Die Erforschung der voreugenianischen Schicksale des Manuskripts
ist gleichbedeutend mit einem lehrreichen Einblick in mittelalterliche Kunst
und ihr gewordene Gunst auf italienischem Boden. Die Handschrift, wenn
auch Werkstattarbeit und gewiss nicht von einem Künstler ersten Ranges
miniiert, war mit ihren fast zweihundert Bildern nur für einen reichen Biblio-
philen erwerbbar.
Hält man unter den italienischen Häusern Umschau, die in dem letzten
Jahrhundert des Mittelalters ansehnliche Büchereien, und lzwar solche mit
bedeutenden Beständen französischer Handschriften anlegten, so kommen
im vorliegenden Falle _ abgesehen von den Gonzagas ä in erster Linie
die Estes in Betracht; waren sie es doch, die ihren Ursprung von den
Troianern ableiteten - die Stadt Este soll der Sage nach von dem Troianer
Ateste, Antenors Gefährten, gegründet worden sein (vergl. hierüber Gorra,
„Testi inediti di Storia Trojana" S. 88f.) - und es ist begreiflich, dass sie
einem solchen „Ahnenbuch", wie dem „Roman de Troie", Aufmerksamkeit
schenkten. In der Tat finden wir bereits in dem 1436 angelegten Inventar
der Estensischen Hausbibliothek neben anderen Trojabüchern auch einen
„Libro uno chiamado Troiano, in franxese, in membrana, coverto de chore
verde" („Romania", II, 53). Kürzlich hat H. J. Hermann in einer gründ-
lichen Studie über die Bilderhandschriften der Estes (jahrbuch der kunst-
histor. Sammlungen XXI, 117 ff.) diese Exemplare französischer Werke
besprochen (S. x28) und mit Recht darauf hingewiesen, dass der Bilder-
schmuck der Manuskripte in dem Inventare fast gar keine Berücksichtigung
fand; die Identifizierung der angeführten Stücke mit etwa noch erhaltenen
Miniaturmanuskripten der Estes wird hierdurch sehr erschwert.
Es ist aber doch möglich, noch einen Schritt weiter zu gehen, und zwar
an der Hand eines zweiten Inventars der Este-Bibliothek aus dem Jahre x488,
das auch die Blattzahl der Manuskripte verzeichnet; mit Hilfe dieser Kenn-
zeichen gelang es A. Thomas („Romania" XVIII, 296 ff.), verschiedene, heute
an weit entlegenen Fundstätten (Pariser Nationalbibliothek, Bodleiana in
Oxford) verstreute Manuskripte als Stücke der alten Este-Bibliothek wieder-
zuerkennen. Dieses Inventar verzeichnet nun einen „Liber Trojanus in mem-
branis. N. 30, Cart. 188", also einen „Roman de Troie"-Codex mit 188 Blättern.
Hiermit stimmt vollkommen die Blattzahl des Harleianus Nr. 4484 im Britischen
Museum zu London L. D. Ward, Catalogue of Romances I, 35 ff), und
doch wäre es ein vorschnellesl Beginnen, dieses Exemplar ohne weiteres mit
jenem Este-Manuskript zu identifizieren. Der Text gehört nicht zu der durch
die italienische Gruppe vertretenen Rezension; die Miniaturen (Hgurale
Füllungen von fünfzehn Initialen) sind im Vergleich zu dem reichen Bilder-
schmuck dieser Gruppe dürftig zu nennen, und ausserdem fehlt auch der
leiseste Hinweis, dass das Londoner Manuskript je eine andere Reise gemacht
habe, als höchstens die über den Canal.
Die Wiener Handschrift des Romans enthält 189 Blätter und kommt in
der Blattzahl, wenn man von dem Harleianus absieht, unter den Manuskripten