Nr. 15/16 Internationale S a rn m 1 e r - Z e : t u n g. Seite 227 Insbesondere war ihm durch die einheitliche Licht wirkung die Möglichkeit geboten, an, Stelle der bis dahin üblichen reliefartigen eine in die Tiefe erweiterte Dar- stellungsweise, treten zu lassen und die Trennung des Vordergrundes von dem Hintergründe gleichsam aufzu heben. Diesen in die Tiefe erweiterten und belebten Raum brachte er in Beziehung zur Handlung und be wirkte damit eine Einheit von Raum und Vorgang, mit einem Worte eine szenische Darstellungsweise. Dadurch wurde den einzelnen Figuren der weiteste Spielraum in der Bewegung, eine Fülle von verschiedenen Motiven der Handlung, kurz, dem Meister die freieste plastische Gestaltungsweise ermöglicht. Die Betätigung der Seele dieser mannigfach be lebten freien Figuren weiß er in Beziehung auf den Hauptvorgang der Darstellung zu bringen und so die dramatische Handlung zu verdeutlichen. Dieser in den handelnden Gestalten sich betätigende Seelenausdruck ist aber keineswegs ein äußerlicher, gemachter, unwahrer, sondern er entspringt aus dem Innersten der am dramatischen Vorgänge unmittelbar Beteiligten, gleich der Handlung in den besten modernen und antiken Dramen, die den Beschauer so ergreifen, ■ daß er sich momentan als Augenzeuge eines wirklichen Vorganges dünkt. Und doch gibt es vielleicht keinen großen Meister der bildenden Künste, über den so widersprechende Ur teile gefällt worden wären wie über Tintoretto. Wäh rend sich die einen in maßlosen Lobeserhebungen über seine Werke ergehen, sind die anderen voll herben Tadels und lassen nicht einmal seinen vielen unleug baren Vorzügen, wie der dramatisch lebendigen Auf fassung, dem Phantasiereichtum, der bedeutenden malerischen Erfindungsgabe, der oft tüchtigen Zeich nung, überhaupt seiner allseitigen Begabung, Gerechtig keit widerfahren. Insbesondere wird ihm Flüchtigkeit, krampfhafte Hast, Zügellosigkeit der Phantasie, ja selbst eine handwerksmäßige , Praxis und von dem Kunst forscher Jakob Burkhart sogar Roheit und Barbarei der Empfindung, Verachtung aller höheren Auffassung und dergleichen zur Last gelegt. Dieses traditionell befestigte Urteil, welches den Meister als eine Erscheinung der Verfallszeit der italieni schen Malerei kennzeichnet, vermochten die Stimmen begeisterter Verehrer, welche sich unter den neueren Künstlern erhoben, nur wenig umzuändern und selbst der englische Aesthetiker John Ruskin, der dem Meister eine höhere Würdigung zollte, fand keine Be achtung. Erst in neuester Zeit hat Henri T o d e in der von ihm verfaßten und unter den Künstlermonographien erschienenen Abhandlung über Tintoretto seine Ver dienste um die Malerei voll gewürdigt, indem er ihn in Bezug auf Kraft der Seele, die Größe und Tiefe des Geistes, die Erhabenheit der Erfindung und Gewalt der Formensprache dem Michelangelo gleichzustellen sucht und ihn überhaupt als einen der größten Genies der bildenden Künste aller Zeiten bezeichnet. Dann bemüht er sich an einzelnen Werken nachzuweisen, daß alles »Seltsame«, scheinbar Maßlose, was V a s a r i irrtüm licherweise als Flüchtigkeit, Zügellosigkeit, Bravour bezeichnet, ebensowenig wie bei Michelangelo das Uebermäßige, als ein Anzeichen des Verfalles der Kunst zu betrachten, sondern vielmehr als eine Aeußerung des ungeheuren Dranges der Gestaltungskraft, die bis an die äußerste Grenze reicht, aufzufassen sei, und daß dieses virtuose Können immer nur