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verwertet. Sie alle, die uns
diese mystische Auffassung
in Werken der Kunst und
in der Literatur überlieferten,
waren gleichmäßig von der
Phantasie ihrer Nation ge-
tragenundbeeinfiußLzehrten
und lebten von demselben
Gut, der durch höher zurück-
Aus der Klagenfuner Handschrift des jüngeren deutschen liegende Elemente befruch-
Physiologus. Um 1309 teten Einbildungskraft des
Volkes. Diese Einbildungs-
elemente bezog die Volksseele des Mittelalters in unserem Fall von zwei
ähnlichen Quellen, dem Physiologus der Deutschen und den Bestiaeres der
Franzosen.
Der Physiologus, eine in frühchristlicher Zeit in Alexandrien entstandene
hellenistisch-ägyptische religiöse Schrift - eine Auswahl von meist fabel-
haften Eigenschaften wirklich existierender oder der Fabel angehörender
Tiere mit angefügten mystischen und moralischen Auslegungen - erfreute
sich durch das ganze Mittelalter hindurch einer ungemein großen Ver-
breitung. Das Einhorn lernen wir im Physiologus als indisches Tier kennen:
Es sei unbezwingbar und lasse sich von Jägern nur durch eine reine Jung-
frau fangen. Beim Anblick einer solchen bleibe das sonst so ungemein
flüchtige Tier erstaunt stehen und der Jäger könne es leicht erreichen.
Öffnet ihm die Jungfrau den Schoß, so schlafe es sanft darin ein. Dies
bezeichnet, daß Christus, mächtiger als alle himmlischen Mächte, in den
Schoß der seligsten Jungfrau Maria herabkam, um Menschheit anzunehmen.
Zwei Übersetzungen des Physiologus existieren in deutscher Sprache. Die
ältere aus dem XI. Jahrhundert ist uns in einer Wiener Handschrift unvoll-
ständig überliefert; die jüngere, vor der Mitte des XII. Jahrhunderts auf
österreichischem Boden entstanden, dagegen vollständig erhalten. Die ältere
geistliche Literatur und die Poesie benützten den Physiologus ungemein. In
Heinrichs Litanei wird Christus mit dem Einhorn verglichen: Er habe, so
wie dieses, seine Liebe zur Jungfrauschaft gezeigt, indem er von einer
wahren Jungfrau den menschlichen Körper an sich nahm - wie das Ein-
horn sich nur einer reinen Jungfrau ergibt. Auch Wolfram von Eschenbach
kennt die Erzählungen über das Einhorn. Er sagt:
„Ein tier heiszt monicirus
daz erkennt der meide rein so groz
daz er Haefet uf der meide schoz."
Die höfische Epik schloß sich im Mittelalter durch. die Behandlung
religiöser und kirchlicher Stoffe an frühere Dichtungen der Geistlichen an;
nur wurden diese Stoffe mit freierem Geist behandelt. Nicht ausschließlich