199
Sehr unangenehm und oft von schlimmen Folgen waren die ewigen
Streitigkeiten zwischen den Ordensoberen und den Bischöfen von Brixen,
die Rechte über das Stift betreffend, weil die Äbte des Stiftes zwischen den
Parteien standen und zwei Herren dienen sollten. Dieser Exemptionsstreit
hatte bereits unter dem Abte Erhard (1452-1458) begonnen, veranlaßt
durch den päpstlichen Legaten für Deutschland, Kardinal Nikolaus von
Cusa," Bischof von Brixen, der das Stift Wilten vom Ordensverbande der
Prämonstratenser vollständig lostrennen wollte, wogegen der Orden selbst-
verständlich remonstrierte. Die aus diesem Streite entspringenden Prozesse
dauerten volle zweihundert Jahre, wobei es sogar im Jahre 1638 zu einer
militärischen Aktion von seiten des Fürst-
bischofs von Brixen und zur Gefangen-
nahme des damaligen Abtes Andreas
Mayr kam, bis endlich im Jahre 1655 die
Parteien sich zu einem Vergleiche einten,
der dem Orden seine Rechte hinsichtlich
der inneren Leitung sicherte, dem Bischof
einige Ehrenvorzüge und Abgaben zu-
sprach.
Unter dem Abte Gregor von Stremer
(1693-1719) hob sich das durch diese
fatalen Zustände moralisch und finan-
ziell ziemlich herabgekommene und nur
langsam sich erholende Stift zur alten
Höhe. Vom Abte Martin von Stickler
(1719-1747), dem Nachfolger Gregors,
wurde das gegenwärtige Gebäude der
Bibliothek errichtet und diese mit vielen
wertvollen Büchern bereichert. Abt Nor-
bert II. von Spergs (1778-1782) erwarb
für das Stift eine kostbare Gemäldesammlung, bei welchem Kaufe der Bruder
des Abtes, Hofrat Josef Freiherr von Spergs in Wien, hilfreich zur Seite stand.
Der 17. September 1807 brachte wie allen andern Klöstern in Tirol so
auch Wilten von seiten der bayrischen Regierung die Auflösung. Die
Gemäldegalerie wurde geplündert, die Bibliothek größtenteils nach München
überführt, alle andern Sachen von Wert versteigert und verschleudert. So
wurde auch der noch vorhandene Abtstab des ersten Abtes Marquard,
dessen Krümmung aus Elfenbein geschnitzt war und einen Drachen dar-
stellte, von einem bayrischen Beamten gestohlen und seiner Silberbeschläge
beraubt. Als der Mann sich verfolgt sah, warf er den Stab in die Fluten der
reißenden Sill, in denen das historisch wertvolle Stück für immer ver-
schwand. Als diese unglückliche Zeit endlich abgelaufen war, befand sich
das Stift, wie leicht begreiflich, in einem sehr traurigen Zustand, und es
' Er hieß eigentlich KhrypfTs (Krebs), geboren zu Cusa oder Kues an der Mosel, gestorben 1464.
Abb. 6. Benediktinelstift St. Gallus