einem rein künstleri schen Ideal, einer höheren seelischen und geistigen Auf fassung des Vorwurfes dienstbar gemacht werde, und daß das technische Vermögen nur ein Mittel zu einem höheren Zwecke, nicht Zweck an sich sei. Ferner behauptet der Verfasser, daß zur richtigen Würdigung der Ideen J'intorettos eine ebenso große An spannung aller seelischen Kräfte erforderlich sei wie bei der Betrachtung und Beurteilung der Werke Michel angelos. Das Mangelhafte im Kolorit entschuldigte J’ode mit Tintorettos Malweise, die darin bestand, daß er seine Malleinwand nicht zu grundieren pflegte und die Farben, ohne eine Untermalung zu geben, aufgetragen habe, was ein schnelles Nachdunkeln der tieferen Töne und eine Veränderung der Farbe zur Folge hatte. Nicht minder sei die feuchte Seeluft Venedigs vom nachteiligen Ein fluß auf manche Farben, besonders das Ultramarinblau gewesen, wie auch nicht minder die alles zerstörendt Zeit. Was ferner die technische Ausführung seiner Ge mälde anbelangt, so versucht Tode die Flüchtigkeit der selben mit der Neigung Tintorettos zur Freskomalerei, die seinem auf das Große, Monumentale, Einfache ge richteten Sinne mehr entsprach und den Charakter seiner Darstellungsweise bestimmte, zu erklären und mit der Behauptung zu rechtfertigen, daß, wenngleich sich der Meister der Wandmalerei wegen des ungünsti gen Seeklimas nur vorübergehend widmen konnte, dennoch der Geist und Stil der monumentalen Fresko malerei in seinen Tafelgemälden nicht zu verkennen sei. Den dem Meister zur Last gelegten Vorwurf, daß er in seinen religiösen Darstellungen die bei den anderen großen Malern im wesentlichen sich gleich bleibende, typische Gestaltung Christi, Mariä und der Heiligen nicht beibehält, sondern sie verschieden und mannigfaltig darstellt, daß er ferner die von innen her aus durchgebildete Charakteristik in der Physiognomie als Vermittlerin des Seelenausdruckes vernachlässigt, will der Verfasser mit der Behauptung entkräften, daß der Meister die Seele und das Wesen seiner dar gestellten Gestalten vorwiegend in die Bewegung des ganzen Körpers hineinlegte, um damit eine große packende Wirkung des Ganzen, analog dem Wesen der antiken Tragödie zu erzielen. Zugleich tritt bei Tintoretto eine ganz neue Auf fassung der überlieferten Stoffe auf. Durch die Vernach lässigung des von der Kirche traditionell vorgeschriebe nen Typischen, menschlich Göttlichen in der Gestaltung der Heiligen und durch die Rückkehr zum Ursprüng lichen einer einfach natürlichen Lebensanschauung wird nämlich die historisch religiöse Darstellung zur Legende, eine unkirchliche und doch tief religiöse Kunst, wie bei Michelangelo, der mit gleicher Freiheit christliche Ideen behandelte, das historisch Beschränkte zum unbe grenzten rein Natürlichen erweiterte und es zum allge meinverständlichen Gemeingut aller Menschen machte. So gelang es Tintoretto, durch die Nutzbarmachung der Errungenschaften aller früheren Meister, der getrennten Bestrebungen einzelner Gruppen derselben, durch Er weiterung dieser Bestrebungen und endlich durch die Vereinigung alles dessen zu einem einheitlichen Ganzen etwas Eigenes, ganz Neues, eine solche Allseitigkeit jener Vorzüge Umfassendes zu schaffen, wie wir sie an seinen Werken bewundern, und so das angestrebte, jedoch bis dahin in seinem ganzen Umfange und in solcher Vollständigkeit noch nicht erreichte Ideal der romanischen Renaissance zur Vollendung zu bringen.