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damaligen Kunst in so wundervoller, fast unvergleichlicher Weise vor Augen
führen können; diese überraschende Erhaltung mag, abgesehen von dem
trefflichen Materiale, damit im Zusammenhange stehen, daß der Ornat durch
Jahrhunderte nur einmal im Jahre „bei der Stifterin Strüzelweih" zur Ver-
wendung gelangte. Vor allen Dingen kennen wir aber kaum irgendein anderes
Werk der Kunst, das eine in der spätromanischen Kunst wirkende Idee in
solcher Vollkommenheit verwirklicht zeigt wie unser Ornat; wir meinen die
Tunicella des Gößer Ornats, Rückseite im jetzigen Zustande (ausgespunnt)
Unsymmetrie. Das Gefühl für Unsymmetrie ist in beschränktem Sinne in der
europäischen Kunst wohl immer vorhanden, taucht aber von Zeit zu Zeit
deutlicher auf: noch verschämt in der späten Antike oder in Miniaturen
Karolingischer Zeit (in Randornamenten), später in der ausgehenden Gotik
und dann im Rokoko, der ihrem Ende zueilenden Renaissancebewegung. Das
Aufgeben der Symmetrie ist in gewissem Sinne der Schlußpunkt einer Stil-
richtung und so scheint es auch in der romanischen Kunstentwicklung der
Fall gewesen zu sein. Das Prinzip inneren Reichtums, innerer Abwechslung
" Die Weihe des Brotes und auch des Käses erfolgte in Göß am 7. September, dem Gedenktage der Stifterin.