Seite 288 Nr. 19 Internationale Sammler-Zeitung. Edvard Munchs Graphik. (Zur Sonderausstellung in der Galerie Arnold in Dresden.) Von Emil Waldmann (Dresden). Unzweifelhaft ist der interessanteste Künstler un serer Gegenwart der Norweger Edvard Munc h. Ein aktuelles Thema. Der Impressionismus, sagt man, sei erschöpft, nun komme der Expressionismus an die Reihe; und wenn das eine Wort auch ebenso unzuläng lich ist wie das andere, soviel ist sicher und soviel sieht man überall, wohin man im modernen Kunstleben auch blickt. In der neuen Kunst handelt es sich nicht mehr, wie bei Manet und Monet, bei Liebermann und Slevogt, um die Gestaltung eines Sinneseindrucks (Impression), sondern um den Ausdruck eines vorwiegend inneren Erlebnisses. Der heimliche, nicht immer offen aner kannte Vater dieser Bewegung ist Edvard Munch. Als Vorläufer hat er vor zwei Jahrzehnten schon Dinge ge- Fig. 11. Munch, Das kranke Kind. geben, die damals fast ganz unverstanden blieben, heute aber, angesichts der veränderten Situation fast selbstverständlich, sicher aber irn Rahmen ihrer Be wegung, meisterhaft wirken. Wenn man diesen Tat sachen vielleicht angesichts der Gemälde Munchs nicht immer gleich gerecht ward, wenn in ihnen oft ein Rest von Gedanklichem nicht überwunden ist, in seiner Graphik hat man diese Kunst in ihrer ganzen Rein- heit, seine graphischen Arbeiten enthalten ihr Wesent lichstes, und so gewinnt heute eine umfassende Aus stellung von Munchs graphischem Oeuvre dokumentari sche Bedeutung. Seine Stärke liegt auf der Darstellung des Seeli schen und des Dramatischen. Er empfindet vollkommen modern, als das echte Kind unserer Zeit, das er ist. Aufrichtig bis zum letzten hat er keine Angst vor dem modernen Leben. Er sucht das Dramatische dort, wo es heute allein, wenn überhaupt zu finden ist, im Alltag, im Sterben und Geborenwerden der Menschen, und findet die Leidenschaft da, wo allein sic in ihrer edelsten und zugleich erschütterndsten Form fühlbar wird, in der Liebe von Mann zu Weib, von Weib zu Mann. Unsere Tragödien gehen nicht mehr auf dem Sehlachtfelde vor sich, da sieht sie niemand, sondern in den vier Wänden unserer Zimmer, wenn ein geliebter Mensch stirbt und alle stehen hilflos und gebrochen und verlegen dabei herum, wenn eine Mutter trostlos zusammenbricht vor einem schönen kranken Kinde (Fig. 11), oder wenn zwei Menschen sich in hoffnungsloser Loslösung voneinander trennen, oder wenn ein verführtes Mädchen mit zer schlagenen Gliedern erwacht und sieht nichts als die leeren Flaschen und Gläser auf dem Tisch neben ihrem Bett, mit deren Hilfe sie berauscht wurde. Soweit der Alltag. Dann aber steigert sich das Erlebnis zum Sym bolischen. Die »Zwei Menschen« (Fig. 12), die da am Meeresstrande stehen und von denen wir die Gesichter nicht sehen, sondern nur ahnen, sind kraft der Kunst der Darstellung nicht zw r ei beliebige Menschen, sondern Typen, das weiße Kleid des geliebten und liebenden Mädchens schimmert weiß und der Mann sieht dunkel daneben und hat ihr nichts zu sagen. Und das Blatt »Das Weib in drei Stadien« enthält die ganze Schicksals- Fig. 12. Munch. Zwei Menschen. tragödie der liebenden Frau, das zarte schwärmende Mädchen, die Venus und die im Kummer Verlassene. In dieser Kunst Munchs steckt ein starker sozialer Kern, wie so oft bei unseren größten Graphikern, bei Goya, Daumier und Klinger. Er erzählt nicht einfach, er gibt nicht nur einfach Anschauung, sondern er gibt ein Urteil, ein Resume, er gibt die »Moral« von der Ge schichte, den tieferen Kern und den geheimnisvollen Sinn. Oft ist er pessimistisch, oft skeptisch, manchmal ironisch; aber immer voll von Mitempfindung für seinen Gegenstand und immer voll von Gefühl. Mau sehe den Farhenholzschnitt »Männlicher und weiblicher Kopf« und frage sich, ob es etwas Romantischeres gibt als diese beiden Wesen, die da von wildester Leiden schaft und feinstem zartesten Gefühl durchschauert werden; man denke an Courbets »Amants dans la Cam pagne« und wird finden, daß hier ein verwandtes mäch tiges Gefühl am Werke war. Vor dem »Weib mit schwarzem Haar und Brosche« fühlt man das Zittern der Seele in diesem feinen Geschöpf und angesichts des »Mädchens mit rotem Haar« mit dem geheimnisvollen Blick (Fig. 13), ahnt man das Rätsel einer Mädchen seele. Es gibt keine Kunst heute, die seelischer wäre als diese. Um dergleichen schaffen zu können, muß man eine schlafwandelnde Sicherheit des Gestaltens besitzen, sonst stürzt man ab und erwacht auf dem Ackerfelde des schlimmsten Dilettantismus. Vom Standpunkte des Könnens aus betrachtet ist Munch ein stupender Herr scher über seine Mittel. Nicht nur, daß er heute zu den allerbesten Zeichnern gehört, d. h. zu denen, die mit