mächtig entwickelten Unterkiefer und
dem üppigen Unterkinn ist eine
Mischung von libyschen und spät-
cäsarischen Elementen. Das Haar
hängt in verfilzten Zotteln nieder, wie
bei Negerstämmen des blauen Nil,
gemahnt aber auch wieder an eine
gewisse archaische Stilisierung; das
Diadem hat über der Stirne die phara-
onische Uräusschlange. Das Gewand
ist bloss der ärmellose, eng gefältelte
(plissierte) Amazonen-Chiton, der über
dem Busen beginnt und über den
Knien endet. Er wird am Busenansatz
durch einen mit grossen Gemmen
besetzten Gürtel festgehalten, der streng
ins Fleisch einschneidet und vorne von
der abraxasartigen Schliessspange noch
bis zum Schosse herabhängt. An den
Fingern sitzen sechs dicke Ringe. Die
Füsse sind bloss, doch sind an den
Fersen mittels Riemen primitive, dom-
artige Sporen befestigt. Wie die über-
stattliche Dame dasitzt, die Fäuste leicht auf die Schenkel gestemmt,
den Blick unter den drohenden Brauen fest vor sich hingerichtet, ist
sie keineswegs abstossend. Sie ist furchtbar wie eine blutgewohnte
Kannibalin, sie könnte Anführerin einer schwarzen Amazonenschaar
von Dahomey sein. Aber sie ist ein Weib und der Künstler hat
in der Darstellung ihrer Feistheit anatomisch-plastisch geschwelgt;
ihr Nacken, ihre Arme und Beine sind wirklich voll schwellender
Kraft, die noch der thierischen benachbart erscheint und etwas
von der ihrer beiden Tiger besitzt. Augenscheinlich wird sie
sofort ein Bluturtheil sprechen, es muss jemand vor ihr stehen, der
seinen Tod erwartet. Man sieht es schon den beiden Thieren an; die
Tigerin „nimmt auf", d. h. sie schnuppert mit zurückgelegten Ohren und
zusammengekniffenen Augenspalten verdächtig vor sich hin, während
der Tiger mit grimmigem Fletschen gerade herausbrüllt. Das ursprüng-
liche Empfinden des Künstlers, der eine solche Myrina gewagt, tritt
in noch helleres Licht, wenn man an die mancherlei Steinzeitmenschen
jetziger Pariser Künstler denkt, die zwar das Museum von St. Germain
um Accessorien plündern, aberin den Figuren den Franzosen von heute
Das Krüglein (H. O. Miethke)