HERMANN OBRIST D ie Grabmalplaftik HERMANN OBRIST 3 gehört zu den un- gewöbnticbften Erfdheinungen der modernen Kunft. Sie hat keine Vorgängerfchaft; fie ift ebenfowenig aus dem Vorbild der Vergangenheit gefchöpft, wie die naturwiffenfcbaft- licbe Erkenntnis der modernen Zeit; fie gehört nicht jener heute vorwiegenden Gattung moderner Kunft an, die als flauer Hb- klatfcb biftorifcher Vorbilder der fterilen Nachempfindung ent« fpringt und die klare Entfchiedenbeit des biftorifcben Originals durch die ärgerliche Methode eines finnlofen Ummodelns bis zur Undeutlichkeit verwifcht. D Obrifts Plaftik erfcheint mir als der künftlerifcbe Ausdruck eines naturwiffenfcbaftlicb beftimmten Intellekts, der mit einem feberifchen Tiefblick in den biologifcben Schaflrensprozeß der Natur, zu der auch die metaphyfifchen Vorgänge gehören, be« gabt ift. Alfo etwas febr feltenes; eine Erfcheinung, die in das konventionelle und kunftpolizeilich reglementierte Denken unterer Zeit einen Ausblick in eine neue Welt fcbafft, die Offenbarung unbegrenzter künftlerifcber Möglichkeiten, die im Individualismus beruhen. »Der Einzige und fein Eigentum«, auf diefem Sa^ ftebt auch der künftlerifcbe Glaube eines fo konfequenten Indi- vidualiften wie Obrift. Seine Grabmalkunft: weder Plaftik noch Architektur, oder viel mehr beides zugleich, das eine in dem anderen. Die herkömm lichen Begriffskategorien geraten oft in Unordnung und bringen auch jene gegen ihn auf, die einft neben ihm oder vor und nach ihm ausgezogen waren, ihr künftlerifcbes Selbft zu ent decken und nun froh find, lieh über eine banale Konvention geeinigt zu haben. D Als Individualift und künftlerifcbes Temperament, fozufagen als eine Ausnahme, kann er wieder nur auf die Ausnahmen rechnen, auf die Verftebenden und auf die Liebhaber, die ihn begreifen wollen. Er gehört alfo nicht zu jenen, die »Kunft für das Volk« produzieren, wie er denn auch mit Recht »die Kunft für das Volk« mißtrauifch betrachtet, als eine Sache, bei der unfehlbar eine kleine Fälfchung oder Verwäfferung mit unterläuft. Die Kunft ift eine rein menfcbliche Angelegenheit, die nicht mit dem Hinblick auf eine Klaffe, auf eine foziale Schicht, auf ein beftimmtes Alter hin zureebtgemaebt werden kann. Es gibt kein Kunftwerk durch die Mafcbine, kein Kunft- werk als Maffenartikel, fondern es gibt nur ein Kunftwerk als fpontane Eigenfchöpfung der Perfönlicbkeit, und wer es als folches nicht erfaffen kann, dem ift nicht zu helfen. Der Lieb haber- und Kennerkreis um Obrift teilt diefe Auffaffung, ohne die es keine Möglichkeit gibt, zu diefem Künftler ein Verhältnis zu finden. Wie feine Stickereien und Teppiche, fo haben auch feine Plaftiken eine Eigenart, die mit dem Herkömmlichen nichts gemein bat. Der Künftler bat ficb auf diefes Gebiet zurückge zogen und feine Kraft einem ftark vernachläffigten Teil der Plaftik gewidmet, der Grabmalkunft. Es ift febr intereffant zu feben, wie ficb feine perfönliche Auffaffung des ornamentalen und des künftlerifchen Bildens, die er in dem biologifcben Vor gang der Natur ergriffen, nun auch auf dem Gebiet der Plaftik entwickelt; außer Abgüffen von Brunnen, Vogelbrunnen, Denk mälern für Grüfte, find es Afcbenurnen und Urnengrabmäler, die gelegentlich in feinem Atelier zu feben find, als Tonmodell, als Gipsabguß dafteben oder im Steinmaterial der Vollendung entgegengehen. Keine