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Volltext: Monatszeitschrift XIII (1910 / Heft 8 und 9)

wie er im Naturalismus nicht an Indien oder Ostasien heranreicht. In der 
großen ruhigen Gliederung aber, sowohl was Zeichnung als was Farbe 
betrifft, ist der Orient wohl unerreicht. Und so lange nun diese Art des 
Schmucktriebes auch in Europa herrschte, was, wie gesagt, im eigentlichen 
Mittelalter der Fall war, so lange mußte der Orient sowohl aus inneren als aus 
den erwähnten äußeren Gründen Europa überlegen sein. Dieses Verhältnis 
hat, so viel wir heute sehen können, übrigens auch der ostasiatischen Kunst 
früherer Zeit gegenüber Gültigkeit gehabt. 
Zunächst nach der Antike ist der Orient natürlich vor allem byzantinisch 
und sassanidisch. Dann tritt das eigentliche Mohammedanische hervor; aber 
begreiflicherweise nicht sofort nach der Gründung und Verbreitung der 
Religion. Es ist hierüber ja schon in der Einleitung zu diesen Berichten 
gehandelt worden. 
Es entspricht nun jedenfalls unserer heutigen Auffassung des Ent- 
wicklungsgedankens, daß man in der Münchner mohammedanischen Aus- 
stellung auch eine Reihe von Werken, insbesondere auch Stoffe, vorgeführt 
hat, die zwar nicht als Beispiele mohammedanischer Kunst, aber als Vor- 
stufen zu ihr gelten können. 
So finden wir in der Ausstellung eine Anzahl jener tapisserieartig aus 
Wolle in Leinwand gearbeiteten Gewebe, die zunächst ägyptischen Gräbern 
der spätantik-frühmittelalterlichen Zeit entstammen und besonders durch die 
sogenannten Grafschen Funde bekannt geworden sind. Wie wir schon an 
anderer Stelle zu beweisen gesucht haben, handelt es sich bei diesen 
Erzeugnissen zum großen Teil um volkstümliche, hausgewerbliche Nach- 
ahmungen von Seidenstoffen vorderasiatischer und zum Teile sogar ost- 
asiatischer Herkunft, so daß uns diese einfachen und oft sehr entarteten 
Arbeiten doch vielfach eine erwünschte Ergänzung unserer beschränkten 
Kenntnis früher SeidenstoHe bieten. 
Unter den ausgestellten ägyptischen Funden der eben erwähnten Art 
finden sich auch solche mit langmaschig gewebtem (genopptem) Grunde 
mit derart ausgeführten Ornamenten und Köpfen. In solchen Arbeiten haben 
wir eine Vorstufe der späteren Samtgewebe und auch der Knüpfteppiche 
zu erkennen. 
Ein von Martin ausgestelltes ganz tapisserieartig ausgeführtes Woll- 
gewebe mit Darstellung großer, streng stilisierter Adler gehört zwar nicht 
in so frühe Zeit, zeigt aber, wie weit sich die Volkskunst - und nicht nur 
die des Orients - von naturalistischer Darstellung entfernen kann: in dem 
streng nach einer Seite gerichteten Kopfe sind beide Augen nebeneinander 
zu sehen. Wir erkennen hier deutlich, wie die Volkskunst, gleich den Arbeiten 
der Kinder, nicht nach unmittelbarer, zur Darstellung angestellter Beobach- 
tung, sondern aus der allgemeinen Erinnerung schafft. Daß der Kopf eines 
Vogels sich der Erinnerung mehr in der Seitenansicht einprägt, ist wohl 
begreiflich; daher wird dieses Erinnerungsbild bei der Darstellung gewählt. 
Da sich der primitive Künstler zugleich aber auch erinnert, daß der Vogel
	        
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