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Volltext: Wien am Anfang des XX. Jahrhunderts : ein Führer in technischer und künstlerischer Richtung, Band 2: Hochbau und Architektur, Plastik und Kunstsammlungen

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Die Entwicklung der Architektur Wiens in den letzten fünfzig Jahren. 
VIII. 
Was sollte nun auf den bald auch bereits abgebrauchten Barockstil folgen? Louis seize- 
Stil? Empirestil? Man probierte noch eines um das andere. Aber schließlich waren dies nur 
Durchgangsstationen ohne längeren Aufenthalt. Wohin dann weiter? Wir stehen schon seit 
mehr als einem Dezennium vor einem neuen Anfang: es ist dies die sezessionistische Be 
wegung in der Kunst überhaupt und so auch in der Architektur. Diese Tendenz bezeichnet 
sich selbst gern als „die Moderne“. 
Dieselbe hat allerdings, ehe sie sich entschieden einstellte, eine eigenartige Vorstufe, 
welche aber — wie man es eben nimmt — ebenso als Nachspiel des bisherigen Entwicklungs 
ganges aufgefaßt werden kann. Die zuletzt in Gebrauch gestandenen Stiitypen der Renaissance 
und des Barocks werden in verschieden gesteigerter Weise noch einmal gebracht, ehe sie 
ihrer Zersetzung in der „Moderne“ anheimfallen; mit einem gewissen wagenden Talent sucht 
man den oft verwendeten Stilformen neue pittoreske Wirkungen abzugewinnen, um von den 
selben bald darauf Abschied zu nehmen. Diesem letzten Übergangsstadium, das nicht ganz 
von Ausschreitungen und raffinierten Besonderheiten frei ist, gehören mehrere beachtenswerte 
Bauten der jüngsten Epoche an, von denen nur einige beispielsweise genannt sein mögen: 
die „Casa piccola“ in der Mariahilfcrstraße und die Häusergruppe Ecke Fleischmarkt-Postgasse 
von Karl Theodor Bach; das „Bognerhaus“ in der Bognergasse und der „Konkordiahof“ 
am Konkordiaplatz von Franz von Krauß; das Haus der Kaufmannschaft am Schwarzcnberg- 
platz von Gotthilf: die Palais von Scanavi und Erwin Müller am Brahmsplatz von Rudolf 
Dick; das „Herrenhuterhaus“ am Neuen Markt von Julius Mayrcder; das städtische Bürger 
ladefondshaus (Riemergasse-Wollzeile) von Alb. Pecha, das Haus der Wechselseitigen Brand 
schaden-Versicherungs-Gesellschaft in der verlängerten Wollzeile von Leopold Simony etc. 
Nur um einen halben Schritt weiter stehen wir völlig auf sezessionistischem Boden. Es 
erscheint wohl einigermaßen befremdlich, wenn auch die Baukunst „sezediert , d. h. mit 
tastenden Versuchen seitab geht, statt mitten hindurch in gerader Linie den neuen Weg zu 
suchen. Mit dem Ernst ihrer Aufgabe, Pfadfinderin des Stils zu sein, verträgt sich nicht die 
unstete Willkür des Experimentierens; und daß durch die unbedingte Freigebung des Versuches 
die Architektur selbst wie alle übrige Kunst erst jetzt „modern“ geworden sein soll, überrascht 
uns um so mehr, da wir uns immer für berechtigt hielten, die ganze Kunstentwicklung des 
19. Jahrhunderts bis zu diesem Zeitpunkt ihrem Hauptzug nach bereits für modern zu halten. 
Es scheint uns auch bedenklich für die jungen Talente, daß diese so viel lebendig Gegen 
wärtiges bereits zur überwundenen Vergangenheit zählen und für sie dem Proszenium der 
Kunst die Tiefe, der Hintergrund fehlt. Ein älterer Architekt, Otto Wagner, war es wohl, 
der bei uns führend dieser Bewegung voranschritt, welche ja vorher schon von Land zu Land 
ging. Er selbst kam von der normalen Renaissance her, und bis über das Jahr 1890 hinaus 
entwarf und baute er mit vornehmem Geschmack in dieser geläufigen Richtung; und wenn ei 
sich auch zu einer „gewissen freien“ Auffassung des Stils bekannte, so ist damit nichts Besonderes 
gesagt. Denn die Renaissance trägt ja von vornan das Prinzip der Freiheit in sich, besteht 
nur durch dasselbe und ist eben darum der Fortsetzung fähig. Seine Bahnhöfe der Stadtbahn 
und die Bauten zur Donaukanalsperre sind denn noch immer nicht die richtigen Musterbeispiele 
der Moderne“, als welche man dieselben gelegentlich angesehen wissen wollte; es ist noch 
immer die „gewisse freie“ Renaissance — hier von vorwiegend dorischer Formenhaltung, 
wie sich diese für den künstlerisch zurcchtgestelltcn Nützlichkeitsbau vermöge ihrer strengeren 
Einfachheit und konstruktiven Klarheit durchaus eignet. Wenn nun Wagner in seiner Lehrschrift 
„Über moderne Architektur“ ausdrücklich darauf dringt, daß die Kunstform nichts der Kon 
struktion Fremdartiges ausdrücken soll, so geben wir ihm hierin recht, obgleich man dies 
schon vor ihm einsah; nur folgt daraus nicht zugleich, daß es die nächste Aufgabe des modernen 
Architekten sei, „Neuformen zu schaffen“, da diese, wenn sie den Wert wirklicher Stilformen 
haben sollen, sich nur allmählich herausbilden und nicht von einzelnen ersonnen werden können. 
Darum weist die „Moderne“ bis jetzt keine Entwicklungsreihe, sondern nur eine Versuchsfolge 
ohne eigentlichen inneren Zusammenhang auf; und es ist bei dem raschen Wechsel des je 
weiligen Zustandes gegenwärtig noch kaum möglich, die ganze Richtung als solche oder viel 
mehr diesen Inbegriff verschiedener Richtungen nach bestimmten deutlichen Merkmalen zu 
charakterisieren. Das Heraustreten aus dem Formenbereich der Renaissance erfolgte wohl rasch 
genug und vollzog sich beiläufig in folgenden Stadien: absichtlich rudimentäre Vereinfachung 
der Motive; Fortlassung der vermittelnden Profilgliedcrungen; soviel wie möglich Abschaffung
	        
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