beherzigen will, so
findet er überreichlichen Stoff, der in allen Strassen Brünns
zur Abwehr der wüsten Spekulationsbau i und der bureau-
kratischen Unfähigkeit mahnt. 5 □
1 Siehe Heft 3, I. Jahrg. der „Hohen Warte“, wie oben.
2 Siehe: „Englische Bestimmungen zur Erhaltung alter Bauwerke“, I. Jahrg. der „Hohen
Warte“, Seite 34, 62, 132 etc.
3 Siehe: „Leitsätze für den modernen Städtebau“, I. Jahrg. der „Hohen Warte“, Seite 48.
4 Siehe: Städtestudium: „Graz“, I. Jahrg. der „Hohen Warte“, Seite 324.
5 Siehe: „München“, I. Jahrg. der „Hohen Warte“, Seite 328.
Siehe: „Darmstadt“, I. Jahrg. der „Hohen Warte“, Seite 380.
251
d=] BÜCHER, DIE MAN LESEN SOLL. [=]
VOM WESEN UND VON DER BEDINGTHEIT
DER KUNST.
BETRACHTUNGEN UND GEDANKEN
VON FRANZ DROBNY.
as Büchlein ist von einem Mann geschrieben, der aller -
dings vom Bau ist, aber dennoch ausserhalb des Kreises
steht, der an der Entwicklung der künstlerischen Dinge
unmittelbar beteiligt ist. Als stiller Beobachter, der den Ver -
lauf von fernher ansieht, hat er sein kleines Werk geschrieben,
das für ihn gleichzeitig eine Art Glaubensbekenntnis darstellt.
Es ist eine wirklich gute Schrift. Die Erscheinungen des modernen
Kunstlebens sind mit bemerkenswertem Scharfsinn auf ihren
Gehalt hin erkannt; in dem Bilde, das er von dem Stande der
Entwicklungen entwirft, sind Licht und Schatten richtig ver -
teilt. Ich möchte zur Probe den II. Abschnitt zitieren, der vom
Kunstgewerbe handelt. □
Eine noch weit höhere Rolle als in der Architektur spielt die
Technik im Kunstgewerbe. Nach der oben versuchten Definition
des Kunstwerkes ist es klar, dass eine Scheidung von „hoher“
und „dekorativer“ Kunst im Wesen der Sache nicht begründet
sein kann. Wir werden beim Kunstgewerbe nur zu untersuchen
haben, ob in dem Werke, ausser dem Triumph der Technik,
der ja für sich allein wohl ein Lustgefühl, nie aber ein reines
Kunstgefühl auslösen kann, noch eine Empfindungsmitteilung
steht. Ein Künstler also, wie Nietzsche einmal beiläufig sagt,
ein Genie der Mitteilung wird, auch ohne es bewusst zu wollen,
selbst in einem bescheidenen Schmuckstück z. B. nicht bloss
eine tote Form, technisch verwendet, reproduzieren, sondern
seiner eigenartigen Empfindung Ausdruck geben. Freilich ist
der Kreis hier viel enger gezogen als in den anderen Künsten, weil
eben die Technik der Herstellung eine so grosse Rolle spielt. Man
vergleiche, um dies klar zu machen, die Gläser und die Glas -
malereien Tiffanys, die zum grossen Teile nur Triumphe der
Technik sind, mit den Werken des Gallé, von denen viele als
wirkliche Kunstwerke angesprochen werden können. Oder den
Schmuck eines Künstlers wie Lalique mit seinen Nach -
ahmungen. Oder einzelne Stücke dänischen Porzellans aus der
königlichen Porzellanfabrik in Kopenhagen mit dem, was seither
von den nachfolgenden Werken mit der Scharffeuertechnik und
Unterglasurmalerei im allgemeinen geleistet wird. Oder die
Raumstimmungen in den besten Werken eines Olbrich und
Hoffmann mit den Dekorationen eines Urban. □
So ist gerade die Betrachtung des Kunstgewerbes auf seinen
jetzt wieder erreichten Höhen geeignet, die Notwendigkeit der
Technik und ihrer Entwicklung für das Kunstwerk ins klarste
Licht zu stellen, und doch wieder zu beweisen, dass der Triumph
über die Technik kein Kunstwerk zu schaffen vermag.
Damit ist aber auch die Aufgabe der Weiterentwicklung des
Kunstgewerbes umschrieben. Wieder handelt es sich nicht in
erster Linie um neue Formen, sondern nur eine mitzuteilende
Empfindung. Dort, wo blosse Farbenabwandlungen, geschicktes
Nachahmen oder Variieren vorliegt, wie etwa in den meisten
(Im Verlag von Hermann Kerber, fc. u. k. Hofbuchhändler, Salzburg J906. — Preis K 1.20.)
der sogenannten modernen „Interieurs“, kann von Kunst nicht
die Rede sein. Daraus erklärt es sich auch, warum die Ent -
wicklung manchmal zu stocken scheint. Der Führenden,
Schaffenden sind nur wenige, das grosse Heer der Nachahmer
aber bringt nichts Eigenes, das über den Tag hinaus Bestand
hätte. Wir beobachten daher schon seit einiger Zeit, dass das
grosse Publikum, welches in solchen Dingen doch mehr Fein -
gefühl hat als man ihm im allgemeinen zutraut, sich von dem
Modetreiben abwendet und wieder mehr den alten Stilformen
zu neigt. □
Man kauft sich allenfalls ein paar aparte Nippes oder Ge -
brauchsgegenstände, die man nach einiger Zeit wechselt, aber
man will nicht seine ganze Wohnung so einrichten, dass man
nach zwei Jahren selber sagen muss: unmöglich, schauderhaft.
Auch diese Klippe wird am ehesten vermieden durch die von
den Führenden, Empfindenden, den wirklichen Raumkünstlern
von heute gepriesene und gepredigte Einfachheit der Form.
Nicht weil diese Einfachheit immer und zu allen Zeiten das
Richtige und Notwendige wäre; nur weil sie gerade jetzt, nach
dem zerfahrenen Formalismus des letzten Jahrzehntes, das Richtige
und Notwendige ist. Und auch nicht Einfacheit an sich, sondern
Einfachheit der Empfindung. □
Das ist es, was die Biedermeyerzeit für uns reizvoll macht:
die Anspruchslosigkeit, Bescheidenheit der Empfindung gegen -
über empfindungslosen Formenorgien ; die unbefangene Sach -
lichkeit gegenüber aufgedonnerten, zwecklosen, oft zweck -
verhüllenden Dekorationen. Auf dem Wege dieser, nicht ge -
machten und nüchternen, sondern empfundenen Einfachheit
liegt jetzt die Entwicklung und ihr Wert. Diese Einfachheit
muss so lange Bestand haben,' bis sie wieder Allgemeingut ge -
worden ist, und wird nach dem Gesetze des ewigen Wechsels
im Werte verblassen, sobald die Empfindung wieder in Wahr -
heit voll, überströmend und rauschend zu erklingen vermag.
INHALT DIESES DOPPELHEFTES M u. 18. Offene und ge -
schlossene Bauweise, von Paul Schultce-Naumfaufg, mit Beispielen
und Gegenbeispielen. — St. Pölten, Friedhofeingang, mit Beispiel
und Gegenbeispiel. — Die himmlische und irdische Liebe. — Städte-
studium: Brünn, mit Beispielen und Gegenbeispielen. — Vom Wesen
und der Bedingtheit der Kunst. — Aphorismen von Ouckama Knoop.
Nächste Sondernummer: Ungarische Volkskunst.
Jahrgang I der „HOHEN WARTE“, I. und II. Halbjahr, ist in
einigen gebundenen Exemplaren cum erhöhten Preis von K 44.—
(statt K 24.—) zu haben.
Einbanddecken für den I. Jahrgang werden auf Bestellung nach -
geliefert.
Unregelmässigkeiten in der Zustellung wollen dem Verlag der „HOHEN
WARTE“ gefälligst sofort bekanntgegeben werden.
NACHDRUCKVERBOT für sämtliche in den Heften der „Hohen Warte“
erscheinenden Artikel und Illustrationen.
Alle Zuschriften und Sendungen Wien, XIX. Grinzingerstrasse Nr. 57 t Telephon D 58.
Verlag „Hohe Warte“. Für die Redaktion Joseph Aug. Lux.
Für den österreichischen Buchhandel in Kommission bei: HUGO HELLER, WIEN,
I. Bauernmarkt 3.
Druck von Jacques Philipp» vorm. Philipp & Kramer (v. Leiter: M. Bandler), Wien VI.
252
□ SONDER-□
DOPPELNUMMER:
UNGARISCHE VOLKSKUNST.
SEBALD SOEKERS VOLLENDUNG.*
VON OUCKAMA KNOOP.
Sonderbar! Die Völker nehmen im Laufe der Zeit an
Unreife zu. □
Die Minoritäten zu schützen ist wohl die wesentlichste
Aufgabe des Staates, denn die Majoritäten schützen
sich selber. □
Was der nächsten Generation am meisten nottut, ist
INNERER Stolz. Der muss vor allem entwickelt werden.
Der russische Bauer ist mir rührend wie ein kleines
Mädchen, das vielleicht die Stammutter eines grossen
Geschlechtes sein wird. □
Es gibt eine bürgerliche Heuchelei und eine aristo -
kratische Lebenslüge; es gibt einen aristokratischen
Zynismus und eine plebejische Pedanterie der Scham -
losigkeit. □
Eine unfeine Gesinnung verrät sich vor allem im
Beschönigen. □
Fremdenhass ist eigentlich das Zeichen einer starken,
wenn auch nicht notwendig hohen Kultur. Die haben
keine Art, keine Tradition und keine Individualität zu
bewahren, die ohne alle Reserve ihren Kreis jedem
fremden Zufluss öffnen. Dem Fremden selbst, wenn
er ein Mensch von stolzem Wesen ist, bereitet das
wahllose Entgegenkommen eine Enttäuschung, als wenn
er in eine minder distinguierte Gesellschaft geraten wäre.
Man merkt Verwaltung und Gesetzgebung in den
* Inselverlag» Leipzig.
gebildeten Ländern Europas an, dass sie von Juristen
geleitet werden. Sie hat etwas Verknöchert-Starres,
als bezöge sie sich auf unwandelbar fest umgrenzte
Begriffe und nicht auf das Flüssigste, Flüchtigste und
Widerspruchsvollste: die Menschennatur. Die mathe -
matisch ausnahmslose Behandlung aller Geborenen,
ihre grausam gleichmässige Vereinigung in Schule und
Militär führt zum Absurden und leitet sich ab von
einer schmählichen Rücksicht auf die gemeinste mensch -
liche Leidenschaft: den Neid. — Das sehen sie aber
nicht ein, dass Elastizität keine Willkür, sondern eine
reichere Gesetzmässigkeit ist. □
Mag das Leben in Amt und Geschäft ein Kampf sein,
so soll die Geselligkeit uns einige Feierstunden des
Friedens bringen. Aber leider tobt im geselligen Ver -
kehr der Kampf ungeschwächt weiter: der Kampf
der Eitelkeiten. Jeder will sich vor den anderen zur
Geltung bringen, daher er denn die anderen miss -
trauisch betrachten und seine Überlegenheit jeden
Augenblick rücksichtslos anzuwenden bereit sein muss.
Hätten unsere gebildeten Zeitgenossen mehr Feinheit,
so würden sie im geselligen Verkehr nicht an sich,
sondern an ihre Mitmenschen denken und ihnen das
bieten, was die herrlichste Blüte aller Kultur ist:
Anmut des Wesens. Eigentlich besteht diese Anmut
überhaupt bloss darin, dass man nicht an sich denkt.
Das genügt, um jene weiche, selige Harmonie hervor -
zurufen, neben der die schönsten irdischen Genüsse
schal und gemein erscheinen. □
Als der Mensch das Klettern verlernte und sich auf
seine Füsse stellte, da klagten die Affen über Dekadenz.
Eine feine Herzlichkeit liegt darin, im Menschen das
Individuum zu ehren. Die Scheu vor dem Vornehmen
ist sehr wenig vornehm. □
253
ARBEIT ALS SELBSTBEGLÜCKUNG.*
s gibt keine Art von guter und nützlicher Arbeit, die nicht
den Ausdruck menschlicher Beglücktheit trägt. Sie ist der
eigentliche Sinn und der Inhalt, der in der Form sichtbar
wird; jeder gut geführte Hammerschlag, jeder noch so schwer -
fällig bearbeitete Baustein ist von diesem Inhalt seltsam belebt.
Geheimnis und Offenbarung zugleich, kostbar und wertvoll, wie
wertlos und billig auch das Material sein mochte, wo hingegen
das teuerste Material nichtig ist, wenn es die Spuren jener beseelten
Arbeit vermissen lässt, die Selbstbeglückung ist. Von den alt -
gotischen Domen bis zum Gekritzel der Kinder, dem ersten
stammelnden Ausdruck ihres Seeleninhaltes, im ganzen Umkreis
menschlichen Wollens und Wirkens kann nichts Dauerndes her -
vorgebracht, kann nichts zur Erhöhung der Schönheit der
Erde und der Freude der Menschen getan werden, wenn
es nicht das tiefe Glück des Urhebers einschliesst und Bekenntnis
dieses Glückes ist. □
Es geschieht zwar die meiste Arbeit, die heute getan wird, aus
Zwang und Unlust; aber diese Arbeit, die so getan wird, ist
ganz bestimmt unerspriesslich und bliebe besser ungetan; sie ist
schädlich, nicht weil sie nochmals getan und verbessert werden
muss, sondern weil sie eine unmessbare Summe von vergeudeter
Kraft und verlorenem Glück darstellt, davon das Antlitz der
Welt die Züge der Trauer und hässlicher Entstellung trägt. □
Indem viele gezwungen sind, zu tun, was sie nicht können oder
nicht wollen, und andere verhindert werden, ihre Anlagen zu
dem zu entwickeln, was sie können und wollen, entsteht das
grosse Missverhältnis zwischen Pflichten und Neigungen, zwischen
Beruf und Anlage, Arbeit und Befriedigung, und aus dieser
Entfremdung entsteht das Zerrbild einer Kultur, die überall zu
Hause ist, nur nicht bei sich. Einen tödlichen Hass wirft das
volkstümliche Sprichwort auf jenen grossen Unbekannten, der
angeblich die Arbeit „erfunden“ haben soll. Es ist das Zeichen
unserer Zeit, dass die ungeheure Arbeit, die gerade heutzutage
getan wird, mit Hass und nicht mit Liebe getan wird. Es ist
aber aus derselben Ursache zu erklären, dass die ungeheure
nationale Arbeit dem Einzelnen wenig oder gar nicht zugute
kommt, dass sie nur für wenige einen Segen, für viele, für die
Meisten sogar einen Fluch bedeutet, und dass die deutsche Erde,
die volkreichsten deutschen Städte nicht im entferntesten die
Anzeichen jener tiefen Beglücktheit und Schönheit offenbaren
wie die kleinen mittelalterlichen Städtekulturen, sondern vielmehr
die Wundmale einer tiefwurzelnden Verrohung und Verheerung
tragen. □
Nicht weniger Zeichen der Zeit sind die zahlreichen Systeme
und Besserungsvorschläge, die auf allen Gebieten, in der Schule,
im Wirtschaftsleben, in der Kunst, im sozialen Denken, das
Höchste versprechen und kaum das Geringste erfüllen. □
Die Schule, die Volkswirtschaft, die Kunst, der Staat, alle Teile
arbeiten für sich. Sie haben jedes ihr eigenes System, ihr eigenes
Ideal, aber kein gemeinsames Ziel und kein gemeinsames Fort -
schreiten. Alle Hoffnungen sind auf die Schule gesetzt, die ihrer -
seits ihre Hoffnungen auf die Kunst setzt. Künstlerische
Bildung ist ja eines der Erlösungsworte, die Hohes versprechen.
Aber im Staats- und Wirtschaftsleben herrschen noch wesentlich
+ Aits dem Schluss der „VOLKSWIRTSCHAFT DES TALENTES“, von Joseph Aug. Lux.
Die Buchausgabe erscheint in R. VOIGTLÄNDERS VERLAG, LEIPZIG-R.
andere Anschauungen vor, die dem künstlerischen Gedanken
grundsätzlich entgegengesetzt sind. Die Kunst will Persönlichkeit,
der Staat will das Schema. Das Wirtschaftsleben nützt Schwächen
aus. Und die Schule ? Sie soll das Unmögliche leisten und allen
das Ihrige geben. Und hätte viel Wichtigeres eigentlich zu tun.
Es ist ein wahres Glück, dass alle Arten von Systemen nur Er -
scheinungen an der Oberfläche sind, wie Wellenkreise auf einem
Wasserspiegel, während aus der Tiefe das Gesetz der Natur in
ewiger Unabhängigkeit wirkt. Die besten Systeme werden zu -
schanden an schlechten Erziehern, und die schlechtesten Systeme
haben guten Erziehern nichts anhaben können. Wenn die
rechten Menschen an den rechten Platz gekommen sind, dann
haben sie mit ihren Händen alles in Geld verwandelt. Ich meine,
dass es im Grunde unserer verkehrten Dinge doch etwas gibt
wie eine „Volkswirtschaft des Talents“, die allerdings noch nicht
von Menschen erkannt, sondern von der Natur selbst geübt
wird. Wenn Talente gute Leistungen hervorgebracht haben, dann
haben sie in Übereinstimmung mit sich selbst gelebt. Ich meine
auch, dass in jeder menschlichen Natur irgendein Talent steckt,
das nicht verloren gehen dürfte und das mitbauen könnte, die
Weltherrlichkeit zu vollenden. Wenn aber das Talent mit sich
selbst in Übereinstimmung schafft, wird es sein Bestes leisten,
und diese Arbeit wird keine andere tiefere und natürlichere
Triebfeder haben als die Selbstbeglückung. □
Das sinnlose Chaos, die qualvolle Unruhe, das ängstliche Suchen
empfängt durch diesen Gedanken Ordnung, Ruhe und Hoffnung.
Würde diese einfache Erkenntnis von der Arbeit als Selbst -
beglückung plötzlich wie durch einen göttlichen Machtspruch
zur Grundlage aller unserer menschlichen Einrichtungen gemacht
werden, was sie höchstwahrscheinlich nicht werden wird, so
müsste im gesamten Staats- und Wirtschaftsleben eine wunder -
bare Umwandlung eintreten müssen. Was feindlich getrennt
schien, würde in Harmonie leben, die Gedanken der Kunst
würden im Staat, in der Volkswirtschaft, in der Schule Ergänzung
und Erfüllung finden, Pflicht und Neigung, Beruf und Anlage,
Arbeit und Glück würde verschmelzen, alle Arbeit, die geschieht,
würde nicht der Ausdruck des Zwanges und der Unlust, sondern
der Freude und des inneren Dranges sein, und das Antlitz der
Erde würde die Schönheit all dieser Seelenbekenntnisse durch
die tausendfachen Materialien hindurch ausstrahlen, den Glanz
und die Wärme wohl angewendeter Kraft und erlebten Glückes,
eine ungeheure Steigerung der Lebensgüter würde eintreten
müssen, wenn die wertbildenden Quellen des Talentes infolge
dieses inneren Erlebens weit offen und ergiebig sind, während
sie in den heutigen Umständen verschüttet und spärlich sind.
Das Gebilde des nationalen Lebens würde, auf dieser natürlichen
Grundlage entwickelt, allerdings eine wesentlich andere Struktur
zeigen, als es heute sein kann. □
Ich spreche davon als von einer Notwendigkeit, wenn ich auch
einsehe, dass eine solche Verwirklichung nicht möglich ist. Denn
es gibt eine übermächtige Mehrheit, die beweisen wird, dass
durch eine solche „Volkswirtschaft des Talentes“ die Bäume
alsbald in den Himmel wachsen werden. Ich meine aber, dass
dafür schon gesorgt ist. Der Wald hat nicht lauter hohe Bäume,
er hat Sträucher, Gräser und Moose. Aber das unscheinbarste
Moos ist in sich vollendet, eine fertige Bildung, ein Talent in
abgeschlossener Entfaltung, eine Arbeit, die sich selbst beglückt,
ein Ergebnis der Ökonomie in der Natur. Die „Volkswirtschaft
254
des Talentes“ soll aber nichts anderes sein als eine solche Öko -
nomie der Natur, die alles zum Vollenden bringt, im Kleinen
wie im Grossen, während in unserer Lebensordnung Pilze baum -
hoch gedeihen und Bäume oftmals in der gewöhnlichen Niedrig -
keit der Pilze hingehalten sind. □
Ich spreche von der einfachen Tatsache, dass trotz aller Hem -
mungen nur die Arbeit Bestand hat, die jenen Inhalt besitzt,
um zu sagen, wie wenig ungeachtet aller furchtbaren Anstren -
gungen und Kraftvergeudung für die Kultur wirklich geleistet
werden kann, wenn nicht der Kompass aller Tätigkeit auf das
Glück jedes Einzelnen eingestellt wird. Nur dieses kann das
gemeinsame Ziel des Staates, der Volkswirtschaft, der Kunst
und der Schule sein, nur dieser Gedanke müsste im Herzen
des grossen Volksorganismus und der ganzen Volksarbeit sitzen
und die genannten vier Interessensphären durchleuchten, wenn
es ein gemeinsames Gedeihen geben soll. In der Tat stehen sie
ja immer in gewisser "Wechselwirkung, hemmend oder fördernd.
Was die Hemmungen zeitweilig aufzuheben oder zu vermindern
vermocht hat, war das Beispiel der Kunst, die die selbstbeglückende
Arbeit des Talentes hinangesetzt hat und heute wieder stärker
ihren Anteil am Leben verlangt als früher. Wie sollen sich aber
die übrigen grossen Machtsphären, das Staats- und Wirtschafts -
leben, und die Schule mit dieser Botschaft in Einklang setzen?
Diese Frage ist sicherlich die allerlächerlichste für jenen, der von
dem eigentlichen Sinn der Arbeit überzeugt ist. Alle Güter, die
dem Wirtschaftsleben zugeführt werden und die dem Staate
Obsorge auferlegen, sind das Erzeugnis schöpferischer Menschen,
die keinen anderen Sinn der Arbeit kannten. Alle guten, sicht -
baren Formen und alle Ideen, die als Lebenswerte gelten, um
derentwillen gehandelt, gereist, gebaut, gekämpft, gelitten, Recht
und Unrecht gesprochen wird, sind ihrer Herkunft nach Erfin -
dungen, Leistungen des Talentes, künstlerische Arbeit, Ursprungs -
werte. Handel und Industrie leben davon, dass es solche Original -
werte gibt, dass sie fortwährend neu erzeugt werden, dass jede
Art von Talent fruchtbar werde. Aber Handel und Industrie
sind heute noch sehr weit davon entfernt, den einzigen auf die
Dauer möglichen Erfolg in der Qualität der Leistung zu suchen
und eine andere Art von Produktion zu fördern, als durch den
Grundsatz von „billig und schlecht“ möglich ist. Die solcherart
hervorgebrachten Scheinwerte, die Verschwendung menschlicher
Arbeit auf Dinge, die nicht menschliches Glück, sondern in der
Regel menschliches Elend ausdrücken und auf die Dauer keine
Freude am Besitz wachhalten können, haben erkennen lassen,
wo der Segen der Arbeit zu suchen ist. In dem Masse, als die
Scheinwerte, die uns umgeben, entlarvt werden, wird das Ver -
langen nach jenen menschlichen Werten steigen, die in jeder
beseelten Arbeit verkörpert ist. Es bleibt kein anderes Ziel als
jenes, das die gotischen Steinarbeiten an den mittelalterlichen
Domen, die japanischen Handwerker in dem Tausenderlei ihrer
wunderbar feinen künstlerischen Alltagskultur, die bäuerischen
Hausfrauen an den bewunderungswürdigen Stickereien ihrer
alten Sonntagstracht sichtbar gemacht haben, die Liebe und
Ehrfurcht in den Dingen zu verkörpern, durch die diese
Dinge schön und edel werden und fortwirken mit der Kraft
eines lebendigen Wertes. Alle kunstgeschichtlichen und gelehrten-
haften Untersuchungen über das Geheimnis der fortzeugenden
und erhebenden Wirkung dieser Dinge, die nicht nachgeahmt
werden können, ohne dass die Nachahmungen diese edle Kraft
verlieren, werden die Tiefe nicht ergründen, weil weder Kunst -
geschichte noch irgendein Grad von Gelehrsamkeit das Gefühl
ergründen, das mit ein paar Worten angedeutet werden kann :
alles ist gut, was Qualität hat. Aber Qualität werden nur jene
Sachen haben, die das Glück des Erzeugers in ihrem Antlitz
spiegeln. Das Antlitz solcher Dinge leuchtet mit unverminderter
Seelenkraft durch Jahrhunderte und veraltet nie. Es verkündet
immer wieder: hier ist Kultur. Warum sollte nicht ein solches
Leuchten von der Arbeit unserer Zeit ausgehen ? Der Kaufmann,
der seine Speicher mit solchen leuchtenden Dingen füllt, hat
sein Vermögen in unverlierbaren Werten angelegt. Der Fabriks -
ort, an dessen Eingang diese Verkündigung zu lesen ist, wird ein
Ort der Schönheit, der Kraft und Entfaltung sein, während die
Fabriksorte heute gemeiniglich Orte der nichtsnutzigen Aus -
beutung und Verschwendung kostbarer Volkskräfte sind. Die
Erkenntnis kann nicht ausbleiben, dass eine solche Arbeitsweise
der Abgrund für die Menschlichkeit ist. Für den Handel und
das Gewerbe stehen wirtschaftliche Erfolge oder Misserfolge auf
dem Spiele, für den Staat aber Bestand und Zukunft. Für ihn
ist es am wenigsten gleichgültig, ob sich die Kraft des Volkes
nutzlos aufreibt, um einige mächtige Geldreservoirs zu füllen,
oder ob die Volkskraft für die Kultur nicht nur im Ganzen,
sondern auch im Einzelnen fruchtbar wird und die edle
Menschlichkeit im Wachsen begriffen ist. Es liegt in seiner
Macht, die Entfaltung der wertbildenden Talente zu fördern
und Ansehen und Rang von der inneren Qualität der Persön -
lichkeit abhängig zu machen. Die äussere Machtstellung ist
immer nur von Dauer, wenn sie nicht auf bloss repräsentative
Erscheinungen, nicht auf Manövrierkünste und Diplomaten -
schlauheit gegründet, sondern der Ausdruck innerer volkstüm -
licher Kraft und Zuversicht ist. Der Staat ist mächtig, wenn
der Bürger, der Arbeiter frei und glücklich ist. Er wird frei
und glücklich sein, wenn nicht Vorrechte, Titel, Dokumente
und sonstige verbriefte Unrechte entscheiden, sondern allein der
Wert des Persönlichen, gemessen an dem Können, an der
geleisteten Arbeit. Der Ehrgeiz, der sich in dieser Richtung
bewegt, wird nichts Ungesundes erzeugen können. Der Geringste,
der im glücklichen Bewusstsein lebt, sein Bestes getan zu haben,
wird stolz neben dem Grossen sein können und nicht das
drückende Gefühl der Armut haben können, weil das an -
scheinend Geringe, gut getan, mit zum Wichtigen gehört. Es
kann in diesem Sinne gar nichts Unwichtiges geben, so wenig
wie es die beleidigenden Gegensätze von Arm zu Reich geben
kann, wenn die Arbeit im Geist der Selbstbeglückung getan wird.
Vor dieser Erkenntnis steht heute vor allem die Schule. Ihr
Ziel ist nicht, für Prüfungen und Zeugnisse, für Schulmethoden
und Systeme fähig zu machen, sondern ihr Ziel ist, Fähigkeiten
fürs Leben zu entwickeln, den Geist einer Arbeit zu erziehen,
die glücklich machen soll. Sie hat die Mittel und Wege erkannt
und hat nun auch Forderungen an jene Kreise, die ausserhalb
der Schule stehen. Der Staat verlangt zwar, dass die Schule
sich nach seinen Zielen richte, und er schreibt ihr in der
Regel Systeme vor. Er weiss genau, warum er die Hand auf
die Schule legt. Aber auch hier ereignet sich das seltsame
Spiel, dass die Systeme, nach denen man bequeme Staatsbürger
erzieht, jenen Wellenkreisen auf dem Wasserspiegel vergleichbar,
nur an der Oberfläche schwingen, während aus der Tiefe das
Gesetz der Natur wirkt. Q
255
Diesem Gesetz zufolge wird sich der Staat und die anderen
Machtsphären nach den Zielen der Schule und der Kunst
richten müssen, die die schlummernden Kräfte der Seele zum
Erwachen und zum beglückenden Schaffen bringen. Die Sache
ist so gross wie das Wirken der Natur, davon das menschliche
Schaffen ein Teil ist, und darum ist sie glücklicherweise in kein
System zu bringen. Das System setzt immer erst dann ein,
wenn die natürliche Triebkraft tot ist. Aber den Blick aufs
Ganze müssen sich alle offen halten, die am Werke sind. Die
Kraft, die das Kleinste mit der Inbrunst des Schöpfers verrichtet,
ist ein Teil jener Urkraft, die das Paradies schuf und die ganze
Welt wie ein Blumenpfand dem lachenden Himmel bot, als
Offenbarung des Schöpferglückes. Es ist das gemeinschaftliche
Mass, das Kleinstes mit dem Grössten verbindet und jede
Überschwenglichkeit rechtfertigt. Es führt auf den Gipfel der
Träume und Hoffnungen, aber es leitet sicher zurück in die
niedrige Erdfurche und in die engste Kammer, wo die alltägliche
Arbeit mit jener Liebe geschieht, dass sie das Glück des
Arbeiters ausstrahle. Das Wichtigste besteht darin, dass Arbeit
als Selbstbeglückung im Kleinen und Kleinsten geschehe, dann
wird das Grosse schon für sich selber sorgen. Die Pflege des
Kulturgedankens muss an den Wurzeln einsetzen. □
WENN DIE LEUTE ANFANGEN SICH IHRER BE -
SCHEIDENHEIT ZU SCHÄMEN, DANN WERDEN SIE
ZUDRINGLICH, TÖLPELHAFT UND ROH. DER -
GLEICHEN HAT MAN BEI UNS ÖFTER BEOBACHTEN
KÖNNEN. □
WIE WUNDERLICH SIND JENE LEUTE DOCH, DIE
GOETHE ZU VEREHREN VORGEBEN UND ZUGLEICH
ÜBER DIE MODERNEN ÄSTHETEN ZETERN! ALS
WENN GOETHE KEIN ÄSTHET GEWESEN WÄRE,
UND WALTHER VON DER VOGELWEIDE, KURZ ALLE,
DIE ETWAS DAUERNDES HINTERLASSEN HABEN!
EINE FREUDE IST ES IMMER, DIE ARBEIT EINES
TÜCHTIGEN SCHLOSSERS ZU SEHEN. ABER EIN
KOMMERZIEN-, KONSISTORIAL- ODER KRIEGSRAT
ERWECKT SOLCHE FREUDE NICHT. IHR TUN SCHEINT
WENIGER VORNEHM. □
UNSERE PROFESSOREN WÜRDEN DEN HUND FÜR
EIN PHANTASIEGEBILDE „ ERKLÄREN, HÄTTEN SIE
DIE NASE DES HUNDES NICHT SCHON IN UN -
SCHULDIGER JUGEND KENNEN GELERNT. □
OUCKAMA KNOOP.
KALOTASZEGER KUNST.
in Stück Siebenbürger Volkskunst verbildlicht der folgende
Illustrationsteilt alte Kirchen mit den Mitteln des Alltags
zur Monumentalität gesteigert, erhaben durch die charak -
teristischen Holztürme, Wohnhaustypen und Grundrisse, eine
bäuerliche Architektur, entwickelt aus den ländlichen Bedürfnissen,
geschnitzte Tore, in bunten Farben prangend, mit den einfachen
traditionellen Blumenmotiven, Rosen und Tulpen geschmückt,
aber stets variiert und mit persönlichem Leben erfüllt. Holz und
Eisenarbeiten, einfach gekerbt und geschnitten, und doch immer
wunderlich eigenartig, Grabsteine, nach dem gleichen ornamen -
talen Prinzip behandelt, aber keinesfalls uniform, jeder Stein ein
Individuum, unwillkürlich im Ausdruck wie alle Erzeugnisse
primitiver Volkskunst im Gegensatz zu der gewaltsamen Ge -
suchtheit moderner Nachahmungen; Haustischlerarbeiten in
alter Konstruktionsweise in fast sagenhaften Formen, alte Hand -
arbeiten, die wenigen üblichen Blumenmotive im Material wieder -
gebend, streng und regelmässig, in rhythmischer Wiederkehr und
symmetrischer Anordnung gleicher Formelemente, bis zur geome -
trischen Abstraktion stylisiert und zugleich ungemein lebensvoll
als dekorativer Materialausdruck des Naturvorbildes; endlich
Bauerntöpfereien, nach ähnlichen Prinzipien geschmückt, mit
bunten Glasuren und starken Farbenkontrasten, zuweilen reich
mit Flachornamenten versehen, alles in allem Erzeugnisse, die
insoferne künstlerisch achtbar sind, als sie das Empfindungs -
leben ihrer Hersteller mit anspruchloser Natürlichkeit ausdrücken.
