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Tier befriedigt über die eigene Schönheit und Majestät wiedersieht. Die Dame
gehört nach dem Wappen dem Hause Le Viste an und ist auf den übrigen
Gobelins dieser Reihe in verschiedenen Szenen ihres tugendhaften Lebens
verherrlicht. Das Einhorn wird hier somit Symbol ihrer Keuschheit, der Löwe
Symbol der Stärke ihres christlichen Glaubens.
Eine Darstellung der Jagd Findet sich auf einem leinenen Handtuch der
vormaligen Sammlung Hefner-Alteneck. Ein Jäger und drei Hunde hetzen
das Einhorn in den Schoß einer
Jungfrau. Das über dieser Szene
liegende Spruchband ist so zu
lesen: „Ich und du fallen, du hebes
an". Diese Worte bedeuten also
den Verlust der Jungfräulichkeit
bei dem Mädchen und die darauf
folgende Erlegung des Einhorns.
Daß der mystischen Jagd des Ein-
horns stets auch ein sinnlicher
Gedanke zu Grunde lag, muß ich
hier besonders betonen, weil die
Darstellungen der Verkündigung
Mariens nur in dieser Weise zu er-
klären sein werden. Den frühesten
, Beweis für diese Erklärung haben
wir in der Klagenfurter Handschrift
des Physiologus, und das vor-
erwähnte Handtuch der Sammlung
Hefner bietet hiefür nur eine späte
Bestätigung. Die Darstellung auf
der durchbrochen gearbeiteten
Zierplatte einer Jagdflinte aus der
zweiten Hälfte des XVIII. Jahr-
Wange des Chorgestühls im Münster zu Konstanz hunderts mutet uns an: als Ob sich
(Der rZinkstock ist der Zeitschrift „Schauinsland, Frei- das Einhorn von den-l Weiblichen
burg l. B." entnommen, ebenso jener des Dominikaner- . .
breviers und der Schongauer Tafel) Wesen abwendes wen dle erste
Bedingung, die Jungfrauschaft
nicht zutreffen mag. Die Brust des Weibes ist hier entblößt, um entsprechend
vielen alten Texten das Tier anzulocken. Die gleiche sinnliche Behandlung
des Stoffes finden wir auf dem Kragstein im Kreuzgang des ehemaligen
(1344 vollendeten) Zisterzienserklosters Neuberg in Steiermark, weiters im
Herrenchor der ehemaligen Klosterkirche zu Maulbronn, im Gestühl des
hohen Chores des Cölner Domes und auf zwei Chorwangen des Konstanzer
Münsters.
Jetzt werden wir den Sinn der Darstellung auf der eingangs genannten
Plakette und auf weiteren kunstgewerblichen Arbeiten leichter verstehen.