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Liest man daraufhin das Segantiniwerk der Regierung und das gleichfalls hochinter-
essante L. Villarfsche Buch (London 1901, mit 75 Bildern), das an brieflichem
Materiale besonders reich ist, so erhält man den Eindruck einer auch literarisch hoch-
interessanten Persönlichkeit, einer naiven Kunstprophetennatur, die vor einem Ruskin
etwa den Vorzug des nicht gewerbsmässig Literarischen hat. Die Würdigung des Malers
und seiner Werke, des sogenann-
ten „Werdeganges" bis zur allzu-
frühen Vollendung, ist von dem
Verfasser auf ein genaues Studium
der natürlichen Verhältnisse ge-
gründet. Die Topographie dieser
Gegenden, die Psychologie dieser
Völkerschaften spielen stark in die
Kunst ihres Malers hinein. Ihre
menschliche Stimmung ist male-
rische Stimmung geworden und
beide haben bei ihm farbigen Aus-
" druck gewonnen. An Zusammen-
hängen mit der übrigen Stim-
mungskunst der Zeit kann es aller-
dings nicht fehlen. Mit Millet,
Böcklin, Burne-jones, Watts,
Liebermann, den Pointillisten
oder Neo-Impressionisten. Bei
einer solchen Originalnatur wie
Franziska Hofmanninger, Kragen, gehäkelt, segantiniwerdenetwaige Ahnuch"
ausgeführt vom k. k. Zentral-Spitzenkurs keiten doch auch wieder zu Ver-
schiedenheiten. Der Verfasser
geht diesem Thema feinfühlig nach und zeigt, wie sich die Wege oft mehr „kreuzen"
als berühren. Auch die eigentümliche Maltechnik Segantinis wird nach authentischen
Daten dargestellt (Fred hatte darüber in seiner Segantini-Studie zuerst briefliche
Mitteilungen des Künstlers veröffentlicht); jetzt ist das Thema wohl endgiltig fest-
gelegt. Dabei muss selbstverständlich auch der etwaigen Quellen dieser Technik
gedacht werden, insbesondere der „Sage, wonach der in verwandter Manier arbeitende
Maler Pelizza da Volpedo Segantinis Lehrer gewesen". Immerhin vermissen wir dabei
den Namen des hochbegabten Mailänder Malers Gaetano Previati, dessen Beziehung zu
Segantini einmal authentisch erörtert werden müsste. Previatis kühne Stricheltechnik, die
auf der Mailänder Ausstellung 189i so grosses Aufsehen machte und einen förmlichen kriti-
schen Bürgerkrieg entfachte, ist auf der vorjährigen Ausstellung zu Venedig an einem ganzen
Saal voll Bilder dieses Bahnbrechers zu studieren gewesen. (Siehe unseren Aufsatz:
„Giovanni Segantini und Gaetano Previati", „Fremdenblatt", Mai rgox.) Durch die
Erwähnung dieser Lücke sei das Verdienst der wertvollen Publikation keineswegs
verkleinert. Das Buch ist als künstlerisch durchgeführte Künstlermonographie bei uns
einzig in seiner Art. Es ist und bleibt ein Typus, der, wie die Dinge liegen, allerdings
nicht so bald wieder erreicht werden dürfte.
MPIRE-BIEDERMEIER. Der Rahmen der Kunstgeschichte erweitert sich immer
mehr herwärts. Die Stile, die der Schule früher zulässig schienen und von ihr zur
Nachahmung empfohlen wurden, sind einstweilen abgebraucht und somit in den Hintergrund
gedrängt. Die „verkannten und verachteten Tiere" (Karl Vogt) unter den Stilarten fangen
an, wieder Sinn und Wert zu bekommen. Wie lange ist es her, dass die Theorie der Storck-