Über die Näharbeiten ist noch zu sagen, dass sie nach Zeich -
nungen hergestellt wurden, die die Frauen selbst entworfen
haben. Diese Fertigkeit ist der lebenden Generation nicht mehr
geläufig, nur wenige Matronen sind noch in der alten Kunst
erfahren, mit einer in Russfarbe getauchten Gans- oder Adler -
feder das Ornament nach den Eingebungen ihres natürlichen
Genies hinzusetzen und es danach auszunähen. Andere Arbeiten
werden nicht nach der Zeichnung, sondern nach der ursprüng -
lichen Farbenempfindung durchgeführt. Sie werden ohne Vor -
zeichnung einfach durch Abzählen der Fäden mittels verschiedener
Stiche, Kreuzstich, Stilstich etc. etc., hervorgebracht. Eine
dritte Art besteht in den Ausschneidearbeiten, indem die Lein -
wand in Zwischenräumen eingeschnitten, der Faden heraus -
gezogen und die Ornamente mit Seide ausgefüllt und umsäumt
werden. D
Aus der letzten Art hat sich die moderne Kalotaszeger Hand -
arbeit entwickelt, über welcher Gross und Klein Tag für Tag
mit gebücktem Rücken sitzt, um für ein paar Groschen die
Überbleibsel einer vergangenen Kunst in alle Weltgegenden zu
verstreuen. O
Es sind auch zahlreiche andere Versuche gemacht worden, die
Volkskunst zu industrialisieren, die Stickereien, Töpfereien,
Holzarbeiten etc. für den Export massenhaft und fabriksmässig
herzustellen. Die alten Motive konnten zwar aufs genaueste
kopiert werden, aber sie erscheinen in der neuen äusserlichen
Wiedergabe hart und leblos, unvollkommen und kindisch, ver -
glichen mit denselben Arbeiten in der alten bäuerlichen Her -
stellungsweise, die in relativer Vollkommenheit von jener
Beglücktheit heimlich belebt sind, die im Grunde jeder wohl -
geratenen Schöpfung liegt. □
256
- •
Geschnitzte Hauswand und Tür samt Detail
262
Denksäulen
Tisch und Stühle
268
.
\
Bettdecken-Näharbeit
270
MEIN ABENDMÄRCHEN.
VON JOHANN FRIEDRICH, BIELITZ.
etzt muss ich innehalten, es kommt mein Freund zu mir ins
Kämmerlein, der ABEND. Mein bester, mein einziger
Freund, seit meine gute Grossmutter auch in der Erde liegt.
Der Abend macht es genau so, wie sie's zu tun pflegte, lässt
seine kühle Hand auf meiner heissen Stirne ruh'n und verdeckt
mir die Augen. Dabei wird es dann IN mir rege wie in einem
Märchengebäude. Wie durch Stiegen und Gänge huscht es
durch die Blutadern dahin, Scharen von kleinen Zwergen mit
Lichtäuglein. An den Fenstern im innersten Kämmerlein des
Gehörorgans lassen sie silberne Rollbalken niedergleiten, da
verstummt der Lärm der Welt, an den Pupillen des Auges
ziehen sie Vorhänge herab aus purpurdunkler Seide, da ent -
schweben die Farben der Welt, und mitten im Gehirn stellen
sie ihre kleine Zauberlaterne auf, die hat einen grüngold'nen
Schirm und wirft ein Licht in den Saal meiner Seele, ein Licht
so blaufarben und harzduftig, wie es mein lieber Heimatswald
an schönsten Sommermittagen in seiner tiefsten Tiefe eigen
hat. Und alles in mir erbebt nun von dem Treppauf-Treppab
der kleinen Geister, wundersam liegt’s in den Nerven wie Kraft
und Gesundheit, in der Nase erwacht lenzfreudiger Erdgeruch
und im Munde der Geschmack guten, heimatlichen Kornbrotes,
wie ich es als Knabe so sorglos aus der Tischlade genommen.
Die Lungen fühlen sich erfrischt, als ob sie Alpenluft, sonn -
erwärmten Gras- und Quellenodem einsögen; meine kleinen
Hausgeister blasen darin alle Röhrchen, alle kleinsten Luftlöcher
rein, dass das Blut perlt wie frisch eingegossener Champagner.
Und allmählich fühl' ich auch, wie sie mir übers Herz kommen;
auch DA scheinen sie etwas WEGZUNEHMEN, es schlägt
leichter, freudiger, kräftiger, was tagsüber im hellen Sonnenlichte
darauf gelastet, ist fortgeflogen, und nun bin ich ihnen ganz hin -
gegeben, den Dämmerkobolden, und lausche in mich hinein,
wie sie ihr Unwesen treiben, wie sie einander Befehle geben,
wie sie dort- und dahineilen und noch etwas Letztes gutmachen,
sänftigen, in Ordnung bringen. □
Im Saal der Seele, im waldgrünen Licht der Zauberlaterne ver -
sammeln sie sich dann. Einige sind noch beschäftigt mit den
purpurnen Seidenvorhängen an den Guckfenstern, an den Augen.
Ich höre, wie sie flüstern: „Es ist zum Tollwerden; tagein, tag -
aus diese weissen Papierblätter mit den winzigen Schriftzeichen
und Drucklettern. Und alles in so schrecklicher, zudringlicher
Nähe. Wie war es doch schön in dem frühem Hause; da sah
man selten solch teuflisches Lese- und Schreibgeziffer; weit,
weit Berge und Wälder, blauende Felszüge und Wolken, tiefe
Täler und Schluchten. Das hat uns weitsichtig gemacht, jetzt
sollen wir auf einmal kurzsichtig sein. Kein Tag, wo wir nicht
der Sonne ins gold'ne Angesicht schauten, die blaue Himmels -
kuppel durchmassen und die Wetteraussicht prüften an der
Reinheit und Deutlichkeit des weiten Horizontes.“ Sie haben
die Purpurseide nun vollends zugezogen und kauern behaglich
in den Fensterwinkeln. D
Jetzt spüre ich, wie mir der Federstiel aus der Hand gleitet;
ich wusste gar nicht, dass ich ihn noch immer gehalten; müd'
und ruhewillig sinkt die Hand auf die grüne Tischdecke und
im nächsten Augenbick öffnet sich im Saal der Seele ein
geheimes Türchen und herein huscht eine Schar teils lachender,
teils unwilliger kleiner Gesellen. Sie scheinen die letzten Worte
der Fenstergucker noch gehört zu haben und setzen gleich das
Gespräch fort: „Strichauf, Strichab, Haarstrich, Schattenstrich.
Wir können's jetzt wahrhaftig schon gut genug. Aber man wird
elendig schwächlich dabei. In früheren Zeiten, im alten Hause,
da gab’s ein ander Arbeiten: den Pflug in die Erde drücken,
damit er recht tiefe Furchen schneide; die Holzaxt schwingen,
dass die Keile zerspalten wegflogen vom Hackstock; die ge -
fällten Baumriesen auf den Wagen laden, das Heu zerschütten,
das Korn schneiden. Nein, wir sind mit dem neuen Hausherrn
gar nicht zufrieden. Was soll denn auch dies Kinderspielzeug,
das wir da immer strichauf-strichab führen müssen. Ist's ein
Zauberstäbchen, mit dem er sich Glück verschafft? Ich glaube,
das können wir wohl alle sagen, von dem Glück spüren wir
bitter wenig.“ Und ein paar dieser kecken Gesellen hatten noch
nicht genug geschnattert, die wussten noch eine Zugabe: „Von
uns sind heute wieder eine ganze Menge eingegangen, jämmer -
lich zusammengeschrumpft. Wir sind alle miteinander vererbt
worden vom alten Hausherrn an den neuen; der braucht uns
nicht, lässt uns müssig sein, und das heisst für uns sterben. Er
beschäftigt immer nur eine kleine Auslese, und die schickt er
vor in die Fingerspitzen. Die dünnen Papierblätter wenden, in
den Federhalter sich eindrücken, bis wir tintige Gesichter haben,
bald schwarze, bald rote, das ist unser Arbeitsprogramm.“ □
Und da diese paar Allzufleissigen auch schon zu Ende waren
mit ihrer Weisheit und sich im Saal der Seele an den dunklen
Wänden zur Ruhe setzten, flüsterten noch zwei, drei sonderbare
Käuzlein weiter; sie standen an der Grenze, wo das grüne
Licht in den Schatten überging, und hatten im Gesicht kleine,
glitzernde Flecken wie von Flittergold, das trotz allen Waschens
nicht wegzubringen wäre: „Uns Zeigefinglern geht’s besser im
neuen Leben; keine Beengung durch gold'ne Ringfessel wie in
den früheren Zeiten immer — — — —“ Nach dieser Rede
aber war es, als ob von den vielen andern sich einige heimlich
Zuwinkten, sie wüssten etwas — — — es würde vielleicht bald
den guten Zeigefinglern wieder das Kleidchen enger zugemessen
— — — es würde wieder ein gold’nes Ringlein kommen, das
aber nicht drücken, o nein, nicht drücken, sondern einen gold'nen
Schein in alle ihre Gesichter strahlen würde; und wenn dies
Ringlein käme, dann brächte es wohl einen Feiertag, einen
fröhlichen Aufruhr ins ganze Haus — — — — Geduldet euch
nur, Zeigefingler — — — d
Ich höre noch fern eine Eisenbahn pfeifen und rollen, eine
Abendglocke läuten, Menschen auf den Strassen geh’n und
reden — — — — Da kommen abermals durch ein geheimes
Pförtlein ein paar solcher Hutzelmännlein in den Saal der Seele
herein, hastig, trippelnd, zappelnd. „Um Gottes willen,“ sagen
sie, „helft uns suchen; wir finden die Sperrschlüsslein nicht für
die Rollbalken.“ — Sie meinen die silbernen Rollbalken, die
sie vor dem innersten Kämmerlein des Gehörs niederzieh’n. Und
wirklich, während die im Saal der Seele nach dem Schlüsslein
suchen, scheinen sich diejenigen, welche in den Stiegengängen
des Ohres zurückgeblieben, mit allerlei Spiel zu belustigen. Sie
ziehen die Rollbalken nieder und lassen sie wieder in die Höhe
schnellen, ich höre das Eisenbahnrollen, das Glockenläuten, die
Schritte der Menschen bald laut, bald ganz schwach; dann
scheinen einige im Cortischen Organ zu zupfen wie an einer
Harfe, ich höre alte Lieder, die ich als Kind einst sang und
J
auf der Geige spielte — — — — Die Hastigen suchen indessen
immer noch das Schlüsslein und finden es nicht. □
Mittlerweile kommen die Riechzwerglein heim, todmüde und
verzagt: „Was ist das für eine eitle Fopperei. Unser neuer
Hausherr lässt uns keinen ordentlichen Wald, keine echte Feld -
erde, keinen sonnheschienenen Fels mehr riechen. Schaut uns
nur an, über und über sind wir grau von Schulstaub und
schwarz von Kohlenstaub. Und um uns zu hänseln, hält er
uns heut’ ein Fläschchen vor mit einer wasserhellen Flüssigkeit,
die duftete wie ein Waldbukett. Da haben wir zuerst freudig
aufgeatmet und waren ganz übermütig vor Glückseligkeit, dann
aber ist es uns so fad und langweilig geworden und wir haben
die Absicht erkannt: uns ein bischen hinwegzutäuschen über
die triste Umgebung. In früherer Zeit da wurden wir denWald-
und Feldgeruch nicht satt, das war eben echt, durch und durch
echt, aber was er uns da vorhielt, das war schales, gemachtes
Zeug — Hänselei. Wir finden das lächerlich, nein, besser, wir
finden es heimtückisch und falsch, uns ein längstvergangenes
Glück vorzugaukeln, das nimmer wieder zu erringen ist. Es
sind ein paar von uns über diese Enttäuschung trübsinnig ge -
worden. Das hat er davon." □
Hierauf kamen die aus dem Gaumen. Selbstverständlich hatten
sie auch zu klagen. Sie schimpften weidlich über die vielen
Orangen, die sie zu kosten bekommen, ganz schwindlig würden
sie von dieser fremdartigen Süssigkeit; sie möchten wieder ein -
mal eine echte Alpenkartoffel verspüren, die im freien Feuer
auf dem Acker sich russig gebraten hat, das schmecke besser;
und statt der langweiligen, flaumigen Semmel ein Stück echten
Kornbrotes; das könnte alle Bewohner des Hauses kräftigen
und heben. Dann bereitete sich eine Anzahl sehr schlecht Aus -
sehender vollends zum Schlafengehen; das waren die, welche
tagsüber in den Fussgelenken tätig gewesen. Sie hatten schon
zu oft geklagt, so bleiben sie heute still. Sie wollten bergsteigen,
sie wollten Fels- und Waldmoos unter sich spüren, sie wollten
arbeiten, wandern tagaus, tagein, aber sie mussten müssig sein
und hinsiechen. Sie träumten oft von Frühlingstagen, an denen
sie gelernt, nach dem Takt der Musik sich zu bewegen, was
war da für eine Fröhlichkeit von ihnen ausgegangen, die das
ganze Haus und alle Bewohner aufhellte! — Und wenn sie
gar noch weiter zurückdachten an den früheren Hausherrn, wie
der geklettert war durch Wald und Gestein, wie sie da so müde
wurden und gut schliefen — und jetzt — ein ewiges Ruh'n und
doch nicht schlafen können, ein ewiges Dahingeh'nmüssen,
wohin sie nicht wollen. — — Sie hatten schon ein wenig zu
schlummern begonnen, da fand sich plötzlich der Silberschlüssel.
Es kam nämlich der letzte Trupp heim in den Saal der Seele,
und die hatten ganz unbeachtet unterwegs das Schlüsslein ge -
stohlen und mit hinabgenommen in ihre Arbeitsstätte, INS
HERZ. Sie hatten ein Brieflein aus der Heimat erwartet und
waren eifrig ihrer Aufgabe, dem Blutpumpen, oblegen, mit der
beständigen Hoffnung, jetzt und jetzt müsse drunten auf der
Strasse der Briefträgerschritt zu hören sein; er war auch zu
hören gewesen, allein er war vorbeigegangen. — Da brachten
sie nun das Schlüsslein herauf und übergaben es denen, die
noch immer suchten danach; es war mit warmem Blute be -
fleckt, weil es ja in einer der Herzkammern gelegen hatte; —
die Hastigen liefen nun allsogleich damit hinauf in die Kammern
und Gänge des Ohres, wo die andern, die Zurückgebliebenen,
noch immer an der Harfe spielten, am runden und ovalen
Fenster trommelten und den silbernen Rollbalken auf- und
niederzogen; nun wurde aber dem Spiel ein Ende gemacht, die
Balken geschlossen und versperrt, und alle begaben sich in den
Saal der Seele, woselbst nunmehr mit Ausnahme derer, die in
den Herzkammern heute zur Nachtarbeit bestellt worden, alle
versammelt waren. — Noch murrten eine Weile die vom Gehör
über die Klänge und Geräusche in diesem neuen Leben, wie
das alles so nahe herkäme, ein ewiges Fragen- und Antwort-
geben-Müssen; niemals könnten sie mehr so weit in die Ferne
lauschen wie in einstiger Zeit, nimmer Vogelgesang und Föhren -
sausen, Wildbachzischen, Hirtenrufe, Heimatsglocken vernehmen.
Die aus den Herzkammern, die sassen im grünen Lichte, ganz
nahe um die Lampe herum. Sie hatten viel ernstere Gesichter
als die andern, und während von den übrigen Gruppen der
eine dem andern gleichsah, hatte hier jeglicher seine Eigenart.
Sie sprachen noch eine Weile vom erwarteten Heimatsbrief,
indes die andern rings im Schatten an den Wänden einschliefen.
Seltsam leuchtete das grüne Licht in die Mienen der Herz -
arbeiter. Sie sassen in der Runde wie die Inwohnerschaft eines
Hauswesens, die in schwerer Stunde eine wichtige Angelegenheit
berät. Da ist sich jeder seiner Unentbehrlichkeit bewusst. Was
sie sprachen, das hatte keinen Klang mehr, ich kann auch nicht
sagen, dass ich es wirklich hörte, sondern ich erfuhr es wie im
Halbtraum. Deutlich konnte ich entnehmen, dass sie gegen
Mittag in arger Verfassung gewesen sein mussten; da hatte eine
solche Verzagtheit sie ergriffen, dass sie beinahe die Arbeit ein-
stellen wollten. Es war ein Tag gewesen, wie es viele gibt. Sie
hatten in der Morgenfrische wieder dem Grossen, dem Ausser -
ordentlichen entgegengeseh'n, das irgend einmal doch kommen
muss und gar so lange auf sich warten lässt. Und es war ihnen
bei solchem Wartefieber alles wieder so abscheulich klein und
öd erschienen, alles zu schmutzig und widerlich, alles zu alther -
gebracht und gewöhnlich, alles zu nahe und aufdringlich ....
Was die andern klar erkannt hatten, dass die Grösse der Berg -
welt ihnen abgehe, diese konnten es nur immer unklar fühlen:
nach unendlichen Weiten, nach dem Grenzenlosen sehnten sie
sich. Glück, Licht, Gott, Liebe — —, ach, so viele Namen
hätte es, das Unerreichbare. — Und also war es gekommen,
dass sie, wie so oft schon, nicht einsahen, wozu sie sich eigentlich
so mühen sollten. Sind diese kleinlichen Tage ohne Gewinst und
Verlust, flach wie das fremde Land, das ringsum sich dehnt,
sind sie wirklich dies ununterbrochne Blutpumpen wert?
Zuerst in dieser Stunde der Bangnis hatten sie wie wahnsinnig
gewerkt, dass alle anderen Hausgeister in Aufruhr kamen, dann
gleich darauf liessen sie nach, vollständig erschöpft, dass alle
anderen ihr letztes Stündlein gekommen meinten. — □
Nachmittag dann hatte einer von ihnen irgend etwas gesagt,
was sie alle beruhigte, etwas Neues, Schönes, Glückverheissen-
des .... Darauf hatten sie mancherlei besprochen und endlich
gefunden: es könne noch alles zum Guten sich wenden. Mit er -
neuter Kraft war auf die Dämmerstunde losgearbeitet worden. —
Nun sind sie müde, sehr müde; ♦ . . noch einmal besprechen
sie heimlich, schon einschlafend, die bange Angelegenheit. —
Dann sieht man im waldgrünen Lichte alle tief entschlummert,
bis auf einen, der noch eine Weile sinnenden Auges in den
grünen Schein starrt und vor sich hinlispelt, mit dem bleichen
Kopfe nickend: „Mit einer Notlüge hab’ ich sie heute besänf-
274
tigen müssen — — was wird morgen sein ?“ — — — Dann
steht er auf — deutlich sehe ich jetzt sein Gesicht — ich er -
schrecke, es ist mir so bekannt, so bekannt, als ob ich mich
selbst im Spiegel sähe — — er streckt die Hand nach der
Zauberlampe hin — und dreht langsam das Licht ab. □
DER KÜCHENGARTEN.
bwohl ich den Blumengarten und das Gehölz überaus
liebe, stehe ich aber auch dem Reizvollen und dem Inter -
essanten eines Küchengartens keineswegs gleichgültig
gegenüber. Denn wenn dessen Produkte meistens auch nur
nützlich sind, haben sie doch alle ihre Lebensgeschichte, und
ich begebe mich in den seltenen Fällen, da ich Zeit habe, zum
blossen Vergnügen einen ruhigen Spaziergang zu machen,
häufig in den Küchengarten. Ich muss immer wieder daran
denken, von welcher ungeheuren Wichtigkeit für unser Leben,
für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden das mühevolle
Züchten auch nur einer einzigen von den vielen Abarten der
Gemüsepflanzen war. Wenn ich an felsigen Stellen der Küsten
Englands und anderer Länder eine üppig wuchernde Pflanze
mit breiten, flaumenbedeckten Blättern sehe, betrachte ich sie
immer mit aufrichtiger Achtung; denn diese wilde Pflanze ist
mit allen Mitgliedern der grossen Kohlfamilie verwandt. Und
dann denke ich an die vielen Jahrhunderte, während welcher
sie geduldig gepflegt wurde, bis ihr nach und nach durch
sorgsame Zucht und stetes Überwachen die verschiedenen
Arten abgewonnen wurden, in denen sie jetzt in unseren Ge -
müsegärten und auf unserem Tisch erscheint. Denn nicht nur
die verschiedenen Kohlsorten von den mannigfaltigsten Formen,
die runden, flachen, spitzen, wie eine Rose offenen oder wie
ein Trommelfell festen und harten Abarten stammen von
dieser einen wilden Pflanze ab, sondern auch die verschiedenen
Blumenkohl- und Spargelarten, bei denen die Blüte und der
verdickte Blütenstengel die am meisten entwickelten Teile sind.
Ausserdem gibt es die gezüchteten härteren Sorten, die stufen -
weise dazu gebracht wurden, die Eigenart des Winterkohls an -
zunehmen, der fast ganz glatte Blätter mit häufig sehr krausen
Rändern hat. Eine andere Art dieses winterharten Gemüses
ist der Brüsselerkohl, dessen Stamm dicht mit winzigen, festen
Kohlköpfchen von der Grösse besetzt ist, wie sie für eine
Puppentafel passen würde. Eine noch bemerkenswertere Ver -
änderung dieser mannigfaltigen Familie ist die Verdickung der
Stammbasis zu einer rübenartigen Wurzel, wie es in Schweden
vorkommt. Diese Art kommt mehr für die Farm als für den
Gemüsegarten in Betracht, obwohl der junge, schwedische Kohl
es schon wert ist, gekocht zu werden. Ausserdem gehört noch
der Kohlrabi dazu, der auch eine oft gezüchtete Kohlart mit
rübenähnlichen Wurzeln ist, die etwas höher an dem Stamm
sitzen, so dass sie gerade den Boden berühren, während der
schwedische Kohl teilweise in der Erde sitzt. Wir haben noch
immer nicht alle Kohlarten genannt. Es gibt darunter einige
Sorten, die nur des saftreichen Stammes wegen gezüchtet werden;
und manche Mitglieder dieser Familie haben noch ein zweites
produktives Leben, indem sie während des Winters bis tief in
den Frühling hinein oben und seitwärts Sprossen treiben. □
Eine nahe Verwandte des Kohls ist die Rübe, die mit ihm
den botanischen Namen Brassica teilt und einen ganz ver -
wandten Geruch besitzt. Zu einer allgemeinen Unterscheidung
genügt es, sich zu merken, dass alle Rüben rauhe, saftig -
grüne Blätter mit stachligen Haaren haben, während alle
Kohlblätter glatt und blaugrün gefärbt sind; die einzige Aus -
nahme bei dieser Charakteristik bildet die Savoyer Abart,
deren Blätter von einem saftigen und manchmal ganz dunklen
Grün sind und blasenartige Erhöhungen haben, die dem Blatt
ein rauhes Aussehen verleihen. Der krause Kohl täuscht
auch ein rauhes Aussehen vor, weil seine Ränder so dicht ge -
faltet und gekraust sind, das eigentliche Blatt ist aber immer
glatt. □
Viele wichtige Pflanzen des Gemüsegartens sind mit dem
Kohl und der Rübe zwar nicht so nahe verwandt, sie gehören
aber alle zur grossen botanischen Familie der Cruciferae, zu
den Pflanzen mit vierblättrigen Blüten. Zu diesen zählen auch
manche unserer bekanntesten Gartenblumen, wie der Goldlack,
die Levkoje, der Iberis und der Alyssum. Der Raps, der auf
dem Kontinent seines öligen Samens wegen so viel gezüchtet
wird, ist botanisch mit der Rübe fast ganz identisch. Der Raps
ist wiederum mit dem Senf nahe verwandt. Der zum Unkraut
Zählende fette Ackersenf mit seinen rauhen Blättern und gelben
Blüten, der auf unbebautem Grund und frisch gemähtem Boden
so üppig wächst, ist der bei uns heimische wilde Senf. □
Die Radieschen sind auch Verwandte des Senfs. Die weissen
erinnern, sowohl was die Blätter als was die Wurzel anbelangt,
an die kleine Rübe. Alle Gärtner wissen, dass Radieschen mög -
lichst rasch wachsen sollen, langsam wachsende Radieschen sind
gleich langsam gebähtem Brot hart, zäh und unschmackhaft.
Ein geübter Gärtner sagte mir einmal: „Pflanzen Sie Ihre
Radieschen in reiner Blättererde.“ Ich habe es versucht und
habe sie in gut verwester Blättererde im Spätsommer ohne
jede Beimischung an einer halb schattigen Stelle gepflanzt und
reichlich begossen; und obwohl die Blätter nur langsam
wuchsen, ass ich nie zuvor solche zarte, mürbe, vorzügliche
Radieschen. □
Zu derselben Familie der Cruciferae gehören noch die schöne
Wasser- und Winter- oder Landkresse und auch der Meer-
rettig. □
Der Seekohl ist in seinem wilden Zustand eine so hübsche
Blattpflanze, das ich ihn an einzelnen Stellen meiner Blumen -
beete verwende. Ich bin erst dieses Frühjahr darauf gekommen,
was für ein gutes Gemüse die kronenartigen Blütenknospen
sind, wenn sie in dem Stadium, da sie an Spargelkohl erinnern,
geschnitten werden. □
Die grosse Erbsen- und Bohnenfamilie ist wohl eine noch
ältere Gemüseart als selbst die Abarten der Kohlfamilie. Sie
werden im Blumengarten durch die spanische Wicke und durch
verschiedene tief wurzelnde perennierende Erbsenarten ver -
treten; durch den Latyrus sativus mit sehr anmutigen blau -
grünen Blüten; durch die Frühlingswürfelerbse und die grosse
orangefarbige Wicke, hübsche Abarten, die von den Botanikern
alle zu den Latyrus gezählt werden; auch durch viele hübsche
Alpenpflanzen, die zur Gattung der Anthyllis, Onobrychis und
ihrer Verwandten gehören, und alle unsere einjährigen und
perennierenden Lupinen. □
275
Zur selben Familie geboren der Klee, die Futterwicke, der
Lucerner Klee, die Esparsette und der Ginster unseres Flach -
landes. □
Wenn ich eine grosse Gebirgswiese hätte und viel Honig zu
gewinnen wünschte, würde ich dort eine Menge Melilotus
pflanzen, den ich für die beste Honigpflanze halte; es ist eine
grosse Kleeart mit einem verzweigten Stengel. Die der Bohnen -
pflanze eigene gewisse Steifheit und Anmutlosigkeit wird durch
die weisse und schwarze, hübsche Blüte wieder wett gemacht;
die weisse besitzt die Zartheit weissen Sammtes und die schwarze
ist vom reichsten Braunschwarz und ebenfalls von einem sammt-
artigen Gewebe. □
Welch ein herrliches Aroma haucht das blühende Bohnenfeld
im Frühsommer aus, wenn der süsse Duft wie eine Dankes -
gabe zur belebenden Sonne emporsteigt und ein gütiges
Lüftchen ihn ein wenig seitwärts hinbläst, um das Herz des
Vorübergehenden zu erfreuen! Auch das Kleefeld strömt einen
von der Sonne gelösten, vom Wind weitergetragenen süssen
Duft aus, der weniger intensiv als derjenige der Bohnenblüte
ist, aber eine bescheidene, schlichte Honigsüsse besitzt, die
selbst von noch grösserem Reiz ist. □
Wie vorzüglich sind die kleinen, grünen, ersten Erbsen, deren
zarte Süssigkeit eher an die irgendeiner wohlschmeckenden
Frucht als an die einer so groben Speise erinnert, welche, der
allgemeinen Klassifikatien nach, dem „grünen Gemüse“ ange -
hört ; wie gut sind die ersten französischen Zwergbohnen und
welch ein verlässlicher Freund ist im Spätsommer und Herbst
die treue türkische Feuerbohne. Ich habe schon erwähnt, wie
nützlich die Bohne zeitweise als Schutz anderer Pflanzen ist.
Die in der Nähe Londons wohnenden Arbeiter benützen sie
oft zu diesem Zwecke oder binden sie in die Höhe, um die
Fenster zu schmücken. □
Eine der hübschesten Arten Feuerbohnen zu ziehen ist die
folgende: Man gräbt drei Stützen von zehn Fuss Länge so
ein, dass sie ein Dreieck bilden und dass sie etwa zweieinhalb
Fuss voneinander entfernt sind; sie werden so gestellt, dass sie
sich zum Zentrum des Dreiecks neigen und sind in einer Höhe
von etwa drei Fuss über den Boden so zusammengebunden,
dass ihre Spitzen in einer Höhe von sechs bis sieben Fuss
gegeneinander gespreizt sind. Drei Bohnen werden bei einer
jeden Stange gesät, sie klimmen bald in die Höhe, und wenn
sie schon recht hoch sind, können eine oder zwei davon leicht
über quer gelegt werden, damit sie von einer Stange zur anderen
Guirlanden bilden. Solche Gruppen in einer langen Reihe von
etwa 15 bis 20 Fuss bieten einen sehr hübschen Anblick. Ich
habe vor vielen Jahren von einem alten Bauern folgende
Weisheit gelernt: „Sammeln Sie Ihre Feuerbohnen ein, so
lange sie noch schön gerade in die Höhe stehen.“ Wenn die
Schoten gross und alt werden, kräuselt sich die Pflanze nach
allen Richtungen hin; einige Zeit vorher ist die Bohne gut und zart.
Auch die Linsen gehören zu den nahrhaftesten Speisen, die es
gibt; es ist schade, dass sie von unserer arbeitenden Bevölke -
rung nicht mehr gekannt und gebraucht werden, denn sie besitzen
nicht nur einen grossen Nährwert, sondern sind auch leicht zu
bereiten und sehr schmackhaft. „Das Gericht“, für das Esau
sein Erstgeburtsrecht hingab, konnte nichts anderes als die
Linsensuppe sein. □
Jedermann, der es mit Pferden zu tun hat, weiss, wie nahrhaft
es für sie ist und wie es ihre Leistungsfähigkeit hebt, wenn
man zu ihrem gewöhnlichen Futter etwas Bohnen hinzufügt.
Die grosse botanische Gruppe der Compositaer, die uns so
viele Gartenblumen gibt (Sonnenblumen, Tausendschönchen,
Chrysanthemen und eine Menge anderer), ist in dem Gemüse -
garten stark vertreten. Alle Salatarten, für die der Lattich
typisch ist, gehören zu dieser Gruppe und sind nahe mit ihr
verwandt; sie gehören alle zu den Zichorien. Dazu zählen der
Lattich, die Endivie, der Löwenzahn und die Zichorie. Die
wilde Zichorie, die in kalkigem Boden so häufig an den
Landstrassen wächst, hat sehr hübsche und zarte, blassblaue
Blüten; die Stengel sind sehr hart, und wenn man einen
Strauss dieser lieblichen Blumen mit nach Hause bringen will
und kein Messer bei sich hat, ist es schwierig, sie zu brechen.
Die Franzosen züchten schon seit langer Zeit eine üppige Ab -
art des gewöhnlichen Löwenzahns, von dem man einen ausge -
zeichneten, sehr gesunden Wintersalat bereiten kann; es kann
auch kaum etwas leichter gezogen werden, so dass er mehr
verbreitet sein sollte. Ein ziemlich grosses Beet davon gibt
reichlichen Vorrat für den ganzen Winter. □
Der Bocksbart, eine Pflanze spanischen Ursprungs, gehört auch
zu der grossen Familie der Margueriten und der Artischoken;
die Jerusalemer Artischoke, deren runde, knollige Wurzel wir
essen, ist mit der auf unseren Beeten wachsenden mehrjährigen
Sonnenblume nahe verwandt. □
Die runde und die Kardonenartischoke, zwei botanisch fast
ganz gleiche Pflanzen, scheinen mir im Ziergarten noch mehr
am Platze zu sein als im Küchengarten; denn obwohl beide
ausgezeichnet schmecken, liebe ich es noch mehr, sie anzu -
schauen. Wenn sie jedoch im Garten als dekorative Blatt -
pflanze verwendet werden, darf nicht ausser acht gelassen werden,
dass, wenn die Blätter schön bleiben sollen, der Blütenstengel
weggeschnitten werden muss. (Schluss folgt.)
INHALT DIESES DOPPELHEFTES 19 u. 20. Sebald Soekers
Vollendung. — Arbeit als Selbstbeglückung. — Kalotaszeger Kunst.
Mit Illustrationen. — Mein Abendmärchen. Von Johann Friedrich,
Bielitz. — Der Küchengarten. — Aphorismen von Ouckama Knoop.
Jahrgang I der „HOHEN WARTE", I. und II. Halbjahr, ist in
einigen gebundenen Exemplaren zum erhöhten Preis von K 44.—
(statt K 24.—) zu haben.
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Unregelmässigkeiten in der Zustellung wollen dem Verlag der „HOHEN
WARTE" gefälligst sofort bekanntgegeben werden.
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erscheinenden Artikel und Illustrationen.
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Verlag „Hohe Warte“. Für die Redaktion Joseph Aug. Lux.
Für den österreichischen Buchhandel in Kommission bei: HUGO HELLER. WIEN.
I. Bauernmarkt 3.
Druck von Jacques Philipp, vorm. Philipp & Kramer (v. Leiter: M. Bandler), Wien VI.
