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Wir betreten zuerst das Mutter-
land der meisten kunstgewerblichen
Techniken, das Land, in dem auch viele
der Urformen geschaffen wurden, die
jede spätere Künstlergeneration in ihrer
Art mit neuem Leben erfüllte - das
alte Ägypten. Hier wie bei den wun-
dervollen Werken der kretisch-mykeni-
schen K-ultur, die sich an sie anreihen,
stehen wir vorLeistungen von ursprüng-
licher Kraft und Ausdrucksfähigkeit.
Über die Unbeholfenheit der Technik
hinweg führt eine Gestaltungskraft, die
aus jedem Material so sicher die natür-
liche Formensprache zu holen vermag,
die jedem Zwecke so unmittelbar durch
schöne und überzeugende Bildungen zu
entsprechen weiß, daß spätere Genera-
tionen oft mit den vollkommensten
Hilfsmitteln keine wirksameren Werke
schaffen konnten.
Das Geheimnis der dekorativen
Wirkung ist in ihnen voll beherrscht,
man fühlt in ihnen den Abglanz einer
hochstehenden Kunsttätigkeit, deren
Zug zur Monumentalität die kleinsten
Werke durchdringt. Die eingehende Darstellung dieser Perioden ist darum
von größtem Werte. Jene formale Vollendung, zu welcher die klassische
Kunst der griechischen und römischen Blütezeit aus den Überlieferungen
dieser Meister gelangte, vermag nicht immer auch dieselbe zwingende und
ursprünglich packende Wirkung zu üben. Hingegen ist ihr der Liebreiz und
der Formenreichtum eigen, der einer sinnenfreudigen, lebensfrohen und zur
höchsten geistigen Reife entwickelten Kultur Ausdruck verleiht. Der Historiker
hatte hier eine leichtere, aber vielleicht auch weniger fruchtbringende, weil
schon zu oft verrichtete Arbeit vor sich. Es ist insbesondere am Gerät und
an den dekorativen Prinzipien des Wandschmuckes zu fühlen, wie dann
das Vermächtnis der antiken Welt durch den Glaubensfanatismus des
erwachenden Christentums mit fester Hand aufgegriffen wird.
Der neue Glaube und mit ihm die neue Welt und Lebensanschauung
Finden in den Werken des altchristlichen Kunstgewerbes und der Dekoration
die kraftvolle, innige und unmittelbare Ausdrucksweise wieder, welche den
ersten schöpferischen Perioden heidnischer Kultur eigen ist. Es herrscht
wieder ein strenger, auf die Gesarntwirkung zielender architektonischer Geist
der Monumentalität. Die künstlerische Individualität verschwindet wieder
Entwurf zu einem Perspektivgitter von
F. L. Schmitmer