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Volltext: Monatszeitschrift V (1902 / Heft 2)

Wahrscheinlich nichts oder fast nichts, denn der Germane, der auch mit 
seinen religiösen Vorstellungen ins Allgemeine, Unsinnliche strebte, hatte 
gerade das nicht, was dem formbildenden Süden eigen war. Es ist das noch 
heute des Nordländers Stärke und Schwäche zugleich: ihm ist immer der 
Gehalt, das Seelische die Hauptsache, nimmt aber nur selten greifbare 
Gestalt an. Beim Südländer verdichtet sich alles rasch zur greifbaren Masse; 
die Form bleibt dann aber auch leicht eine Macht, wenn der Inhalt schon 
lange entschwunden oder verändert ist. Der Germane hat wahrscheinlich 
keine Kunstformen mitgebracht, ausser ganz geringfügigen, und diese werden 
wohl jenen verwandt gewesen sein, zu denen die griechisch-römische Kunst 
erst wiedergelangt war. 
Jedenfalls lässt sich alles, was in altgermanischen Gräbern gefunden 
wurde oder heute, besonders in Skandinavien volksthümlich noch fortlebt, 
aus der spätantiken Kunst allein schon erklären. 
Man sieht, es sind weitgehende Gedanken, die das RiegPsche Werk 
enthält und zu denen es anregt. Man wird sich eigentlich wundern, dass 
dieses Werk „Die spätrömische Kunstindustrie nach den Funden in 
Österreich-Ungarn" heisst. Und doch besteht das Grosse eben gerade 
darin, dass hier, in solchem Umfange und für eine so grosse und verkannte 
Periode sicher zum erstenmale, kunstgewerbliche Gegenstände aus dem 
grossen Zusammenhange heraus erklärt werden. 
Bis jetzt hat man ja die Fibeln, Schnallen und andere Erzeugnisse der 
Zeit eigentlich nur wie irgend eine Species des Naturreiches beschrieben; 
man hat ihre Typen und allenfalls ihre coloristische Wirkung zergliedert; 
dass sich aber in dem flimmernden, schwankenden, unbestimmten Wesen 
der Keilschnittarbeiten, in der wässerigen, verschwommenen Modellirung 
des Glases, in dem „Colorismus in der Ebene" all dieser Arbeiten dieselben 
grossen Gesetze aussprechen wie in der übrigen Kunst, und dass sie nur 
aus diesen heraus gewürdigt werden können, diese Erkenntnis verdankt man 
erst Riegl. 
Es war kühn, verblüffend, aber unbedingt richtig, dass Riegl Architektur, 
Plastik und Malerei mit dem Kunstgewerbe zugleich behandelte. Die Kenntnis 
von Einzelnheiten gilt heute nicht mehr, wie vor I5, 20 Jahren als Ziel des 
Erkennens; wir hassen heute die Phrase, aber wir suchen nach grossen 
Gesetzen. Dem Kunstforscher ist das Kunstwerk, der Künstler selbst wie ein 
Naturproduct, wie ein Lebewesen dem Naturforscher. Es wäre lächerlich, 
von der Kunstforschung eine unmittelbare Befruchtung der Kunst selbst zu 
erwarten; aber sie befruchtet, wie die Astronomie oder Psychologie, unser 
Geistesleben im allgemeinen und macht es frei, weil sie uns grosse 
Wahrheiten und erhebende Gedanken bietet; das Erkennen ist selbst eine 
Schönheit. 
Augustinus, dessen Kunstanschauungen - für die späte Antike so 
bezeichnend - uns Riegl auch mit Feinheit vermittelt, nennt das Hässliche 
die Intervalle des Schönen.
	        
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