betrachtet. Aber immerhin kann heute bereits einiges als gesichert gelten,
so daß wir uns nicht nur über die einzelnen Stücke, besonders über die
Kasel, sondern auch über die Stellung des Ornats in der ganzen Kunst-
entwicklung klarer werden können. Und wenn einiges heute noch un-
geklärt ist, so erscheint es doch nicht zweckmäßig, eine Veröffentlichung in
unbestimmte Ferne zu verschieben; denn absolute Klarheit wird man in
ähnlichen Dingen niemals erlangen. Dagegen vermögen bessere und reich-
lichere Abbildungen als die bisher bekannten und die Feststellung einiges
Neuerkannten Anregungen zu bieten, die andern ebenso bei der Betrach-
tung weiterer Kunstwerke nützen, als auf die Erforschung des Ornats selbst
wieder zurückwirken können.
Ehe wir aber zu irgendwelcher Schlußfolgerung schreiten, wollen wir
die Stücke selbst, so wie sie heute vor unserem Auge ausgebreitet sind, näher
betrachten. Wir wollen die Stücke dabei nicht nach ihrer kirchlichen oder
künstlerischen Wichtigkeit anordnen, sondern in gewissem Grade nach ihrem
Erhaltungszustande, damit wenigstens bei den wichtigsten Stücken von mög-
lichst Gesichertem ausgegangen werde, worauf das andere sich dann mehr
oder weniger von selbst erklärt.
Es muß nämlich sogleich vorausgeschickt Werden, daß sich die einzelnen
Stücke nicht mehr in ihrem ursprünglichen Zustande befinden, sondern daß
sie durch Abschneiden oder Ausbessern mehr oder weniger Veränderungen
erfahren haben.
Am meisten hat durch Verkleinern, aber nicht durch nachträgliche
Einfügungen, wie sie bei andern Stücken erfolgten, die Kasel gelitten; wir
wollen sie darum von den Hauptstücken zuletzt betrachten. Am wenigsten
Veränderungen hat das Pluviale und insbesondere das Antependium erfahren;
wir werden daher gut tun, mit diesen beiden Stücken die Betrachtung zu
beginnen.
Es sei nur eine ganz kurze Bemerkung über das Material und die tech-
nische Durchführung der Stickereien vorausgesendet. Es gehören diese Ar-
beiten, so wie zum Beispiele die Gewänder aus St. Blasien, die sich nun zu
St. Paul in Kärnten befindeni, zu jener selteneren Gruppe von Stickereien, bei
denen der Grund von der Stickerei vollständig bedeckt wird und selbst gar
nicht mitspricht. Das Stickmaterial ist bei dem Gößer Ornat ausschließlich
Seide, und zwar ein wundervoll weiches Material von außerordentlicher
Leuchtkraft und Farbe; Gold, das bei dem einen Stücke aus St. Blasien hinzu-
tritt oder bei einer vergleichbaren Arbeit in Anagni sehr wichtig erscheint, ist
hier ganz vermieden. Die Farben sind zum Teil außerordentlich gut erhalten,
so daß manche Teile, wie die Rückseite der Kasel (siehe die Farbentafel)
und die geometrische Musterung des Pluviales, kaum wie Stickerei, sondern
geradezu wie farbige Glasfenster wirken; es trägt dazu auch der reine, unge-
brochene Ton der Farben bei. Besonders gut ist das Rot erhalten, das ja
)' Franz X. Kraus, Der Kirchenschatz von St. Blasien . . . . ., Beigabe zu den Kunstdenkmälern des
Großherzogtums Baden. Freiburg i. Br. 1892.