Begabung volle Entwicklungsfreiheit. Auge, Ohr und Hand unterstützen sich gegenseitig
in dem Bemühen, dem Werkzeug und dem Material das Beste abzugewinnen, den Rhyth-
mus der Arbeit voll auszubilden. Temperament und Begabung wählen die Richtung der
Betätigung. Alle Techniken und Hilfsmittel alten und neuen Handwerks dürfen benützt
werden, sobald sie ehrlich und sinngemäß angewendet werden. Dann geht das Kunst-
wollen als etwas Selbstverständliches in das Individuum über; dann wird der Instinkt
geweckt und gekräftigt, der immer und überall die künstlerische Note herausfühlt, sucht
und fordert. Wenn auch die verstandesmäßige Erziehung oft später die Kraft der ersten
künstlerischen Betätigung lähmt, die dem ungebrochenen Trieb eigen war, so bleibt doch
das geweckte Unterbewußtsein tätig und veredelt die Urteilsfähigkeit während des ferneren
Lebens. An vielen und überraschenden Beispielen wurde in Lichtbildern gezeigt, wie viel-
fältig die Wege sind, die an der Mutterschule neuer Jugenderziehung - im Jugendkurs
des Vortragenden - begangen werden. Er erläuterte zuerst die Probleme, die er den Kindern
gelegentlich stellt, und jene, welche die Kinder selbst wählen. Er zeigt die Nachwirkung
des Milieus, in dem die Kinder aufwachsen, die Verschiedenartigkeit vererbter Anlagen,
das Einwirken momentaner Eindrücke am Wege zur Schule, beim Spiele und im eigenen
Heim. Zuerst stellte er die Vielfältigkeit der Wiedergabe nach Neigung und Begabung dar
und wie alle graphischen, malerischen, plastischen, dann alle gewerblichen Techniken von
dem Kindeswillen bezwungen werden können, wenn er stark genug auftritt und Gelegen-
heit zur ungehemmten, aber zielbewußten Tätigkeit Findet. Die führende Hand soll nur
Wege zeigen, nicht Kräfte hemmen.
Dann führte er Einzelbegabungen in ihrer individuellen Entwicklung und Selbst-
bestimmung vor. Die zahlreichen Überraschungen ergeben sich von selbst und schaffen ein
ewig wechselndes Bild von der Mannigfaltigkeit und Lebendigkeit des Kunsttriebes, der so
oft im Kinde stärker und reiner ist wie im fertigen Menschen.
UNSTAUKTION IM PALAIS AUERSPERG. Unter ungewöhnlich gün-
stigen äußeren Bedingungen konnte eine zugunsten der Tuberkulösenfürsorge ein-
geleitete Wohltätigkeitsaktion durchgeführt werden. Einer der vornehmsten altaristokra-
tischen Paläste Wiens mit seinem herrlichen Park gab den äußeren Rahmen. Die Werbe-
kraft führender Persönlichkeiten der Gesellschaft hat ihr volles Interesse eingesetzt und
die gesamte Wiener Künstlerschaft und ein beträchtlicher Kreis wohlwollender Mäzene
haben bereitwillig dem Ruf Folge geleistet. Dadurch wurde die Veranstaltung in gewissem
Sinne eine Abbildung unserer gegenwärtigen Kunstinteressen und Leistungskraft. Eine Ab-
teilung von Bilderspenden aus Privatbesitz und von alten kunstgewerblichen Gegenständen
trug dem starken Sammeleifer weiter Kreise Rechnung und ließ in ihrer Auswahl von
vielen Arbeiten der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts zugleich erkennen, wie sehr
diese Zeit in der Wertschätzung gestiegen ist. Alle Künstlerverbände waren durch Bilder,
plastische und graphische Kunstwerke vertreten, die nach diesen Gruppen zusammen-
geschlossen ihre Aufstellung fanden, so daß auch alle Kunstrichtungen verstärkt in Er-
scheinung traten, wie bei einer Revue.
Was aber die Freunde unserer starken und lebenskräftigen Werkbundbewegung
besonders erfreuen durfte, war die Tatsache, daß der schönste Raum, der ovale Mittelsaal,
für die Aufstellung moderner kunstgewerblicher Leistungen vorbehalten blieb.
Zum ersten Male trat hiedurch die Anerkennung dieser Leistungen durch führende
Persönlichkeiten aus dem konservativsten Kreise der Kunstfreunde hervor". Zugleich konnte
eine Probe darauf angestellt werden, wie die Leistungen in einem alten historischen
Rahmen zu wirken vermögen. Trotzdem diese Arbeiten in Vitrinen verbunden, also in
Gruppen und mit starker Wirkung auftraten, war keine Dissonanz zu fühlen.
Das herrliche Bauwerk mit seinen prächtigen Räumen besitzt wohl nicht mehr den
Charakter seiner Erbauungszeit, der Blütezeit Wiener Barockkunst. Die innere Ausgestal-
tung entstammt der Empirezeit und teilweise einem noch späteren nicht glücklichen