sie heran, als wollte sie die Ruhe Schlummemder nicht stören, und wie sie so still und
in sich gekehrt dem Zuge ihres Herzens folgt, verleiht sie unseren eigenen Empfindungen
beredten Ausdruck. So treten auch wir leise und den Blick nach innen gerichtet an die
Gräber unserer Lieben heran und bringen ihnen Rosen dar, indem wir uns an all das Liebe
und Gute erinnern, das wir ihnen verdanken. Es ist kein falscher Ton in dem Ganzen,
weder unnatürliches Pathos noch lärmender Schmerz, nur Friede, stille Trauer und dank-
bares Gedenken. Dabei überschreitet das Denkmal in keiner Weise die Grenzen bürger-
licher Schlichtheit und massvoller Beschränkung, die überall notwendig ist, wo man nicht
auf die Teilname der ganzen Welt Anspruch erheben kann.
Prior hat auch sonst bereits wiederholt tüchtige Proben seiner Kunst abgelegt. Eine
vorzügliche Gruppe, die mit feinem Humor ein Böcklidsches Motiv behandelt, ist seine
Tritonenfamilie; Vater, Mutter und Kind auf einem Felsriff einträchtig beisammen sitzend,
die Mutter zum Kinde herabblickend, das sie auf dem Schosse hält, der Vater neckend
mit einem grossen Seekrebsen, der seine Scheeren gegen das Ärrnchen des Kleinen streckt.
Eine andere Gruppe, noch etwas gebunden in ihrer traditionellen Anordnung, aber voll
Rhythmus in den Linien und in der Bewegung ist seine „HeimkehW, eine Arbeit vom Jahre
r8g6. Sie zeigt die Fortschritte des Künstlers sehr deutlich, wenn wir sie mit den äusserst
fein studierten, aber rein akademisch gehaltenen Akten der Jahre x894 und 1895 ver-
gleichen, einem Steinwerfer und einer Gruppe zweier römischer Soldaten unter dem
Titel „Sterbende Krieger." Einen weiteren Schritt in Bezug auf Wahrhaftigkeit im
Ausdruck bezeichnet seine lebensgrosse Gruppe „Piet'a" vom Jahre 1898. Von diesem
Jahre an finden wir den jungen Künstler selbständig tätig, und haben gesehen, wie er in
seinen jüngsten Leistungen erfolgreich vor die Öffentlichkeit tritt. Rudolf Prior wurde
1870 zu Wien geboren, hat x886 seine Studien an der Wiener Kunstgewerbeschule
unter Professor Kühne begonnen, trat 1887 an die Akademie über, wo er Schüler des
Professors Hellmer wurde und hat sich in den letzten jahren unter anderem auch an den
Konkurrenzen für das Strauss-Lanner-Denkmal und für eine Charitas-Gruppe für das
Wilhelminen-Spital in Ottakring beteiligt. j. Folnesics
TILARCHITEKTUR UND BAÜKÜNST. Klar und mit massvoller Ruhe be-
handelt Muthesius in einem kürzlich erschienenen Schriftchen" die leidenschaftlich und
viel umstrittene Stilfrage in der modernen Architektur. Er formuliert zwei Begriffe, die er
zueinander in Gegensatz stellt: die Stilarchitektur, worunter er das Bauen nach einer der
historischen Stilarten versteht, und die Baukunst, womit er das freie künstlerische Schaffen
bezeichnet, auf Grund der Forderungen, die sich aus den neuen wirtschaRlichen und Ver-
kehrsverhältnissen, ihren neuen Konstruktionsprinzipien und neuen Materialien ergeben,
berücksichtigt. Er verwirft natürlich in vollem Umfange das, was er Stilarchitektur nennt,
und macht Rennaissance und Klassizismus für alles Unheil verantwortlich, das sich in die
heutige Baukunst eingenistet hat. In kurzem historischen Überblick zeigt er, wie sich die
Dinge seit dem Absterben der Gothik, die er als klassische germanische Architektur der
klassischen Antike gegenüberstellt, entwickelt haben, und lässt selbst den bedeutenden
Architekten des XIX. Jahrhunderts ihr volles Recht angedeihen, wenngleich es ihm darauf
ankommt, zu beweisen, dass sie auf Wegen gewandelt sind, die zum Verfalle der Baukunst
führen mussten. Was er dagegen als Heilmittel bezeichnet, das ist das freie Walten mit
den gegebenen Mitteln, denn nur auf diese Weise kann die Architektur unserer Zeit nach
und nach aus sich selbst heraus einen Gegenwartsstil entwickeln. „Die Architektur hat ihr
Wesen im Inhalt." Aus diesem Inhalt wird sich, wenn der moderne Architekt ihn richtig
erfasst, ganz von selbst ein Stil entwickeln. Wir sehen in allen Künsten unserer Zeit ein
Ringen nach Ausdruck und auch die Architektur blieb daran nicht unbeteiligt. DasRathaus,
das Fürstenschloss, das Landhaus, das Heldendenkmal, die Grabkapelle, der Ballsaal,
" Stilarchitektur und Baukunst. Wandlungen der Architektur im XIX. jahrhundert und ihr heutiger
Standpunkt. Von Hermann Murhesius, Mülheim - Ruhr, K. Schimmelpfeng, 1902.