Internationale
^ammlerZeffuiijj
Zentralblatt für Sammler, Liebhaber und Kunstfreunde
Herausgeber: Norbert Ehrlich
22. Jahryang Wien, 15. Jänner 1930 Nr. 2
Der Welfcnseftatz.
Aus Frankfurt am Main wird uns ge
schrieben:
Der Weifenschatz hat in diesen Tagen
seinen Eigentümer gewechselt; aus dem Besitze des
Herzogs Ernst August von B r a u n s c h w e i g
ist er durch Vermittlung der Wiener Kunstfirma
J. Glückselig und Sohn in den eines deutsch-
englischen Händler - Konsortiums übergegangen.
Deutscherseits sind an dem Kauf die bekannten
Frankfurter Kunstfirmen J. & S. Goldschmidt,
Z. M. Hackenbroch und J. Rosenbaum
beteiligt. Die Namen der englischen Teilhaber wer
den geheimgehalten, doch geht man nicht irre, wenn
man einen oder den anderen Großen aus der
Branche, Agnew, Colnaghi oder gar Sir Joseph
Duveen unter den Käufern vermutet. Dafür würde
die horrende Summe sprechen, die erlegt wurde:
Sie beträgt nicht weniger als zwölf Millionen
Mark.
Mit dem Besitzwechsel ist aber das weitere
Schicksal des Weifenschatzes noch lange nicht ent
schieden. Denn es ist sehr ungewiß, ob sich ein
Liebhaber findet, der den einzigartigen Schatz so
zusagen in Bausch und Bogen erwirbt und ihn in
seiner Gänze zusammenhält. Man weiß hier, so gut
wie in Wien, daß die Firma Glückselig in den letzten
Jahren die größten Anstrengungen gemacht hat, die
Sammlung an den richtigen Mann zu bringen:
Deutsche Museen hätten gerne zugegriffen, aber es
happerte an den Mitteln, die sie nicht aufbringen
konnten und bei den amerikanischen Interessenten,
die fast ausschließlich Händler waren, scheiterte der
Liebe Mühe daran, daß nach dem Willen des Her
zogs Ernst August der Weifenschatz ungeteilt
bleiben sollte. Erst jetzt, nachdem diese Bedingung
fallen gelassen worden war, gelang es den Herren
Glückselig, den Schatz zu verkaufen. Nun wird es
das neue Konsortium leichter haben. Geht es nicht,
was sehr zu besorgen ist, den Weifenschatz in toto
in eine Hand zu bringen, so ist seine Auflösung in
einzelne Stücke nicht zu verhindern.
Vorläufig bleibt der Schatz in Aarau, wohin er
bekanntlich seinerzeit aus Wien gebracht worden
war. An einen Transport nach Deutschland oder
England wird nicht im entferntesten gedacht. Es hätte
ja schließlich auch keinen Sinn, ihn aus der Schweiz
fortzuschaffen, wo er gut geborgen ist. Die neuen
Besitzer beabsichtigen ihn neu katalogisieren zu
lassen, da die Monographie von Professor Dr. W. A.
Neumann („Der Reliquienschatz des Hauses
Braunschweig-Lüneburg, Wien 1891“] sich als unzu
länglich erwiesen hat, Deutsche und wahrscheinlich
auch österreichische Kunstgelehrte werden sich in
nächster Zeit nach Aarau begeben, um sich an Ort
und Stelle der Aufgabe zu unterziehen. Erst wenn
der Katalog, der für alle Fälle ein dauerndes An
denken an den WeMenschatz bilden wird, fertigge
stellt ist, werden die Besitzer die Fühler nach In
teressenten ausstrecken — dies- und jenseits des
großen Ozeans. „Wo wird des müden Wanderers
letzte Ruhestätte sein?“
Was ist der Weifenschatz?
Es wird unsere Leser gewiß interessieren, zu
erfahren, was denn eigentlich dieser Weifenschatz
ist. Er ist der bedeutendste Zeuge der Welt für die
seit den Christenverfolgungen machtvoll in Erschei
nung getretene Reliquienverehrung, für die
Vererbung sterblicher Ueberreste, blutiger Tuch
stückchen, Teilchen von eisernen Fesseln und an
derer Dinige mehr, die von dem Märtyrertode der
Heiligen herstammen. Zur Aufbewahrung solcher
Reliquien hat man hohle Kreuze, Schreine, Altär-
chen, kleine, hohle Büsten und ähnliche Behälter
verwendet. Für deren Herstellung wurde das er
lesenste Material, Gold, Silber, Edelsteine, Elfen
bein verwendet, und die größten Handwerkskünstler,
Goldschmiede, Bildschnitzer, Maler wurden heran
gezogen. Der Weifenschatz ist eine einzigartige
Sammlung von 82 solchen Reliquienbehäl
tern, deren jeder einen unermeßlichen Wert und
die Seltenheit eines Unikums repräsentiert. In
manchen sind noch die Reliquien eingeschlossen,
Knochenrestchen und anderes. Und dieser Schatz
wurde zusammengetragen von frommen Mitgliedern
des Geschlechtes der Welfen, in den ersten Jahr
hunderten nach der Jahrtausendwende und war am
Ausgang des Mittelalters längst vollständig beisam
men, sogar reichhaltiger als heute. Teils hat der fast
legendär gewordene Welfe Heinrich der Löwe
von seiner Pilgerfahrt ins Heilige Land (1172 73] Re
liquien und Reliquiare, das sind Reliquienbehälter,
mitgebracht, teils drei seiner Ahnfrauen, die Ger
trud hießen, teils seine Nachkommen. Der Schatz
hat sich im herzoglichen Geschlecht bis auf unsere
Tage fortgeerbt.