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so fand auch die Vorliebe und der Sinn für kunstreich durch
brochene Nadelarbeiten bei dem raschen Absatz der vielen im
Laufe des XVI. Jalirh. zu Venedig gedruckten Modelbücher
in den grossen Städten Italiens, desgleichen auch in Spanien,
Flandern, Deutschland, England und Frankreich eine auffallend
schnelle Verbreitung. Dieser rasche, gewinnreiche Absatz der
venetianischen Musterbücher, welcher das Interesse für Anfertigung
sowohl von ausgeschnittenen Arbeiten als auch für solche in
Filet und in Relief allenthalben bei den Frauen und Jungfrauen
der höheren Stände anregte, war auch Ursache, dass insbe
sondere seit dem Schlüsse des XVI. Jahrhunderts solche sehr
gesuchten Muster- und Modelbücher, in kräftigen Holzschnitten
gedruckt, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich
und England in grosser Zahl zu erscheinen begannen. Diese
von Künstlern diesseits und jenseits der Berge entworfenen
Modelbücher für verschiedenartige Weisszeugarbeiten lehnten
sich hinsichtlich der darin enthaltenen charakteristischen Com-
positionen noch tlieilweise an traditionelle mittelalterliche Vor
bilder an, tlieilweise jedoch schufen sie auch neue Vorlagen,
welche mit den von Italien neu überkommenen „welschen“
Formen der Renaissance analog waren. Wenn nun dem eben
Gesagten zufolge der Aufschwung und die weitere Entwickelung
der durchbrochenen „lingerie“ von Venedig aus bei dem Auf
blühen des neuen Styls ihren Anfang nahm, so könnte hier
wohl die Frage eine Stelle finden: ob sich denn nicht schon
früher an älteren Originalstickereien des Mittelalters Beweise
ausfindig machen Hessen, dass die Technik der durchbrochenen
Nadelarheiten in ihrer Verbindung mit Leinengeweben schon
lange vor dem Auftreten der oben gedachten venetianischen
Kunstindustrie im christlichen Abendlande gekannt und geübt
worden sei? Wir antworten darauf kurz. Weder durch Angaben
älterer Schriftsteller, noch durch Andeutungen mittelalterlicher
Schatzverzeichnisse, noch auch durch Auffindung älterer Orginal-
Spitzen ist, soweit heute die archäologische Kenntniss reicht, der
strikte Beweis zu erbringen, dass man in der gothischen, oder
gar schon in der romanischen Kunstepoche das eigentliche
Spitzen- und Kanten werk in seiner weiteren Entwickelung als