Ein Vergehen gegen den Materialcharakter ist das ausserdem.
Manche Raritäten und ausgestorbenen Formen finden sich dann noch unter dem
Sitzgerät der ]ahrhundertsgrenzen. Sie verdienen ein Wort.
Die „Chaise de Fontainebleau" ist besonders bemerkenswert. Es ist jener Stuhl
Louis XVL, auf dem man rittlings sass, die Lehne statt im Rücken vorn in Leierform mit
gepolsterter, von den Leierarrnen getragener Stütze für die Arme. Zum Kartenspiel, zum
Vorlesen war dieser Sitz bestimmt. Mannigfache Bezeichnungen trug er: „chaise voyeuse;
chaise en lyre, conversation chaise"; in Garde Meuble des Louvre steht ein unserem Stück
verwandtes Exemplar.
Auch der Bau dieses Stuhles drückt gut seine Bestimmung aus, er hat nichts, was
zur lässig träg versinkenden Ruhe ladet; seine Tendenzen gehen nicht auf das beschau-
liche sich Zurückziehen aus, sondern sie streben nach vorn zur lebhaften Aktion, zur
bewegten Gebärde. Ein anderer Stuhl bildet eine reizvolle Eigentümlichkeit aus, bei
der man sich wundert, dass sie George de Feure sich hat entgehen lassen. Die Nuance
nämlich, dass die Rückenlehne ihre Polster nach hinten umbiegt und so für das frisierte
Köpfchen einer Dame ein kleidsames Kissen bildet, auf dem es halbgeschlossenen Auges
den Courtoisien des hinter dem Stuhl stehenden Cavaliers lauschen kann.
Für solche schmiegsame Nuancen hat George de Feure, der moderne Emeuerer des
XVIII. Jahrhunderts sonst ein feines Gefühl. Diese scheint ihm entgangen zu sein, dafür
hat er ein anderes Motiv aufgenommen, dessen Vorbild wir in dieser Ausstellung finden.
Das Motiv, Sitz und Rückenpolster nicht rechtwinklig zu spannen, sondern aus einem
Stück in weicher Rundung, genau der Rückenlinie des Sitzenden gemäss über das Holz
zu führen.
In den Kunstsalons haben die Herbstausstellungen begonnen.
Bei Schulte sieht man eine interessante Carabinkollektion. Impressionistisch gefasste
Kleinplastik aus Bronze giebt sie, Serpentintänzerinnen im Faltenwirbel des Schleier-
kleides, Ballerinnen in der federnden Balance des Spitzentanzes, skulpturale Gegenstücke
zu den vibrierenden Zeichnungen des Desgaz aus der gleichen Welt, Mädchen mit
schmeichlerischen Katzen, die ihnen um den Nacken schleichen, Ringer, eine Gruppe sich
vorwärtsschiebender Montmartre-Flaneure. I d
Alle diese Figürchen haben das Vehemente momentaner Bewegung. Carabin strebt
nicht nach der weichen Anmut, wie sie zum Beispiel in Leandres Sevres-Figurinen des
Schärpenspieles schwebt, ihn interessiert das Charakteristische der Bewegung, vor allem
die Momente, da sich alle Glieder spannen und dem bemüht er sich möglichst konzentrierten
Ausdruck zu geben.
Wenig glücklich ist es aber, wenn er seine bildnerischen Interessen für Dinge der
angewandten Kunst verwerten will. Sein StockgriE, aus einem rechtwinkelig gebogenen
Frauenkörper bestehend, ist recht verfehlt und wirkt unfreiwillig grotesk.
Ein harmonisches Werk des norwegischen Bildhauers Stephan Sinding stellen Keller
und Reiner aus, seine jüngste Arbeit. „Anbetung" nennt er es. Auf hohem Bronzesockel
sitzt eine junge knospenhafte Mädchengestalt, vor ihr kniet ein Jüngling.
Das an sich nicht originelle Motiv ward feinfühlig aufgefasst. Im Gesicht des
Mädchens, das langes Haar umrahmt, in ihrer Haltung, ihre Arme gleiten ganz unpathe-
tisch und sehr schlicht längs des Körpers herunter, liegt etwas Unbewusstes, als ver-
stehe es diesen Kultus nicht, ja wie ein leises kinderhaftes Lächeln schwebt es um
den Mund.
Den grossen skulpturalen Linien des Aufbaues nach, der Sockel und das Bronzeplateau
sind machtvoll gegliedert, ist die Gruppe wie sie die Aussteller bezeichnen „Monumental-
plastik", ihrem Gefühlsinhalt nach aber ist sie eine Idylle. Felix Poppenberg