DER ARCHITEKT UND SEIN WERDEGANG FÜNF FRAGEN BEANTWORTET VON OBERBAURAT PROF. OTTO WAGNER, WIEN, AM LONDONER KONGRESS 1906’ FRAGE I betrifft die Ausführung wichtiger Regierungs- und ftädt- ifcber Bauten durch befoldete Beamte. □ Es empfiehlt fich, vorher die Begriffe Architekt und deffen Werde gang möglichft klarzuftellen, da alle Meinungsdifferenzen in der mehr oder minder wichtigen Auffaffung diefer Begriffe wurzeln. Was den Werdegang des Architekten betrifft, fo ift in Betracht zu ziehen, daß künftlerifche Fähigkeiten, alfo manuelle Fertig keit, Phantafie, Gefchmack, Individualität und eine gewiffe Fertig keit Dinge find, welche der Architekt als Künftler befitjen muß, welche aber nicht erlernt werden können. Dem entgegen find humaniftifches, bautechnifches und konftruktives Wiffen Fähig keiten, welche der Architekt befitjen foll, diefe aber find zu erlernen. Das vom Architekten aufzunehmende wiffenfchaftliche Material hat fehr große Dimenfionen erreicht, fo daß es in Teile zerlegt, alfo in Fachwiffenfchaften aufgelöft werden mußte. Schon aus diefem Grunde ift es dem werdenden Architekten nicht möglich, fich die volle Kenntnis diefer Spezialfächer anzueignen; ift doch die verfügbare Zeit und die geiftige Aufnahmefähigkeit des In dividuums eine begrenzte. n Da der Architekt während feiner getarnten Schaffenszeit, das heute fogar titerarifcb fehr ausgedehnte Gebiet der Kunft in erfter Linie pflegen wird, aber gleichzeitig von allen technifchen Neuerungen Kenntnis haben foll, kann es fich für den Bau- künftler nur darum bandeln, daß feine technifch-wiffenfchaftliche Bildung fo weit reicht, daß er das Wefen all diefer Wiffenfchaften und ihrer Fortfehritte verftehe und diefes Verftändnis ihn bei feinem Schaffen befähige, die menfchlichen Errungenfchaften in den Dienft der Kunft zu ftellen. n Seine technifcbe Bildung muß ihn ferner in den Stand fetjen, die richtigen Konftruktionen und die geeigneten Materialien für feine Herftellungen wählen zu können, ja, fein Wiffen foll es ihm im Verein mit der angeborenen Findigkeit ermöglichen, neue Konftruktionen zu erfinnen, oder beftebende fo weit ab zuändern, daß fie ganz feinen Zwecken entfpreeben. Hieraus geht hervor, daß Praxis und Erfahrung, welche fich der Archi tekt im Laufe feiner Tätigkeit aneignet, auf ausreichendem Wiffen bafiert fein müffen. a Erft nach reifer technifcher Ausbildung ift die Frage zu löfen, ob der Kandidat des künftigen Architektenberufes jene ange borenen Qualitäten befit}t, welche einen Erfolg beim Betreten diefer Laufbahn vorausfetjen laffen. n Es gibt alfo im Werdegang des Architekten eine ftark mar kierte Grenze. Diefe Grenze liegt, wie erwähnt, naturgemäß zwifeben der erreichten, reifen, technifchen Bildung und dem * Es find Fragen, die noch immer an der Tagesordnung fteben; von der Repräfentationslaft des Londoner Kongreffes faft erdrückt, ift die pofitive Kongreßarbeit febier unbeachtet geblieben; fie foll durch den Neuabdruck wieder in Erinnerung gebracht werden. DIE RED. Übertritte an eine Akademie für bildende Kunft. Die Akademie, refpektive die an einer folcben wirkenden Meifter haben zu prüfen und feftzuftellen, ob der Kandidat die eingangs erwähn ten angeborenen Eigenfchaften befitjt oder nicht. □ Es ift den Meiftern nicht genug ans Herz zu legen, bei diefer Prüfung die größte Strenge walten zu laffen, da das Refultat diefer Prüfung einen großen Einfluß auf die allgemeine künft lerifche Qualität des Standes haben wird und nur fo jene Kategorie von Scheinarchitekten, welche heute zum Nachteil von Kunft und Künftlern ihr Wefen treiben, vom Scbauplat} verfchwinden kann. Jenen Kulturftaaten, deren Schulen es jedem abfolvierten tech nifchen Hocbfcbüler ermöglichen, den Beruf des Architekten zu ergreifen, auch ohne daß er die künftlerifche Eignung dazu be- fitjt, fei hiermit der wohlmeinende Rat gegeben, mit diefer Praxis zu brechen. □ Ganz befonders foll noch bemerkt werden, daß es für Bau- künftler nur eine Kunftfchule geben kann und diefe kann nur eine Akademie der bildenden Künfte fein; eine Akademie des halb, weil Kunft nicht gelehrt, alfo auch nicht als wiffenfebaft- licbes Fach in einen Lehrplan aufgenommen werden kann, und die künftlerifche Ausbildung nur darin beftebt, daß der Meifter dem Kunftjünger den richtigen Weg zur Vollkommenheit weift und ihn durch feine eigene Tätigkeit zum Betreten diefes Weges anregt. Es ift daher völlig unrichtig, wenn technifcbe Hocbfcbulen und auch Kunftgewerbefcbulen baukünftlerifches Heranbilden in ihren Lehrplan aufnebmen, da durch das ungefichtete Schülermaterial bedingt, minderwertige baukünftlerifcbe Qualitäten entfteben. Aus dem bisher getagten gebt hervor, daß der Architekt ein Künftler mit wiffenfchaftlicher Bildung ift. □ Mit dem vom Individuum mit Erfolg abfolvierten technifchen Studium und der akademifeben Lehrzeit ift aber der Begriff Architekt noch immer nicht erfchöpft. Es fehlen ihm noch die prak- tifche Betätigung und die aus derfelben refultierende Erfahrung. Ift die Lehrzeit des Architekten febon eine überaus lange, fo wird fie durch die Periode, in welcher er fich in einem Atelier die Praxis aneignet, ficberlich noch erheblich ausgedehnt. □ In diefem Abfcbnitt der Lehrzeit eines Architekten (feine Lehr zeit endet erft mit feinem Tode) fleht derfelbe abermals vor Teilungen feiner Werdebabn, d. b. Veranlagung, Verbältniffe ufw. bringen ihn dahin, entweder den Kampf ums Dafein aufzu- nehmen, oder in den fieberen Hafen feiner Stellung einzulaufen. Seine künftlerifche Qualität fpielt hierbei die Hauptrolle, denn je größer diefe ift, defto leichter wird er die verlockende Feffel einer Anftellung mit Ausnahme der Lebramtstätigkeit zurück weifen können. n Der bisher fkizzierte Werdegang des Architekten ift der nor male; es foll aber fofort bemerkt werden, daß er ficber nicht der einzige ift, und das es genügend Fälle geben wird, bei welchen die angeborenen Fähigkeiten des Architekten, alfo feine Talente fo groß find, daß ein Minus wiffenfhaftliher Bildung kaum imBetracbt kommt. □ Diefer Umftand, fowie der, daß es eine Talentgrenze nah oben und unten niht gibt, ferner die niht zu beftreitende