weniger hoch zu schätzen. In gewisser
Beziehung stehen sie vielleicht sogar
auf höherer Stufe, denn bei ihnen tritt
die dekorative Absicht mehr oder
weniger in den Hintergrund, um das
rein psychologische Element vollends
zur Geltung zu bringen. Das ganze
Können des Künstlers wird da auf
Kopf und Hände konzentriert und die
Figur meistens gegen einen neutral
gehaltenen Hintergrund ohne irgend-
welches störende Beiwerk gezeigt.
Das gelungenste wohl von allen
Sargentschen Männerbildnissen ist
das des Lord Ribblesdale, welches
uns den idealen Typus des englischen
Gentleman und Sportsman der alten
Schule verführt: hochgewachsen,
adlernasig, mit scharf geschnittenen
Gesichtszügen, glatt rasiert, mit jener
gesuchten Nachlässigkeit und Ver-
achtung der I-Ierkömmlichkeit ge-
kleidet, welche das non plus ultra
der wahren Eleganz ist - so steht er
vor uns; ungezwungen, natürlich, der
ideale Repräsentant des Vollblutedel-
mannes.
Eine ganz andere Phase des 311g- john Singer Sargent, Lord Rihblesdale
lischen sozialen Lebens, ein krank-
hafter Auswuchs sozusagen, welcher den krassesten Gegensatz zu dem
eben beschriebenen Typus bildet, spiegelt sich in dem Bildnis von
W. Graham Robertson. Es stammt aus jener Zeit H kaum zehn Jahre
sind seither verflossen und sie haben kaum eine Spur zurückgelassen - in
welcher die ästhetische Pose in der Mode war. Die seltsamen Träume
des Aubrey Beardsley, exotische Treibhauspflanzen, giftige Orchideen der
Kunst, und die cynischen Epigramme des Oskar Wilde sind bezeichnend
für den Charakter und ebenso raffinierten wie alfektierten Geschmack des
Kreises, welchem Mr. Robertson angehörte. Der Jüngling mit dem abge-
lebten Gesicht und mit der ultraeleganten Kleidung, den Sargent auf die
Leinwand gezaubert, ist der Grundtypus des Dekadenten: Aus jeder Finger-
spitze spricht die Absicht, schön und geistreich zu sein und A aufzufallen.
Schön vor allen Dingen, denn schön zu sein, so sagt der Hohepriester der
ästhetischen Offenbarung, ist wahre Kunst: geistreich kann jeder Dumm-
kopf sein!