276
DIE ALLGEMEINHEIT.
lies Gemeine liegt in der Allgemeinheit — wenn Menschen
behaupten, ihr Schaffen und namentlich ihr Kunstschaffen
sei auf die Allgemeinheit gegründet, so sind es Worte, die
Misstrauen und Geringschätzung erregen und in der Regel auch
verdienen. Denn Ähnliches wird ja auch von Komödianten, Po -
litikern, Journalisten, Charlatans und allerlei Schwindlern be -
hauptet. Was sie tun, tun sie angeblich für das Volk, das Publikum,
die Allgemeinheit. Es ist eine platte Lüge, die eine angenehme
Täuschung enthält und, wie jede Schmeichelei, noch nicht ganz
ihre Wirkung eingebüsst hat. Die Wahrheit ist aber, dass nie -
mand imstande ist, in geistiger Abhängigkeit von der All -
gemeinheit Gutes hervorzubringen, dass vielmehr jede Art von
Kunst, die aus diesem Geiste geboren ist, notwendigerweise
schlecht und zumeist verwerflich sein muss. Was die All -
gemeinheit liebt und was allen gemein ist, sind Formen, die
längst zu Formeln erstarrt sind, Gedanken, die längst gedacht
sind; was sie fürchtet und hasst, ist die neue Idee und die
schöpferische Tat, die das Ungewöhnliche verkörpert. Aus diesem
Grunde kann es keine Kunst geben, die für die Allgemeinheit
da ist, vielmehr ist die Allgemeinheit für die Kunst da. Es ist
vollkommen gleichgültig, ob und wie ein Bild oder ein Gebäude
auf die Allgemeinheit wirkt; es ist nach der Beschaffenheit des
Publikums ein künstlerisch zweifelhafter Erfolg, wenn es ohne
weiteres die allgemeine Zustimmung findet; die Frage ist viel -
mehr, wie das Publikum auf das Bild oder das Gebäude reagiert,
und für dieses Publikum kann es kein anderes Geheiss geben
als? Sieh und leb dich hinein! □
Es sind gewisse Schablonenbegriffe im Umlauf, wonach der
Engländer, Japaner und Amerikaner als der Edeltypus eines
Menschen, der Russe, Chinese und Tscheche als Ausbund von
Tücke und Feigheit erscheinen. Nach Shakespeare wirft Cäsars
Volk die schweissigen Nachtmützen in die Höhe und gibt eine
solche Last stinkenden Atems von sich, dass Cäsar fast daran
erstickt wäre. Aber auch die Allgemeinheit der Edelvölker
von Japan, England und Amerika ist dem kreischenden Ge -
sindel Roms mit seinen schweissigen Nachtmützen und der Last
stinkenden Atems durchaus ähnlich und unterscheidet sich
wenig von der Allgemeinheit der geringer geachteten Völker
Russlands, Chinas und anderer Länder. Dagegen ist der na -
tionale und kulturelle Abstand des Gentlemans in Japan,
Russland, England und China weitaus geringer als die Kluft,
die ihn von der Allgemeinheit des eigenen Volkes trennt. Ein fein -
kultivierter Tscheche darf uns lieber sein als ein rülpsender Deutsch -
nationaler. Jeder Bauer, gleichgültig welchem Stamm oder wel -
cher Nation er angehört, der in der künstlerischen Tradition
seiner Tracht und seines Hausrats lebt, erscheint als Edel -
mann, verglichen mit jener Horde Menschen, die auf ihre
städtische Zivilisation pocht und sich an den Heilrufen oder an
einem ähnlichen nationalen Diebswort erkennt. □
In Wahrheit ist die Frage der Nation und des Glaubens un -
wichtig, wichtig ist vielmehr das Tun und Anwenden und die
Frage, ob alles auf das beste angewendet ist. Aber das Beste,
dessen wir fähig sind, geschieht nicht aus Liebe zu den andern,
sondern uns selbst zuliebe. Die Werke, die den andern zu -
liebe entstanden sind, für die Allgemeinheit, sind schlecht oder
mindestens überflüssig und schädlich; sie sind verlogen, wie
falsche Bekenntnisse, sie ergeben sich nicht aus der reinen
künstlerischen Notwendigkeit, sondern aus den unreinen Ab -
sichten der Geldmacherei, der Spekulation und des geduldeten
Betruges. Q
Menschlichkeit und Gerechtigkeit, die Forderungen der Nächsten -
liebe, sind Ergebnisse der edlen Selbstsucht, die alles für sich
und nichts für andere tut. Alle Erbärmlichkeit kommt von der
Mutlosigkeit, dieses einzugestehen. Es ist eine Lüge, wenn wir
die niedrige Allgemeinheit zu unserem Genossen erklären; es gibt
keine Genossenschaft zwischen einer hochentwickelten, wahrhaft
schöpferischen Persönlichkeit einerseits und dem blöden Ver -
stand und den schweissigen Nachtmützen anderseits. Aber um
der Schönheit willen, die ein persönliches Anliegen ist, müssen
wir wünschen, dass das allgemeine Niveau so hoch als möglich
steige, dass jeder zu seinem Besten gelange, dass Hässlichkeit,
Elend, Gemeinheit schwinde, weil ihr Vorhandensein die Schön -
heit stört und das Lebensglück schmälert; um unsertwillen ar -
beiten wir dafür und fordern es im Namen der Menschlichkeit
und Gerechtigkeit, jener künstlerischen Gerechtigkeit, die eine
Welt in Harmonie und alle Kräfte in höchster Entwicklung und
Freiheit sehen will. Für das Genie ist die Welt ein Chaos, dem
es die Form zu geben trachtet; seine Werke strahlen jene Ge -
rechtigkeit und Menschlichkeit aus, aber sie sind aus eigener Not -
wendigkeit entstanden, wie die Werke der Natur, nicht aus
Liebe für die Allgemeinheit, sondern aus Hass gegen diese, aus
dem Trieb, sich abzusondern, zu unterscheiden und das Eigene
zu behaupten. Seine Ideen und Schöpfungen stehen in ur -
sprünglicher Reinheit und Fremdheit da, sie verkörpern eine
neue und schönere Welt, die über dem Gemeinen und Allge -
meinen steht, und haben keinen anderen Zweck, als ihrem
Schöpfer zu dienen, wenn sie der Menschlichkeit dienen sollen.
Die Anderen, die Einzelnen und allgemach die Allgemeinen,
können nichts besseres tun, als daraus ihre Religion zu machen,
Zu versuchen, dem Beispiel nachzuleben, sich mit ihm in Über -
einstimmung zu setzen und ihr Selbst zu finden. Was man die
Sache nennt, ist eigentlich die persönliche Sache eines Einzelnen,
eines Tüchtigen, eines Erschaffenden. Sachlichkeit drückt die
künstlerische Kraft eines Genies aus, alles auf das beste zu ver -
wenden, mit Gerechtigkeit gegen die natürlichen Eigenschaften
und Kräfte des Materials, sei es Holz, Leinen, Gold, Stein,
Erde oder Fleisch und Blut. Das Beste kann immer nur den
Ursprung und Stempel im Persönlichen haben, niemals im All -
gemeinen. Jedes grosse Werk, jedes Kunstwerk überhaupt, das
den Fortschritt bestimmt, ist ein Einzelfall, eine persönliche Sache,
keinesfalls ein Produkt der Allgemeinheit. □
Ich behaupte, dass die Allgemeinheit überhaupt keine Kunst
haben kann. Die Kunst, die sie liebt, besteht in Wiederholungen
und Verschlechterungen ursprünglicher Ideen, die in der Ver-
gangenheit liegen. Diese Kunst, die den Flamen nicht verdient,
ist kein Lebenswert, der neue Nahrung und neue Verfassung
gibt. Sie ist ein bunter Lappen an einem schmutzigen Wamms.
Diese Allgemeinheit lebt in schlechten Formen, in hässlichen
Häusern, in Dummheit, Gemeinheit und niederer Gier. Die
Kunst, die sie in ihren Ausstellungen zuweilen betrachtet, ist
zu gering und schwach, um an dieser Lebensverfassung zu
rütteln und Änderungen zu bewirken. Es ist eine Kunst, die
um das Wohlgefallen dieses Gesindels buhlt. □
Das ursprüngliche Kunstwerk, die Tat des Genies, kann dieser
Allgemeinheit nichts geben. Wie sollte es sich ihr verständlich
machen ? Die Allgemeinheit kann nur nehmen und lernen von
ihm, wenn sie reifer geworden, was sie leider niemals wird.
Alle Werke der Liebe und Schönheit geschehen aus Hass gegen
diese Allgemeinheit. Das Genie verlacht und verachtet sie und
geht einen Weg, den sie nicht vorgezeichnet hat. Der Staat,
der diese Allgemeinheit darstellt, der unpersönliche, objektive
Staat, hat allen Grund, die Tüchtigkeit des Genies zu fürchten.
Sie ist seiner Ruhe und Zufriedenheit gefährlich. Die Tüchtigen,
das sind die Gefährlichen. L.
SIENA UND SIMON MARTINI.
GENIUS LOCI. — VON VERNON LEE.
tädte haben ihre Schicksale, deren Spuren niemals völlig
aus ihrem steinernen Antlitz schwinden. Von dem nie
ganz ergründeten Geheimnis ihrer Vergangenheit um -
geben, gleichen sie anziehenden Frauenbildnissen, die mit sachter
Hand wie im Traum den Schleier heben, um mehr zu ver -
bergen als zu enthüllen. Aber die Sensibilität der Liebenden
— diese frauenhaften Städte können eine seltsame Liebe er -
wecken, die vielleicht eine neue Empfindung unserer modernen
Zeit ist — vermeint das Rätselhafte zu ergreifen. Sie belebt
das Dunkel einer wenig gekannten Geschichte mit nervöser
Einbildungskraft; beschwört Menschen und Dinge, die sich
beim Anblick der äusseren Stadtumrisse plötzlich einstellen und
das Traumbild vollenden. Wie unfassbar und nebelhaft auch
die Vorstellung sein mag, so ist sie doch in ihrer empfindungs-
mässigen Zartheit bestimmt genug, vermenschlichte Züge in
erkennbarer Schärfe hervortreten zu lassen, die dem Stadt -
wesen als ein Persönliches anhaften, als genius loci . . . Die
Menschen des Alltags sehen dieses zweite Gesicht ihrer eigenen
Stadt in der Regel nicht, obzwar es immer mit allen zauber -
haften Geheimnissen in der Gegenwart ist und mit scheuer
Frömmigkeit verehrt zu werden verdient. Wir aber, die wir
diese frauenhaften Städte mit jener neuen Liebe umfassen,
stehen betroffen still, wo andere blind vorüberhasten, und
lauschen den jahrhundertfernen Stimmen; wir grüssen die ge -
spenstigen Gäste in diesen Mauern und sehen in dem Unschein -
barsten rätselhafte Schönheiten. Und geben den anderen eine,
wenn auch nicht immer vollwertige Andeutung dieser be -
rückenden Gesichte, um ihren allzu beengten Nützlichkeitssinn
Zur Verehrung umzustimmen, soweit es möglich ist. □
Soviel möchte ich zugunsten des Buches „Genius loci" der
Vernon Lee (bei Eugen Diederichs zu Jena und Leipzig verlegt)
sagen und nun eine kleine Probe aus dem feinen Buche an -
fügen, weil es hier nicht so sehr wichtig ist, was ich über
Städte denke und über Lees Städtebilder, sondern vielmehr was
Vernon Lee zu sagen weiss. Es ist eines ihrer feinsten Kapitel,
das handelt von: □
„SIENA UND SIMON MARTINI."
Innerhalb des Mittelalters gibt es noch ein besonderes Mittel-
alter; eine Gattung inmitten der allgemeinen Mittelalterlich-
keit, welche sozusagen ohne Nachkommenschaft geblieben ist,
ohne den späteren Zeiten etwas zu hinterlassen, das sie ver -
feinern und vervollkommnen konnten: ein Mittelalter, das sich
niemals in etwas Modernes verwandeln konnte. Dies fiel mir
besonders auf, als ich, wohl zum zwölften Male, im frühen
Frühling dieses Jahres nach Siena zurückkehrte. Diese wunder -
schöne Stadt, so einsam zwischen den hochliegenden Eichen -
wäldern und halbkahlen Kugeln aus weisser, vulkanischer Ton -
erde liegend, fand ihre Zivilisation — wie das Regenwasser
ihre Zisternen — im eigenen Haus; und, was noch charak -
teristischer ist, sie liess sich, ohne Spuren einer früheren Zeit
und wenig oder gar keinen nachträglichen Zusätzen, zu einem
bestimmten Zeitpunkt, im vierzehnten Jahrhundert, erbauen,
gerade ehe die grosse Pestepidemie ausbrach. □
Von herrlichem rosenfarbenen Ziegelstein errichtet, mit zier -
lichen Nischen und Bogenfenstern, mit Säulen, Zinnen und
Türmen, die wie Blumen überall aus der Ebene aufsteigen.
Fröhlich, einfach, wenn auch ein bisschen konventionell, und
noch immer ritterlich und romantisch; ein Ort, wo auch heute
junge Mädchen in den Strassen tanzen und in der Runde
singen könnten wie jene, denen der Knabe Dante am Aller -
heiligentag begegnete, und wie sie Lorenzetti auf seinem grossen
Fresko abgemalt hat. Der Knabe Dante; denn mir scheint,
dass, wie sehr auch die „Göttliche Komödie" dem Altertum
entspringt und die Neuzeit und ewige Zukunft erschliesst, die
„Vita Nuova" doch ganz und gar dem Mittelalter angehört,
welches sozusagen jung und ohne Nachkommen gestorben ist,
dem Mittelalter des rosenfarbenen, zinnenreichen, vieltürmigen
Sienas. Die Griechen und Römer haben mit keinem der beiden
viel zu schaffen; und was die „Vita Nuova" betrifft, so ist
sie doch eigentlich nur die vollendete Blüte der mittelalter -
lichen, ritterlich-mystischen Liebespoesie Giunicellis und Caval-
cantis, und provenzalischer Rudels, Vidals und Ventadours:
anmutig, konventionell, und doch so närrisch wie krauses
Hopfengerank. □
Dieses Mittelalter, das uns Siena verkörpert — denn Pisa er -
zählt von älteren, halb byzantinischen Tagen und Florenz und
Venedig leben leidenschaftlich in der Renaissance weiter —,
dieses Mittelalter mit rosigen Mauern und gestreiften Türmen
(gerade so bezaubernd und spielschachtelmässig, wie die primi -
tiven Maler, bis zu Angelico, sie liebten) hat uns unter anderen
vollkommenen Dingen die „Legendenbücher" des heiligen
278
Franziskus, die mehr romantischen Geschichten im „Decameron“
und, vielleicht das Köstlichste von allen, „Aucassin et Nicolette“
beschert. □
Ein besonders bezeichnender Zug dieser mittelalterlichen Kunst
ist, dass sie keine Jahreszeit kennt ausser dem Frühlingf. Und
dies ist vielleicht der Grund, dass mich Siena dieses Mal als so
besonders mittelalterlich frappierte; ich war noch nie zuvor im
April dort gewesen. □
Der Schimmer des jungen Korns, die Zartheit der ersten
Blättchen, die Obstblüten überall auf den Abhängen zwischen
Stadtmauern und Türmen liessen mich der zierlichen und
zierenden Anmut dieser besonderen Gattung besonders bewusst
werden und zum ersten Male den ganz besonderen Reiz der
lokalen Sienesischen Malerei voll erkennen. Denn ich gestehe,
dass gerade der Umstand, der neuere Kritiker so streng über
die Schule von Siena urteilen lässt, nämlich dass sie niemals
Zu etwas geführt hat, mich besonders erfreut. □
Gewiss war es begrenzt von den Sienesern, dass sie darauf be -
standen, durch die Renaissancezeit hindurch mediäval zu bleiben,
dass sie dabei beharrten, entzückende Madonnen und innige
Heilige in wunderbar gestickten Gewändern auf wunderbaren,
goldgemusterten Hintergründen zu verfertigen, ähnlich denen,
die Mechthild von Magdeburg in ihren Visionen erblickte;
dass sie keinen Finger hoben, um das Kommen Michelangelos
und Leonardos, Tintorettos, Velasquez' und der königlichen
Akademiker und Hors-Concours unserer Tage zu beschleunigen.
Ohne Zweifel hätten sie sich ordentlich hinter Anatomie und
Perspektive und Bewegung hermachen und den modernen Geist
im allgemeinen studieren sollen, wie die Florentiner, keine vier -
zig Meilen von ihnen entfernt, auf der anderen Seite der Eichen -
wälder und Oliven- und Weinberge des Chianti es taten. Aber
sie konnten es nicht — oder sie wollten es nicht; und mich
freut es, dass sie’s nicht taten. In der Kunst, wie im Leben,
ist Raum für viele Dinge; und neben dem Fortschritt, der
manchmal gewisse eckige und unliebenswürdige Eigenschaften
und fast immer eine mauerbrechende Hartköpfigkeit voraus -
setzt, gibt es die Ruhe: der Zauber des Binnenwassers. Diese
armen Sieneser, welche, wie ihre eigene Stadt, mittelalterlich
blieben, als das Mittelalter schon überall gründlich ausgespielt
hatte, haben uns am Ende doch Bilder hinterlassen von ent -
zückendstem Farbenreiz der gestickten Mäntel und durch -
brochenen Heiligenscheine, Lieblichkeit und Reinheit der
Madonnen und Engelsköpfe, sanften, ernsthaften Anachoreten;
ein ummauerter Garten mittelalterlicher Einfalt und Anmut,
mit Blumen, die sowohl Duft für den Geist, als Zauber für das
Auge besitzen. □
Wir wollen jenen dankbar sein, die ihn unberührt zwischen den
Wällen ihrer einsamen Hügelstadt bewahrten. Die Erde ist gross
genug, um verschiedenen Menschen zu gestatten, auf verschie -
dene Weise das göttliche Spiel der Kunst zu spielen. Sollte
unser Verständnis dafür nicht weit genug sein? □
Ja, ich schäme mich nicht, es zu gestehen: ich liebe Sano di
Pietro und Andrea di Vanni, Giovanni die Paolo und Giro-
lamo di Benvenuto (ihre nebelhaften Geschlechtsnamen sind
ihre schlimmste Eigenschaft) nicht nur in ihren grossen Werken,
die mich an Stellen aus Wolframs „Parsifal“ und an „Aucas -
sin et Nicolette“ und die „Fioretti di San Francesco“ erinnern,
sondern auch in ihren kindischen Torheiten, die bisweilen wie
Ammenverschen anmuten : wunderbare graue und blaue Felsen -
grotten mit kleinen Eremiten in gestreiften Wolldecken, die ihre
spielerige Haushaltung besorgen, mit Spielzeugbrunnen und
hölzernen Tierchen; oder Paradiesgärten, wo Engel und schöne
Damen und junge Gecken mit Faltenröcken und Turbans, wo
prächtige Magnificos und all die armen, ermordeten unschul -
digen Kindlein spazieren gehen zwischen faustgrossen Wald -
erdbeeren und baumhohen Lilien und Veilchen, in deren
Kelchen sich Kaninchen verstecken. Das alles stimmt zu Siena,
und ich bin froh, dass Siena dazu stimmt. □
Und so wäre ich bei Simon Martini angelangt; denn, wenn
Siena nicht das gewesen wäre, was es war: unfähig, über das
Mittelalter hinaus zu gelangen, so hätte es diesen Maler nicht
hervorgebracht; und, wenn nicht Siena, dann kein anderer Ort
der Welt. □
Simon Martinis Werke sind leider mehr, denn die Werke irgend -
eines anderen, verstreut und verdorben; sogar seine eigene
Person ist, jahrhundertelang, hoffnungslos in einem apo -
kryphen Simone Memmi aufgegangen, aus welchen ihn erst in
neuerer Zeit die Morellische kritische Schule — nach Aus -
schaltung eines mittelmässigen Schülers, Lippo Memmi — her -
vorgeschält hat. Seine „Verkündigung“ ist eins der kostbarsten
und lieblichsten Bilder in den Uffizien; Galerie und Seminar
von Pisa enthalten eine Anzahl kleiner Heiligenpaneele von
unbeschreiblicher Zartheit und Farbenreiz; und auf der Wand
des Sitzungssaales zu Siena ist ein zerstörtes Fresko, die thro -
nende Maria mit Engeln und Heiligen, welches mit dem Licht
und mit der eigenen Fassungskraft zu kommen und zu schwin -
den scheint, eine ungewisse, quälende Vision himmlischer
Pracht. Aber die herrlichsten Werke dieses wunderbaren Mei -
sters sind in Assisi; und nicht des historischen Interesses, son -
dern des künstlerischen und poetischen Genusses wegen sind
sie es — zusammen mit der Erinnerung an St. Franziskus und
der Wirklichkeit jener Ruinen von rosig-bröckelndem Gestein
— um derentwillen wir nach Assisi gehen sollten. □
Die fremdartige tiefere Kirche des Heiligen brütet ja mit ihrem
abgestumpften Bogen über einigen der denkwürdigsten Werke
der gesamten Kunst: die Fresken Giottos und seiner Schüler,
die ganze Prophezeiung, die ganze Verheissung der Renaissance.
Aber in den Werken Simon Martinis — in der Kapelle, die
mit den Legenden vom heiligen Martin ausgemalt ist, in dem
Heiligenfries um den Hochaltar — ist keine Verkündigung, ist
kein Versprechen; nur vollkommene Erfüllung. Diese Kunst
ist, wie wir sie auch beschreiben mögen, ein Gemisch von ver -
späteter antiker Verfeinerung, einer Lieblichkeit, die, im spitz -
findigen, hierarchischen Konstantinopel verdünnt, die Pracht
des Ostens — durch persische Schmelzarbeit und syrische
Damaszenierung überliefert — in sich aufgenommen hatte;
tote und ungleiche Elemente, nun aber belebt und verschmolzen
in der Flamme des ritterlichen Westens. □
Ist diese Kunst ein Ausdruck persönlichen Genies oder ein
glücklicher, historischer Zufall ? Sei dem wie ihm sei, mir
scheint, dass die Kunst des Simon Martini — ebenso gleich -
gültig gegen Perspektive und Anatomie als unbekümmert um
dramatischen Ausdruck — von der Art ist, die man vollendet,
ENDGÜLTIG nennen muss. Sie entspricht, wenn auch später
entstanden, der aristokratischen, künstlichen Poesie, der spitz -
findigen Liebesmetaphysik des frühen Mittelalters, den
279
Von Ardi. A. Holub
Gartenbanfc
Troubadours, den neoplatomscben Mystikern und prädantesfeen
Sonettendicbtern. Sie ist vielleicht die einzige vollkommene
Blüte des Mittelaltertums, vor dem Neuaufleben des apostoli -
schen Christentums und der Rückkehr zum heidnischen, ge -
sunden Menschenverstands ein ritterliches, mystisches Mittel-
alter mit Minnehöfen und Gralstempeln; und dabei selber
ungewiss — gerade wie die Heroen der deutschen und franzö -
sischen Heldenlieder —, ob es ganz europäisch oder ganz
orientalisch ist. Etwas Vollendetes und doch, so widersprechend
es klingen mag, mit der Unreife des Frühlings Gezeichnetes,
eines Frühlings, der eben aus dem Winter hervorgegangen, aber
niemals Sommer werden wird. □
Und so passt es in das mittelalterliche Siena, wie ich es das
letzte Mal gesehen habe: mit rosigen Zinnen und Türmen,
aufsteigend über den noch trieblosen Reben, dem spriessenden,
grünen Weizen und den Kirschblüten seiner dürren, kleinen
Hügel. □
EIN GARTEN AUS ROSEN UND LORBEER.
n meinen Träumen seh ich einen Garten, der zwei farbige
Kontraste vermählt: den dunklen Lorbeer und das hellere
Grün mit dem blutenden Rot blühender Rosenbäume. Die
dichterische Schönheit eines solchen Gartens bedarf keiner
weiteren Zutat als einer schönen, weissen Mauer, die den Hain
umfriedet und von Efeu oder wildem Wein überklettert ist.
Weisser, feiner Kies bedeckt den Boden. In schönen Kübeln,
die weiss sind und mit Ornamenten eingefasst, bilden sie
in regelmässigen Abständen ein Viereck in dem Garten und
in diesem Viereck stehen die blühenden Rosenbäume, die in der
Mitte den Raum für einen geraden Weg freilassen. Auch die
Rosen stehen in gleichen Kübeln. Zwischen den beiden Streifen,
die von den Lorbeerbäumen und von den Rosenbäumen gebildet
sind, ziehen zwei schmale, weiss gemauerte Beete hin, die ganz
mit Tulpen gefüllt sind; sie blühen, wenn an den Rosen -
bäumen die Knospen schwellen und der schöne, farbige Traum
280
BR'UNNE.K
flH-EIMER
mvER,-:-
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Brunnen an einer Gartenmauer
Von Arch. A. Holub
noch in den geschlossenen Kronen schläft. So stehen die Lorbeer -
bäume als die Hüter des Mysteriums der Schönheit, das sich
an den Tulpenbeeten eben enthüllt und an den schwellenden
Knospen zu enthüllen verheisst. Und während so nach und
nach an den Rosenbäumen das zauberhafte Erwachen der
schlummernden Blütenschönheit vor sich geht, wundervoll wie
das Aufdämmern der Morgenröte, wird die Bedeutung der
dunklen Lorbeerbäume sichtbar. Die Morgenröte wäre niemals
so schön, stände nicht das Dunkel des nachtbefangenen Waldes
ihrem glühenden Antlitz gegenüber. Das allmähliche Erröten
der Rosenbäume wird durch den dunklen, starren Ernst des
Lorbeers zu einer verwirrenden Macht gesteigert. Meine Ge -
danken ergehen sich täglich in diesem Garten, der trotz seiner
Einfachheit die bestrickende Gewalt eines alten Märchens aus -
übt. Es ist so geheimnisvoll, dass der Laut eines fallenden
Wassertropfens oder das tropfenweise Rinnen eines verborgenen
Brunnens, der in diesem Garten noch Platz haben könnte, wie
eine Stimme wirkte und eine seltsame rhythmische Sprache oder
Begleitung für die geheimnisvollen Geschehnisse meines Gartens
bildete. Morgen für Morgen enthüllen die Rosenbäume neue
und immer schönere Geheimnisse im Umkreis der immer un -
beweglichen Lorbeeren, die als Wächter dieses Paradieses das
Geheimnis hüten und deren dunkle Kronen diesen lichten
Schönheitstraum bewahren. So stehen sie immer tief dunkel
und ernstvoll, in regungsloser Ergriffenheit, wie jene blauschattigen
Hochwälder, die um so dunkler und ernster scheinen, je flam -
mender die Rosen des Morgen- oder Abendhimmels sie um -
kränzen. □
Die Tore zu diesem Garten sind nur für die Stunden
offen, die der Einsamkeit gehören. Niemals aber hat man darin
das Gefühl, allein zu sein, obschon hier alles Ruhe und
Schweigen ist. Es ist das Schweigen heiliger Orte oder Haine,
die man niemals in Gesellschaft betritt. Es ist eine Eigenschaft
dieses Gartens, dass er bei aller Ruhe und allem Schweigen,
28t
damit er erfüllt ist, niemals das Gefühl der Langweile erwecken
kann. Das unaufhörliche stumme Geschehen von Wundern der
Schönheit, das geheimnisvolle Weben und Werben der Liebes-
kräfte, die feierliche Haltung und die unbewegte Ergriffenheit
aller Dinge des Gartens verursachen eine tiefe Erregung der
Seele. Sie weiss sich in Gegenwart unwirklicher Erscheinungen,
die plötzlich sichtbar werden. Von den mystischen Gewalten
ergriffen, ist sie bereit, Offenbarungen zu vernehmen, die nie -
mals möglich sind in Gegenwart einer Überfülle von ungeord -
neten realen Dingen und am allerwenigsten in Anwesenheit
einer Gesellschaft von Menschen. Aus diesem Grunde verbindet
sich mit diesem Traumgarten, zu dessen Verwirklichung es nur
weniger Dinge bedarf, auch die Vorstellung, dass sich an Stelle
der seitlichen Mauer weisse Arkaden hinziehen und den Ein -
druck der klösterlichen Abgeschlossenheit verstärken. Es wäre
möglich, den Kreis dieser Schöpfung um ein weiteres Element
zu vermehren. Die Gedanken, die in dieser unwirklichen
Gartenwirklichkeit verweilen, sind geschäftige Werkleute, die
das von ihnen erschaffene Reich noch sorgfältiger ausgestalten
und die Möglichkeit eines neuen und noch tieferen Eindruckes
in dem festen Bezirk dieses Gartens herstellen wollen. In der
Tat gehen die Schritte zwischen den Rosenbäumen hindurch
auf eine, die rückwärtige Wand abschliessende Laube zu, die
links und rechts von einem Laubengang als Seitenflügel ergänzt
wird und die eine neue Entdeckung bildet. Es führen einige
Stufen zu dem Sitz hinauf, von wo aus die ganze Anlage be -
quem überblickt werden kann. Von diesem erhöhten Platze aus
gesehen, ist das Bild völlig neu. In Kugelgestalt reihen sich die
Lorbeeren aneinander, ein dunkler Saum, dazwischen das
Rosenlager gebettet ist. Dort oben ist es schön zu sitzen. Man
möchte dort lesen. Irgendein seltenes, altes Buch; aber man
würde bald das Buch weglegen und auf das Schweigen und
auf die Gedanken horchen, die durch die Seele sickern, gleich
jenen Wassertropfen, die dort in der Garteneinsamkeit auf -
klingen. Und die Stunden verrinnen, während das lichte Träu -
men der Rosen und das dunkle Träumen der Lorbeerbäume
durch die eigene Seele geht und ein Traum das Gleichnis und
die Erfüllung des anderen Traumes ist. Und die Stunden würden
verrinnen, man weiss nicht wie. □
Ich glaube, wenn solche Dinge geschaffen und erlebt würden,
dass sie einen bestimmenden Einfluss auf die Entwicklung und
den Gang des anderen Lebens haben müssten. Dieses Leben mit
seinen Arbeiten sollte in irgendeiner Beziehung mit dem Geiste
schöner Gärten Zusammenhängen. Ich habe mit besonderer
Absicht daran gedacht, diesen Rosen- und Lorbeergarten der
Hauptsache nach aus blossen Kübelpflanzen herzustellen. Nicht
nur weil die Lorbeerbäume bei uns nur in dieser Form ge -
pflegt werden können, sondern weil ich auch eine besondere
Schönheit darin sehe. Darum würde ich auch die Rosenbäume
in solchen Kübeln ziehen. Die Schönheit des Kübelgartens
liegt in der architektonischen Ordnung und Strenge, in der die
Pflanzen aufgestellt werden müssten und die in dieser Form
stark betont ist. Es verbindet sich aber auch die Rücksicht
damit, die edlen Pflanzen mit Eintritt der schlechten Jahreszeit
aus dem Freien zu nehmen. Die Orangerie war eine sehr
zweckmässige Einrichtung eines früheren Zeitalters, dessen
künstlerischer Geschmack der heutigen Zeit um sehr viel über -
legen war. Dieser bewegliche Garten ist leicht zu pflegen. Selbst
Grundriss zu vorstehenden Entwürfen
in den Zeiten, wo die Pflanzen ins Glashaus gestellt werden
und der Garten leer ist, wird dieser kein verwüstetes Antlitz
und das traurige Aussehen spätherbstlicher und winterlicher
Gärten zur Schau tragen. Er wird dann ein schöner, stiller
Gartenhof werden, ein leeres Gehäuse, das der Schönheit nach -
träumt, nachdem die festlichen Gäste gegangen sind; oder aber,
der, wie man auch sagen könnte, von den Vorahnungen der
Herrlichkeit erfüllt ist, die mit jedem Frühling in seinem
heiligen Bezirk ersteht. Niemals, auch wenn der Schauplatz
leer ist, wird er seiner Feierlichkeit entkleidet sein; es gehört
mit zu dem Besten, was sich zugunsten dieses Gartens sagen
lässt, dass er niemals banal ist. L.
EIN GEWISSENHAFTER UNTERRICHT WIRD VOR
ALLEM OBJEKTIV SEIN. DER SCHÜLER SOLL DENKEN
LERNEN, ABER ES IST EIN TYRANNISCHER ÜBER -
GRIFF, IHN LEHREN ZU WOLLEN, WAS ER DENKEN
SOLL. DER EHRLICHE PÄDAGOGE IST WIE DER ZAHN -
ARZT, WELCHER SEINEN PATIENTEN BEFÄHIGT,
MIT KRÄFTIGEN ZÄHNEN ZU BEISSEN, OHNE DASS
ES IHM JEMALS EINFALLEN WÜRDE, DEM PATIENTEN
SEINE DIÄT VORZUSCHREIBEN. □
WAS WIR IN DER LITERATUR KLASSISCH NENNEN,
IST EIGENTLICH DAS VORWIEGEN DES GEISTES
ÜBER DAS TEMPERAMENT. OUCKAMA KNOOP.
282
REISE NACH SALZBURG.
n Salzburg ist auch das Tote lebendig. Die Steine reden. In
den welkenden Mauern zittert ein Nachhall der grossen
Historie, webt ein Hauch von abgestandenem Weihrauch,
vermischt mit leisem Parfüm höfischen Courtisanentums. Selt -
same Mischung; so seltsam wie die Madonnenbilder in Salz -
burgs alten Kirchen und Kapellen, diese gnadenreichen
Madonnenbilder, die voll irdischer Lebensfreude lächeln, so hold
verschämt lächeln in dem Heiligenscheine, verwirrt und ver -
wirrend zugleich, dass der fromme Beter, von dunklen Ge -
fühlen gepackt, die heissen Augen von diesem Gnadenreichtum
nicht abzuwenden vermag. Abends werden Stimmen laut, die
aus anderen Jahrhunderten kommen. Das Glockenspiel. Dünne,
gebrechliche Klänge, die in die Luft hinaufwimmern, hell und
zart wie Vokalmusik am Spinett begleitet, und zierlich und
geziert wie Menuettschritt. Sehr viel verblichene Grazie. Ist
das süss bimmelnde Getändel zum Schweigen gebracht, dann
geht ein frommer Schauer durch die horchende Stadt. Der
„Stier von Salzburg^ kommt an die Reihe. So heisst das ur -
alte Orgelwerk auf der Hohenveste, angeblich aus der Zeit des
Erzbischofs Leonhardt v. Keutschach, der die Salzburger nach
seiner Pfeife tanzen lehrte. □
Auf das siebzehnte Jahrhundert das vierzehnte. Da geht es frei -
lich aus einem ganz anderen Ton. So wie es die damalige
Zeit brauchte und jener Mann, dessen kernige Bauernfaust
das Weihrauchfass ebenso kunstgerecht schwang wie das
Schlachtschwert. „Und soll mein halb's Bistum draufgehn!“
Aber die bis dahin autonome Stadt musste sich seiner Gewalt
beugen. Seither gellte es die Orgel tagtäglich dem Bürger in
die Ohren. Er merkt heute noch auf. Eine brausende Tonfülle
giesst sich von obenher über die Stadt, schwerflüssig, mächtig
anschwellend, aus allen Registern strömend, mit ungeheurer
Gewalt, als ob der Herr mit allen Donnern niederführe, dann
wieder in sanften Zügen, weich und hochgelind wie die
Stimme der Seligen. Es ist das stärkste Mittel jener Macht,
welche das geistliche Salzburg über seine Seelen hatte. Der
Alltag steht aufhorchend still; erst wenn oben der letzte Ton
verknurrt, geht er wieder seinen trägen Lauf. Die alten Häuser
schliessen die Fensterläden zu wie müde Augenlider; sie
schlafen. Die Brunnen auf den einsamen Plätzen rauschen ihre
einförmige Weise und die stillen Gassen schaudern auf, wenn
in ihre alten Träume laute Schritte hineinhallen. Die Stadt
scheint wirklich entschlafen. Sie scheint es nur. Da und dort,
wo ein roter Vorhang einen Blutschein auf das Pflaster wirft,
fliegt klirrend eine Tür auf, Licht und Lärm dringen aus der
Bierstube auf die Strasse und sind im nächsten Augenblick,
als die Tür wieder krachend zufliegt, wie abgeschnitten.
