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DIE AUSSTELLUNG VON BUQHEINBAN DEN
UND VORSATZPAPIEREN IM OSTERREICHI-
SCHEN MUSEUM äßVON LUDWIG HEVESI-
WIEN St!
AS Interesse am Bucheinband ist in den letzten Jahren
überraschend gestiegen. Und zwar erstreckt es
sich gleichmässig auf den Einband der Ver-
gangenheit und den der Zukunft, was natürlich
den der Gegenwart nur umsomehr als einen
Übergangsband, den richtigen „Interimsband",
erscheinen lässt. Die ganze Bewegung der Luft
deutet auf Umschwung. Paris und Nancy haben
die Grenzen der buchbinderischen Ästhetik ins
Unbegrenzte hinausgerückt. Der impressio-
nistische Einband der Gruppe Viktor Prouve,
der „mystische Einband" Belvilles, die Lederplastik Saint-Andres erregen
die Sinnlichkeit des Bücherfreundes. Der Liebhaberband erlebt phantasti-
sche Romane. Und andrerseits mehren sich die Symptome, dass der leinene
Interimsband im Begriffe steht, sich in einen Definitivband, ja Bibliotheks-
band zu verwandeln, indem er sich von bescheidener Handwerklichkeit zu
künstlerischem Reiz und Wert emporringt. Das voxjährige Preisausschreiben
der Buchbinderei-Aktiengesellschaft (vormals Gustav Fritzsche) zu Leipzig
wies nicht weniger als 1622 Entwürfe, von 437 Urhebern, grossenteils von
Künstlerhand auf. Und auf der vorjährigen Ausstellung von Bucheinbänden
im Musee Galliera trat auch die so vernachlässigte Kartonnage durch Georges
Auriol, den Virtuosen der unleserlichen Monogramme, in ein neues künstleri-
sches Stadium. Seine ausführende Hand, Baron, wurde sofort als ein „relieur
de Pavenir" bezeichnet. Da ist es denn nur noch ein Schritt bis zur zeit-
gemässen Wiederbelebung des so verachteten Urväter-Pappbandes, den jeder
einsichtige Bücherkäufer schmerzlich entbehrt, was er aber meistens nicht
einzugestehen wagt. So sehen wir auf der einen Seite den Feinschmecker-
band, namentlich durch die Franzosen mit jeder Art von modernem Luxus
fortentwickelt, und andrerseits den Einband weithin demokratisiert, mit
gutem Geschmack für die Massen verbilligt und zugleich veredelt, so recht
nach dem Sinne des grossen Sozialästhetikers Morris, dessen Traktätlein
schon den modernen Pappband haben, und seines nicht minder soziali-
stisch geeichten Nachfolgers Cobden Sanderson. Auf diesem entscheidenden
Punkte, wo zwei Heerstrassen sich trennen oder vielmehr zusammentreffen,
stehen wir heute. Es ist ein interessanter Zeitpunkt. Das Jahr 1902 war das
wichtigste Buchbinderjahr innerhalb Menschengedenkens und es trifft sich
bedeutsam genug, dass am 8. Oktober desselben die ehrwürdige Bodleian
Library in Oxford ihren goojährigen Jubeltag feierte. Diese kluge, erleuchtete
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