Konvention, kein noch fo füßer Engel, keines der üblichen figuralen Symbole erfcheint, um die her- kömmlicben bequemen Gedankenverbindungen berzuftellen. Anftatt der fentimental verfinnlichten Trauer drücken diefe Gebilde die laftende Wucht des Unabänderlichen aus, tiefum- febattenden Ernft, ein Umfangenfein wie am Eingang dunkler Grotten, wo eine Ahnung des Unendlichen brütet. Wie im Gebirge türmt ficb das Geftein als Gleichnis der Natur, aber immerhin zweckvoll geftaltet, mit Rückficht auf rinnendes oder Ackerndes Waffer, auf den Wuchs der Pflanzen oder auf Ruhe« punkte, die zum Verweilen beftimmen. Aus einer Urfpbäre des unbehauenen Gefteins fteigt das Gebilde empor in Flächen, die mit Rückficht auf die ornamentale Wirkung abgeftuft behandelt find, von der robbebauenen, bis zur glanzpolierten Fläche, um alle natürlichen Schönheiten des Materials im Wecbfel von Licht und Schatten zn offenbaren. Die Modellierung gewinnt Körper und Beftimmtbeit durch die Zahl und Form der Afchenbebälter, durch die Größe der Schriftfelder und durch ftatifebe und dimen- fionale Rückfichten, die auf die Formgebung von Einfluß find. Eine Ornamentik tritt auf, die neuartig ift, fremd und pban- taftifcb, fie erinnert an nichts Bekanntes. Sie entftammt auch nicht aus der Erinnerung von Bekanntem, fondern fie erwuchs aus dem Ton, gleicbfam aus der künftlerifchen Intelligenz des Taftfinnes, der durch das Auge nur unterftüt)t, ganz frei fcbafft, aus der Empfindung, aus dem Unbewußten, aus dem reinen und ungebrochenen Gefühl für das abficbtslos Schöne, das man in diefem Fall nur deshalb abftrakt nennen konnte, weil es keinen Zufammenbang mit den paar landläufigen Vorftellungen vom Ornamentalen bat. Der Künftler tut, wozu ihn feine Nei gung und feine Kraft berufen. Er tut es auf eine Art, die ihn wabrfcbeinlich mit vielen anderen in Widerfprucb bringt. Es genügt vollkommen, wenn der Künftler nicht mit ficb in Wider fprucb ift. Das ift febr feiten der Fall in einer Zeit, da die Temperamente fo rafcb wecbfeln und febon nach wenigen Jahren ihr eigenes früheres Ich oft mehr als einmal widerrufen haben. Wenn das ein Vorwurf ift, fo ift Obrift von dem Vorwurf ganz unberührt. Er hat den Vorzug ganz ficherer Naturen, die ficb im Wecbfel der Zeiten ganz treu zu bleiben vermochten. Man kann über fein Schaffen verfchiedener Meinung fein. Es kann ficb auch gar nicht darum handeln, über ihn eine Meinung zu verbreiten. Das Wefentlicbe ift, daß es fo viele Möglichkeiten des Künftlerifchen gibt, als perfönliche Eigenarten find. Den konfequenten Individualismus in der Kunft bat Obrift nicht nur in feinem Schaffen, in feiner Praxis vertreten, fondern auch als Kunfttheoretiker und Erzieher. Die moderne Bewegung konnte bei ihrem Einfe^en in Deutfcbland keinen wärmeren Anreger und Berater finden, als ihn, der unermüdlich die neuen »Mög lichkeiten der Kunft« verkündete. L. ÜBER DIE ZIELE DER PLASTIK URTEILE VON RODIN, MEUNIER, BARTHOLOMÉ UND DESBOIS D ie Forderungen Baudelaires, »die Bildhauer mögen ficb mit einer ornamentalen, auf die Suche nach dem Schön heitsideal und die Zufammenftellung barmonifeber Formen befchränkten Kunft begnügen«, veranlaßte vor wenigen Jahren einen franzöfifchen Schriftfteller,. verfchiedenen Künftlern die Frage vorzulegen, ob die Plaftik mit der Malerei rivalifieren könne und folle. Nicht um des Themas, fondern um der 135