Schwarz und ungetüm liegt ein unförmiger Gebäudekomplex
da, ungastlich, keine Pforte, kein Licht. Aber durch die Mauer
dringt Gesang, gedämpft zwar, doch vernehmlich, Männerchöre
mit frischen, kräftigen Stimmen. Was sie singen, ist nicht fromm.
Gewiss nicht! □
Der Salzburger trägt die Frömmigkeit wie ein Kleid, das man
anlegt der Leute wegen. Weil's so Sitte ist. Um die Sitten steht’s
darum nicht besser. Die vielen Wirtshäuser haben ihre Stamm -
gäste so gut wie die vielen Kirchen. Wie immer und überall,
sie geben ihre Gäste einander ab, „Man schmaust, tanzt, macht
Musik, liebt und spielt zum Rasen,“ schreibt der Historiker
vor mehr als hundert Jahren. Auch die Erzbischöfe taten darin
das Ihrige. Einer, Wolf Dietrich, war heimlich vermählt mit
einem Bürgersmädchen. Salome Alt war das schönste Mädchen
ihrer Zeit. Sie machte die Honneurs bei den fürsterzbischöf -
lichen Banketten. Die galanten Abbés, die Domherren mit den
grünlichblassen Gesichtern waren Feinschmecker. Die gemalten
und gemeisselten Madonnen atmen noch das Leben jener
süssen Frauen, von denen die frommen Väter in ihren Gräbern
träumen. Salzburg war auch in der kirchlichen Zeit eine Mon-
daine, die den Heiligenschein trug wie eine Kokette. Bei aller
Gottesfurcht ein bisschen Diebsgelüst ... □
Unzertrennlich von dem Namen Salzburg ist die Vorstellung
einer entzückenden Landschaft. Anmut und Erhabenheit
ist in dem Bilde vereinigt. Es hat die Lieblichkeit des
Hügellandes und die Grossartigkeit des Felsengebirges. Von
Hellbrunn aus gesehen, liegt die Hohenveste auf dem grünen
Sockel des Mönchsberges wie eine mächtige Märchenkrone.
Sie ist das Verteidigungswerk des mittelalterlichen Salz -
burgs, ein Zwängsalzburg. In späteren Jahrhunderten gab
die neue Kultur von Italien her dem Bauwesen einen anderen
Sinn. Die Kunst der italienischen Städterepubliken wurde zum
Vorbild, wie überall in Europa, aber in keiner anderen Stadt
ist der neue künstlerische Niederschlag für das Gesamtbild so
entscheidend gewesen als hier. Wolf Dietrich war nicht bloss
Bischof, er war vor allem Weltmann und ein Freund der
schönen Künste. Dem Haus der Mediceer ist er durch Ver -
wandtschaft und Gesinnung verbunden. Die berühmtesten
Künstler der Zeit haben hier gearbeitet; man nennt Scamozzi,
Solari, Hildebrandt, Fischer von Erlach u. v. a. Der Fürst
durfte es wagen, den Fuss wieder ins freie Land zu setzen;
Mirabell entsteht als neues Stadtschloss und Hellbrunn als
Sommerschloss, beide durch eine herrliche Gartenarchitektur
ausgezeichnet, viel zu wenig gewürdigt, denn sie liegen uns zu
nahe und auf österreichischem Boden, was Grund genug ist.
In der alten Stadt Salzburg, auf der einen Seite durch den
Fluss, auf der anderen durch den Felsen und die Hohenveste
in einen ausserordentlich günstigen Verteidigungsstand gesetzt
und in einer für die damaligen Verhältnisse strategisch überaus
bevorzugten Lage, geht eine künstlerische Umwandlung vor sich.
Die Urzelle des Stadtwesens, der Waagplatz, die Judengasse,
die Getreidegasse, die Mittelalterlichkeit der angrenzenden
Gassen und Gässlein haben sich zum grossen Teil erhalten,
aber sie schliessen einen Kern von Residenzen und Residenz -
plätzen ein, deren räumliche Schönheit eine wesentlich andere
Baugesinnung ausdrückt, als bei dem pfennigfuchsenden Bürger -
tum in den engen, winkeligen Gassen, oder in den älteren Tagen
der Verteidigungssorgen zu erwarten war. Der Bezirk St. Peter,
der Kapitelplatz, der Domplatz, der Residenzplatz, der Mozart -
platz und Universitätsplatz, sie stellen ein Gefüge herrlicher,
geschlossener Platzgebilde dar, luftigen Fürstensälen gleich, eine
Raumentfaltung, die Architektur im besten Sinne ist, verschwen -
derisch im Herzen der engen Stadt. Fürstenkunst, nicht Bürger -
kunst. Aber Mirabell, das schon ausserhalb des eigentlichen
alten Stadtbereichs, auf dem anderen Ufer der Salzach liegt,
und Hellbrunn, gar eine Stunde weit in der breiten Talsohle
gegen Untersberg, beweisen auf das klarste, DASS DIE BAU -
GESINNUNG DER FÜRSTEN UND IHRER KÜNSTLER
AUF DAS GANZE GERICHTET WAR. Auf dem Rosen-
283
hügfel am Mirabellschloss überblickt man das Kunstwerk des
architektonischen Mirabellgartens und in der Längenachse des
Gartens jenseits der Stadt den wuchtigen Felsen mit der Hohen-
veste als monumentalen Abschluss des machtvollen Bildes. Mit
soviel künstlerischer Überlegenheit wusste der fürstliche Bauherr
den Platz für die Anlage zu wählen, dass er mit einem Blick
Stadt und Veste überschauen und zugleich als künstlerische
Steigerung in sein Gesichtsfeld einbeziehen konnte. Nach ähn -
licher Rücksicht ist Hellbrunn angelegt. Es liegt in der Ver -
längerung der Achse von Mirabellgarten und Hohenveste nach
Südosten. Auch in Hellbrunn bildet die Hohenveste den
grössenhaften Abschluss der Perspektive. Wer dort vom Monats -
schlösschen gegen Salzburg blickt, hat ein Märchen gesehen. □
Der künstlerische Sinn der fürstlichen Bauherren gab der Stadt
ein unschätzbares Gut, an dem sie auch in materieller Bedeu -
tung zehrt. Schöne Landschaften gibt es schliesslich überall,
aber schöne Städte, deren blosses Sein das Leben dort ange -
nehm und leicht macht, und noch in der Ferne den Seelenschatz
einer lichten Erinnerung gibt, sind leider selten. Der letzte
Grund, warum man nach Salzburg geht, ist schliesslich doch
die schöne Stadt. Alle, die sie gesehen haben — und wer sollte
nicht? —, haben Ursache, sie zu lieben, und die Pflicht, über
sie zu wachen; alle haben das Recht, zu fordern, dass die
Schönheit nicht angetastet werde und dass nichts geschehe,
was die künstlerische Wirkung beeinträchtige. Die Bürger dieser
Stadt, deren Budget zum erheblichen Teil von den NICHT -
EINHEIMISCHEN bestritten wird, sind von dieser Rücksicht
keineswegs frei. □
Je grösser die künstlerische Arbeit der Vergangenheit war, um
so schwerer wiegt die Verantwortung der Nachfahren und der
Fehler, der begangen wird. Das eindrucksvolle Bild der Stadt
gibt auch in dieser Beziehung eindringliche Aufschlüsse. Es
sollen nicht alle Bausünden der jüngeren Zeit auf gezählt wer -
den. Aber allzu schroff ist der Abstand, der die von keiner
künstlerischen Einsicht geleitete jüngste Bautätigkeit von den
älteren Epochen der Kultur trennt. Neue Häuserviertel und
Cottageanlagen sind entstanden, deren trotz allen Fassaden -
schmucks nüchterne Bauweise dem charaktervollen Stadtganzen
erheblich Abbruch tut. Die üblen Beispiele der grosstädtischen
Häuserfabrikation haben auch in diesen kunstreichen Stadtgebiet
verheerend gewirkt. Man braucht nur den alten Verkehrsweg,
die Linzerstrasse, entlang zu gehen, um den furchtbaren Kontrast
wahrzunehmen, der zwischen dem charakteristischen alten Strassen -
teil und der neuen Verlängerung, die trotz der Verbreiterung unsäglich
öde ist, besteht. Die neuen Häuser im Bahnhofviertel, die
Villen an der Salzach sind fast durchweg Belege dieses er -
schreckenden Niederganges. Alte Baudenkmäler, wie kürzlich
das Linzertor, wurden unbekümmert um die Forderung eines
künstlerisch empfindenden Teiles der Bevölkerung niedergelegt, und
jüngst wurde, um ein anderes schweres Bauverbrechen zu ver -
zeichnen, der herrliche Stadtblick ins Nonntal, bezeichnender -
weise Salzburger Meran genannt, durch das neue Justizgebäude
Wielemans’, eine öde Architekturmache, vermauert. Die Schmach
wird nicht verlöschen. Für das Justizgebäude im alten Stadt -
gebiet erbaut, soll die Krämerrücksicht entscheidend gewesen
sein, wonach das Landvolk, das im Gebäude zu tun hat, ge -
nötigt sein soll, den Weg durch die Geschäftsstadt zu nehmen, eine
begreifliche Rücksicht. Zu begreifen ist nicht, dass die Stadt
keine andere Lösung gefunden hat. Sie wäre gefunden worden,
wenn man sie gesucht hätte. Es scheint, dass in der Bevöl -
kerung und in der Stadtvertretung der Trieb, künstlerische
Fragen künstlerisch zu lösen, erstorben ist. □
Es wird sich rächen. Das Versäumnis geht ins Ungeheure,
wenn man bedenkt, dass jede Baufrage, im grossen und kleinen,
die die Stadt irgendwie berührt, eine Kunstfrage ist. Die
Epochen der Kultur haben die Stadt von vornherein als
Kunstwerk aufgefasst. □
Die Angelegenheit wird wieder lebendig, da die Stadt neuer -
dings in Gefahr schwebt, einem Irrtum zu unterliegen. Diesmal
droht es dem Mirabellschloss. Es liegt in dem Teil, wo sich
der Bahnhof befindet und ein neues Stadtviertel entstanden ist.
Das Bahnhofviertel ist ohne Leben, das Streben geht dahin,
auch dort ein intensiveres Stadtwesen zu entwickeln. Der Ver -
kehr und städtisches Leben geht der Gewohnheit nach in der
alten Linzerstrasse, die weit abliegt. □
Der Grundfehler war, dass dieser Fingerzeig nicht vor der
Anlage des Bahnhofs, der in der Nähe der Linzerstrasse hätte
errichtet werden sollen, beachtet wurde. Die Linzerstrasse war
durch die bisherige Entwicklung von vornherein berufen, die
Vermittlung von Bahnhof und Stadt herzustellen und den Ver -
kehr aufzunehmen. Die angrenzenden Gebiete hätten sich als
stille Wohnstrassen entwickeln können. Die heutige Bahnhof -
strasse bietet eine Konkurrenz, die sie nicht halten kann. Nun
ist der Plan, neben dem Mirabellschloss ein neues Kurhaus mit
Hotel im „Mirabellstil“ zu errichten, ein Riesengebäude, das
auf das Schloss drückend wirken muss und dem zuliebe sich
der alte Bau noch einige Verstümmelungen gefallen lassen
muss, wie die Niederlegung seiner Seitenflügel, die der alte
Baukünstler als Ausklang des mächtigen Mittelbaues notwendig
gebraucht hatte. Eine Baufirma ist in der Tat schon beauf -
tragt, ein „diesbezügliches Projekt auszuarbeiten“. □
Glücklicherweise beginnt sich in der Bevölkerung Widerspruch
gegen diesen Vandalismus zu regen. Der diskutable Vorschlag
wurde gemacht, dem Seitenflügel des Mirabellschlosses eine
Kolonade bis zur Badeanstalt mit schönen Schauläden anzureihen
und den Kurhausbau abseits in eine Seitenstrasse zu verlegen.
Die Idee der Kolonade ist schön, wenn sie in gute Hände
kommt, sie wird verunglücken, wenn es nicht der Fall ist. So
geht es schliesslich mit allen Dingen. Es ist darum nicht
erdenklich, warum die Stadt nicht den Weg der künstlerischen
Preisausschreibung betritt und sich von vornherein der be -
rühmtesten und modernsten Künstler als Juroren versichert.
Wenn sie nicht imstande ist, den geeigneten Künstler selbst zu
finden, hat sie die Pficht, im herkömmlichen Konkurrenzweg
unter guter künstlerischer Beratung zu erfahren, was gut ist
und was gemacht werden darf. Die Stadt möge das Beispiel
Karlsbads befolgen, wo der Stadtbaudirektor Drobny, dessen
einstige Wirksamkeit in Salzburg heute schwer vermisst wird,
eine öffentliche Stadtbaufrage durch ein glänzend redigiertes
Preisausschreiben zum Ziele führt. □
Die Stadtvertretung wird diese Einsicht finden, sie kann nicht
anders. Sie wird sich auf ihre Aufgabe besinnen und eine
künstlerische Lösung ermöglichen. Die Angelegenheit gehört
uns und allen, die Befolgung dieser Forderungen gehört der
Stadtvertretung und der Entwurf und die Ausführung gehören
dem Künstler. Aber nur diesem ! L.
284
DER KÜCHENGARTEN.
(SCHLUSS.)
an sollte auch das Karottenbeet im Spätherbst wohl
beobachten, da manche Blätter eine wunderbare rote
Färbung erhalten und sich zu Blumenarrangements
wohl eignen. □
Zu den Umbelliferoen gehören im Küchengarten auch noch die
Petersilie, das Kerbelkraut, der Fenchel und die Angelica.
Viele der Pflanzen dieser Familie besitzen einen scharfen, aro -
matischen Geruch und Geschmack, der bei der Angelica und
dem Kümmel wohl am stärksten ist; die Verwandtschaft des
Geruches ist deutlich beim Kerbel, der Sellerie und der Peter -
silie zu sehen. Auch bei der hübschen Myrrhe, die ihrer An -
mut wegen in keinem Garten fehlen sollte; sie ist für eine
Frühlingspflanze sehr gross und hat reizende, fein geschnittene,
blassgrüne Blätter und wirklich hübsche Blüten. Sie ist die
wohlriechende „Süssdolde“ des altenglischen Gartens. □
Der Fenchel ist eine so hübsche Pflanze, dass er auch in dem
Blumengarten am Platze wäre; die kräftigen, verzweigten
Blütenstengel sind in solchen anmutigen Gruppen zwischen den
feingeformten Blättern verstreut, dass sie bei gutem Wachstum
wirklich schöner als die gigantischen, nordafrikanischen
Fenchelarten sind. Er ist natürlich nicht so gross; ich glaube
aber, obwohl ich im Garten kein Durcheinander liebe, dass der
gewöhnliche Fenchel nicht die verdiente Beachtung geniesst.
Ich habe mich erst vor kurzem davon überzeugt, wie gut er
sich im geschnittenen Zustande verwenden lässt, als ich in
einem Nachbarhause ein wunderhübsches Arrangement von
kräftigen gelben Fenchelblüten und spanischen Kastanien -
blättern sah. □
Unter den Gartenpflanzen gibt es nicht viele Unbelliferoren.
Dazu gehört der grosse Heracleum, eine hübsche Pflanze für
einen kühlen, sumpfigen Ort, und der Eryngium, dessen Blüten
auf eine ganz andere Art als bei den anderen Pflanzen dieser
Art verteilt sind. □
Zu den Umbelliferoen zählt auch ein sehr schädliches Unkraut,
das Aegopodium, das wie eine kleine Angelica ausschaut und
riecht; wenn seine sich rasch verzweigenden Wurzeln aber ein -
mal auf irgendeinem Flecke zu wuchern beginnen, sind sie fast
unausrottbar. □
Eine gute Zwiebelernte ist eine Freude für den kulinarischen
Winkel eines Gärtnerherzens, und ich finde die wenigen, zur
Aussaat zurückgelassenen grossen silberigen Samenkapseln, die
von den grossen Blütenstengeln mit der sonderbar fleischigen
Basis getragen werden, sehr malerisch. Die Schalotten stehen
reihenweise wie Soldaten da, so regelmässig und in so gleichen
Abständen voneinander wachsen sie, und ihre geraden, dunkel -
grünen Blätter erinnern an gut gedeihende Jonquillen. Der
Schnittlauch ist eine zum Einfassen gut geeignete Pflanze, die
in dichten Büscheln wächst und deren feingewiegte Blätter im
Salat gut schmecken. Eine Reihe von Lauch ist ein hübscher
Anblick, sowohl wenn er wächst, als auch wenn er als Ge -
müse angerichtet wird; er ist die mildeste Gattung der
Zwiebeln. Der wilde Knoblauch mit seinen weissen Blüten -
büscheln und breiten, tiefgrünen Blättern, die so an das Mai -
glöckchen erinnern, ist eine sehr hübsche Pflanze; er bildet in
den benachbarten Wäldern so schöne, grüne Flächen, dass ich
mich immer versucht fühle, ihn in meinen Garten zu setzen,
wovon ich nur durch sein starkes Wuchern und den unange -
nehmen Geruch, den er bei der blossen Berührung oder auch
nur bei geringstem Wind ausströmt, abgehalten werde. □
Es gibt viele Abarten des Lauchs (Allium), die in Gärten ge -
zogen werden; der bestbekannteste davon ist der gelbblühende
Allium Moly. Ausserdem gehört der Allium Neapolitanum
dazu, der zu den frühesten Frühlingsblumen zählt und eine
sehr schöne Abart mit einem grossen Stengel und einer runden,
schönen, blauen Blüte (A. azureum) besitzt, die aus Sibirien
stammt und nur selten anzutreffen ist. □
Auf den ersten Blick findet man zwischen Erdäpfeln und
Tomaten nicht viel Gemeinsames, und doch sind sie nahe ver -
wandt, tragen dieselbe botanische Bezeichnung Solanum und
stammen aus derselben Gegend, und zwar aus dem Norden
Südamerikas. Es besteht auch zwischen ihren Blüten und teil -
weise zwischen den Blättern eine Ähnlichkeit, und auch die
runden Beeren der Kartoffeln erinnern an die reifende Frucht
der Tomate. □
Viele Arten der Solanumgattung haben einen seltsamen und
etwas unangenehmen Geruch, der sich in den Tomatenblättern
und bei dem im Walde wachsenden Nachtschatten (Solanum
dulcamara) bemerkbar macht. Die Blätter und Stengel der
Tomate haben eine zarte obere Schicht, die sich bei der zar -
testen Berührung ablöst. □
Im Süden Englands wächst die schöne Schlingpflanze Solanum
jasminoides, deren Blätter ab und zu ein bronzefarbiges
Schwarz annehmen, das sich von dem zarten Weiss der Blüten
wundervoll abhebt. Der Solanum crispum ist ein grosser Strauch
unserer südlichen Gegenden, der im April und Mai mit reichen,
lavendelblauen Blütentrauben bedeckt ist. Mit den Solanums
sind die Daturas verwandt, die für ein kühles Gewächshaus
geeignet sind und im Sommer in Kübeln draussen stehen
können. □
In diesen durch einen Rundgang durch den Küchengarten an -
geregten Bemerkungen habe ich nur die hervorragendsten der
darin enthaltenen Pflanzen hervorzuheben und zu zeigen beabsich -
tigt, wie mein Interesse für dieselben durch die Erinnerung an
ihre Herkunft, Entwicklung und an ihre Verwandtschaft unter -
einander und mit anderen Gartenblumen und wilden Pflanzen
hervorgerufen wurde; sie können aber auch noch von einem
anderen Standpunkt betrachtet werden, den ich immer einzu -
nehmen bestrebt bin. Er besteht darin, dass sie, wenn es nur
irgend möglich ist, in einer malerischen und wohlüberlegten
Weise gepflanzt werden sollten, wie ich es zum Beispiel bei
der Beschreibung des Ziehens von Bohnen an Stangen erwähnt
habe. Eine von diesen Pflanzen, und zwar die Kürbisgattung,
kann mit Erfolg zur Überwucherung unscheinbarer Hügel und
Gräben oder als eine zeitweilige Schutzwand und eine Ver -
kleidung von hohen Scheunendächern verwendet werden. Auch
eine andere Abteilung des Gartens sollte gepflegt werden, und
zwar ein Beet von feinen Kräutern. Es sollten sich darin zwei, drei
Exemplare von Nelken, Thymian, Kerbelkraut, Estragon,
Salbei, Melisse, Majoran, Fenchel, Suppensellerie und Peter -
silie, Gurkenkraut, Minzen und eine Magnolie befinden. □
Es ist viel besser, wenn die Köchin sich das Bukett für eine
feine Suppe oder Sauce zusammenstellt, indem sie sich die
dazu gehörenden Ingredienzien selbst frisch pflückt, wobei die
kleinen Pflanzen in ihren Augen ein lebendiges Interesse gewinnen.
285
LIEDER.
MÄRCHEN VON FJODOR SSOLOGUB.
Es war nichts Besonderes an ihm, er sah wie ein Vagabund
aus, wanderte durch Städte und Landstrassen, sass spät in
Schänken, vergaffte sich in lustige Mädchen und hatte sich
nichts erspart, so dass man ihm nicht viel Ehren erwies. □
Manchmal ging er aber zum Kreuzweg hin und sang, und er
wusste solche Worte, dass ihm alles antwortete: die Vögel im
Walde, der Wind im Felde und die Wellen im Meere. □
Der Hund, der viel und grundlos bellte, sagte aber: □
„Schlecht, schlecht! Es ist lauter Unsinn !“ □
Und der schlaue Fuchs sagte: □
„Schlecht, schlecht! Er singt nur von irdischen Dingen und hat
ganz an Gott vergessen." □
Was macht das aber ? Dafür gab ihm alles Lebende Antwort:
die Vögel im Walde, die Meereswellen und die wilden
Winde. □
DIE MÄRCHEN AUF DEN BEETEN
UND DIE MÄRCHEN IM SCHLOSS.
Es war einmal ein Garten und darin wuchsen Märchen auf
den Beeten längs der Wege. □
Es gab dort verschiedene Märchen: weisse, rote, blaue, lila und
gelbe; manche davon dufteten süss, andere dufteten zwar nicht,
waren aber dafür sehr schön. □
Der Gärtner hatte einen Sohn, der diese Märchen jeden Morgen
lange bewunderte. □
Er kannte sie alle und erzählte seinen Kameraden auf der
Strasse oft davon; man liess in diesen Garten keine einfachen
Kinder herein, da es der Garten einer grossen Kaiserin war.
Die Kinder erzählten von den Märchen auf den Beeten ihren
Müttern und Vätern, diese erzählten es ihren Bekannten, und
so verbreitete es sich immer mehr und mehr. Auch die Kaiserin
erfuhr, dass bei ihr im Garten Märchen wuchsen. Sie wünschte
sie zu sehen. □
Und da schnitt der Gärtner eines Morgens viele Märchen ab,
machte daraus einen grossen, üppigen Strauss und schickte ihn
ins Schloss. □
Der Gärtnersohn weinte, weil man die Märchen abschnitt, man
hörte aber nicht auf ihn. □
Man kann doch nicht alle Tränen beachten ! □
Die Kaiserin sah die Märchen an, wunderte sich und sagte:
„Was ist denn daran Besonderes? Das sollen Märchen sein?
Das sind die gewöhnlichsten Blumen." □
Und man warf die armen Märchen auf den Hof hinaus und
prügelte den Gärtnersohn fest durch, damit er keinen Unsinn
mehr reden sollte. □
DAS ZUCKERBROT.
Ein Mädchen hatte in einem Papier ein Zuckerbrot. □
Sie hatte früher viel davon gehabt, sie hatte sie aber aufge -
gessen und es blieb nur das eine übrig. □
Da lachte das Mädchen: „Soll ich es selbst essen oder den
Armen schenken ?" □
Und es dachte: „Ich werde es einem armen Mädchen geben."
Dann dachte es aber: „Ich will es lieber mit den Armen
schwesterlich teilen." Und es ass das halbe Zuckerbrot. □
Dann dachte es wieder: „Ich werde beim nächsten Zuckerbrot
damit anfangen und werde jetzt die halbe Hälfte fortgeben."
Und es ass selbst die halbe Hälfte. □
Und es blieb so wenig übrig, dass es sich nicht mehr lohnte,
es dem armen Mädchen zu geben, und das Mädchen ass auch
den Rest selbst auf. □
DIE AUGEN.
Es war einmal ein schönes, schwarzes Augenpaar. Es schaute
und fragte. □
Es gab auch graue, schlaue Äuglein, die immer hin und her
eilten und niemand gerade anschauten. □
Da fragte das schwarze Augenpaar: □
„Was eilt ihr ? Was sucht ihr ?" □
Da liefen die Äuglein hin und her, eilten und sagten: □
„Wir tun es nur so, immer langsam und ein klein wenig,
es geht ja nicht anders, ich bitte,
werden schon selber wissen."
Und dann gab es trübe, freche Gucker,
starr an.
Da fragte das Augenpaar:
„Was schaut ihr ? Was seht ihr ?"
Da schielten die Gucker und schrieen:
„Ja, wie wagen Sie es? Wer sind Sie?
Wir werden es Ihnen zeigen!"
Das Augenpaar suchte ebenso schöne Augen, wie sie selbst es
waren, fanden aber keine und schlossen sich. □
es muss ja so sem,
Sie
Sie
□
schauten einen
□
□
□
□
Wir sind schon wer!
□
DER GEFANGENE TOD.
In alten Zeiten lebte ein tapferer und unbesiegbarer Ritter. □
Es gelang ihm einmal, sogar den Tod gefangen zu nehmen.
Er brachte ihn in seine feste Burg und setzte ihn ins Ge -
fängnis. □
Der Tod liess es sich gefallen und blieb dort sitzen, die
Menschen hörten aber zu sterben auf. □
Der Ritter freute sich und dachte: □
„Es ist so gut, aber beschwerlich, man muss ihn immer hüten.
Es wäre am besten, ihn umzubringen." □
Der Ritter war aber gerecht und konnte ihn nicht ohne Gericht
umbringen. □
Da kam er zum Gefängnis, stellte sich vor das Fenster und
sagte: □
„Tod, ich will dir den Kopf abhauen, denn du hast viel Böses
auf der Erde getan." □
Der Tod schwieg aber nur darauf. □
Da sagte der Ritter: „Ich gebe dir eine Frist, rechtfertige dich,
wenn du kannst. Was sagst du zu deiner Entschuldigung?"
Und der Tod antwortete: „Ich werde dir vorläufig nichts ant -
worten, das Leben soll statt mir reden/' □
Und da sah der Ritter das Leben neben sich stehen: es war
ein üppiges, rotbackiges, aber hässliches Weib. □
Und es begann so widerliche und unreine Reden zu führen,
dass der tapfere, unbesiegbare Ritter erzitterte und schnell das
Gefängnis öffnete. □
Der Tod kam heraus und die Menschen starben von neuem.
Auch der Ritter starb, als seine Zeit kam, ohne jemandem auf
der Welt gesagt zu haben, was er von dem Leben, dem häss -
lichen und unreinen Weib gehört hatte. □
286
DENKMALIDEEN.
I ch bin an den zahllosen Standbildern, mit denen das XIX.
Jahrhundert die freien Plätze und Strassenwinkel der euro -
päischen Städte bevölkerte, vorübergegangen. Schliesslich
habe ich kaum mehr hingesehen ; ich hörte verschiedene Namen,
aber es war immer nur: Mann zu Pferd, Mann zu Fuss, oder
auf dem Sockel sitzend. Beiwerk: Leyer und Schwert, Palette,
Buch, Kanonenrohr, Notenrollen, oder mehreres davon zusammen.
Aber alle Denkmäler, die das XVII. und XVIII. Jahrhundert
in den Kirchen errichtet hatten, waren tiefes Erlebnis. Im
Innern der Gotteshäuser bleiben sie immer mit der Architektur
im Zusammenhang, als Teil der Raumkunst. Die Personifika -
tion abgezogener Begriffe ist zwar auch dann noch für den
Bildhauer verbindlich, die Allegorie, aber sie gewährt ihm
künstlerische Freiheit. Die Göttin der Weisheit, der Tugend,
der Tapferkeit, der Klugheit, der Gerechtigkeit umstehen die
Sarkophage, auf denen sich das Bild des Unsterblichen abhebt,
eine Säulenarchitektur umstellt das Werk und ein steinerner
Baldachin wölbt sich darüber. Die Denkmalkunst zweier Jahr -
hunderte findet sich in Cellini. Aber es gibt zahlreiche Werke,
die rein Architektur sind. Eine Verbindung von schwarzem
und weissem Marmor, die Heraldik mit Gold, Rot und
Himmelblau weist dem koloristischen Element in der Denkmal -
kunst eine bedeutende Rolle zu.
Weiter zurück ins XVI., XV. und XIV. Jahrhundert wird die
Plastik immer strenger, immer erhabener, immer mehr Archi -
tektur. Es sind nicht die Moralitäten, die Allegorien, sondern
nur die Heiligen selbst, denen Denkmäler gesetzt werden. Aber
sie sind ganz unlöslich mit dem steinernen Gefüge der goti -
schen Dome verwachsen, ein organisches Glied dieser Baukunst.
Die Steinmetze selbst gehören dem Verbände der Bauhütte an,
sie schaffen in der Zucht der Architektur und in ihrem Geiste.
Ihre Plastik ist Architektur wie die steinernen Ritter auf den
Platten alter Kirchengrüfte und wie der liebe, alte Roland am
Bremer Marktplatz. Unsere gesamte realistische Denkmalplastik
hat nicht so viel künstlerisches Leben, wie diese Steine. Unsere
Denkmalkunst ist auf den Hund gekommen, als sie ins Freie
trat und den Einklang mit der Architektur aufgab. Die un -
glückliche Platzwahl, die Unklarheit über den Begriff des
Monumentalen hängt damit zusammen. Einzelne moderne
Künstler suchen instinktiv die monumentale Wirkung äusser-
lich zu erreichen, indem sie die Dimensionen übertreiben.
Innerhalb der Plastik streben sie baukünstlerische Wirkungen
an. Der Schöpfer des Bismarck-Denkmals hat sich aus einer
Verlegenheit gerettet, indem er seinem Bismarck die Gestalt
Rolands lieh. Aber dem mächtigen Bismarck, den die ein -
fahrenden Schiffe im Hamburger Hafen von weitem erblicken,
ist der alte, naive Roland, der in Bremen mit dem Marktvolke
umgeht, unendlich überlegen. Es wird selten beachtet, dass die
Denkmalplastiken im Freien im Verhältnis zur Platzgrösse ent -
weder zu klein oder zu gross sind. Ausnahmslos sind sie zu
hoch. Max Klinger wusste wohl, warum er sein Brahms-Denk -
mal mit der Architektur eines kleinen Rundtempels umgab.
Die Unfähigkeit seiner Juroren gab, wie vorauszusehen, der
Schablone III : „Mann, auf dem Sockel sitzend“ den Vorzug.
Der kirchliche Gedanke des Mittelalters, die allegorische Welt -
verherrlichung der Renaissance, der nüchterne Realismus der
Neuzeit, die sich kleinlich und phantasielos an die leibliche
Alltagserscheinung hält — in diesen Hauptzügen entwickelt sich
die Denkmalkunst. Es bedarf neuer Ziele, sie aus dem tiefen
Verfall ihres letzten Stadiums zu erheben. Das Ziel ist nicht
die Wiedergabe der körperlichen Wesenheit, obzwar ein grosser
Künstler auch darin Grosses noch immer vollbringen kann.
Grösser aber ist jener, der von dem Längstdagewesenen erlösen
wird. In allen Gebieten werden neue Symbole gesucht, die eine
Vergeistigung des neuen Lebensinhaltes darstellen. Körperliche
Schönheit, wie die eines Ringkämpfers, mag als Vorwurf für
eine porträtmässige Plastik immer gelten; in anderen Fällen aber
wird der Künstler unabhängig und neugestaltend verfahren müssen.
Wie immer schwankend und unbestimmt die Meinungen und
Auffassungen sein mögen, das Gesetz der alten Kunst ist für
die neue Denkmalkunst verbindlich, dass sie zum Ganzen
streben, ein organisches Glied der Weltgestaltung, kurz Archi -
tektur werden, oder von hier ausgehen müsse. Im Ganzen mag
es einen Zweck erfüllen, der sich architektonisch ausdrückt und
einen Seeleninhalt oder ein Gedächtnis überliefert: es mag
dann eine Ruhebank, ein schönes Tor, ein Rosenbeet, einen
Kinderspiel- oder Tanzplatz, architektonisch bedeutsam gemacht,
darstellen, und der Name, der sich damit verknüpft, wird nicht
schwinden, während anderseits die Mehrzahl unserer heutigen
Denkmäler nichts bedeutet und eigentlich nur im Wege steht.
