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Fortuna auf dem Rade
schwebend, das ja unzählige-
mal in mittelalterlichen Dar-
stellungen, so zum Beispiel
auch in den Renard-Roma-
nen (Bibl. Nat. Fds. fr. 372,
Fol. 60) der Versinnbild-
lichung des Schicksalwech-
sels dient. Originell ist der
hier veranschaulichte Ge-
danke, den Zaum der Fortu-
na um das Szepter der Für-
stin zu winden, die, um den
Eindruck zu vervollständi-
gen, in reichem fürstlichen
Ornat unter einem Balda-
chin auf einem Thronsessel
sitzend vorgeführt wird (vgl.
Waagen II, 91).
Die Illustrationen zum
Changement de Fortune
stammen zweifellos aus der s
französischen Schule und
müssen, so wirksam sie
auch sein mögen, als sehr
kühner Versuch bezeichnet
werden, mit jenen herrlichen
Erzeugnissen der Miniaturmalerei zu rivalisieren, welche die kunst-
liebende Erzherzogin Margareta von Österreich in den Sammlungen und
Büchereien der von ihr verwalteten Niederlande entzücken mussten.
Gebetbucb (cod. 1858)
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Um dieselbe Zeit, da die französische Miniaturmalerei sich zu selbstän-
_ digem Schwunge erhebt - in der zweiten Hälfte des XIII. Jahrhunderts -
beginnt auch die niederländische Buchillustration jenes selbständige Gepräge
anzunehmen, das sie von den übrigen europäischen Malschulen unterscheidet,
ein Gepräge, das ihr bald weitreichenden Einfluss verschaffte und auch in
der heimischen Tafelmalerei deutliche Spuren zurückliess. Man hat das
charakteristische Merkmal der vlämischen Miniaturmalerei in das eine
Wort „Realismus" zusammengefasst; dieser äussert sich einerseits durch
Individualisierung beim Figürlichen, durchWahrheit in Ausdruck und Haltung,
anderseits durch frische, lebendige, satte Farbengebung und grossen Reich-
tum der Palette. Die manchmal derb-realistische, manchmal von köstlichem
Humor durchwehte Darstellung auf den Kleinbildern leitet denn zu den
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