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Kazuo Shiraga, Cho Gendai
Sanbansou, 1957
Ich legte nach dem Zufallsprinzip einige Bögen Papier
auf den Boden, um mir die Meditation und Halluzination
zu erleichtern. Dann fuhr ich mit einem Graphitbleistift
über das Papier und machte so einige Zeichnungen.
Während ich auf die dunklen oder weich schattierten
Stellen dieser Zeichnungen starrte, stellte ich überrascht
fest, daß sich meine Wahrnehmungsfähigkeit plötzlich
erhöhte.Verschiedene widersprüchliche Bilder erschie
nen mit einer Eindringlichkeit und Geschwindigkeit, wie
sie der Erinnerung an eine Affäre eigen sind, überlager
ten sich, und schließlich folgten Halluzinationen.^?
Bei dem von der Gutai-Gruppe praktizierten Automatis
mus stand jedoch die Bedeutung des temporalen Schaf
fensprozesses und nicht die geschaffenen Bilder im Vor
dergrund. Spuren verspritzter oder mit den Füßen zertre
tener Farbe sind im wahrsten Sinne des Wortes Zeugen
einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Körper
umd Material und haben mit Assoziationen oder Halluzi
nationen nichts gemein. Bisher war es üblich, zwischen
körperlichem und mechanischem Automatismus zu
unterscheiden. Der Automatismus der Gutai-Gruppe, in
dessen Zentrum der kreative Prozeß stand, muß im
Gegensatz zu Ernsts assoziativem Automatismus je
doch als zeitlicher Automatismus verstanden werden.2®
Dieser zeitliche Automatismus spielte im damaligen
Action painting eine wichtige Rolle und trug wesentlich
zur Qualität der Bilder bei. So sind auch Pollocks Bilder
davon geprägt, während Georges Mathieus Werke, die
ebenfalls als Ergebnis einer vehementen Gestik entstan
den, sich nie ganz vom assoziativen Automatismus der
Surrealisten lösten und letztlich den mystischen Bildern
entsprachen, die Michel Tapie und Mathieu selbst einfor-
Shozö Shimamoto, Malen
mit der Kanone, 1956
derten. So wies die Gutai-Gruppe zwar gewisse Ähnlich
keiten mit dem Informel auf, das Wesen ihrer Aktionen
aber blieb eng mit der zeitlichen Dauer des Malens -
d. h. einem zeitlichen Automatismus - verbunden. Auch
Yoshiharas Interesse an Nantembos Kalligraphie kann in
diesem Licht betrachtet werden, und sowohl Shima-
motos Bilder, die sekundenschnell durch die Explosion
von Farbfläschchen entstanden, als auch Motonagas
Schüttbilder, deren Entstehung Stunden dauerte, beto
nen die zeitliche Dimension des Schaffensprozesses
und weisen damit auf eine neue Art von Automatismus
hin.
Viele Künstler, deren bevorzugte Ausdrucksform die
Aktion war, interessierten sich stark für den Automatis
mus und seine zeitlichen und körperlichen Aspekte. In
seinen Extremformen braucht der Ausdruck aber letzt
lich nicht einmal mehr die Form von Bildern oder von
dreidimensionalen Objekten anzunehmen. Die Gutai-
Gruppe war in dieser Hinsicht einzigartig: Ihr Ziel blieb
trotz des radikalen Aktionismus der frühen Jahre am
Ende immer das gemalte Bild. Auch die beiden Aktio
nen, die auf der »First Gutai Art Exhibition« aufgeführt
wurden, Kämpfen mit Schlamm und Zerreißen von
Papier, waren als Mittel zur Schaffung von Bildern konzi
piert. Shiraga sagte, das Ziel seines Stücks mit Holzklöt
zen sei der Versuch gewesen, ein endloses Bild aus
weißen Axtspuren auf roten Holzklötzen zu kreieren.29
Die auf der Bühne aufgeführten Werke - eine recht
eigenwillige Ausdrucksform - waren teilweise als Live-
Aufführung eines Bildes mittels Automatismus gedacht,
und die meisten übten einen nicht geringen Einfluß auf
die Malerei aus. Zur Bühnenausstellung sagte Muraka-
mi: »Bisher hatte Zeit für die räumliche Komponente der
Malerei nie eine Rolle gespielt. Die Entdeckungsfreude
der Gutai-Mitglieder aber verlangte nach dem Einsatz
räumlicher und zeitlicher Elemente, um unsere ästhe
tische Erfahrung in ihrer Ganzheit zu vermitteln. Wir lie
ßen den Rahmen weg, sprangen aus der Wand, ersetz
ten statische Zeit durch wirkliche Zeit und probierten
eine neue Malerei aus.«® Obwohl die Werke der Gutai-
27 Max Ernst, Au-delä de la peinture, Paris 1937.
28 Die Idee einer Gegenüberstellung der Konzepte Dauer und Asso
ziation verdanke ich den linguistischen Studien Ferdinand Saus-
sures. Dieser bezeichnet das erstere als »syntagmatisch» und
das letztere als »assoziativ« und betrachtet sie als zwei verschie
dene Arten linguistischer Aktivität. Ähnliche Gedanken finden sich
auch in den folgenden Publikationen: Roman Jakobson, »Deux
aspects du language et deux types d’aphasie«, in: Essais de
linguistique generale, Paris 1963; Roland Barthes, »L’imagination
du signe«, in: Essais critiques, Paris 1964.
29 Transkription meines Interviews mit Kazuo Shiraga (wie Anm. 6),
S. 380.
30 Saburö Murakami, »Gutai bijutsu nitsuite« (Über die Gutai-Kunst),
Gutai,7. 15. Juli 1957, o.S.