L.
287
Trinkhalle in einem Parke
Von Arch. A. Holub
Gedeckter Kinderspielplatz im Freien V on Arch. A. Holub
290
DIE IDEE EINER GUTEN KUNSTSCHULE.
D ie Idee einer guten Kunstschule hat meines Wissens noch
nirgends eine greifbare Form gefunden. Ich meine einer
Schule, wo man nicht „lernt“ im pedantischen Schul -
meisterbetrieb, sondern Kräfte entwickelt an selbstgestellten
Aufgaben und an einer freiwilligen Arbeit, die ein Suchen und
Mühen ist, mit dem zeitweiligen Lohn des Findens und Ge -
lingens und aller Härte des Schöpferglücks; einer Schule, die
ein Organ des öffentlichen Lebens ist, das Herz im Gemeinde-
und Staatskörper, das selbst das Lebenstempo im nationalen
Haushalt bestimmt und Impulse gibt. Denn es gehört zur Idee
einer guten Kunstschule, wie einer guten Schule überhaupt,
dass sie nicht Bevormundungen erduldet, sondern die Rechte
der Selbstbestimmung übt; zu ihrem Gedeihen gehört das le -
bendige Interesse des Staates und der Gemeinde, nicht um von
diesen reglementiert und vergewaltigt, sondern durch ständige
Aufträge gefördert zu werden. Diese Schule hat keine Vorschriften
zu empfangen, sie hat sie vielmehr zu geben. Sie ist in der
Lage, den Staat und die Gemeinde auf künstlerische Bedürf -
nisse aufmerksam und Vorschläge zu machen, ehe die Ver -
waltung diese erkannt hat. Die Öffentlichkeit und ihre Ver -
waltungskreise haben nur zu nehmen. Jetzt gibt die Schulbe -
hörde in Form von Almosen und Stipendien und kümmert
sich weiter nicht um das Gedeihen. In guten Verhältnissen
wird es umgekehrt sein: die Schule wird geben; sie wird Arbeit
geben, die der Öffentlichkeit zugute kommt, und sie wird
nicht mit Almosen beschenkt, sondern nach Verdienst entlohnt
werden und ein Schulvermögen bilden, das sie selbst verwaltet.
Der Gedanke liegt zugrunde, dass die jungen Menschen möglichst
früh zur Leitung und zu Einfluss gelangen. Damit hängt zu -
sammen, dass die Schule bei ihren Arbeiten die Gegenwart und
das Leben der eigenen Stadt oder des eigenen Landes im Auge
hat; dass sie die praktischen und öffentlichen Aufgaben kennen
lernt und auf Grund eigener Erkenntnisse und selbstgewonnener
Anschauungen schafft. Ihr Schaffen wird ein Lernen sein. Ich
kenne kein erspriesslicheres Lernen, als ein unmittelbares Er -
greifen eines Arbeitsgebietes, ein Aufsaugen des neuen Stoffes
durch selbständige Forschung und schöpferische Betätigung.
Im öffentlichen Leben erwachsen Hunderte von Aufgaben, die
von der Kunstschule selbständig gelöst werden können. Die Ge -
meinden brauchen Schulen, öffentliche Gärten, Trinkpavillons,
Kinderspielplätze, Aussichtswarten, Denkmäler, Brunnen, eine
Unzahl von Neugestaltungen und Anlagen, die in der Schule
erkannt werden und von ihr ausgeführt werden könnten. Sie
bringt diese Gedanken zu Papier, unvollkommen vielleicht im
ersten Entwurf, aber jene Vollkommenheit versprechend, die
nur durch die Ausführung in die Sache kommen kann. Die
Öffentlichkeit als Staat und Gemeinde hat die Pflicht, diese
Anregungen und die sich rührenden Triebkräfte gewähren zu
lassen. Sie hat ein eigenes Interesse daran, dass die Welt das
geistige und künstlerische GEPRÄGE DER JUGEND empfange.
Jetzt hat sie die Züge des eigensüchtigen, verknöcherten Alters,
in guten Verhältnissen wird sie den Glanz der Jugendlichkeit
tragen. Die Jugend ist vor allem künstlerisch befähigt, in
UNEIGENNÜTZIGKEIT und reiner FREUDE AN DER
SACHE zu arbeiten; sie sieht eine ganze Weit in strahlender
Heiterkeit und Anmut und ist von dem edlen Feuer beseelt,
den schönen Traum ihrer Welt zu verwirklichen. Das Alter,
Marktuhr
Von Arch. A. Holub
Aossiclitswarte
Gartenbank aus Stein
Von Arch. H. Stubner O
Von Arcb. H. Stubner
das uns heute in allen Dingen bevorrechtet, sieht nur Stück -
werk ; seine Triebfeder ist in der Regel filziger Eigennutz, sein
Ehrgeiz der persönliche Vorteil auf Kosten des Ganzen. Wer
sich die Mühe nimmt, die werktätigen Gesinnungen von heute
zu analysieren, wird auf diese Elemente kommen. □
Noch eine andere Rücksicht verbindet den Staat und die Ge -
meinde zu dieser Pflicht gegen die Schule — Gemeindewesen
und Staatswesen leben von der Kraft des produktiven Menschen,
dessen Entwicklung und Selbständigkeit sie so früh wie
möglich im eigenen Interesse fördern sollten. Sie dürften sich
die kostbarste und uneigennützige Kraft der Jugend nicht ent -
gehen lassen, die imstande ist, neue Werte hervorzubringen
und den Alltag in Schönheit zu kleiden. Sie können ein Beispiel
geben, das für die privaten Bedürfnisse Richtung gibt und volks -
wirtschaftlich bedeutsam ist. Das Entscheidende liegt darin, dass
Staat und Gemeinde Konsumenten sind, dass sie in den also
hergestellten Dingen die unvergängliche Nützlichkeit von Ge -
brauchswerten sehen müssen, die weiter wirken und kultur -
fördernd sind. Ihnen käme die Rolle zu, die einst der Fürst
der Kunst gegenüber inne hatte, die Rolle eines Mäcens, der
die künstlerische Produktion für seinen Lebenshalt braucht. Er
hat nichts gemein mit jener anrüchigen Sorte gewinnsüchtiger
„Mäcene“, denen die Kunst Tauschwert und gut verzinste Ka -
pitalsanlage bedeutet, ein Handelsobjekt. q
Es gibt kein Bedenken darüber, dass auch minderwertige Schulen
mit in die Konkurrenz treten. Wenn der gesamte Organismus
auf die künstlerischen Kräfte gestellt ist, wird sich bald zeigen,
wo das Übergewicht liegt. In dem heutigen Zustand der Bevor -
mundung und der Schwächestandspolitik ist es allerdings möglich,
dass die wenigen Tüchtigen von der verbündeten Schwachheit
an die Wand gedrückt werden. Denn der Kampf wird überall
und auch in der Kunst nicht mit den sachlichen Mitteln, sondern
mit den Waffen der Erbärmlichkeit geführt. Die gute Kunst -
schule und ihre Bedingungen haben wenig Hoffnung auf Bestehen,
die Idee einer solchen Schule ist in dem verflackernden Gehirn
der Schulregenten nicht erwacht und hat keine Hoffnung, dort
aufzukommen. |-j
Es darf eben nicht vergessen werden, dass im Kerne jeder guten
Schule ein Meister und fertiger Künstler steht, und dass in
jenen idealen Zuständen die Kraft des Meisters den Sieg der
Schule und die Herrlichkeit der sichtbaren Kultur entscheiden
würde heute wird die Entscheidung vom Eigennutz, der
Anmassung und der Unfähigkeit geführt. Diese allgemeine Ge -
sinnung lastet als schwerer Druck auf der Schule und hemmt
oie Entfaltung; die herrschende Habgier vergiftet die jungen
Seelen, das Reglement, die Gebundenheit des Daseins in einer
engherzigen, philiströsen, von Dummköpfen und Spitzbuben be -
herrschten Welt lässt die innere Freiheit in der Schule nicht
aufkommen, und das ausnahmsweise Gute kann sich nur
schwer behaupten. ^
Wenn irgend einmal die Idee einer guten Kunstschule Ver -
wirklichung fände — die Welt müsste staunen über den Glanz
und Reichtum, der von dieser Stätte ausgeht. L.
292
EIN KLEINES LANDHAUS IN FINNLAND.
Is gegen den Jafirhundertwechsel in der finnländisclien
Architektur die neue Zeit in plötzlichem Ungestüm ein -
brach, geschah es im Zeichen des Nationalismus.
Aber dieser Nationalismus war einer eigentümlichen Art s
rücksichtslos archaistisch; ausgeprägt romantisch gefärbt. □
Es ging mit Siebenmeilenstiefeln; man wollte in einem Sprunge der
Vergangenheit ihre geheimnisvolle Schönheit rauben — und fiel
in die graueste Vorzeit hinein. Diese Architektur stand den
Anforderungen des modernen Lebens fremd gegenüber; zwischen
jenen und der phantastischen Spukstimmung der alten Formen -
welt gab es keinen Zusammenhang. □
Es ist wahr das Interesse an den dazwischenliegenden Jahr -
hunderten erstreckte sich nicht über die Architektur. In der
kirchlichen Baukunst trat zwar neben dem Typus der alten,
urwüchsigen Granitkirchen eine neue Form auf: die Holzkirche,
oft reizend ausgeprägt. In der privaten Baukunst gab es aber
eigentlich keine bemerkenswerten Vorbilder; die Armut des
Landes gestattete in dieser Hinsicht eine wirkliche Entfaltung
überhaupt nicht. □
Der Verfasser gehört nicht zu jenen, die mit aller Gewalt nach
einer rationellen Kunst schreien. Ihm scheint eine SACH -
LICHE Kunst das Erstrebenswerte; eine Kunst, unserer Zeit
angehörig. Sind aber wirklich GUTE Vorbilder da — wohlan,
sie sollen ausgenützt werden. □
Und vielleicht ist Finnland einer solchen heimischen bürger -
lichen Bauweise, deren Haupterscheinung sich unter besonderen
Umständen einer modernen Gesinnung gut einfügen lässt, nicht
völlig bar. □
Es gibt in unseren Kleinstädten wie auf dem Lande noch
Häuser dieser im achtzehnten Jahrhundert aus Frankreich über -
kommenen Gestaltung, deren Hauptmerkmal das länglich aus -
gezogene, gebrochene (Mansard-) Dach ist. Es sind in der
äusseren Formengebung fast asketisch schlichte, nur durch die
Silhouette wirkende Gebäude, ein oder zwei Stockwerke hoch,
darüber dann noch die Dachzimmer. In einzelnen Fällen in
Ziegeln aufgeführt, sind sie meistens aus Holz. Häufig kommt
doch hiebei vor, dass die Aussenwände nachher verputzt
worden sind, was zu der schlichten, einheitlichen Wirkung sehr
beiträgt. □
Ein anspruchsloser Versuch, dieses Mansard-Haus künstlerisch
neu zu beleben, wird hier durch einige Bilder vorgeführt. D
Über die Absichten des Verfassers wie über die künstlerischen
und wirtschaftlichen Vorteile dieses Typus mag das Folgende
zur Klärung dienen. □
Es schien diese Gebäudeform durch ihre ausgeprägt TRAU -
LICHE Erscheinung dem Wesen des in sich geschlossenen, vom
Verkehr noch nicht viel gestörten finnländisclien Landlebens
sich gut anzugliedern. □
In ihrer Schlichtheit wirkt sie mit einer gewissen Monumen -
talität und passt sich der Natur vorzüglich an. □
Jedoch wurde der herkömmlichen Form nur in den Haupt-
Zügen gefolgt. n
Eine Neuerung war das Ausbauen der oberen Giebel über die
untere Wand; dies wurde dadurch ermöglicht, dass die Giebel
in doppelter Bretterverschalung, nicht von Balken, ausgeführt
sind, und zwar der Rauheit des Klimas wegen mit zwischen -
gelegter Füllung. Das Verfahren ergab in der Fassade den
Vorteil eines prächtigen Schattens; es kommt dazu noch der
Farben- und Materialkontrast: die untere Wand ist verputzt,
der Giebel von weiss bemalten Brettern hergestellt, mit roten
Latten über den Fugen. □
Im Innern wurde erzielt: grössere Tiefe bei den Dachkammern
wie die Möglichkeit zum Anlegen ausgebauter Fenster und
Erhalten von Wandschränken. □
Der loggienartige Balkon ist ganz ins Dach hineingebaut, was
mit besonderer Rücksicht zum Klima gemacht ist; auf mehr
denn zwei Seiten offene Veranden sollten bei uns niemals
geplant werden, weil es nur selten so warm ist, dass man den
Zug gern möchte. In diesem Sinne ist auch der kleine Sitz -
platz am Eingang angelegt. □
Die erkerartigen Ausbauten sind nicht zum Boden nieder -
geführt, nur in Tischhöhe. Sie sind als Blumenbehälter gedacht
und sollen dazu noch den sehr mässigen Zimmern eine schein -
bare Vergrösserung geben. □
Das Dach ist von feinen Schindeln grünlich getönt. Die Fenster -
rahmen sind im Untergeschosse weiss gestrichen, mit roten
Brettern eingefasst; im Dachgeschoss rot. Die Fensterläden
wieder mit gelöstem Teer gefärbt. □
Im Innern sind, der Billigkeit halber, Brechungen in den
Wänden möglichst vermieden; es liegt hier schon im Typus ein
bemerkenswerter Vorteil, indem dieser ausgeprägt kasten -
artig ist. □
Was die innere Ausstattung betrifft, ist sie durchaus in den
Ofen konzentriert. Hier ergab sich von selbst die Möglichkeit,
mit den einfachen Materialien — Ziegeln und Putz — eine
besonders malerische Wirkung zu erhalten. Dem Besitzer —
dem jungen Bildhauer Emil Freiherrn Cedercreutz — sollten
sie zum Aufstellen von Skulpturen dienen; schon deshalb ihre
durchgehends niedrige und breite Form. Die Zimmer sind niedrig,
zirka 3 und 2*8 Meter hoch; im Untergeschosse wie in der
Diele mit Balkendächern versehen (letztere in den Abbildungen
leider nicht sichtbar). □
Ein überaus vorzüglicher Effekt wird durch die alten Knüpf -
teppiche erzielt, die, vom Besitzer in der Umgegend gesammelt,
zu Dutzenden die Böden bedecken und mit ihren gedämpften
und doch klaren Farben eine entzückende Wirkung ab-
geben. □
Die Möbel, teilweise alt, teilweise nach alten Modellen vom
Dorftischler erzeugt, fügen sich der Totalstimmung aufs glück -
lichste ein. □
Zuletzt über den Plan noch ein paar Bemerkungen, dem aus -
ländischen Betrachter absolut nötig. Von der Küche zum Vor -
zimmer ist keine direkte Passage. Ist doch aber diese ganz
entbehrlich; das kleine Haus liegt von den Nachbarn einige
Meilen entfernt; zufällige Besucher kommen überhaupt nicht
vor; Gäste sind selten; den Bewohnern steht die Aussentür
stets offen. Eine Anordnung, die zwar nur in einem spärlich
bevölkerten, was die Provinzen betrifft, noch ganz nach alter
Sitte lebenden Lande wie Finnland möglich ist! □
Ein Bad im Hause fehlt. Ein solches wird aber freistehend,
am Ufer des kleinen Sees, angelegt; es ist dies noch durch -
gehends in Finnland auf dem Lande Sitte. □
GUSTAF STRENGELL, HELSINGFORS.
293
GOETHE ALS LEBENDIGER.
KUNSTSCHÄTZE AM RHEIN, MAIN U. NECKAR.
E s ist eine gewisse Gefahr, „Klassiker“ zu beschwören. Wir stehen alle
noch zu sehr unter dem beängstigenden Eindruck, dass die „Klassiker“
in der Regel dacu missbraucht wurden, die moderne Kunst toteu -
schlagen. In Goethe wollen ewar alle leben, auch jene, die ein bloss antiqua -
risches Interesse mitbringen, allein der ganze Wulst wissenschaftlicher, literar -
historischer Untersuchungen, der zu ungeheurer Goethe-Literatur ange -
schwollen ist, hat nicht vermocht, auch nur einen der lebenden Werte in
Goethes Schaffen für unser Leben fruchtbar zu machen. Für eine Zeit, die
gewohnt war, ihre Kunstfreude ausschliesslich durch die wissenschaftliche
Brille zu untersuchen, ward MEHR GOETHE, in Wirklichkeit
WENIGER GOETHE; die Gewohnheit, viel über Goethe und wenig
oder nichts von Goethe zu lesen, trug dazu bei, die literar historische
Weltentrücktheit des „Klassikers“ zu versichern. So ward der Begriff
„Klassiker“ eine Drohung, die nicht nur die Jugend der niederen und
hohen Schulen mit den Ängsten des Alpdrückens erfüllte, sondern auch
die künstlerische Entwicklung in den Starrbann versetzte, bis das stärkere
Leben zum Trotz ermannte und das Erlösertum des Ketzers schuf . . . . □
Und nun 1 Wir alle, denen die Aufgaben der künstlerischen Bildung am
Herzen liegen, erkennen in allem, was wir treiben und lieben, unzählige
Beziehungen, die unsere Sache mit Goethe verbindet. Was wir immer an alter
Kunst schätzen und verehren, wir können es nicht anders tun, als in
lebendiger Beziehung zu unserem gegenwärtigen Leben und seiner Zukunft.
Was nicht diesem Zweck dient, kann für uns in Wahrheit nicht bestehen.
Für unsere Sache erscheint Goethe als Lebendiger — nicht als „Klassiker“,
aus dem die Beckmesser und Scharfrichter der Kunst einen strafenden Ju -
piter in verstaubter Puderperücke gemacht haben. ■
Was also heisst am Ende in Goethe leben ? Was uns bewegt, hat auch
den Grossen zu seiner Zeit beschäftigt. Manches Zeitliche ist abgefallen,
aber was für uns bedeutsam ist, liegt nicht so sehr an den Dingen, als an
dem Geist, mit dem er die Dinge zu erfüllen wusste. Sein Tun hat die
Kraft eines lebendigen Beispiels. Es wird am stärksten in seinen kleinen
Schriften offenbar, die am wenigsten gelesen werden und die fast unbekannt
sind, obzwar sie, oder vielleicht gerade weil sie allen Klassikerausgaben
beigefügt sind. Es erscheint uns nun als eine fast verdienstliche und zeit-
gemässe Sache, eine Auswahl jener Schriften Goethes in unseren Heften
abzudrucken, die in einem gewissen Zusammenhänge mit den Dingen
stehen, die wir pflegen. Dazu gehören alle Schätze der neuen und alten
Kunst, sofern sie für uns leben können, neue und lebende Werte dar -
stellen. Die Reisenden-Aufsätze über die Kunstschätze am Rhein, Main
und Neckar enthalten einen ganzen Schatz solcher lebender Werte, mit
dem die Leser wenig anzufangen wussten. Nun es aber gelungen ist, mit
Unbefangenheit zuzusehen und den Blick für die neuen Eindrücke offen
zu halten, stellt es sich heraus, dass es eine entzückende Reise ist, reich
an originellen Wahrnehmungen und Erfahrungen und an Ausblicken, die
über das Jahr 1814/15 bis reichlich 1906 und darüber hinaus reichen.
Schon die Art des Reisens und des Geniessens ist eine höchst vergnügliche
und angenehm belehrende, reichlich verschieden von der Art, wie man
sich heute in solchen Dingen zu benehmen pflegt; der heutige Reisende
sammelt in der Regel Hoteleindrücke. Der Hotelstandpunkt ist für seine
Kenntnis der fremden Stadt massgebend, und der kalt-staunende Besuch
in den Museen, die blinde Hast durch ein paar Säle, sind nicht geeignet,
die Dürftigkeit guter Reiseeindrücke wesentlich zu bereichern. An Goethe
können wir die Kunst des Reisens wieder lernen. Seinem Beispiel zufolge
war es massgebend, die Menschen zu besuchen, die den Ort berühmt oder
rühmenswert machten, ihre Ansichten, ihre Lieblingsbeschäftigung und die
Dinge kennen zu lernen, die sie pflegten und um deretwillen die Reise
fruchtbringend zu werden versprach. Eine Menge von Menschen mit ihrer
Individualität, ihren Vorzügen und Schwächen, ihren Wunderlichkeiten
und harmlosen Narreteien gehörten in die Reisegalerie und in den
wohlversicherten Seelenbesitz, ebenso wie die intime Kenntnis der gese -
henen Dinge, die gleichzeitig eine sehr persönliche Physiognomie
gewannen. Nicht nur weil sie für den Ort bedeutsam waren, sondern
auch für den Besitzer, der eine Menge über die Herkunft des Gegenstandes,
über die Umstände der Besitzerwerbung und die sonstige Hausgeschichte
zu erzählen wusste. Kein Museumsbesuch kann diesen Wert bieten, als der
Besuch bei den Sammlern selbst, deren Liebe eine persönliche Beziehung zu
den Kunstschätzen herzustellen wusste, die sich auch dem Besucher mitteilt.
Der Empfang in Köln liefert den in unserer Zeit durchaus ungewohnten
Beweis, dass an der Kunstliebe nicht allein der kleine Kreis von Kunst -
freunden, sondern ein grosser Teil der Stadtbevölkerung überhaupt beteiligt
war. Wir könnten es uns nicht erklären, wie anders es für die Bürger -
schaft ein Festtag sein konnte, da ein längst vermisstes Bild für die Stadt
Zurückgewonnen wurde. ^
Das Kunstinteresse bleibt nicht allein bei der älteren Kunst oder einem
ihrer Zweige stehen* Es wird bekanntt dass die einheimischen zeitgenös -
sischen Künstler in einer Stadt, die mit den heutigen Städten verglichen
winzig erscheint, reichlich beschäftigt waren* Schon damals gehörte es zu
den Pflichten der gebildeten Einwohnerschaft, die Reste der alten Kunst
zu sammeln und kleine Privatmuseen anzulegen, die einen anregenden
Kunstschatz bildeten* Von Auswüchsen war natürlich auch die gute Sache
nicht frei* Dass man, um die Sammelgegenstände gut unterzubringen, sti -
listische ’Wanddekorationen schuf, die den Geist einer anderen Zeit vor -
täuschten, ist ein nachmals zum Verhängnis entarteter Irrtum gewesen, der
damals in den unschuldigen Anfängen stand* Winkelmanns archäologische
Studien standen an der Schwelle dieses Beginnens* Es ist aber kaum zu
denken, dass die damaligen derartigen Versuche jemals so geschmacklos
ausfielen, als die abschreckenden Beispiele von Stilarchitektur, die wir
aus den heutigen Tagen vor Augen haben* q
Die Sammlertätigkeit erfüllte eine sehr bestimmte und wertvolle Kultur -
arbeit* Es ist nicht leicht auszurechnen, welchen geistigen, künstlerischen
und zugleich wirtschaftlichen Wert eine Stadt durch die Anwesenheit
solcher Sammlungen erhielt* Die Kunstpolitik musste ein Augenmerk darauf
haben, denn die Wirkung der künstlerischen und sammlerischen Tätigkeit
strahlte nach vielen Richtungen aus* Die Stadt war ein Schatzkästlein,
und an dem Geheimnis der schönen und wertvollen Dinge, die es umschloss,
fand der Stolz und die Kunstliebe der Einheimischen JMahrung und An-
regung zum Erhalten und Erschaffen schöner Dinge, hielt die Nahen und
die Fernen in Atem* Wo es Wertvolles zu sehen gibt, strömen naturgemäss
die Menschen hin* Die Qualität und das Talent machen den Erfolg der
Wirtschaft aus* Dabei ward darauf gesehen, dass jeder Ort sein Eigenes
besass* Nicht die Nachahmung, sondern die Eigenart hielt das Interesse
und den Anreiz wach* ^
Aus dem gleichen Bedürfnis sind die Kunstsammlungen entstanden, die
ein durchaus lokales Antlitz zeigen* Was wir heute anstreben : Lokalmu -
seen, welche die Geschichte und die Kunstentwicklung eines bestimmten
kleinen Gebietes zeigen, das Schaffen der Vergangenheit, die Pflege des
Gegenwärtigen und die Vorbereitung des Künftigen, finden wir auf Goethes
Reise in dem fertigen Beispiel vor* Es ist gut, dass wir daran erinnert
werden, was heute zu tun noch so vielfach verabsäumt wird* □
Der Ort, die Stadt und zuletzt der Staat haben ein wohlberechnetes Inter -
esse an der Sache* Die private Sammeltätigkeit zu fördern, gibt ihnen
das Anrecht, sich als den künftigen Besitzer und Nutzniesser der Schätze
zu fühlen* Die Bildung und Entwicklung der Privatsammlungen fördert
die Entstehung der Museen* Diese Museen hatten so lange einen lebendigen
Anteil an dem Kunstleben der Stadt, als sie den privaten Charakter be -
wahrten und einen Kreis von Mitgliedern um sich bildeten, die sich der
Pflege eines bestimmten Gebietes widmeten* □
Den festen Mittelpunkt der Kunsttätigkeit bildete die Architektur* Der
Domausbau war eine Aufgabe, die für die Entwicklung des ganzen Kunst -
gewerbes eines Ortes oder Landes bestimmend sein konnte* Es soll
dabei erinnert werden, dass in unserem bureaukratischen Zeitalter zum un -
berechenbaren Nachteil der wertbildenden Kräfte die Bautätigkeit leider
nicht als eine Aufgabe aufgefasst wird, die die Bestimmung hat, die ge -
samte künstlerische und baugewerbliche Tätigkeit auf ein neues und
höheres Niveau zu bringen. q
Der Dilettant hatte eine wichtige Funktion in der Kunstpflege* Er war
eine ganz allgemeine Erscheinung seiner Zeit; der Umstand, dass sich die
Allgemeinheit dilettierend mit den Künsten zu beschäftigen pflegt und
kein Material unversucht liess, brachte eine gesteigerte Aufmerksamkeit
auf alle Zweige der künstlerischen und gewerblichen Tätigkeit mit und
ein Interesse, das den Berufenen als Förderung diente* Der Künstler und
Gewerbsmann war versichert, ein verständiges Publikum zu finden, das
den Wert seiner Arbeit schätzen oder durch Anregungen befruchten konnte*
Er stand nicht allein* Es ist gar nicht zu ermessen, wie hoch die quali -
tative Leistungsfähigkeit und die werterzeugende Kraft des Volkes ge -
steigert würde, wenn heute noch jene allgemeine künstlerische Bildung
so verbreitet wäre, wie es derzeit etwa die kaufmännische Bildung ist. □
296
KUNSTSCHÄTZE AM RHEIN, MAIN U. NECKAR.
KÖLN.
ach. einer glücklichen Rheinfahrt wurden wir in Köln von
Freunden und Bekannten, ja von Unbekannten mit dem
frohen Grusse überrascht, dass jenes von Rubens für
seinen Geburtsort gemalte, die Kreuzigung Petri vorstellende,
der Kirche dieses Stadtpatrons gewidmete Bild von Paris zu -
rückgebracht werde und nächstens im Triumph zu seiner ehe -
maligen frommen Stelle wieder gelangen solle. Wir freuen uns,
dass einer zahlreichen Bürgerschaft durch eine einfache grosse
Handlung das herrliche Gefühl gegeben sei, nunmehr einem
Fürsten anzugehören, der ihnen in so hohem Sinne Recht zu
verschaffen und ein schmählich vermisstes Eigentum wieder zu
erstatten kräftig genug wäre. Nun durfte man mit desto
froherer Teilnahme Kunstliebhaber besuchen, die sich durch
ihren wiedererscheinenden Heiligen doppelt getröstet und er -
quickt fühlten und den allgemeinen Gewinn als Unterpfand
betrachteten, dass ihrer eigensten Neigung Sicherheit und
Fordernis gelobt sei. □
Wenn nämlich im dreizehnten Jahrhundert die bildende Kunst
am Niederrhein sich zu regen anfing, so schmückte sie vor -
züglich Kirchen, Klöster und öffentliche Gebäude an Mauern
und Wänden, oft auch auf grossen Tafeln mit frommen und
heiligen Gegenständen; die neuere Kunst verschaffte dagegen
auch dem einzelnen Bürger kleinere Bilder, angemessen dem
Innern der Wohnungen und häuslichen Gefühlen. Mit glän -
zender Sinnlichkeit behandelte sie natürliche, beliebte Gegen -
stände und jedermann konnte in seiner eigenen Wohnung an
herrlichen Werken ein stilles Behagen empfinden. □
Solche kunstreiche Umgebungen gehörten nun zu den Bedürf -
nissen des Bemittelten, zum Anstande des Wohlhabenden. Ein -
heimische Künstler wurden beschäftigt. Ein lebhafter Handel
mit Brabant und Holland brachte eine Unzahl solcher Kunst -
werke in Umtrieb. Liebhaberei und Gewinn waren zu ver -
binden und Gewinn belebte die Neigung. Handelsleute taten
sich hervor, welche, in das ferne Ausland wirkend, Kunst und
Künstler förderten. Unter solchen wird der Name Jabach mit
Ehrfurcht genannt. Dieser vorzügliche Mann, umgeben von
seiner wohlgebildeten und wohlhäbigen Familie, wird uns noch
jetzt lebensgross durch ein Bild von Le Brun vor Augen ge -
stellt. Es ist vollkommen erhalten noch in Köln und verdient
als eine der ersten Zierden einer bald zu hoffenden öffentlichen
Anstalt eingeordnet zu werden. □
Nun müssen wir aber jener bedeutenden Richtung gedenken,
welche die Kunstliebe in unseren Tagen genommen. Eine gegen
das Ende des vergangenen Jahrhunderts vorbereitete, in dem
gegenwärtigen aber sich mehr entwickelnde Leidenschaft zu den
Resten der alten Kunst, wie sie sich nach und nach aus dem
trüben Mittelalter hervortat, erhielt reichliche Nahrung, als Kirchen
und Klöster aufgehoben wurden; heilige Gemälde und Gerät -
schaften. Nunmehr konnten die schätzbarsten Dinge, welche bisher
der Gemeine gehörten, in den Besitz des Privatmannes übergehen.
Mehrere Personen in Köln fühlten sich daher veranlasst, der -
gleichen zu retten und zusammenzuhalten. Die Herren Boisserée
Gebrüder und Bertram stellten mit Neigung, Kenntnis, Aus -
dauer, Aufwand und Glück eine Reihe solcher Bilder als
unterrichtenden Kunstschatz zusammen, welcher, gegenwärtig in
Heidelberg befindlich, in Köln ungern vermisst wird. Hier am
Ort jedoch besitzen die Herren Walraff, Lieversberg, Fochem
nebst anderen Personen höchst schätzbare Werte dieser Art.
Da nun aber fast alle solchen Gemälde von Rauch und Staub
mussten behutsam gereinigt, schadhafte Stellen sorgfältig aus -
gebessert und der Goldgrund vorsichtig hergestellt werden, so
bildeten sich Restauratoren, unentbehrliche Personen für jenen
Ort, wo sich ein lebhafter Kunstverkehr entwickelt. Ein herr -
liches Dokument solcher Bemühungen, wo Liebhaber und
Künstler patriotisch kunstverständig zusammengewirkt, ist das
grosse, aus der Ratskapelle in den Dom versetzte Altarbild.
Die mittlere Tafel stellt die Anbetung der heiligen Drei Könige
vor, die Seitentafeln zeigen die übrigen Schutzpatrone der
Stadt, ritterlich und jungfräulich, kühn und bescheiden, fromm
alle miteinander. Der Künstler lebte zu Anfang des fünfzehnten
Jahrhunderts. D
Alle jene, dem Gottesdienst gewidmeten Vorstellungen und
Zierden aber, welche durch die unruhige, zerstückelnde Zeit
von ihren geweihten Plätzen entfernt wurden, schienen in
Privathäusern nicht ganz an der Stelle; daher der heitere, er -
finderische Geist der Besitzer und Künstler an schickliche Um -
gebung dachte, um dem Geschmack zu erstatten, was der
Frömmigkeit entriss. Man ersann scheinbare Hauskapellen, um
Kirchenbilder und Gerätschaften in altem Zusammenhang und
Würde zu bewähren. Man ahmte die bunten Glasscheiben auf
Leinwand täuschend nach; man wusste an den Wänden teils
perspektivische, teils halberhobene klösterliche Gegenstände als
wirklich abzubilden. □
Diese anmutige Dekorierkunst blieb jedoch nicht lange im
Düstern, der muntere Geist der Einwohner führte sie alsbald
ins freie Tageslicht, wo denn der Künstler auch solchen For -
derungen genug zu tun verstand, indem er den Hintergrund
enger, an den Seiten mit Pflanzen und Blumen besetzter Höfe
durch wohlgeratene perspektivische Gemälde ins Unendliche zu
erweitern glücklich unternahm. Alles dieses und so manches
andere, welches auf den Fremden höchst angenehm neu und
bedeutend wirkt, zeugt von einer frohen, frommen, Genuss und
Erhebung verlangenden Sinnlichkeit, die, wenn sie zu Zeiten
des Drucks und der Not sich so tätig und heiter bewies, in
Zeiten der Sicherheit und Ruhe bei zunehmendem Wohlhaben
neu ermuntert gar bald hervortreten wird. □
Betrachtet man also das viele in Köln Verbliebene, Erhaltene,
Neubelebte mit Aufmerksamkeit, so wird man gewahr, wie
leicht eine Regierung hier einwirken kann, wenn die Oberen
und Vorgesetzten zuerst dasjenige freundlich anerkennen, was
von Einzelnen aus freier Neigung und Liebhaberei bisher ge -
schah, und einen solchen frohen Willen auf alle Weise be -
günstigen. Hiedurch wird den Obgenannten als Kennern und
Liebhabern nichts unbekannt bleiben, was am Ort von Kunst -
werken befindlich ist, was zu- und abgeht oder den Besitzer
verändert. Zugleich werden sie, die Tätigkeit des Einzelnen
fördernd, auf den Fall merken, wo lebenslängliche Bemühung
eines Privatmannes dem Gemeinwesen auf einmal zugute
kommt; denn es geschieht nicht selten, dass eine Sammlung
dem Liebhaber, der sich auf mancherlei Weise beengt fühlt,
zur Last wird. Mangel an Raum, Wechsel der Wohnung, ver -
ändertes oder abgestumpftes Interesse vermindern oft den Kunst -
wert in den Augen des Besitzers; und hier ist es, wo die
Oberen zugunsten beider Teile sich, tätig erweisen können.
