sehriebene colorirte Zeichnung vom Jahre MTO, welche zwar nur zwei Figuren, aber an
denselben die ganze Verkehrtheit der herrschenden Tracht darstellt: einen Jüngling mit
einer Fülle künstlich gekriiuselter Locken, mit langen Schnabelschuhen und in engster die
Schultern und Unterarme bloss lassender Kleidung, und eine Dame, welche das Haar unter
einer Haube wie die Körperformen unter langen weiten Gewändern verhüllt. Der Stutzer
trug die Kleider so eng, dass er nur mit fremder Hilfe hineinkommeu und dann kaum sich
bewegen konnte - eine Erscheinung, mit welcher die Vorliebe der Maler für lange magere
Körperformen und die steifen Bewegungen ibrerFigilren in Zusammenhang zu bringen sind -,
seine Gewänder waren mit Schellen besäet, die bezeichnend genug dem Narren als Erb-
theil verblieben, die Schnabel der Schuhe wachsen bis zu einer Länge von zwei oder drei
Fuss anund selbstdie ritterliche Rüstung kann sich dieser ebenso unpraktischen als unschönen
Sitte nicht erwehren. Zum langen Haar gehörte Bartlosigkcit. An der Form der Kopi-
bedackungen, deren man auch zwei über einander trug, um beim Grusse nur den einen
Hut abzuziehen, kühlte der ausschweifendste Geschmack seinen Muth. Die (in zwei Farben)
„getheilte Tfracht", ursprünglich das Abzeichen des Lehensmannes, welcher die Farben
seines Lehensherrn an sich trug, wurde in der bizarresten Anwendung zur Mode oder man
kleidete sich vom Kopf bis zu den Fiissen in eine einzige Farbe. Die Damen hiillten sich
in die prachtvollsten schwersten Steife und erfunden die Schleppen, rasirten sich hohe
Sürnen und versteckten alles Haar unter ungeheuerlichen Hauben und Hüten oder trugen
es in einer Unmasse von Löckchen, verbergen nicht nur den ganzen Körper, sondern auch
das halbe Gesicht oder trieben die Entblössung weiter als es jemals sonst geschehen ist.
Der unerschöpüiche Reichthum an Formen, die Absonderlichkeit und Abenteuerlichkeit
der Gestalten, die Pracht und der Fsrbenetfect dieser bunten Trachtenwelt spiegeln sich
in der Kunst des Einfzehnten Jahrhunderts, vorzugsweise diesseitsrder Alpen, ab. Daher
die Asussarliehkeit und Eitelkeit in der religiösen Kunst dieser Zeit, verbunden mit einer
in ihrer Art einzigen Tiefe und Reinheit der Empfindung, daher der derbste Humor neben
dem Ausdrucke ernstester Frömmigkeit, wie z. B. in den Miniaturen zu den Gebetbüchern;
diejenigen, welche diese Gebetbiicher malten oder dieselben gebrauchten, fühlten sich, meint
der Redner, in ihrer Frömmigkeit sicher genug, um den Humor unmittelbar daneben ver-
tragen zu können. Dazu stimmt auch auf den Gemälden der Ausdruck, „der vom Himmel v
zu stammen scheint", in Gesichtern, welche deutlich genug als Portrsits zu erkennen sind.
Die Architektur geräth ins Schwanken, die Gothik verlässt ihre strengen Grundsätze und
wendet die Spielereien der Kleinkunst auf die kolossalen Verhältnisse ihrer Kirchenbauten
an. Die Wände lösen sich in ein System von Pfeilern, Stäben und Gurten auf, das Ge-
bäude würde einer oifenenen Halle gleichen, wenn nicht die gefärbten Gliiser auf das Auge
den Eindruck des Abschlusses machten. Der Spitzbogen entartet, Holz- und Metallama-
niente werden in sprödem Stein nachgeahmt und iiberwuchcrn in dem Gnade, dass die
architektonischen Linien verloren gehen. Dabei erstarrt es zu wenigen, schematisch ge-
stalteten und unermüdlich wiederholten Formen, schrurnpß das Laubwerk zu dürrem Ge-
üste zusammen. Von der Architektur entlehnte die Kleinkunst das Masswcrk, welches bei
groslen Verhhltnissen schmückt und belebt und doch bei grösserer Entfernung Klarheit
und Deutlidlkeit behält, auf kleine Verhältnisse übertragen aber trocken und langweilig
wird. Die Aermlicbkeit des Ornamente trieb z. B. die Goldschmiedekrmst dazu, das Ziel
ihrer Kunst wo anders zu suchen, als wo es liegt, indem sie ihren Geflissen die Gestalt
von Thieren u. dgl. m. gab. Noch näher lag der Tischlerkunst die Nachahmung architek-
tonischer Formen und diese letzte entartete Periode der gothischen Kunst nahm man sich
zum Muster, als es vor einigen Jsbrzehentaen Mode wurde, gothisehe Formen wieder auf
den inneren Hansrath anzuwenden. Dagegen ergeht sich auf den Teppichen, für welche
das ganze Mittelalter eine grosse Vorliebe hatte, die genrebafte Weltlust, lange bevor sie in
die eigentliche Malerei eindrang.
Eben so prachtvoll und reich wurden die gewebten Stoffe zur Bekleidung wie zum
Behange ausgestattet, aber hier schien eine ganz eigene, vom Naturalismus wie von der
Nachahmung der Architektur sich gleich fernhaltende Art der Ornarnentation ein eigenes
Leben au iiihren. Können die schweren Stoffe jener Zeit, die Brocate u. s. w., mit der
richtigen Vertheilung von Grund und Ornament, der Farbenzusammenstellung, der stylvollen
Zeichnung stets als Muster dienen, so pulsirt in der Pergamentarabeske das ganze Leben
der Zeit mit allen widerstrebenden Richtungen. Strenger Styl und Naturalismus und klein-
liche Spielerei, Pietät und übermüthiger Humor, Heiliges und Profanes wohnen einträchtig
bei einander.
Der wunderlichen Welt, welche sich in diesen Miniaturen abspiegelt, sah man es
an, dass ihr eine Art von Reinigung noththat, ein geistiger Gewittersturm mit seinen wohl-
thltigen Erschütterungen. Geister und Gewissen waren ausser sich gerathen und mussten
wieder in sich gekehrt werden, der Geschmack hatte sich verlaufen in eine Menge ver-
schiedener Anue und Richtungen. Es musste ihm ein neues Bett gegraben werden, und
in der That hatte sich in Italien bereits ein neuer Geschmack entwickelt, dessen Aus-
breitung diesseits der Alpen den Gegenstand der zweiten Vorlesung bildete.