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Volltext: Monatszeitschrift VII (1904 / Heft 5)

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E. BONNENCONTRE UND SEINE KUNST 51b 
VON GRAF VON SOISSONS S0 
IE Kunst ist der getreueste, unmittelbarste Ausdruck 
der Seele; aber die Seele umfasst eine so 
gigantische Welt der Erscheinungen, ein so 
unergründliches Meer von Mysterien, ein solches 
Wirrsal unermesslicher und zuweilen sich 
widersprechender Lebensäusserungen, ein 
solches Gemisch rauher und subtiler Empfin- 
dungen, Zustände, Gemütsbewegungen und 
Ideen, dass der artistische Kritizismus ausser- 
stande ist, zwischen einem Kunstwerk und der 
Seele seines Schöpfers eine reale Verbindung 
zu entdecken. Solches ist die Aufgabe der Kunsttheorie; und immer wieder 
scheitern die gelehrten Systeme der Ästhetik ebenso wie die zeitweise aus- 
gegebenen Parolen, wodurch die knappen Tendenzen gewisser Kunst- 
richtungen zum Ausdruck gebracht werden. Nichts bleibt übrig von der 
schulmässigen Spekulation und dem Meere von Phrasen. Die Kunst schafft 
und erzeugt in der Richtung, in die sie durch den Flug individueller Talente 
gezogen wird, und kümmert sich nicht um Formeln, durch die sich eine starke 
Individualität weder binden noch niederdrücken lässt. Beziehungen und 
wechselseitige Abhängigkeit gerade einiger wesentlichen und einfachen 
Äusserungen des Seelenlebens, wie Empfindungen, Einbildung, Gefühl, 
Denken, bringen eine solche Verwicklung der Erscheinungen hervor, dass, 
um solche zum Ausdruck zu bringen, alle Arten der verschiedenen Kunst- 
zweige erforderlich sind. Aber die elementaren psychischen Erscheinungen 
weisen so manche Schattierung auf, so manche Abweichung, unter dem 
Einfiusse der unendlich variierenden Einwirkung des äusseren Lichtes, unter 
demEinfiusse des pathologischen Zustandes desKünstlers, unter dem Einflusse 
des chaotischen Gesamtlebens der Menschheit, dass es unmöglich ist, sie durch 
das zu erklären, was man als den Normalmasstab des menschlichen Tuns 
betrachtet. Daher die Schwierigkeit, ja die Absurdität des Kritizismus, der 
sich der Kunst nicht nähert, wie etwa ein gewissenhafter Schüler einem ihm 
noch unbekannten Phänomen, sondern als Richter, der die Paragraphen eines 
Gesetzbuches auf die Werke der Kunst anwendet - Werke, die oftmals 
den Anstrengungen einer bebenden Seele entspringen, die das uneinge- 
schränkte Bestreben hat, sich ganz und gar zu offenbaren, und die sich aus 
diesem Grunde mit dem zeitgenössischen Leben im Widerstreit befinden, 
ebenso sehr wie mit den moralischen und materiellen Existenzbedingungen 
der Massen. 
Daher kann auf ein Kunstwerk weder die verwickelte spekulative 
Ästhetik angewendet werden, - die mit einem Gebäude mit vielen, den 
einzelnen Kunstweisen entsprechenden Flügeln zu vergleichen ist, gestützt 
 
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