Durch ehrenvolle Aufmerksamkeit findet sich der Wohlhabende
schon dergestalt geschmeichelt, dass er, patriotisch aufgeregt,
wo nicht schenkend, doch zu massigen Bedingungen sein Be -
sitztum einer öffentlichen Anstalt überlässt und einverleibt.
Findet er in seinem Wohnort nur Gleichgültigkeit, so wird er
sich in der Fremde den Dank holen. So wäre zum Beispiel die
unabsehbare Sammlung des Barons v. Hübsch, die unter
mancherlei Wust die schätzbarsten Gegenstände der Kunst und
des Altertums enthielt, nicht von Köln nach Darmstadt ge -
zogen, nicht des Herrn INose höchst bedeutende Zusammen -
stellung niederrheinischer Gebirgsarten von Godesberg nach
Berlin gewandert, hätten diese Männer in Zeiten gelebt wie
diejenigen, denen wir entgegensehen. □
Forschen wir nun nach dergleichen Schätzen gegenwärtig in
Köln, so werden wir zuerst auf die Sammlung des Herrn Pro -
fessors und Kanonikus Walraff gewiesen, der, seiner Vater -
stadt leidenschaftlich angeeignet, sein ganzes Leben, Habe und
Gut verwendete, ja die ersten Bedürfnisse sich öfters entzog, um
alles ihm erreichbare Merkwürdige seinem Geburtsort zu er -
halten. Vorzüglich aufmerksam auf römische Altertümer, Bild -
werke, Münzen, geschnittene Steine und Inschriften, hat er zu -
gleich neuere Kunstwerke aller Art, Gemälde, Handzeichnun -
gen und Kupferstiche, Bücher, Handschriften, selbst sehr
bedeutende Mineralien an sich gebracht. Dieser wegen Mannig -
faltigkeit und Verwicklung schwer zu übersehende Vorrat
konnte weder zu eigenem Genuss, noch zum Unterricht anderer
jemals geordnet werden, weil selbst die dem Sammler später -
hin gestattete freie Wohnung nicht Raum hatte, so viel zu fassen,
geschweige gesondert aufzustellen. Wünschenswert wäre es
daher, wenn man baldmöglichst dem gemeinen Wesen diesen
Schatz zueignete, damit die Jahre, welche dem würdigen Be -
sitzer gegönnt sind, benutzt werden könnten, diese kostbaren
Gegenstände mit Genauigkeit zu übernehmen, zu ordnen, ge-
niessbar und nutzbar zu machen. □
Dieses aber setzt ein hinreichendes Lokal voraus, welches in
der weitläufigen Stadt gar wohl zu finden wäre. Hätte man
ein solches bestimmt, so würden die vorhandenen Räume
wohl beachtet, damit die verschiedenen Abteilungen der
Sammlung wohl zu sondern wären. Damit nähme man
auf die Zukunft beständig Hinsicht; die Räume würden gross
genug eingerichtet, nach Massgabe einer zu hoffenden Ver -
mehrung. Die Anleitung hiezu würde die Sammlung selbst
geben, die, indem sie Gegenstände aller Art besitzt und nach
allen Seiten hindeutet, vielerlei Rubriken veranlasst, die sich in
der Folge innerlich vermehren und ausdehnen. Denn auch
ausserhalb ist diese Sammlung so schätzbar, weil sie künftige
Konservatoren nötigt, alles Vorkommende nach seiner Art zu
würdigen und auch das Geringste als integrierenden Teil des
Ganzen zu betrachten. Wie überraschend angenehm würde es
alsdann sein, wenn die Lokalitäten geschmackvoll und analog
den Gegenständen verziert würden, wovon wir zwar einzelne
Beispiele in verschiedenen Städten bewundern, jedoch kein
ganzes, allgemeines Museum in diesem Sinne verziert wissen.
Es ist gar so angenehm unterrichtend, wenn Sarkophage,
Urnen und alle dazu gehörigen Leichen- und Grabgeräte in
nachgeahmten Kolumbarien aufgestellt sind; wenn der römische
Denkstein, Altar und Cippus von einer Dekoration eingefasst
werden, welche an die Appische Strasse erinnert; wenn die
Überreste des früheren Mittelalters von Verzierungen ihrer Art,
die des späteren gleichfalls übereinstimmend bekleidet sind; wenn
selbst den Naturreichen durch Abbildung des nicht Vorhandenen
nachgeholfen wird. Wollte man diese Gedanken verfolgen und
Vorschläge gelten lassen, so würde gar manches bewirkt werden,
welches voraus anzudeuten nur anmasslich scheinen möchte.
In einer Gegend, wo das Wissen nur insofern geschätzt werden
kann, als es zugleich ins Leben tritt, wird eine solche Einrich -
tung schon gefordert. Hier wird der bloss Neugierig-Gleichgültige
unterhalten und angeregt, ja er mag sich stellen wie er will,
belehrt; der Kenner aber lässt sich durch eine solche, der Ord -
nung noch hinzugefügte Täuschung ebensowenig irre machen
als durch die Konfusion der alten Krambude eines Raritäten -
händlers. In Köln würde man sich hiezu des Talents eines
vorzüglichen Künstlers, Herrn Fuchs, bedienen, der in ähn -
lichen Fällen schon Erfindungsgabe, Geschmack und Fertigkeit
bewiesen. Zugleich aber wird man mit Bedauern den in jugend -
lichem Alter schon vieles leistenden Josef Hofmann vermissen,
welcher wohl verdient hätte, bessere Zeiten zu erleben. □
Jedermann, der das Gesagte beherzigt, wird sich überzeugen,
dass bei weiser, kräftiger Anregung von oben, tüchtiger Grün -
dung und klarer Anlage eines Konservatoriums in Köln Kunst,
Geist und Fleiss sogleich sich vereinen werden, dasselbe zu
schmücken; da es denn auch an patriotischer Tätigkeit nicht
fehlen wird, dasselbe fortwährend zu vermehren und auszu -
statten. So sehen wir schon gegenwärtig, da ein allgemeiner
Vereinigungspunkt erst erhofft wird, das rühmliche Beispiel,
wie Herr General v. Rauch alles dasjenige, was bei Anlage
der neuen Festungswerke ausgegraben wird, bei sich sammelt,
um solches dereinst dem öffentlichen Gewahrsam zu übergeben.
Das Bedeutende, was schon gefunden worden, erregt die
schönsten Hoffnungen und sichert diesem trefflichen Kriegsmann
auch von dieser Seite die immer dauernde Dankbarkeit einer
wiederauflebenden Stadt. □
In Köln jedoch an eine förmliche Kunstakademie zu denken,
möchte nicht nötig, noch rätlich sein. Republikanische, von
alten Zeiten her den Gemütern eingeprägte Formen passen am
besten in diesen Gegenden, wenigstens für die freien Künste.
Einsichtige Kunstliebe und Gönnerschaft setzt sich überall an
die Stelle der Direktion; jeder Künstler zieht in seinem Fache
seine eigenen Schüler, so wie jeder Schüler sich frei seinen
Meister aufsucht. Hier kann jeder, uneingeschränkt von seines -
gleichen, durch eigene Arbeiten, durch Restauration und Kunst -
handel sich in eine Lage versetzen, die sehr angenehm werden
muss, wenn die Regierung sein Talent den ersten Nahrungs -
sorgen überhebt, sodann aber durch billiges Honorar seine
ausserordentlichen Arbeiten belohnt. □
Wird sich nach allgemeinem Wünschen und Hoffen ein zu -
sammenhängender Kunstverkehr am Rhein und Main ver -
breiten, so wird auch die Teilnahme des Reisenden nicht fehlen.
Der Kunstfreund verlangt nicht immer Originale; trifft und
rührt ihn irgendein merkwürdiges Bild, dessen Besitz nicht zu
erlangen ist, so erfreut er sich an einer Kopie. Dieses zeigt
sich schon gegenwärtig bei der Freude an der altdeutschen
Kunst, dass man Nachbildungen von Gemälden dieser Art ver -
langt und schätzt. □
Von jener grossen Tafel im Dome hat Herr Leutnant Rabe die
298
Mittelgruppe in Miniatur höchst befriedigend nachgebildet. Herr
Becfeenkammp beschäftigt sich immerfort mit Kopien desselben, die
sogleich ihre Liebhaber finden. Wieviel Umstände treffen nicht
zusammen, uns zu versprechen, dass ein freitätiges, uneinge -
schränktes Kunstleben in diesen Gegenden sich aus einer nie -
mals ganz ausgestorbenen Vorzeit fröhlich entwickeln werde.
Ehe jedoch der Fremde so mannigfaltige Merkwürdigkeiten mit
Ruhe geniessen kann, wird er vor allem unwiderstehlich nach
dem Dom gezogen. Hat er nun dieses leider nur beabsich -
tigten Weltwunders Unvollendung von aussen und innen be -
schaut, so wird er sich von einer schmerzlichen Empfindung
belastet fühlen, die sich nur in einiges Behagen auflösen kann,
wenn er den Wunsch, ja die Hoffnung nährt, das Gebäude
völlig ausgeführt zu sehen. Denn vollendet bringt ein gross
gedachtes Meisterwerk erst jene Wirkung hervor, welche der
ausserordentliche Geist beabsichtigte, das Ungeheure fasslich zu
machen. Bleibt aber ein solches Werk unausgeführt, so hat
weder die Einbildungskraft Macht, noch der Verstand Gewandt -
heit genug, das Bild oder den Begriff zu erschaffen. □
Mit diesem leidigen Gefühl, welches einen jeden drückt,
kämpften zu unserer Zeit in Köln eingeborne Jünglinge,
welche glücklicherweise den Mut fassten, eine Vollendung des
Domes, nach der ersten Absicht des Meisters wenigstens in
Zeichnungen und Rissen, zustande zu bringen. Dürfte auch ein
solches bildliches Unternehmen gegen die wirkliche Ausführung
gering scheinen, so gehört doch schon hiezu so viel Einsicht
als Unternehmungsgeist, so viel Tat als Beharren, so viel Selbstän -
digkeit als Einwirkung auf andere, wenn die Gebrüder Boisserée
zur ungünstigsten Zeit ein Kunst- und Prachtwerk so herausgeben
sollten, dass es von nun an heftweise wird erscheinen können.
Der Grundriss hatte sich glücklicherweise im Original gefunden,
sowie auch der Aufriss, später entdeckt, der bisherigen Be -
mühung, Ausmessung und Vermutung glücklich zu Hilfe kam.
In gehöriger Grösse werden also Grundriss, Aufrisse, Durch -
schnitte, perspektivische Zeichnungen nach und nach erscheinen,
wodurch ein Werk gebildet wird, das vermöge seines Inhalts
wie durch die Künstler, die es gearbeitet, den lebhaften Anteil
verdient. Denn dass die Zeichnungen vortrefflicher deutscher
Männer: Möller, Fuchs, Onaglie, auch in Deutschland gestochen
werden konnten, dazu gehörte von seiten der Unternehmer
jene stille, unverwüstliche Vaterlandsliebe, die in den schlimmsten
Zeiten dasjenige zu erhalten und zu fordern weiss, was glück -
lichen Tagen unentbehrlich ist; und so sind die trefflichen
Kupferstecher, die Herren Duttenhofer in Stuttgart, Darnstedt
in Dresden, zur Teilnahme an dieser wichtigen Arbeit herbei -
gerufen worden. Li
Sind wir nun durch Bemühungen von Privatpersonen dazu ge -
langt, uns einen deutlichen Begriff von jenem unschätzbaren
Gebäude zu machen, so dass wir es als ein Wunderwerk, ge -
gründet auf die höchsten christlich-kirchlichen Bedürfnisse, so
genial als verständig gedacht, durch vollendete Kunst und
Handwerk ausgeführt, in der Einbildungskraft fassen und seine
wirklich vorhandenen Teile einsichtig geniessen können, so wird
man sich nicht verwehren, jene kühne Frage nochmals aufzu -
werfen, ob nicht jetzt der günstige Zeitpunkt sei, an den Fort -
bau eines solchen Werkes zu denken. □
Hier treffen wir aber bei näherem Erwägen auf die traurige
Entdeckung, dass der Dom seit zwanzig Jahren aller Hilfsmittel
beraubt ist, um auch nur im baulichen Stand erhalten zu
werden. Als Reichsstift und weil die Güter für den Bauunter -
halt mit den Pfründegütern zusammengeworfen waren, hatte
die Kirche das eigene und einzige Schicksal, sie, die am meisten
bedarf, die ärmste von allen zu werden, indessen andere
Kirchen ihre Baugüter behalten oder zurückbekommen haben.
Das Erste vor allen Dingen wäre daher, an eine Stiftung zu
denken zu vollkommener Erhaltung des Gebäudes. Erhaltung
ist aber nicht zu bewirken, wenn man den Vorsatz des Fort -
bauens gänzlich aufgibt; denn nicht allein Barschaft reicht hin
zu solchen Bedürfnissen, sondern es will auch bei gegenwärtiger
vollkommener Einsicht in den Willen des Meisters Kunst und
Handwerk aufs neue erregt und belebt sein. Was aber auch
geschähe, so ist ein solcher Gegenstand mit Grossheit zu be -
handeln, zu welcher man nur gelangt, wenn man sich die
Schwierigkeiten nicht verbirgt, noch verleugnet. □
Auf alle Weise aber steht der Dom schon jetzt als fester
Mittelpunkt; er und die vielen anderen Gebäude der Stadt und
des Landes bilden im engen Kreise eine ganze Kunstgeschichte.
Und auch diese ist literarisch und artistisch vorbereitet, indem
jene ebenso leidenschaftlich als gründlich arbeitenden Kunst -
liebhaber bei dem Fleisse, den sie dem Kölner Dom gewidmet,
ihre Aufmerksamkeit zugleich auf die Vor- und Nachkunst
richteten. Daher wurden alte Risse gesammelt, Durchzeichnun -
gen veranstaltet, Kupferstiche und Zeichnungen der vorzüg -
lichsten sogenannten gotischen Gebäude in allen Landen ange -
schafft, besonders von allen bedeutenden alten Bauwerken des
ganzen Niederrheins von der Mosel abwärts. Hieraus könnte
ein Werk entstehen, das in mässigem Format die Epochen der
älteren Baukunst in Deutschland von den ersten christlichen
Zeiten an bis zum Erscheinen des sogenannten gotischen Ge -
schmackes im dreizehnten Jahrhundert in belehrender Form zur
Anschauung brächte. O
Die den Reisenden zugemessene Zeit war zu kurz, als dass
man von allem Bedeutenden hätte völlige Kenntnis nehmen
können; jedoch versäumte man nicht, den Herrn Domvikarius
Hardy zu besuchen, einen merkwürdigen, achtzigjährigen,
munteren Greis, der bei angebornem, entschiedenem Talent und
Kunsttrieb von Jugend auf sich selbst bildete, physikalische
Instrumente künstlich ausarbeitete, sich mit Glasschleifen be -
schäftigte, vorzüglich aber von der bildenden Kunst angezogen,
Email zu malen unternahm, welches ihm aufs glücklichste
gelang. Am meisten jedoch hatte er sich dem Wachsbossieren
ergeben, wo er denn schon in früher Jugend die unendlich
feinen perspektivisch-landschaftlichen, architektonisch-historischen
kleinen Arbeiten verfertigte, dergleichen von mehreren Künst -
lern versucht, wir noch bis auf die neueste Zeit sogar in
Ringen bewundern. Später beschäftigte er sich mit einer Art,
die höchst gefällig ist; er bossierte nämlich halbe Figuren in
Wachs, beinahe rund, wozu er die Jahreszeiten und sonst
charakteristisch-gefällige Gegenstände wählte, von der lebens -
lustigen Gärtnerin mit Frucht- und Gemüsekörben bis zum alten,
vor einem frugalen Tisch betenden Bauersmann, ja bis zum
frommen Sterbenden. Diese Gegenstände, hinter Glas, in unge -
fähr fusshohen Kästchen, sind mit buntem Wachs harmonisch,
dem Charakter gemäss koloriert. Sie eignen sich, dereinst in
einem Kölnischen Museum sorgfältig aufbewahrt zu werden,
denn man wird hiedurch so deutlich angesprochen, dass wir
299
uns in der Geburtsstadt des Rubens befinden, am Niederrhem,
wo die Farbe von jeher die Kunstwerke beherrscht und ver -
herrlicht hat. Die stille Wirkung eines solchen Mannes in
seinem Kreise verdient, recht deutlich geschildert zu werden,
ein Geschäft, welches Herr Kanonikus Wallraff mit Vergnügen
übernehmen wird, da er als ein Jüngerer diesem würdigen
Greis auf dem Lebens- und Kunstwege gewiss manche Anre -
gung verdankt. □
Ein Schüler dieses würdigen Mannes, Herr Hagbold, beschäf -
tigt sich mit ähnlichen Arbeiten; doch hat er bisher nur
Profilporträte geliefert, denen man eine glückliche Ähnlichkeit
nicht absprechen kann. Die Reinlichkeit und Feinheit der
Kleidungs- und Putestücke an diesen Bildern ist höchlich zu
loben, und wenn er sie in der Folge sowohl von vorn in
voller Ansicht, ganc rund, als von der Seite, nur halb erhaben,
ausführen wird, so kann es ihm an Beifall und Kunden nicht
fehlen. □
Noch ist hier ein geschickter Miniaturmaler zu erwähnen,
Herr Lützenkirchen, welcher sich bei sehr schönen Talenten als
ein denkender Künstler erweist und sich auch schon das Ver -
trauen hoher Personen bei bedeutenden Gelegenheiten er -
worben hat. □
Indem man nun von dem Vergangenen und Gegenwärtigen
spricht, was Köln merkwürdig, ehrwürdig und angenehm
macht, und sodann fragt, was denn ferner wünschenswert wäre,
damit gebildete Personen aller Art ihren Aufenthalt hier gerne
wählten, so wird man die Antwort hören, dass Wissenschaft
und diejenige Kultur, welche aus dem Studium der alten
Sprachen hervorgeht, nebst allem, was geschichtlich heissen
kann, hier von Frischem angeregt und begünstigt werden
sollten; von Frischem sage ich, denn auch diese Vorzüge haben
sich hier nicht ganz verloren. Man darf nur die im Lapidarstil
glücklich aufgestellten Inschriften, worin Herr Kanonikus
Wallraff sich besonders hervortut, sowie seine heiteren und ge -
haltsreichen Gelegenheitsgedichte betrachten; man darf die
historischen Bemühungen, welche derselbe nebst anderen Per -
sonen den vaterstädtischen, kirchlichen Ereignissen widmet,
näher ins Auge fassen, so findet man noch Verzahnungen
genug, welche nur auf einen neuen Anbau zu warten
scheinen. □
Und hier wird man unmittelbar an jene ansehnliche Universität
erinnert, welche ehemals hier ihren Sitz hatte. Ihre Lage war vorteil -
haft in der Mitte der Länder zwischen Mosel, Maas und Lippe,
auch zur Verbindung mit verwandten Nachbarländern, woher
noch bis zur französischen Umwälzung Studierende, meist von
katholischer Religion, sich auf diese Universität wendeten, in
solcher Anzahl, dass sie eine sogenannte Nation unter den
Studenten ausmachten. Die medizinische Fakultät zog durch
ausgezeichnete Lehrer noch bis zu Ende des letzten Jahrzehnts
holländische Studenten nach Köln, und noch jetzt geniesst die
Stadt in den angrenzenden Ländern ihren alten Ruhm. Ja, in
den ersten Jahren der französischen Herrschaft wurde die Hoff -
nung rege zu Wiederbelebung der alten Universität, und bis in
die letzten Zeiten nicht ganz aufgegeben, erhielt sie sich an der
Aufmerksamkeit, welche die Zentralschule genoss, die nachher
in eine höhere Sekundärschule verwandelt wurde. Ihr blieben
bedeutende Güter, Anstalten und Sammlungen, welche zum
Teil sich noch vermehrten; wie denn ein wohlbestelltes physi -
kalisches Kabinett angeschafft und ein botanischer Garten ganz
neu angelegt wurde. Fänden nun in demselbigen, von den
Jesuiten ehemals benutzten Raume die Kunstsammlungen
gleichfalls ihren Platz, so würde sich alles Kennenswerte hier
vereinigen lassen. Hierauf, wie auf manches andere, gründen
die Kölner die Hoffnung, die alte Universität in ihren Mauern
wieder erneuert zu sehen. rj
Alles, was wir bisher an dieser Stadt gerühmt, schien diese
Hoffnung zu begünstigen, da nicht mehr die Frage sein kann,
ob nicht auch in grossen Städten eine Universität gedeihen
könne. Ja, man wollte behaupten, dass hier, wo die reichsten
Schätze der grossen Vorzeit zu finden sind, wo geistliche und
weltliche Gebäude, Mauern und Türme und so mannigfaltige
Kunstsammlungen eine anschauliche Geschichte der Vergangen -
heit liefern, wo Schiffahrt und Handel das gegenwärtige Leben
darstellen, dass hier Lehrenden und Lernenden alles nützlich
und förderlich sein müsse, indem in unseren Tagen nicht mehr
von Schul- und Parteiwissen, sondern von allgemeinen Welt -
ansichten, auf echte Kenntnisse gegründet, die Rede sei. □
Man wolle jenen Universitäten, in kleinen Städten angelegt,
gewisse Vorteile nicht streitig machen, es sei aber doch nicht
zu leugnen, dass sie sich aus jenen Zeiten herschreiben, wo
der Jugend, die aus einem dumpfen Schulzwange zu einem
ängstlichen Geschäftszwange gebildet werden sollte, ein gewisser
Zwischenraum gegönnt war, in welchem sie sich neben dem
Lernen auch abtoben und eine fröhliche Erinnerung voll -
brachter Torheiten gewinnen möchte. Gegenwärtig sei dieses
aber unzulässig, schädlich und gefährlich; denn der deutsche
Jüngling habe sich meist im Felde versucht, habe an grossen
Taten Anteil genommen, und selbst der Nachwuchs sei schon
ernster gesinnt; man verlange nicht nach einer abenteuerlichen,
hohlen Freiheit, sondern nach einer ausbildenden, reichen Be -
grenzung. Wo sei nun eine solche schöner zu finden, als in
einer Stadt, die eine Welt in sich enthalte, wo Tätigkeit aller
Art sich musterhaft vor dem Geiste des Jünglings bewege und
wo junge Leute nicht an Kameradenselbstigkeit, sondern an
höheren Weltansichten und an unzähligen Gewerbs- und
Kunsttätigkeiten ihre Unterhaltung fänden, wo der Studierende
nur über den Fluss zu setzen brauche, um seine Ferien in dem
reichsten Bergwerks-, Hütten- und Fabrikenlande nützlich zu -
zubringen ? □
Ferner behaupteten die Kölner, dass der Studierende nirgends
mehr sich selbst achten und geachtet werden könne als bei
ihnen, indem er als Miterbauer einer grossen, alten, durch
Zeit und Schicksal Zurückgekommenen Existenz angesehen
werden müsse. n
Unregelmässigkeiten in der Zustellung wollen dem Verlag der „HOHEN
WARTE“ gefälligst sofort bekanntgegeben werden.
NACHDRUCKVERBOT für sämtliche in den Heften der „Hohen Warte“
erscheinenden Artikel und Illustrationen.
Alle Zuschriften und Sendungen Wien, XIX. Grineingerstrasse Nr. 57, Telephon D 58.
Verlag „Hohe Warte* 4 . Für die Redaktion Joseph Aug. Lux.
Für den österreichischen Buchhandel in Kommission bei: Hugo Heller, Wien,
I. Bauernmarkt 3.
Druck von Jacques Philipp, vorm. Philipp & Kramer (v. Leiter; M. Händler), Wien VI.
300
J
DAS GROTESKE.
ine unwillkürliche Gebärde zum Grotesken zeigt neues
Erwachen der Kunst an. Kunst will sich auszeichnen,
will hervorbringen, will Niegesehenes sichtbar machen.
Nicht das Typische, Allgemeine, Übereinstimmende ist
ihr Anliegen, sondern das Charakteristische, Persönliche,
Unterscheidende. Es gibt kein typisches Kunstwerk. Typisch
ist nur das Handwerk. Durch Wiederholung, Nachahmung,
Stilkopieren sinkt die Kunst zum Handwerk, der Künstler zum
Handwerker herab. Die Verpflichtung hört daher nicht auf,
durch das Unerwartete die Welt in Bewegung und Extase zu
setzen. Es ist einzig nur zum gesteigerten, dichterischen Aus -
druck befähigt. Die zauberhafte Macht dieses Unerwarteten,
Sich-Unterscheidenden, Charakteristischen ist so gross, dass sie
selbst ihren Entdecker und Hervorbringer, den Künstler, in eine
Art Rausch versetzt, die ihn zum leidenschaftlichen Priester
der eigenen Sache, mitunter zum Tragiker und Märtyrer
macht. Das Charakteristische beherrscht die Form, wächst
bedeutsam heraus, unterjocht alle Merkmale, die selbstver -
ständlich und allgemein sind, und siegt mit jener kühnen Ge -
bärde. Das Groteske ist der verheissungsvolle Anfang jeder
neuen Kunst. Eine Kunst, die nicht mit diesem Geburtsvor -
recht auftritt, ist todgeboren. Objektivität, Ausgeglichenheit,
harmonische Ruhe sind nicht der Anfang, sondern das Ende
einer Kunst. Ein Zeichen, dass sie zu Grabe geht, müde und
reif, in Klassizität einbalsamiert und mit allen Ehren der
Akademisierung beigesetzt zu werden. Göttlich gepriesene
Schönheit und himmlische Ruhe wohnen in den Raffaelschen
Teppichen und erfüllen die ehrfürchtige Menschheit mit Gähnen.
Ewig wird die semmelblonde Rasse nach diesem geweihten Bann -
kreis wandern, wo Würde und Wohlfrisiertheit keinen unheilig
grotesken Hupfer mehr wagen werden. Aber das Leben ausser -
halb, ringsum in aller Welt, tobt heidnisch und zeugt Wunder.
Nun ist diese Welt ein berückender Zauberhain, den das
vieldeutige Lächeln seiner grotesken Gebilde sinnverwirrend
überzieht. Schön und hässlich, die Masstäbe einer kindischen
Ästhetik, versinken hilflos in dem ehrfürchtigen Grausen, das
die Menschheit erfasst. Die göttliche Kraft liebt es, sich in
ungewöhnlichen Erscheinungen kund zu geben. In der auf -
gehenden Sonne steht die allnährende Gottheit mit vielen
Brüsten, geflügelte Löwenleiber mit Menschenköpfen und grossen
Pferdeaugen halten Torwacht an Palästen, Menschenleiber
mit Vogelfüssen und Tierfratzen versinnlichen gute und böse
Schicksalsmächte, und wenn die Sonne scheidet, tönt in der
Sahara der wilde Sang der Steinkolosse, der Habichtblick flügel-
leibiger Götter schlägt ins Gebein und aus dem Sand hebt sich
das kolossale Haupt einer Sphinx. Im Waldbezirke heiliger
Berge jagt das Satyrgefolge zum Dienst des Dionysos und aus
der Ekstase springt die Tragödie. Neben den bockfüssigen
Faunen galoppiert der Kentaur, Tierleib und Mensch in einem,
Gedanke und Ursprung, bezeichnenderweise mit dem Geheimnis
aller Künste begabt und weiser Lehrer des Herakles, dessen
Tatendrang selbst noch im Götterschritt der Urkraft geht.
Immer erweist sich die Groteske als die gewaltige Sprungkraft
der künstlerischen Entwicklung. Was nützte es, dass der kirch -
liche Geist sie als Höllenkunst verdammte, erhebt sie sich doch
in den übermächtigen Türmen altgotischer Dome zu einer nie
gesehenen Grösse. Und wäre sie nur eine Kunst des Satans,
ersehen im frommen Dienst das abschreckend Hässliche der
Teufelsmasken darzustellen, so ist das Volk aus gesünderem
Instinkt mit dem Teufel wie mit seinem lieben, lustigen Bruder
umgegangen, von dem es zum Dank die köstliche, nie versagende
Ursprünglichkeit und Frische der Charakteristik in seinen
künstlerischen Offenbarungen erhalten hat. Der Auffassung des
Grotesken als der Personifikation des Tierischen im Menschen,
das getötet werden müsse, damit das Göttliche am Leben bleibe
und triumphiere, begegnet der Volksspruch des XVI. Jahr -
hunderts auf gesunde Art wieder mit einer prachtvoll grotesken
Wendung t D
Ein Lebendiger uff eim todten sass,
Und als der todt lachen thet,
Starb der Lebendicgk uff der stedt.
Der unhaltbare Dualismus von Tier und Gott im Menschen
entweicht als krankes Hirngespinst vor der Gewalterscheinung
Michel Angeles „Moses“, der mit dem charakteristischen
Hörneransatz als Sendling jener rätselhaften Urwelt ersteht, die
immer neue, unerwartete Symbole ihrer geheimnisvoll webenden
Kraft gebiert und die träge Gewohnheit durch Schreckgesichte
aufscheucht. Immer fällt eine kleinliche Welt von stumpfsinnig
gewordenen Kunstübungen zusammen. Es ist diesmal die
Renaissance. Der Riese, der ihr die neuen Gesetztafeln ent -
gegenhält, stammt aus einer älteren Linie mit höheren Macht -
ansprüchen als der Doppelbastard der römisch antiken Wieder -
geburt. Er hat die Pyramiden gesehen und ist mit dem Ur-
geschlecht der Kentauren verwandt. Er ist eine Persönlichkeit,
die auf eigenem beruht, eine Naturkraft, deren künstlerische
Reagenz, wie immer, als Groteske, sei es im Guten wie im
Bösen, empfunden wird. Wieder ist der Bogen kühn gespannt,
um die Pfeilrichtung in der Länge von einem Jahrhundert vor -
zudeuten. Im Schatten der Riesengestalt lächeln galante Abbés
in unheiliger Skepsis über den frommen Altweiberglauben des
Dualismus, die kichernden Frivolitäten des Barocks erfüllen ein
Zeitalter, dessen Erlesenheiten ein gemeinsames Symbol an -
beten : die Groteske des Reifrockes. Bis das bezaubernde Spiel
in einem Sumpf von Gemeinheit versinkt und die Grimasse
Goyas, auch eines von dem ewigen Geschlecht, Entsetzen auf -
rüttelt und die Menschheit medusenhaft seiner Hypnose unter -
wirft. □
30J
Ewig wird sich das zauberhafte Spiel wiederholen, und wir
können nicht wissen, welcher Art die Gesichte sein werden,
die aus dem geheimnisvollen Schoss der ringenden Urkräfte, zu
denen die künstlerische Kraft gehört, ans Tageslicht steigen
werden, um eine neue Herrschaft, aus dem Kontrast geboren,
Zu errichten. Die Kontrastwirkung ist das pfeilschnelle Vehikel,
auf dem die neue Schönheit über Nacht die erschreckte Mensch -
heit überrascht, jlhr gespenstiger Blick, mit dem mythische
Zeiten die wunderlichen Götterbilder begabten, kann plötzlich
im hellichten Alltag erwachen und die hilflos widerstrebenden
Seelen in den Bannkreis ziehen. Was Schönheit ist, kann kein
Mensch endgültig sagen. Aber es ist sicher, dass keine Schön -
heit ist, die nicht die teuflisch himmlische Marke des grotesken
Widerspruchs als Geburtsmal trägt. So ist selbst die Holdheit
der Madonnen an dem Geheimnis beteiligt; ihr Gnadentum
wäre minder bestrickend, läsen wir nicht in ihrem verwirrenden
Blick das Unergründliche, das sie mit ihren mondänen Schwe -
stern bei Beardsley verbindet und das Mona Lisas entrücktes
Lächeln verschleiert. □
Die seltsamen Gebilde, die alle das Zeichen ihrer übermensch -
lichen Herkunft tragen, rücken aus den Weltentiefen als leuch -
tende Gestirne am Horizonte zusammen, und stärker denn je
sind die Heutigen von den magischen Gewalten beeinflusst.
Schwächliche Epigonenkunst weiss allerdings von nichts; blind
geboren, wird sie auch niemals unter den Sternen aufziehen.
Hausbackene Ästhetik vom Anmutigen und Erhabenen richtet
Blindmauern auf, die zwar von den Gezeiten hochflutender
Kunstregungen überspült werden, aber immerhin noch lange
genug als Schlupfwinkel falscher Sentimentalitäten Vorhalten.
