Zentralblaff für Sammler, Ciebhaber und Kunstfreunde 3. Jahrgang. Herausgeber: Jlorbert ehrlich und J. Hans Prosl. Wien, 15. Dezember 1911. Hummer 24. Die utopistische Literatur. Vom Hofrat Prof. Or. Friedrich uon Kleintnächfer (Czernotnilj). 71s Thomas Ulorus seine berühmte Schilderung der Insel „Utopia“ - zu deutsch ungefähr „llirgendheim“ — schrieb, auf der ein Volk lebt, welches glücklich ist, weil es bei sich den „«ollen“ Kommunismus eingeführt hat, da ahnte er roohl nicht, dafj sein Buch uorbildlich coerden sollte für eine lange Reihe oon Schriften, die alle darin übereinstimmen, daf; sie sich über den Baden der rauhen Wirklichkeit erheben und hoch oben im Ätherblau der Phantasie einen Zustand schildern, der dem Verfasser als ein wünschenswerter erscheint. Der Gedankengang, der der Entstehung aller dieser Schriften zu Grunde liegt, ist ein naheliegender. Das wirk liche Heben iäfjteine dauernde uolle Zufriedenheit nicht aufkommen, es ist daher begreiflich, dafj die Ulenschen, die so niete ihrer Wünsche unbefriedigt lassen müssen, sich ab und zu in das Reich der Phantasie flüchten und sich dem Glauben hingeben, dafj die ITlenschen eines ungetrübten Glückes teilhaftig werden könnten, wenn sie unter bestimmten anderen Verhältnissen leben würden. Die Verhältnisse nun, unter denen wir leben, oon denen also die Gestaltung unseres L'ebens und damit unser Wohlbefinden abhängf, sind zweifacher Rrt. Wir stehen einmal anderen ITlenschen gegenüber und dieses Zusammen leben mit ihnen mufj durch staatliche Geseke und Einrich tungen geregelt werden, und begreiflicher Weise können diese Geseke und Einrichtungen so oder auch anders be schaffen sein und damit mehr oder weniger günstig auf unser Wohlbefinden zurückwirken. Wir stehen andererseits der äußeren Ratur gegenüber und selbstverständlich ge staltet sich unser Heben angenehmer oder weniger ange nehm, je nachdem wir es besser oder weniger gut oer stehen, die Raturkräfte unseren Zwecken dienstbar zu machen, Rachder einen oder nach deranderen Richtung suchen die in Rede stehenden .Schriften das Glück. Die eine Gruppe, die man daher als „Staatsromane“ bezeichnen kann, heftet sich an die staatlichen Geseke und Einrichtungen und schildert ein Volk, welches glücklich ist, weil es andere Geseke und Einrichtungen besitjt als wir. Die andere Gruppe knüpft an unsere Kenntnis der Ratur und den Stand der Technik an und sucht zu zeigen, wie glücklich mir dereinst sein werden, wenn unsere Kenntnis der Raturgesetje eine uollkommene sein wird und wenn wir dem entsprechende IRaschinen und Apparate besten werden. Und da diese Klassen oon Schriften das Glück oon den künftigen fortschritten der Raturwissenschaften und der Technik erwartet, so kann man sie in Ermangelung eines besseren Ramens als „Zukunftsbilder“ bezeichnen. Was nun zunächst die Staatsromane anbelangt, so zerfallen sie in zwei scharf gesonderte Gruppen. Die einen glauben, dal] das Wohlbefinden eines Volkes in erster Reihe oon der Verfassung des Staates und oan der staatlichen Verwaltung abhängt, sie suchen daher den Rachweis zu erbringen, dafj das Volk glücklich sein würde, wenn die gesetjgebenden Faktoren so und so organisiert wären und wenn die staatliche Verwaltung in den Händen dieser oder jener Organe liegen würde. Selbstoerständ lich immer in der form eines Romanes. JTlan darf sie daher als „politische Staatsromane“ bezeichnen. Ihnen stehen die „volkswirtschaftlichen Staatsromane“ gegenüber, denen die Staatsoerfassung und die staatliche Verwaltung ziemlich gleichgültig ist, die aber auf die Wirt schaftsordnung das Hauptgewicht legen. Sie halten die heutige, auf der Grundlage des privaten Eigentums und der JndioidualWirtschaft aufgebaute Wirtschaftsordnung für ein Unglück und schildern das Heben und Treiben eines Volkes, welches glücklich ist, weil es entweder (wie in der „Utopia“ des Thomas ITlorus) im „ganzen“ oder „oollen“, oder weil es (wie etwa im Bellamy’schen „Rückblick“) im „halben“ Kommunismus lebt, oder weil in dem betreffen den Hände doch wenigstens dem Prioateigentum mehr oder weniger weit gehende Schranken gezogen sind. Aus den Staatsromanen ist eine besondere Gruppe oon Schriften heroorgegangen, es sind dies die „aben teuerlichen Reisen“. Als Thomas ITlorus seine kommu nistischen Ideen veröffentlichen wollte, wählte er hiefür die form des Romanes und dies aus zwei Gründen. Ein mal konnte er in seiner Eigenschaft als Staatskanzler Heinrichs VIII. oon England unmöglich den nackten Kommu nismus predigen. Wenn er jedoch in seiner Erzählung er wähnt, dafj er einmal während seines Aufenthaltes in Brüssel mit einem Seefahrer zusammenkam, der auf seinen weifen Reisen auch die Insel „Utopia“ besucht und kennen gelernt hat, und wenn nun dieser Rlann berichtet, dalj die Bewohner dieser Insel das Prioateigentum nicht kennen und in ooller Gütergemeinschaft leben, so klang die Sache ganz harmlos und unoerfänglich. Zum zweiten wollte niorus sein Buch in die Hände möglichst oider Heser bringen und dies konnte ihm nur gelingen, wenn er seine