454
harten Grabstein hindurch die symbolische Blume ersprossen sei. An der
rechten Längsseite, auf der Dicke des Steines liest man in gotischen Minuskeln
die Worte:
Presul Vitalis cubat hic egrisque medetur Q5 646 xiij kl' novembris.
In dem Grabstein des heiligen Vitalis, mit dem wir einem der besten
Werke deutscher Plastik gegenüberstehen, dessen aber - die Lokal- und
Heiligengeschichte ausgenommeni - bis jetzt nirgends Erwähnung geschah,
verkörpert sich noch einmal der große monumentale Zug des XIV. jahr-
hunderts, freilich erheblich durchsetzt von neuen Elementen. Keines der
letztbesprochenen Werke kann sich ihm in der Größe der Anschauung an
die Seite stellen, keines aber auch spricht von solch ernstem Streben nach
schöner Form wie dieses. Es liegt eine stille erhabene Feier über dem
Werke, ganz ähnlich jener, die über das Bild des Pfalzgrafen Aribo in Seeon
gebreitet ist. Sie wird wie dort bedingt durch die symmetrische Anlage der
Platte und die strenge Frontale der Bischofsgestalt. Diese Symmetrie empfindet
man aber keineswegs als etwas Strenges und Zwangvolles, denn die ab-
wechselnden rhythmischen Bewegungen der Engelhalbiiguren wirken wie
die spielenden Varianten und Zufälligkeiten innerhalb eines streng gefügten
Reigens. Auch die Gestalt des Heiligen erweckt bei aller Strenge in der
Haltung keineswegs den Eindruck der Starrheit. Wenig befriedigen kann
der Kopf des Heiligen mit dem unförmlich großen Heiligenschein. Man Fühlt
wohl, daß der Meister das Außergewöhnliche, Überirdische der Persön-
lichkeit verkörpern wollte, aber die beabsichtigte Verklärung des Heiligen
mißglückte. Er versuchte ein aus allem Individuellen herausgehobenes Ideal-
porträt, aber indem er alles Persönliche beiseite ließ, nahm er ihm zugleich alles
Anziehende, Wirksame. Der Kopf blieb leer, nichtssagend; geistlos. Auch
das edle Haupt des Pfalzgrafen Aribo von Seeon ist nur ein Idealbild, aber
man kann ihm glauben; der Ernst und die Würde der Züge verkörpern
wenigstens einen Charakter. Aus dem Antlitz des heiligen Vitalis kann man
nichts von seiner Frömmigkeit, Gottseligkeit und Heiligkeit herauslesen.
Wäre nicht der Nimbus und die Engel, man glaubte an irgendeinen
Bischof, nicht aber an einen Erlesenen des Herrn. Auch die Engelsköpfchen
tragen die gleichen seelenlosen Züge wie der Heilige, nichts blieb von
jenem lustigen Mienenspiel der Schildhalter an der Aribo-Tumba. Nicht
im einzelnen darf man den Reiz und den Wert des Werkes suchen wollen;
er liegt im ganzen, in der Komposition, in der Fülle und dem Reichtum.
Zu welcher Zeit entstand der Grabstein des heiligen Vitalis? An dem
Werke selbst finden wir, von seinem Stil abgesehen, nichts, was als Anhalts-
punkt dienen könnte. Nun liegt aber eine handschriftliche Nachricht vor,
die scheinbar auf seine Entstehung Bezug nimmt. In den Abteirechnungen
von St. Peter Endet sich nämlich für das Jahr 1497 der Eintrag?" „Pro
M. Johanne lapicida et scissore, qui lapidem B. Vitalis excudit" mit einer
' Walz, n. n. 0., Nr. 360, S. 403; 4 F. K. Leonhardr, a. a. 0., S. 15.
"" Codex S. Petri, Abteirechnungen 1496 bis x5o2. Cisla CLXXIV, 4.