Alles, was der Biedermeierei angehört, das Kleinmachen,
Beschönigen, jede Art von Süsslichkeit, empfindsamer Verlogen -
heit, hat darin ein Obdach gefunden. Rücksichtslos darf das
moderne Kunstgefühl das Gegenteil behaupten, der Empfind -
samkeit, der Komik, dem süsslichen Genre von gestern ihre
Reizsamkeit, ihre Satire, ihre Groteske entgegensetzen. Die
vergissmeinnichtblaue Kleinbürgerästhetik, die im Anmutigen
schwelgt wie ein munteres Böcklein im Wiesengrün, hat nur
einen scheuen Blick für die „unreine Kunst“ des Grotesken
und Erhabenen, deren Wesen für sie in dem unverarbeiteten
Übermass des Substanziellen besteht. Nun hat das Erhabene
und Monumentale in der Steigerung des Grotesken keinesfalls
allein in Kolossalitäten bestanden, sondern es hat ebensogut
seine Kraft in den kleinsten Dingen entfaltet. Anderseits ist
die groteske Phantasie durchaus nicht allein die Domäne der
Graphiker und der englischen Clowns gewesen, weil es heute
so scheint. Zu allen Zeiten hat sie mit karikaturistischer Schärfe
an den Gerätschaften, den Waffen und Rüstungen das Leben
abgeschildert, eine Art Scherbengericht in der Zeichnung und
Bemalung der Töpfe, Vasen, Geschirre, Kacheln, als grotesken
Lebensspiegel; sie hat ihre Gleichnisse in Schwertstichblätter
graviert, in Münzen geschnitten, in Edelmetall der Prunkgefässe
getrieben, in Wandteppichen verwoben, auf Schilder ziseliert,
und schliesslich hat sie die Darstellung von den Gegenständen
und Materialien losgelöst und als Selbstzweck an das Volk
weitergegeben in Form von Holzschnitten, Radierungen, Litho -
graphien, um dem Unerwarteten, dem Genialischen als Zeitung
Zu dienen. Hier wirkt das Groteske schöpferisch in weitem
Umfange. Künstler Hessen die Staffelei im Stich, weil sie im
Bild ihr Wesen nicht auszudrücken vermögen und weil die
Überzeugung immer mächtiger wird, wie zwecklos die Malerei
ist, wenn sie nicht das alte Wunder erneut. Die Zeichner des
Simplicissimus wissen wohl, dass sie am produktivsten wirken,
wie sie es tun. Nicht nur die Darstellung des Lebensbildes und die
überwältigenden Symbole der übermenschlichen Mächte, sondern
auch die gewöhnlichen Dinge des Gebrauches verraten den
Hang zum Grotesken, als den beständigen Trieb nach Erneue -
rung, der sie zum Gegenstand der Kunst macht. Altgotische
Räume gibt es, die gespenstisch sind wie Mackintosh' Raum -
dichtungen; Krüge und Vasen, deren Formen und Grössen
ins Ungewöhnliche gesteigert sind; Trinkgefässe werden über -
liefert von erstaunlicher Becherweite mit phantastisch gross
herausgetriebenen Buckeln; andere sind, die das Extrem in der
Form ungeheurer Henkel suchen, und es tektonisch rechtfertigen,
wie immer der Kontrast gefunden wird. Die Form, auf die es
jeweilig ankommt, so gross als möglich zu nehmen, ist das
wichtigste Gesetz der genialen Kunst des Grotesken. LUX.
ES GIBT KEINEN GUTEN EINFLUSS. JEDER EINFLUSS
IST, WISSENSCHAFTLICH BETRACHTET, UNMORA -
LISCH. UND ZWAR, WEIL JEMAND BEEINFLUSSEN
DASSELBE IST, WIE IHM EINE FREMDE SEELE GEBEN.
ER DENKT NICHT MEHR SEINE NATÜRLICHEN GE -
DANKEN. ER WIRD NICHT MEHR VON SEINEN
NATÜRLICHEN LEIDENSCHAFTEN VERZEHRT. SEINE
TUGENDEN GEHÖREN NICHT MEHR IHM. SELBST
SEINE SÜNDEN, WENN ES SÜNDEN GIBT, SIND ENT -
LIEHEN. ER WIRD ZUM ECHO DER TÖNE EINES
ANDEREN, ZUM SCHAUSPIELER EINER ROLLE, DIE
NICHT FÜR IHN GESCHRIEBEN WURDE. DAS ZIEL
DES LEBENS IST SELBSTENTWICKLUNG. DAS EIGENE
WESEN ZUM AUSDRUCK ZU BRINGEN — DAZU SIND
WIR AUF DIESER ERDE. HEUTZUTAGE FÜRCHTET
MAN SICH VOR SICH SELBST. MAN HAT DIE HÖCHSTE
PFLICHT VERGESSEN: DIE PFLICHT GEGEN SICH
SELBST. OSCAR WILDE.
302
VON DEUTSCHEN KUNSTAUSSTELLUNGEN
1906.
ede Deutschland-Reise muss für uns Österreicher mit einem
Katzenjammer enden. Wir sehen die machtvolle Entfaltung
der Kräfte mit Bewunderung und Neid. Das Gefühl unserer
Schwäche und Ohnmacht fällt doppelt schwer auf uns. Daheim,
in die Furche unserer täglichen Arheitsmühe geduckt, betäubt
uns die österreichische Lebenslüge s es wird schon besser wer -
den !, an der wir noch zugrunde gehen werden. Hier draussen
hält das Phantom nicht stand. Daheim pflegen die Duckmäuser
ungläubig zu lächeln, wenn das Sausen der Riesenkräfte in
Deutschlands Entwicklung ihr Ohr berührt. Ein seichter Witz,
und die Sache ist abgetan. Die lächelnde Süffisance ist über -
zeugt, dass draussen nichts los ist; denn wir, nur wir in Öster -
reich, haben das Genie gepachtet, und da können die deutschen
Brüder nichts mehr machen. Aber sie können doch! Möglich,
dass es ihnen an dem gebrächt, was man bei uns gern für
Genie hält; r sicherlich fehlt ihnen die grazile Anpassung, die
das Österreichertum befähigt, manche fremdartige Blüte in den
eigenen Topf zu versetzen und damit die Fenster zu schmücken.
Im Vergleich zu dieser Beweglichkeit ist deutsche Art aller -
dings ein schweres Fuhrwerk, aber was das Genialische ver -
sagt, hat rastloser Fleiss, unermüdlicher Wille und Mannszucht
reichlich ersetzt. Wir können unterdessen nichts tun, als uns
darüber freuen, das wir das Genie gepachtet haben und die
Gaben geniessen, die es uns beschert: den vergnüglichen Leicht -
sinn und seinen unvermeidlichen Antipoden, die unüberwind -
liche Indolenz. D
Wie steht es denn mit den königlichen Begabungen hierzu -
lande ? Fürsten in der Kunst wären sie unter Verhältnissen,
wie sie in Deutschland sind; arme Schlucker sind sie hier. Die
heitere Fassung, darin sie sich ergeben, sieht von aussen recht
betrüblich aus : mancher Bussgang und Kniefall vor dem unnach -
giebigen Götzen Indolenz, manche heimliche und offene Demü -
tigung befleckt das Schicksal dieser Begnadeten. Aber trotz der
unwürdigen Demütigungen, trotz eines wahren Flagellantismus
konnte hier nicht einmal dem Genie gelingen, was in Deutsch -
land jeder anständigen Durchschnittsbegabung ohne weiteres ge -
lingt. Was hat denn eine so ungewöhnlich zähe Kraft eines
Otto Wagner bei uns erreicht ? Es ist unermesslich, was
ein solches Schaffensvermögen in Deutschland hätte bewirken
können. Der Unterschied wird einem sofort klar, wenn man
bedenkt, dass dieser einzige wirkliche Architekt in Österreich
nicht einmal in der läppischen Karlsplatz-Angelegenheit
durchdringen konnte, während in Deutschland Städte und Re -
gierung wetteifern, Jahr für Jahr die Gelder für Monumental -
werke und imposante Kunstausstellungen zusammenzuschiessen,
die blutjunge Menschen vor berückende Aufgaben stellen, von
denen unser gereifter Künstler höchstens träumen darf. Und
was haben denn andere erreicht, die künstlerisch ringen? Ich
denke noch an diesen und jenen und an die nachdrängenden
Jungen, die, wenn sie was Rechtes in sich fühlen, auswandern
müssen, um nicht unterzugehen. Die kleinste Stadt Deutsch -
lands erkennt die Pflicht einer ordentlichen Talentwirtschaft,
um nicht hinter den grösseren Schwestern zurückzubleiben. Wo
bleibt denn Österreich mit seiner verlotterten Gemütlichkeit,
mit der alten, verschimmelten Kultur seiner Haupt- und Provinz -
städte, mit der Profitgier seiner Handeljuden, mit dem wurzel -
haften Trotteltum seines Gewerbevolkes, mit der Verknöcherung
seines impulslosen, gleich lebens- und sterbensunfähigen Bureau-
kratismus und mit seiner Politik, die eine Resultante dieser
Komponenten ist! ? ^
Ich nehme den grotesken Fall etwa, dass Klimt in Brünn
ausstellt. Wer lacht nicht ? Für uns ist in der Tat etwas Komi -
sches daran. Aber Brünn ist eine grössere Stadt als etwa
Oldenburg, und Oldenburg hat sich im Vorjahre eine gross -
artige Ausstellung geleistet, mit Behrens an der Spitze. Was
gestern Oldenburg war, wird heute Mannheim sein, eine Stadt,
die kaum bedeutender ist als etwa Graz oder Linz. Es fällt
niemandem ein, dabei zu lachen. Man wird hinreisen und ge -
wiss sein, viel Gutes zu finden. Man lacht m Deutschland
überhaupt nicht zu einer Sache, die ernst genommen sein will.
Die Tat gilt. Das Publikum, die Presse und alle Machtfaktoren
sind darin einig, dass die Förderung und Entwicklung bildsamer
Kräfte zu den vornehmsten Aufgaben des nationalen Haus -
haltes gehören, dagegen liegen bei uns die Verhältnisse so, dass
der grosszügige Gedanke einer ähnlichen umfassenden Kunst -
ausstellung in Verbindung mit Graz, Brünn, Linz etc. Heiter -
keit erregen müsste. In Deutschland ist die Sache in fortwäh -
render Steigerung begriffen. Dort führt das heurige Jahr alle
fünf Stunden weit in ein wichtiges Ausstellungsgebiet. Nürnberg,
Köln, Dresden treten in diesem Jahr in den Wettbewerb, von
den jährlichen Sommerausstellungen Münchens und der Berliner
Jahrhundert-Ausstellung ganz zu schweigen. Sie erscheinen als
Kristallisationspunkt einer künstlerischen Produktionskraft, die
nicht für den ledigen Ausstellungszweck, sondern für das Leben
schafft. Denn was hier gezeigt wird, ist von vornherein be -
stimmt, von einem tatsächlichen Bedarf aufgenommen und im
Lebensprozess eines gut organisierten Wirtschaftskörpers aufgezehrt
zu werden.
Es sind keine Ausstellungen, die sich überlebt haben. Überlebt
haben sich jene Ausstellungen, die Bazarschund und Jahrmarkt -
trödel im Gehäuse einer verrückten Vorstadtsezession führen,
wie wir sie hierzulande gewohnt sind, in der Rotunde, in der
Provinz und als österreichische Ausstellung in London, Mai -
land etc. O
Ein wirksamer Antagonismus regelt das Verhältnis der heurigen
deutschen Ausstellungen zueinander. Bayern, mit der Kunst -
metropole München und seiner agrarischen Volkskunst, will in
seiner Nürnberger Ausstellung den Beweis erbringen, dass seine
gewerbliche und industrielle Produktionskraft nicht zurückstehen
braucht, und der Beweis ist dermassen gelungen, dass wir nur
mit ziemlicher Beschämung an die Reichenberger Ausstellung
des deutsch-böhmischen, spezifischen Industrielandes zurück -
denken können. Dagegen will die Kölner Ausstellung im Her -
zen industriereicher Bezirke einen wundersamen Schrein der
künstlerischen Poesie errichten. Olbrich und Behrens haben
das Werk vollendet. Berlin, dieses gegenwartsfreudige, von allen
Lebensfiebern durchrüttelte Berlin, bemüht sich in seiner Jahr -
hundert-Ausstellung drastisch um ein vergessenes Stück der
Kunst und Kultur deutscher Vergangenheit; und das tradi -
tionelle Dresden, seiner modernen Führerschaft eingedenk, ver -
sammelt das gesamte deutsche Kunstgewerbe zu einer einzig -
artigen Kunstgebung. So hat jede Ausstellung ihre Sonderheit;
303
jede stellt in ihrem Bezirk eine Vermittlung und einen Aus -
tausch von Kräften her; alle sind zu ihren Ländern und zu -
einander Kontrast und Relation. □
* *
*
In Nürnberg hat die Ausstellung allerdings einen schweren
Stand. Die Stadt selbst ist eine Rivalin, gegen die schwer auf -
zukommen ist. Sie ist permanente Ausstellung, Museum, Pa -
radestück. Liebe Vergangenheit. Eine Schatzkammer alter deut -
scher Kultur. Es ist freilich nicht mehr alles echt. Nirgends
ist die Restaurierungswut so gross als in Nürnberg. Dürers
Haus ist ein geplündeter Reliquienschrein. Der alte Hausrat
wanderte nach Berlin. Was gezeigt wird, sind Kopien. Eine
moderne Antike, eine restaurierte Altertümlichkeit, spottet
Hebbel. Aber dem gespenstigen Blick begegnet in allen Win -
keln der verklärte Christuskopf Dürers. In Venedig, da ward
er ein Herr! Die Klage des in der dumpfen Enge seiner Vater -
stadt bedrückten Künstlers legt sich hier doppelt schwer aufs
Herz. Sein geknechtetes Leben kleidet sich in das Symbol der
Heilandsgestalt. Er trägt eine unsichtbare Märtyrerkrone.
Alte Kultur in Ehren! Aber die Bratwurstglöckchenschwärmerei
halt doch nur für die Flüchtigkeit eines Reiseaugenblickes vor.
Können wir uns ein Künstler- und Dichterdasein in „Hand -
werks- und Gewerbebanden'' vorstellen ? Die Meistersinger-
Illusion ist eine moderne Sentimentalität, die nach Theater -
schminke riecht. In Wirklichkeit riecht sie nach altem Schuh -
leder, Bierresten, den Spülküchen der braven Hausfrauen und
den muffligen Kehrrichtwinkeln des alten Mäuse- und Ratten -
nestes. Vom Lug ins Land meint der Blick inmitten der zu
Füssen getürmten, ziegelroten Giebeldachromantik ein Storch -
nest entdecken zu müssen. Warum, weiss ich nicht. Aber ich
glaube, weifs so hübsch altvaterisch ist und dazu passt. Die
altdeutsche Philisterei wäre nicht zu ertragen ohne den
Gnadenkelch der Kunst, der Verklärung über das alte Ge -
rümpel ausgiesst. Der milde Schein erglänzt in dunklen Ge -
mäuern, den Giebeln, Erkern und Nischen entlang, und ruht
hell auf den Gebilden, die sich lebensvoll aus den Steinen
lösen. Sichtbares Gebet will die Plastik an den Kirchenwänden
sein, die gemeisselten Fliesen im Innern der Dome. Der
Zauber wird nicht brechen. Die angstbedrückten, sehnsüchtigen
Träume des Mittelalters verdichten sich in den Symbolen des
Künstlers; der unbeholfene Ausdruck steigert ihre Geisterhaftig-
keit und die Verwitterung entrückt das verschleierte Bild
in die Ferne von Jahrhunderten. Aber wehe, wenn die plumpe
Hand des Restaurierers das liebliche Geheimnis aus den
Schleiern der Verblichenheit in die glattpolierte, nüchterne
Oberflächlichkeit unseres Alltags hervorzerren will! Dann ist
ein Traumgesicht zerschlagen und eine starre Maske an seine
Stelle getreten. Ernüchterung und Gleichgültigkeit würden un -
fehlbar da Platz greifen, während so der ehrfürchtige Blick
vergangener und kommender Geschlechter auf dem mystischen
Schauspiel ruht. □
Von den Brunnensteinen der Marktplätze aus, an dem Ge -
wände enger und krummer Strassen hin, setzt sich der ge -
heimnisvolle Zug in den dämmerigen Säulenwald der Kirchen -
schiffe fort, um hier sein Hochamt zu feiern. Peter Vischer
ist der Leuchterträger der frommen Kunst. Veit Stoss trägt das
Kreuz voran und seine Legendenschöpfungen bevölkern die
hochgeschnitzten Altäre. Im Rosenkranz aus Gold und bunten
Farben schwebt die Verkündigung herab. Adam Kraft und
seine Gesellen keuchen unter der Last des Sakramentenhäus-
chens, aber die steinerne Miniaturchronik der Leidensgeschichte
hier und an den Toren zeugt ewig von der Kunst ihres Meisseis.
Die tiefe Herzensgläubigkeit der alten Meister bewirkt das
Wunder, dass der Glaube an dieses Wunder niemals schwinden
wird; am liebsten weilt dieser Glaube dort, wo noch naivere
Einfalt in hilflos stammelnden Ausdrücken ringt, weiter zurück
an den Wänden mit den ganz flächigen, zerflickten, gotischen
Gobelins, wo der heilige Laurenz gebraten wird. □
Doppelt köstlich ist der Genuss, wenn man in dem modernen,
von Bruno Paul ausgestatteten Bahnhofrestaurant das Ge -
schehene nochmals bedenkt. Das Seelenlabsal unverwischbarer
Erinnerungsworte gibt die alte Stadt, und darum lieben wir sie,
wir Modernen, aber man hält’s auf die Dauer nicht aus. Ich
habe einmal drei Monate lang in dem alten Nest gehaust und
bin fluchtartig davongegangen, weil mich die knabbernden
Mäuse und Ratten in den rieselnden Wänden nicht schlafen
Hessen. Das war freilich zu einer Zeit, wo es noch kein Bruno
Paulsches Restaurant gab, um dahin zu flüchten. Wir Heutigen
sind der Altväterstadt entwachsen. Wir lieben sie, bewundern
sie auf flüchtigen Besuchen und fliehen sie. Möge sie der
Himmel beschützen! q
Im Umkreis dieser alten Stadt und so vieler anderer alten
Städte regt sich der schwellende Riesenleib des modernen
Deutschland. Wie ein borstiger, widerhaariger Drache, der eine
Last von Rauch und Gestank aus seinem glühenden Rachen
entsendet, krümmt sich die mächtige Industriestadt mit ihren
Feueressen, ihren ewig russenden Schloten und Höckern von
unharmonischen Häuserzeilen um das liebe, alte Stadtidyll zu -
sammen, mit der drohenden Gebärde, es wie ein gebrechliches,
altes Spielzeug in der umbarmherzigen Umarmung zu zer -
drücken. Aber es nahen schon die tapferen Jürgens, um dem
Unhold an den Leib zu rücken. Möglich, dass sich das Wunder
aufs neue begibt, das den giftigen Drachen in einen schönen
Prinzen verwandelt, der sich mit dem von der Sterbensangst
befreiten Gretelein aus der Altväterstadt vermählt. Kurz ge -
sagt i die hinzugewachsenen Neustädte bergen allzuviel Häss -
lichkeit. Die Kraft, die sich in dem Zuwachs äussert, wird
nicht verlorengehen. Die hässliche Hülle wird abfallen; die
Kultur, die kommen wird, und die Kräfte, die daran arbeiten,
sind in Sicht, die Ausstellung will sie offenbaren. Sie ist
der Scheinwerfer, der der Entwicklung vorleuchtet. Die Haus -
modelle für Arbeiter- und Bürgerwohnungen geben die Grund -
sätze an, nach denen sich die Kolonien und Stadtgebiete von
morgen entwickeln werden. Die Fachschulen versprechen die
künstlerische Reform aller Gebrauchsdinge und legen Proben
vor, die einen guten Anfang bedeuten. Die Keramik ist dabei
am glücklichsten; ich denke namentlich an die Schule von
Landshut, weil sie auf guter, volkstümlicher Tradition fussen
kann. Die Kultur will nicht nur Schein sein, sie will sich auf
Qualität gründen. Die Maschinen für Materialprüfung liefern
das Mittel, Baustoffe auf Stärke und Güte zu untersuchen,
Eisen und Stein einer hochnotpeinlichen Prüfung durch Stoss,
Druck und Zerrung zu unterwerfen. □
Die Nürnberger Ausstellung will keine Kunstausstellung sein,
sondern will zeigen, dass Technik, Industrie und Handwerk in
304
Bayern bereit und befähigt sind, den Kulturaufgaben zu dienen,
zu denen sie die künstlerische Idee berufen wird. Ein weisses
Schlafzimmer in der Ausstellung war eine besondere Über -
raschung. Etwa ein Hoffmann-Schüler ? ! Nein, ein ländlicher
Meister aus Grieb war der Verfertiger, was viel erfreulicher ist.
Denn auch das Tischlerhandwerk will hier zeigen, dass es den
Zeitgeist versteht und auf den grossen Wink wartet. Es ist be -
greiflich, dass nicht alle Beispiele dieser Art auf gleicher Höhe
stehen. Es sind eben nur kleinmeisterliche Gehversuche, die
noch der straffen künstlerischen Führung bedürfen. Es fehlt
auch nicht an einem herzhaften Schwabenstreich. Die Gewerbe-
und Industriekraft, die sich als alte Macht in das alte Bauern -
land einschiebt, unterliegt in ästhetischer Beziehung der älteren
ländlichen Kultur. Der Geist der Heimatkunst spukt bedenk -
lich in diesem Bezirke. Nirgends sah ich so viel Bauerntümelei
als an den Gebäuden dieser Industrieausstellung. Sie liebäugeln
mit dem barocken Bauernhaus der bayrischen Heimat. □
Es ist eine Strömung der Zeit, die allerdings beweist, dass die
Macht gewisser Schlagworte stärker ist als das formschöpferische
Neuschaffen. Man darf nicht verkennen, dass diese obgenannte
heimatliche Stilbildung nur ein künstlerischer Oberbau ist, der
keine organische Beziehung zur modernen technologischen
Grundlage hat, die in dieser Ausstellung aufgedeckt werden soll.
* *
*
Eine heitere Gedankenhrücke verbindet das fröhliche Köln mit
Wien. Der Rhein und der Dom wecken die verwandte
Stimmung der Donau und der Stefanskirche; man würde,
wenn man es nicht so genau nimmt, noch manche Berührungs -
punkte finden und in Alt-Kölner Strassen und Gassenwinkeln,
mit der Perspektive auf altertümliche gotische Baureste, ein
freundliches Spiegelbild ersehen können. Man würde natürlich
auch ebenso vieles Gegensätzliche finden, wie, dass Köln, im
Begriffe, sein altes Gewand abzulegen, ersichtlich mit künstleri -
scher Einsicht verfährt; ich denke, dass man für eine solche
Markthalle, wie sie Köln neuestens erhalten hat, in Wien trotz
Wagner noch nicht reif ist. Den Eifer um die künstlerische
Zukunft betätigte die Stadt in der heurigen Kunstausstellung
in der „Flora“. Wenn ich dem Katalog glauben soll, und ich
glaube ihm gern, dann ruht das Ausstellungswerk auf den
bereitwilligen Händen der ganzen Bürgerschaft. Die Kunstsorge,
die hier wenigstens zu einer ganz ausserordentlichen zweck -
bewussten Organisationsarbeit geführt hat, stellt der Bevölkerung
kein übles Zeugnis aus. Es ist nicht zu unterschätzen, wenn
ich auch nicht zur übertriebenen Annahme neige, dass sich
darin ein spontaner Wille des Volkes kundgibt. Vielmehr ist
in der Sache die Tragweite des Beispiels zu erkennen, das der
Regent gibt. Die Ausstrahlung der Persönlichkeit bildet die
geistige Stromkraft des vielköpfigen Verbandsorganismus, der
in den Ländern am Rhein den ringenden Begabungen, die ja
nirgends einen ganz leichten Stand haben, einen Stützpunkt
geben soll. Die Kunstausstellung in Köln trägt das Gesicht der
Heimat. Die Sehnsucht der Maler und Bildhauer die geliebten
Züge, zu ergreifen und mit visionärer Kraft zu beseelen. In
starken Lichtwellen geht der Geist der modernen Farben- und
Formenanschauung über sie hin und erfüllt mit leuchtenden
Reflexen das emsige Schaffen dieser Künstler, die das künst -
lerische Beispiel weniger ganz grosser Erneuerer auf ihre persön -
liche Art verarbeiten; wir verspüren zwar die mächtigen Ober -
ströme, hier Meunier oder Rodin, dort die französischen Im -
pressionisten oder die fremden Vorläufer des Stils, aber im
Grunde wirkt der heisse Drang der Heimatkünstler nach
Vertiefung und Verinnerlichung im engen Kreis der heimischen
Stoffwelt so mächtig, bis das altgewohnte Bild in neuer Ver -
klärung emporsteigt und des Schöpfers schwach betonte Eigen -
art beteuert. Es ist Verbandskunst, volkstümlich und tüchtig,
die keinen Widerspruch finden wird. Es gehört nicht allzuviel
dazu, sie zu begreifen und zu lieben. Sie ist nicht veraltet und
ist nicht rücksichtslos neu, sie ist wohltemperiert für die Bürger -
stube. Sie ist das hohe Niveau des Durchschnittes, treuherzig
und gemütstief, gedankenvoll und ausgeglichen. Aber ihre Aus -
geglichenheit ist nicht die Lebenszone, in der das eigenwillige,
jedes überlieferte Mass verhöhnende Genie gedeiht. Dieser
ungezähmte Wildling lebt in der Regel ausserhalb der bürger -
lichen Sphäre der Verbandsordnung. Trotz der intimen Fein -
heiten dieser Heimatkunst, deren Wesenheit gar nicht mehr
unbekannt ist und keine neuen Züge enthält, ist die Kölner
Ausstellung neben Dresden das bedeutendste deutsche Kunst -
ereignis dieses Jahres gewesen. Sie wird sichtbar bleiben; das
eindrucksvolle Bild von zwei dominierenden Werken ist neues
Seelengut; die leuchtende Spur von selbständigen Ideenströmen
wird nicht verlöschen. Ich meine Behrens' Tonhaus und
Olbrichs Frauen-Rosenhof. Die Namen sind nicht in einem
Atem zu nennen; sie sind entgegengesetzt wie Nord und Süd,
Elemente, die sich am Rhein mehrfach berühren und doch nicht
verschmelzen können. Das Tonhaus ist das Werk eines klaren,
kühlen Architekturverstandes, der in Deutschland zu den
grössten Seltenheiten gehört; es wirkt durch die Harmonie
abstrakter Raumverhältnisse, und das Ornament ist nichts als
ein Unterstreichen und demonstratives Verdeutlichen dieses
architektonischen Kunstprinzipes. Ich finde, dass diese strenge,
vornehme Gesinnung nicht hoch genug geschätzt werden kann.
Der Puritanismus der, wie mir scheint, etwas schwerflüssigen
Natur des Norddeutschen, dem keine Kopfarbeit misslingt,
steht allerdings wesensfremd vor der tiefen Mystik eines Minne,
für die wir ein ausgebildetes Organ besitzen. Minnes Plastiken
setzen die Abstraktion verwandter Raumteile voraus, eine
Feierlichkeit, die die latenten Stimmungen dieser Werke zum
ungebrochenen Ausklingen bringt. Es ist weniger Sache des
Architekturverstandes, als vielmehr des Architekturgefühles, nicht
Kopfarbeit, sondern Herzenssache, intuitives Mitschaffen kon -
genialer Instinkte. Darum glaube ich, dass die Aufstellung der
Plastiken Minnes einem Olbrich unzweifelhaft geglückt wäre.
Sein Frauen-Rosenhof ist gleichfalls eine Reduktion auf die
einfachsten Architekturelemente; schlichtes Mauerwerk, in ge -
fühlten Verhältnissen ein paar Farbeneinheiten — ein gelber,
ein weisser und roter Garten — und es lebt durch den
Stimmungsgehalt einer dichterischen Kraft. Die Poesie ist keine
willkürliche Draufgabe zur Sachlichkeit der Baukunst, kein
schmückendes Anhängsel, das man aus dem letzten Fach der
architektonischen Hausapotheke nimmt. Sie ist der geheimnis -
volle Unterstrom des künstlerischen Schaffens, die primäre
Kraft der Gefühlsregion, die von Haus aus auch für das
Schaffen des Baukünstlers bestimmend ist. Sie kann sich auch in
der sachlichsten Form selbst ohne schmückende Zutat aus-
drücken. Man hat es, oder man hat es nicht, das ist alles.
305
Daraus kann man die Bedeutung Olbrichs für Deutschland
erklären. r ■
Die Erde kann jederzeit Hölle sein oder Paradies. Zu schwer
lastet seelenlose Nüchternheit auf dem Alltag; allzu dringend
bedarf es der Kraft des Genius, Festlichkeit und Weihe hervor -
zubringen und die Welt von der Unerquicklichkeit der Ver -
allgemeinerungen zu befreien. Die Erlösung muss von der
Architektur kommen, wenn sie dauernd und weithin sichtbar
wirken will. Auf den Ausstellungen ist zu sehen, wie die
Malerei, unfähig, die Kultur zu erneuern, immer mehr in den
Hintergrund tritt.
* *
*
Inwieweit sich Staat, Städte und Gesellschaft ihrer Aufgabe den
künstlerisch produktiven Kräften gegenüber bewusst sind, kann
man in der Dresdner Ausstellung erkennen. Sie ist eine monu -
mentale Kundgebung, an der das ganze Reich beteiligt ist.
Ein grosser Teil der Werke ist von vornherein bestimmt, in
praktische Verwendung überzugehen und im Leben weiter zu
wirken. Die Ausstellung ist nach grossen Gesichtspunkten an -
gelegt; sie stellt Aufgaben, an deren Lösung die Nation beteiligt
ist. Das Schulwesen, die Wohnungsfürsorge, der Hausbau für
ländliche Arbeiter sind hier zum Teil in mustergültiger Weise
vorgebildet und es bedarf nur des teilnehmenden Interesses der
Bevölkerungskreise und ihrer Machtfaktoren, daran es augen -
scheinlich nicht fehlt, um das Bild der äusseren Kultur gründ -
lich zu reformieren. Ein künstlerisch sozialpolitisches Programm
findet hier eine ziemlich umfassende Formulierung im Anhang
an den befruchtenden Ideenstrom, der aus England herüber -
geleitet wurde. Vor mehr als 25 Jahren hat England bereits
die ausgezeichneten Grundsätze gefunden, die bei der Erhaltung
heimatlicher Schönheiten leitend sind, und Hand in Hand mit
den sachgerecht betriebenen Angelegenheiten eines technisch
ausgebildeten Heimatschutzes die künstlerischen Probleme des
Neuschaffens gelöst, ohne der Gefahr einer neuen Stilmeierei
zu erliegen. Deutschland hat in den ländlichen Baufragen einen
ähnlichen Weg eingeschlagen, und die Modelle der Ausstellung
sind mehr als ein guter Anfang. Es ist zwar denkbar und
höchst wahrscheinlich, dass die Haus- und Wohnungsgestaltung
des modernen Industriearbeiters noch wesentlich andere Formen
annehmen werden, weil ein gewisser ausschlaggebender Teil
der Arbeiterschaft sich nicht auf den Lebenszuschnitt des ihm
gänzlich wesensfremden bäuerlichen Typus zurückschrauben
lässt und ganz selbständige Voraussetzungen für die ästhetisch
befriedigende Neubildung seines Wohnwesens mitbringt. Aber
für den sehr erheblichen Teil des ländlichen Arbeiterkreises
sind die gegebenen Vorbilder vorzüglich, sowohl was die innere
Durchbildung, als auch den äusseren Anschluss an landschaft -
liche Überlieferung betrifft. Den Schund der Möbelbazare, der
in Bürgerwohnungen paradiert, zu verdrängen und durch solides,
billiges Mobilar zu ersetzen, ist eine wichtige Kulturaufgabe,
die von der Dresdner Werkstätte (K. Schmidt) sehr erfolgreich
unternommen wird. Das Maschinenmöbel wird die Aufgabe
erfüllen. Aber das Ziel geht weiter. Wäre doch schon die Welt
mit dem ästhetisch befriedigenden Hausrat maschineller Her -
stellung versorgt; fänden wir doch schon in allen Häusern
dieses anständige Erzeugnis als Beweis für die vorgeschrittene
Geschmacksbildung des Inwohners, die es erst möglich macht,
dass sich Menschen wiederfinden und verstehen! Wie hoch
würde dann das Gebilde edler künstlerischer Handarbeit im
Werte steigen! Das ist das verheissungsvolle Ziel, dass wieder
diese köstliche persönliche Handschöpfung im Gegensatz zum
Maschinenerzeugnis als neuer Seelenwert Echo weckt. Aber
vorderhand ist kein besseres Mittel, als die Maschine durch die
Maschine zu bekämpfen und zu zeigen, dass im Grunde die
Gesinnung entscheidet. Neben den typischen Kunsterscheinungen
des Maschinenmöbels und des volkstümlichen Schaffens, nach
Volksstamm und geschichtlicher Entwicklung unterschieden, samt
neuen Versuchen der künstlerischen Weiterbildung als Heimatkunst,
steht die Selbstherrlichkeit schöpferischer Naturen, die allerdings
das köstlichste Gut der Volkswirtschaft bilden. Von einer
Charakteristik der einzelnen Erscheinungen kann abgesehen
werden, weil es von andern hinreichend geschehen ist. Nicht
alles ist auf gleicher Höhe, natürlich, die Besten sind noch in
voller Entwicklung, nicht Fertige, sondern Werdende. Es ist
ein grosses Glück, dass noch so reiche Entfaltungen zu erwarten
sind. Sie wirken fruchtbar und schöpferisch, indem sie ihre
Kräfte entwickeln. i n
* #
*
Nur fünf Stunden von Dresden entfernt, aber schon auf öster -
reichischem Boden, war abermals ein grosser Ausstellungsbezirk:
Reichenberg. Mit ähnlichem Programm wie die Nürnberger.
Aber ein Abstand! Hausmeistersezession und schlechte Export -
ware. Reichenberg selbst als Stadt trägt nicht das geringste
Zeichen von dem neuen Geist, der sich in den Städten des
Deutschen Reiches regt. Ich fand ein trostloses Bild. □
Eine blühende Landschaft, schmucke Gehöfte, kunstvoll zu
nennen, was die alte Zimmermannskonstruktion und den origi -
nellen farbigen Schieferbehang der Wandflächen betrifft, und
schliesslich die reiche, geldstolze Stadt, abscheuerregend in
Schmutz und Hässlichkeit. Die Stadt als Kunstwerk ist ein
Begriff, der den vergangenen Zeiten der Kultur angehört; die
Vorstellungen, mit denen wir reisen, haben kein Bürgerrecht in
solch einer „neu ausgebauten« Stadt. Zwar befinden sich hier
noch einige matronenhafte Häuser aus der Barockzeit und die
viel älteren Tuchmacherhäuser, weit vornübergeneigt und auf
freies Gebälk gestützt, fast vermenschlicht und trotz der gren -
zenlosen Verwahrlosung vornehm wie die Physiognomie einer
edleren Rasse. Drücken die gemeinen Züge, die nun vor -
herrschen, wirklich die Gesinnung des heutigen Stadtgeschlechtes
aus? Das Architektur ideal dieser Kaufleute und Fabrikanten
ist die schlechte Fabriksmarke des Zinskasernenstils der Wiener
Grosstadt. Die Provinzstadt ist der kleine Gernegross, der es
der grossen Schwester zuvortun möchte und mit tödlicher
Sicherheit daneben tastet. Hier ist alles Import, von der billigen
Bazarware bis zu den täuschenden Fassaden. Auch Kunstaus-
steUungen und Sammlungen gibt es, aber die Kunst ist ein
loses Glied in dem modernisierten Stadtgefüge. Keinesfalls die
Grundlage, die die Lebenshaltung bestimmt. Das Kunstinteresse
ist bestenfalls Heuchelei, so lange den Menschen das Leben in
schmutzigen, verwahrlosten Wohnungen hinter unechten, abge -
bröckelten Palastarchitekturen genügt. Wenn dieses nicht in
Ordnung ist, wird nichts in Ordnung sein. Das schlichte
Bauernhaus kann kunstvoll sein, der protzige Aufwand der
reichen Provinzstädter wird es schwerlich sein. L.
306
I
i
-t
HOLLÄNDISCHE REISESKIZZEN.
i.
DER FRIEDENSPALAST IN DEN HAAG.
D en Haag ist die modernste Stadt Hollands. Der spezifisch
holländische Charakter, der in den anderen Städten des
Landes vorherrscht, tritt hier unter der europäischen
Tünche zurück. Allerdings ist noch die imposante alte Burg -
anlage der Grafen von Holland, des Grafengeheges ('s Graven-
hage oder den Haag) in den Hauptzügen vorhanden. Die
schöne Burggracht breitet den von Schwänen belebten, zwei
Hektar grossen Wasserspiegel an der Nordseite der Befestigung
aus, die anderen eingedempten Grachten, die den stattlichen
Binnenhof mit dem Rittersaal, der Hofkapelle, den Wohnun -
gen der Dienst- und Kriegsmannen umgürteten, sind heute
noch an den Strassenzügen und ihren Namen nachweisbar.
Heute hat in der vielfach umgebauten Kastellanlage die Re -
gierung ihren Sitz. Die Kammern tagen in dem Rittersaal,
einem der eigenartigsten gotischen Innenräume mit frei tragen -
der Decke, die allerdings durch eine Restaurierung im Jahre
I86t auf das schändlichste zerstört und neuerdings seit 1896
unter Leitung des holländischen Stilarchitekten Cuijpers einer
sogenannten Wiederherstellung auf Grund alter Pläne unter -
zogen wurde. Das Kastell ist die Urzelle der Stadt. Man muss
von hier ausgehen, um die Entwicklung der Stadt zu verfol -
gen. Binnenhof und Buitenhof (Aussenhof), der anschliessende
Groenmarkt mit dem Stadthaus und der Grooten Kerk (Dom),
dem Gefangenenpoort im Westen, dem Wassergraben desVijver,
mit dem Vijverberg und seinen schönen Baumständen im
Norden, und dem Plein, einem herrlichen Baumplatz als Über -
rest altholländischer Gärten im Westen, bilden die alte Burg -
stadt und jetzige Regierungsstadt, um die das losere Gewand
der Bürgerstadt gelegt ist. Q
Die königliche Residenz brachte einen klassizistischen Einschlag
in das Architekturbild, das schlichte Huis Ten Bosch fügt sich
als Kronjuwel europäischer Fürstenkunst ein und in den
Hauptstrassen mit den vornehmen Verkaufsläden herrscht inter -
nationaler Geschmack. Modernes Kunstgewerbe und insbeson -
dere englische Manufaktur finden hier ein gutes Absatzgebiet.
Die Museen enthalten künstlerische Erlesenheiten. Niederlän -
dische Kunst ist im Mauritshuis am Vijver zu Hause. Die edle
Pilasterarchitektur, eine Verbindung von Rohziegelbau und
Sandstein, ist aus dem Niederschlag italienischer Einflüsse auf
holländischen Baugeist entstanden. Paulus Potter und Rem-
brandt sind die Helden der Galerie. Die „Anatomie“ befindet
sich dort und seltene Werke des erst in neuerer Zeit zur vollen
Schätzung gelangten Delftschen Vermeer. Holbein zählt
unter den Schätzen. Im Stadtmuseum gibt die Sammlung
des feinen Haagschen Porzellans und der Bildersaal mit den
Schützen- und Magistratsbildern von Jan van Ravesteyn, dem
Lieblingsmaler der Haager Patrizier, einen intimeren Einblick
in die Lebensführung der alten Stadtgeschlechter. Eine fast
höfische Eleganz unterscheidet die Charakterbilder dieses Künst -
lers von der derben nationalen Eigenart der Regentenbilder
seiner niederländischen Zeitgenossen. Das Mesdag-Museum ent -
hält die fast einzige moderne Galerie des Landes. Die franzö -
sischen Schulen des XIX. Jahrhunderts, besonders die grossen
Meister von Barbison, sind hier in selten gesehener Reich -
haltigkeit vereinigt. □
Seit der Gründung der ostindischen Kompagnie geniesst den
Haag den Weltruf eines Ruhesitzes. Er ist die Solitüde der
in den Kolonien reich gewordenen Holländer und Erholungs -
ort für die Offiziere der ostindischen Armee. □
Seit Jahrhunderten als Sitz diplomatischer Verhandlungen und
der seit J593 von Utrecht hieher verlegten Generalstaaten sowie
als königliche Residenz hat die Stadt einen eigentümlichen
internationalen Bevölkerungstypus entwickelt. In den Strassen
herrscht internationale Eleganz. Man begegnet Indiern, Fran -
zosen, Engländern, die hier zu Hause sind. Sie bestimmen den
Aspekt. Der prachtvolle Baumweg, der nach Scheveningen
führt, ist eine Völkerstrasse, in der alle Idiome der Welt er -
klingen. Hier ist der Platz für den aus den verschwenderischen
Mitteln der Carnegie-Stiftung zu erbauenden Friedenspalast ge -
funden worden. □
Die Entwürfe des internationalen Wettbewerbes waren in den
Haag ausgestellt, über 3000 Zeichnungen. Trotz des quantita -
tiven Auftretens konnte es nicht schwer sein, den vereinzelten
Versuch, die Lösung in der Sonderheit der Aufgabe zu suchen,
herauszufinden. Die Jury hatte ihre Aufgabe dadurch kompliziert,
dass sie nicht nach künstlerischen, sondern nach diplomatischen
Grundsätzen vorging. Es entfielen sonach die Preise auf Frankreich,
Amerika, Deutschland, und einem allzu unvermeidlichen künstleri -
schen Zwang zufolge auch auf Österreich. Der erste Preis war
eine Reverenz vor der Ecole des Beaux-Arts, deren nichts -
sagender Grösse bei allen internationalen Konkurrenzen die
schwersten Opfer gebracht werden. Es ist hohe Zeit, auch
diesen hohlen Götzen zu stürzen. Die Jury hat es dem Herrn
Cordonnier als hohes Verdienst angerechnet, dass er sich mit
Rücksicht auf Haag als Sitz des Schiedsgerichtes von der
niederländischen Architektur des XVI. Jahrhunderts inspirieren
liess. Es ist um so auffallender, dass holländische Künstler, die
stärker in der heimischen Eigenart schaffen, ohne ihre Vergan -
genheit zu kopieren, im Wettbewerb leer ausgegangen sind.
Die Erbitterung ist gross, namentlich in der jüngeren heimi -
schen Künstlerschaft. □
Es liegt bittere Ironie darin, dass schon am Anfang des
Friedensbaues, trotz aller Diplomatie, kein Teil zufrieden ist.
Es wiederholt sich die alte Lehre, dass künstlerische Fragen
nicht diplomatisch, sondern künstlerisch entschieden werden sollen.
Es darf ausserdem den niederländischen Künstlern, und nament -
lich Herrn Cordonniers Projekt gegenüber, das holländischer
als die Holländer sein will, nicht vergessen werden, dass der
Friedenspalast der internationalen Idee dient und mit dem
Wesen der holländischen Baukunst nichts zu tun hat. Hat sich
doch selbst den Haag zum internationalen Stadt-Typus ausge -
wachsen. Der aufmerksame Vergleich unter der ungeheuren
Menge von Entwürfen lieferte den allerdings nicht über -
raschenden Beweis, dass die hervorragende Architektenschaft
aller Welt nicht imstande ist, diese allgemeine moderne Idee in
einem baukünstlerischen Organismus auszudrücken, der kein
Kompromiss enthält. Vielleicht liegt es daran, dass die ganze
Friedensidee eine Idee des Kompromisses ist. Die Internatio -
nalität bedingt es. Keinesfalls aber ist die Anleihe bei Stil -
motiven der Vergangenheit anders auszulegen, als durch künst-
ÄPPPI
307
lerische Sterilität. Diese ist der überwältigende Grundzug der
gesamten Projekteausstellung. □
Der puritanische Geist der neuen nordischen Schule, die in
bezug auf Material und Konstruktion rücksichtslose Wahrheits -
liebe fordert und auch in Holland Bekenner dieses gotischen
Ideals besitzt, verurteilt auch solche moderne Schöpfungen,
deren äusserlicher Effekt in prunkhafter Verkleidung durch
Marmor, Glasmosaik, vergoldeten Metallornamenten und ähn -
lichem angehängten Prunk besteht. Wie hoch auch die Über -
legenheit des strengen Ideals zu schätzen ist, wenn es sich um
eine nationale Aufgabe handelt, für die internationale Idee
dieses Bauwerkes kann die äusserliche Prunkentfaltung einer
solchen Fournierung immerhin als zulässiges Charakteristikum
gelten. Nicht die tiefe Symbolik eines künstlerischen Stein -
hauers und die herbe Schlichtheit des nackten Backsteinbaues,
der die einfache Grösse des konstruktiven Gedankens mani -
festiert, sondern die blendende, spiegelnde Eleganz dieser leicht -
fasslichen Prunkentfaltung wird dem hier gastierenden Aller -
weltsgeschmack angenehm und als ebenmässiger Ausdruck ihrer
Modernität erscheinen. Mit anderen Worten: Lackstiefel und
Frack, glänzende Uniformen verlangen das wahlverwandte
Visavis des gewichsten Parketts, spiegelnder Marmorwände und
die Seichtheit einer oberflächlichen, dafür aber um so material -
kostbareren Ornamentik. Es ist ein Fall, in dem die Schwäche
des Künstlers zur starken Tugend wird. □
Das Entscheidende wird aber in der Grundrissdisposition ge -
sucht werden müssen. Ich habe bei diesen Erörterungen das
relativ beste Projekt im Auge, demzufolge die Haupträume des
einen inneren Hof umschliessenden Komplexes nach aussen als
charakteristische Bauglieder wirken. In der Vorderfront liegen
nebst der Haupttreppe und dem Vestibül die Parteienräume der
Cour d'Arbitrage; die Seitenflügel enthalten je einen Verhand -
lungssaal (Sale de Justice), denen als Kopfende nach derVorderfront
je eine Ratskammer (Sale de Conseil) vorgelagert ist, ein Sanktua -
rium, in dem der Schiedsspruch beschlossen wird und das sich seiner
inneren Bedeutung nach, links und rechts an der Vorderseite
flankierend, als selbständiges, von goldenen Kuppeln überhöhtes
Bauglied auszeichnet. Die Rückseite des Gebäudes nimmt die
Bibliothek auf, von anderen unwesentlicheren Raumzwecken
abgesehen. Die sichtbare baukünstlerische Betonung des Wesent -
lichen hat den Architekten vor der verführerischen Idee, durch
eine mächtige Mittelkuppel unwichtige Bauteile ungebührlich
auszuzeichnen, bewahrt. Die wenigsten waren überlegen genug,
einer solchen Lockung zu widerstehen. □
Nur in grossen Zügen kann, wie geschehen, der Baugedanke
dargelegt werden; zahlreiche geniale Züge in Detailfragen
müssen übergangen werden, weil das Verständnis für sie ohne
Planvorlage nicht zu vermitteln ist. Die kalt-vornehm prunkende
Festlichkeit des Palastes wird jener Welt, für die er gedacht
ist, voraussichtlich die angemessene formale Befriedigung geben.
Trotzdem hätte eine Feinheit darin Platz gehabt, der keine
Jury der Welt, auch nicht die verstockteste, hätte widerstehen
können: das als Garten gestaltete Hofinnere. Seit die Mensch -
heit imstande ist, schöne Häuser zu bauen, gehörte der schöne
Gartenhof zu ihren unverlierbaren Kleinodien. □
Die unvermeidliche Reform des Entwurfes ist die Ausführung
selbst. Nach künstlerischer Erwägung ist es unzweifelhaft, dass
das Projekt OTTO WAGNERS das Feld behauptet. L.
DIE BRIGITTENKIRCHWEIHE IN WIEN.
AUS SARTORIS „MAHLERISCHEM TASCHENBUCH«, WIRN, I8J4.
V el Freuden hegt und birgt das schöne Wien. Nicht ver -
gebens hat sich DIESE Anzahl Menschen in DIESER
Gegend vereinigt. Was so vielfältige Lebenskunst mannig -
faltig erfindet, was der immer rege Drang der Menschen nach
Glückseligkeit unerschöpflich zu ahnden und scharfsinnig her -
vorzubringen vermag, begünstigte auf das bereitwilligste das
liebliche Lokale; die mütterliche Erde kommt im holden
Wettstreit dem Sehnen, den Wünschen ihrer Kinder ent -
gegen. □
Ein Tag übergibt lächelnd dem andern das Stundenglas der
Freude, der Strom rollt ununterbrochen rieselnd fort, aber in
dem Sande sind einige köstliche Goldkörner; wenn diese fallen,
schimmert dreifach der Sonnenblick des Glücks. □
Mitten in des Jahres reifster Blüte, wo des Winters mächtige
Gewalt erstorben ist, wo Jupiter Pluvius nur erquickend waltet,
wo Pomona am reizendsten errötet und Ceres ihre Gunst nicht
länger birgt: im schönen Julius, sind zwei holde Tage, da fällt
ein Goldkorn aus Saturnus Hand. □
Was immer schön war, wird da jetzt noch schöner. Ein seliges
Ländchen, von zwei Armen des Stromes umschlossen, in dem
die Kaiserstadt sich würdig spiegelt, das romantische Gebirge
auf der einen, liebliche Waldungen auf der anderen Seite be -
grenzen, ist der Schauplatz des Festes dieser Tage. □
Stille Ruhe und Einsamkeit herrscht sonst in dem reizenden
Oval, das den Augarten und die Brigittenau in sich begreift;
es scheint, die Menschen hätten sich verabredet, diesen Ort
bis auf diese Tage der Weihe nur leise zu berühren. In den fest -
lichen Gängen, in der üppigen Vegetation der benachbarten
Au wandeln sittig und sinnend nur einzelne Spazierende um -
her ; sie scheinen Priester des heiligen Haines zu sein, der den
Tempel eines Gottes umgrenzt, dessen Gegenwart sein erkorner
Vogel, die Nachtigall, durch holde Töne verkündet, denn diese
hat hier mit allen ihren Genossen ihre bleibende Heimat. Ihren
Gesang unterbricht nur das hohle Klopfen des Spechtes, das
rührende Girren der Turtel, die Geschäftigkeit des im abge -
fallenen Laube der Bäume raschelnden Eichhorns und der
schallende Flug eines Rabenheeres. Die Menschen scheinen sich
ihrer gewaltig herrschenden Macht hier begeben zu haben. □
Anders wird es an jenen Tagen der Weihe. Schon Sonntags
früh wandelt sich die Szene. Nicht nur die Treuen der Gegend,
mit offenem Buche und entfalteter Rolle, nicht seraphisch ver -
bundene, in sich geschlungene Paare bloss betreten in gewohnter
Andacht diese Stätte; ein leichtes Völkchen in munterem Ge -
wände und mit rascheren Tritten beginnt die ernsten Gänge
des noch beschatteten Augartens zu füllen, befremdet von den
anderen angeblickt, selbst aber sorgenlos und voller Wohlgemut.
Es späht mit lüsternen Augen nach Bewirtung. Und, unerhört,
g'ibt's, ehe man sich's versieht, auch Wirte da! Sie pflanzen
keck sich an des Gartens Ausgang, und bieten Kirschen feil,
Johannisbeeren und Würste, Brot und Schnaps, was nur ein
jeder mag. Die Invaliden, des Augartens gerühmte, ernste Hüter,
blicken hauptschüttelnd dieser Neuerung zu. Vergebens ist's!
Das muntere Völkchen siegt und mehrt sich jeden Augenblick
mit seinen Wirten. Zum ersten Male verstummt die Nachtigall
und die Turteltaube, man sieht kein Eichhorn mehr, hört keinen
308
Minka Podhajskä
Konversation Minka Podhajskâ
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Minka Podhajsfeä
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3J2
Märchen
Fanny Zufeucka
Specht, der Lärm wird immer grösser, schallendes Gelächter
am Damm, in den Alleen ühertönt der laute Chor des Volkes
selbst die Lüfte. Hin ist die heilige Stille und das Getümmel
nimmt sich verbreitend zu. Die Brigittenau, deren sanftsäuselnde
Gebüsche und grünen Wiesenmatten sich stille sonst an den
erhabenen Hain des Augartens fügten, beginnt laut und leb -
haft zu werden. Es regt sich lebendig und geschäftig in den nied -
lichen Häuschen der Bewohner und von allen Seiten werden
Anstalten zum baldigen Feste getroffen. Hohe, farbige Stangen,
mit grünem Laube umkränzt und gekrönt, sind die Signale, die
die vielen Sammelplätze der werdenden Freude weit in die
Ferne verkünden. Der romantischen Nomadenwelt wandelnde
Städte, zierliche Gezelte, erheben und füllen sich wirtlich im
sonnigen Grunde der Wiese und unter den schattigen Gruppen
der Bäume. Es steigen Tribünen empor mit musikalischen
Instrumenten; es erschallen die Probeläufe der Tonkünstler auf
Hörnern und Hoboen, Klarinetten, Violinen und Tamburins
in reizendem Gewirre. Schon verheisst ein ernster Basstrich
hie und da Ordnung und Form zu geben dem wirbelnden
Chaos der Töne. □
Aber nicht nur im Anfänge der Au, um und neben den
Häuschen entspriesst plötzlich das laute Organ der Freude
und Lust, auch die tieferen Gründe bis zu den ernsten Schatten
der Kapelle hinab und des Jägerhauses einsamer Nachbarlichkeit
ergiesst sich der wachsende Strom des beginnenden Festes. Vor
dem grünen Zirkus der Hippokastanien, die rings das Sarcellum
schattig und kühlend umsäumen und es bergen in heiliges
Dunkel, hat sich ein Vorhof gebildet, heute nicht für ein sokra-
tisches Mahl der Priester des Ortes bestimmt, nein, dem jubeln -
den Genüsse des Volkes preisgegeben, das des erflehten Segens
laut und festlich sich hier freuen will. Schimmernder scheinen
selbst die Fluten der umgebenden Donau heute zu strömen,
goldbestrahlter blicken die heiteren Häupter des Gebirges herab
und das weisse Pappelgehölze, die rings die Landschaft um -
grenzen. □
Die Sonne ist indes hoch emporgestiegen und beleuchtet mit
Wonne in ihrem strahlendsten Glanze die werdende Festlich -
keit des Tages. Gelagert hat sich in mannigfaltiger Gruppierung
die fröhliche Menge unter dem lebendigen, regen Schatten der
Bäume und der künstlichen Schirmung der Gezelte. Der hohe
Mittag bricht an, und ihn verkündet von allen Seiten der
schmetternde Schall der Trompeten. Das Freudesignal ist ge -
geben und harmonische Töne erfüllen mit romantischem Leben
die schweigenden Reize der Szene. Die Brigittenau ist heute
die Königin der Feste, die in des Sonntags nachmittäglicher
Feier die Kaiserstadt zahlreich beleben. Selbst des Praters
stolzes Prinzipat der Freudespendung tritt an diesem Tage
willig und bescheiden zurück; denn ihm, dem so reich und
vielfach Begüterten, ist versagt jene Gabe, die dort sich strö -
mend aus dem Freudenfüllhorn ergiesst, das eine huldreiche
Göttin bloss für jenen Ort und diese Zeit bewahrte. Nicht des
gymnastischen Zirkus wundervoll gaukelnde Spiele, nicht des
Panoramas bezaubernde Gegenwart einer fernen Königsstadt,
nicht das lebendig sich wandelnde Miniaturgemälde der Camera
obscura, ja nicht einmal Stuwers vulkanische und Degens
dädalische Künste wären vermögend, die Volksmenge zu fesseln,
die sehnend und drängend durch alle Gänge und Pässe nach
jenen glückseligen Auen unaufhaltbar hinwogt. Hier nämlich
waltet erschaffend und ergötzend zugleich die Freude der Men -
schen. Die Zufriedenheit des Künstlers ist mit der Wonne des
Zuschauers innig verschmolzen. Eine glänzende Bühne bedarf
zum ersten Male kein Publikum mehr, denn jeder kann nach
Gefallen eine der ungezählten Rollen selbst ergreifen, die das
festliche Spiel durch ihre Mehrheit stets noch verherrlichen. Im
allgemeinen Tanze bewegt sich die fröhliche Menge. □
Ehrbar und ordentlich beginnt anfangs bloss unter den Zelten
und in den geschmückten kleinen Salons der Menuette schwe -
bender Gang; es ist der vorbereitende, verkündende Rhythmus
des poetischen Lebens, der nun mächtig in die regellos und
beschwerlich sich berührende Alltäglichkeit eingreift. Harmonisch
und angenehm soll von nun an jeder dem andern begegnen,
jede Annäherung muss erfreulich, jede Entfernung schmerzen -
frei sein, denn sie geschieht ja nur zu baldigem doppelt erfreu -
lichem Wiedervereine. Die best Geputztesten fordert feierlich
der einladenden Musik beredte Stimme auf, hervorzutreten und
durch ihr Beispiel gewaltig zu wirken auf die andern, noch
unentschlossenen schüchternen Gäste. Mutiger gemacht durch
die Stärke des Mahles, lüsterner durch den magischen Zauber
der Töne, und jeder längeren Verzögerung unmächtig durch
die lockend befehlenden heimlichen Winke der nach Tanz sich
sehnenden Schönen, erhebt sich endlich mit studierter Gebärde
ein junger Held des Tages von seinem Sitze und ergreift mit
bebender Ehrfurcht und verunglücktem Kompliment ihr bereits
schon lange zurechtgelegtes Händchen. Seine Herzensbangigkeit
wird gemehrt durch die nie geträumte, ungesäumte Willfährig -
keit und den noch nie empfangenen holden Liebesblick, mit
dem ihn die Geliebte jetzt zum lezten Male wonneschaurig
bestrahlt. Beinahe vergehen ihm die Sinne, und der wohlerlernten
Regel vergessend, beginnt er, an dem spendend gewähltesten
Platze den Takt überhörend und vermissend, den abgemessenen
festlichen Tanzgang. Sie, hier ganz in ihrem Reiche, bringt
ihn lächelnd errötend und durch unsichtbare Fingerdrücke len -
kend in das gehörige Geleise; ein paar Sekunden nur, und
alles geht auf das Erfreulichste nach Wunsch und künstlichem
Brauche. Nun beginnt er erst sich selbst zu fühlen, lebendiger
und anmutsvoller wird mit jedem Kunstschritte seine Bewe -
gung; hingehender und liebespendender mit jedem Augenblick
die Geliebte; schon entblösst sie listig unter dem unschuldigen
Vorwand der Hitze die runden, holden Arme, und triumphie -
rend, nach lange währendem Tanze, führt der Jüngling, mit nun
meisterlich gelungenem Bückling und stolz klopfender Wonne
im Herzen, die Schöne an ihren Sitz zurück. Seinen Triumph
verkündet ein schmetternder Trompetenstoss und vollendet der
entschiedene Strahlenblick der lang verhaltenen Gunst der nun
gänzlich besiegten, spröden Geliebten. □
Ein solches Gelingen weckt Nacheiferung. Beneidend, nach
gleicher Wonne lüstern, betrachten die Umsitzenden das glück -
selige Paar. Es pflanzt der Mut sich fort, die Liebe und die
Gunst. Die Zahl der Tanzenden mehrt sich mit jedem neuen
Takte und das bunt durchkreuzende Gewirre häuft sich ver -
vielfältigt, künstlich verschlingend und wieder entschwebend.
Der erste Schritt ist getan, Harmonie und Rhythmus, die uner -
lässlichen Bedingnisse aller Menschenfreunde, sind hervorgebracht
und walten, aber jegliche Lust ist die Schöpferin einer neuen, noch
grösseren. Die Pulse der Freude schlagen mit jedem Momente heftiger.
Sogar der beschleunigte Takt des Menuetts vermag nicht das Sehnen
und Drängen zu stillen, das den 'schwellenden Busen der Mädchen,
das klopfende Herz der Jünglinge mehr und mehr hebt und be -
wegt. Nicht entgeht dies dem schlauen Blick des jovialen Graukopfs,
der hoch auf der Tribüne mit brummendem Basse die Har -
monie lenkt und leitet, die heute solchen Zauber allenthalben
verbreitet. Er ist sich seiner Wichtigkeit und Macht sehr wohl
bewusst und wohl erfahren, wie sie Freuden spendet. Ein
Wink von ihm bewirkt ein plötzliches Wunder. Drei neue
Kernstriche auf seinem Bass von eigner Art und mit veränder -
tem, gebietend begleitendem Tritte wandeln blitzschnell die
Szene. Nicht halten mehr können sich die zärtlichen, durch -
einanderschwebenden Paare in zwar lieblicher, doch immer
scheinender Ferne. Gesamt, wie durch ein Feenwort, stürzt
jedes Mädchen in die Arme des Geliebten, und innig ver -
schlungen beginnt alles den wonnigsten, den deutschen Freuden -
tanz. In verschmolzener, von der Kunst geheiligter, durch kein
steifes, feindseliges Gebot mehr gehinderter Berührung drehen
sich mit schwindelnder Lust in paradiesischen Kreisen die
liebenden Paare. Im deutschen Zirkeltanze nur weht ewig
neu belebende, stets sich wieder gebärende, nie versiegende
Wonne. □
Wie der durch einen Kieselwurf in einem stillen, klaren See
gebildete Kreis sich immer mehr und mehr erweitert, so pflanzt
sich durch alle Salons und Gezelte des hinreissenden Tanzes
verbreitende Kraft fort. Zu enge wird der Raum, zu gross die
Zahl der Tänzer. Unwillig sieht sich die immer wachsende
Menge ausgeschlossen von der Freuden Genüsse, der die
früher Gekommenen beseligt und den sie fröhlich behaupten.
Kurz währt jedoch der Schmerz, und bald wird er gehoben.
Lächelnd, verstohlen blickt die heitere Sonne durch das
schattige Laub auf den grünenden Rasenteppich herab, und
schnell wird die liebliche Weisung erkannt und befolgt. Zum
Tanzsaal wandelt sich der Wiesengrund, jedoch der Ort bedarf
der Musik auch; die Stimmen der heimischen Tänzer sind
nicht geeignet für das Bedürfnis der Menschen. Sylphen und
Gnomen beginnen wohl nach der zirpenden Grille lustigem
Takte im duftenden Haine, nach dem summenden Wonnechor
der Biene in dem Blütenorchester der Linde und nach der
Grasmücke wechselnd lyrischem Spiele im säuselnden Gebüsch
den fröhlichen Reigen; doch diese Töne verhallen in des irdi -
schen Menschen gröberem Organe. So erwünscht bevor Wirte
erschienen für die ungewöhnlich zahlreichen Gäste, so erfreulich
erscheinen auch Musiker für die tanzbegierige, strömend sich
häufende Menge. Denn zur Verherrlichung des heutigen
Festes nach ihren Kräften beizutragen, haben bereits den Tag
bevor sämtliche jene Virtuosen, die sonst in der Stadt sich
pflichtig dingten, durch ihre Künste an allen Orten der allge -
meinen Freude die Lust zu regen und zu erheben einen Bund
geschlossen. Es ist der einzige Tag ihres gesamten Triumphes,
denn heute muss die böse Kritik verstummen. Harmonisch
klingen die verunglücktesten Läufe auf den verstimmtesten
Geigen, Harfen und Hackbrettchen, verwundert blicken sich ob
dem bis jetzt nie vermiedenen Tadel verwöhnter Ohren die
Künstler stolz und selbstgefällig an. Süsse Täuschung! Sie ge -
wahren den Beistand des Gottes nicht, der ihr Ungeschick birgt und
entkräftet, seiner olympischen Freundin, der Muse des Tanzes,
zuliebe, die heute ihr Ehrenfest feiert. Aeolus Gegenwart
ahnen die Kurzsichtigen nicht! □
In kurzem ist des Tanzes süsse Freude allenthalben verbreitet,
und in den mannigfaltigsten Formen, in hundertfachen Abstu -
fungen, von der höchsten Virtuosität bis zu dem untersten
Elementarsprunge herab, wird die wonnige Kunst geübt und
genossen. Hier wird es deutlich, das schwere Problem t die Er -
findung des Tanzes. Ihn erfand kein Mann, kein Olympier,
noch Sterblicher; ihn erfand ein Weib, und gerecht hat die
Erfinderin Griechenland zur Göttin erhoben und in die holde
Gemeinschaft der Musenschwestern versetzt. Denn an den
schimmerlosesten Plätzen, in der beschränktesten Umgebung,
von den ungelehrtesten Paaren versucht und geübt, erscheint
überall der weibliche Teil entschieden und überwiegend immer
Meister im Tanz. Überall wie dort unter dem schimmernden
Gezelte und in den bekränzten Salons, so hier auf dem grünen
Tanzteppich der Wiese, wird der Mann von seiner schöneren
Hälfte zurechtgewiesen und durch ihr Genie dem kunstlosen
Ausbruch seiner tanzbegierigen Laune gesteuert. □
Nach und nach entwickeln sich hie und da aus den kräuseln -
den Sphären einzelne Paare; die dort in wonnigem Taumel
geschlossenen süssen Bündnisse wollen ruhiger empfunden,
bleibender erhalten werden. Auch dafür ist gesorgt. Holde Ein -
samkeit öffnet nachbarlich ihr bergendes Gebiet. Hinab vom
Jägerhäuschen, an dem links flutenden Arme des Stromes führt
rechts an lenkender Umzäunung ein Pfad auf den von zarten
Weidengebüschen umfangenen Dammweg. Hier breitet sich
eine Umgebung aus für die stummen Gefühle der Liebe.
Rauschend ergiesst ihre Wogen die herrliche Donau in das
mächtig gebildete Bett; einladend winken zur heimischen Labung
die Häuschen des lieblichen Dörfchens am Rande des Stromes;
heiter blickt, wie ein seliger Greis, der Kahlenberg herab auf
die lebendige Flur und das Menschengeschlecht, das, durch
Liebe beglückt und erhalten, an seinem Fusse so oft schon sich
wechselnd erneute. Bergen kann sich auch hier verhaltene Liebe
nicht länger. □
Der strahlende Zeuge seligen Bundes ist still indes und unbe -
merkt geschieden. Die Sonne ist untergegangen und dunkel
breitet sich immer umfassender der Mantel der Nacht aus. Die
glücklichen Paare kehren zurück zu den vorigen rauschenden
Freuden. □
Dort ist indes ein neuer Tag entstanden. Unzählige Lampen-
steme suchen vereinigt den Glanz der entschwundenen Königin
des Lichtes zu ersetzen und ihre verlorene Gegenwart minder
schmerzlich zu machen. Ganz für die bleibende Herrlichkeit
der heutigen Feier geeignet ist ihr dämmernder Schimmer. Denn
mit Absicht ist die helle Sonne gewichen; ihre strahlende Be -
leuchtung wäre zu gross für die Vollendung des Festes. Denn
manche Schöne verlor durch die Freuden des Tanzes, der Liebe
und des Mahles die Frische des ersten zarten Farbenschmuckes
und bedarf zur längern, gleich lieblichen Dauer einer matteren
Beleuchtung. Im milden Schein der olympischen und irdischen
Sterne, unter Lunas mit Helios wechselnder Herrschaft erscheint
jedoch die vorige Anmut herrlicher noch. □
Besorgt für die Glückseligkeit der geliebten Sterblichen und um
ihnen heimlich die heutigen Freuden neu wiederholt noch
morgen zu spenden, giesst lächelnd Morpheus des Mohns stets
körnerreiches Haupt herab auf die duftenden Fluren. Der holde
Schlaf neigt sich mit sanftem Kuss auf alle Augenlider. Ge -
endet ist das Fest der Sonntagsweihe. □
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