hätte, wie ließe sich dann dieses prunkvolle Werk mit dem nüchternen
Relieibild des Abtes Rupert Keutzl in Einklang bringen. Oder wollte man
etwa damit rechnen, daß der Meister unter Anlehnung an ein älteres Original,
oder, was unwahrscheinlich, unter Zugrundelegung einer zeichnerischen oder
plastischen Kopie eines älteren Vitalissteines das Denkmal gefertigt hätte,
wie hätte dann der Kopist Johannes seine eigene Zeit und Manier so ganz
verleugnen können?! Aus all diesen Unstimmigkeiten der schriftlichen
Quellen und stilistischen Gegensätze ergibt sich von selbst, daß der in den
Rechnungen sub X497 erwähnte Stein des heiligen Vitalis nicht identisch mit
der in St. Peter erhaltenen Grabplatte sein kann. Wer unbeeinflußt von
dieser Notiz sich mit dem Werk selbst auseinandersetzt, wird es ohne
Zaudern der ersten Hälfte des XV. Jahrhunderts zuweisen.
Das erhaltene Grabmal des heiligen Vitalis läßt ohne weiteres seine
Zugehörigkeit zur Chiemgau-Gruppe oder richtiger seine Abhängigkeit von
derselben erkennen. Leonhardtä schreibt es denn auch, indem er es um das
Jahr 1420 ansetzt, seinem „jüngerem Meister von Seeon" zu, den wir auf
Grund stilistischer und technischer Eigentümlichkeiten, die dessen angeb-
liche Werke, vor allem den Grabstein des Abtes Simon Farcher aufs engste
mit der Aribo-Tumba verbinden, zugunsten eines einzigen Meisters, eben
Hans Heiders, ablehnen mußten. Diese Zuschreibung läßt sich jedoch bei
eingehenderer Stilvergleichung nicht aufrecht erhalten. Zweifellos gemahnt
vieles an jene Gruppe, so die Behandlung der Haare und der Mähne des
Löwen mit den aufgeteilten Lockenmassen und der knopfartigen Einrollung
an den Enden, die sehnigen Pranken des Löwen und der Organismus der
eigenartig an den Schwunggelenken zusammengerollten und -gebogenen
Engelfiügel, für die wir an den reizenden Wappenhaltern der Aribo-Tumba
die nächstliegenden Parallelen haben. Andrerseits weichen aber gerade
auch diese Motive in ihren Einzelheiten von der persönlichen Art des Seeoner
Meisters ab; dieser bleibt immer großzügiger, abwechselnder, eleganter, wo
jener schematisch, trocken und nüchtern wird. Das erhellt vor allem, wenn
unser Blick von den geist- und seelenlosen Engeln des Vitalissteins zurück-
schweift zu den lebenslustigen Wappenhaltern der Aribo-Tumba, zu dem
munteren Schalk zu Füßen Simon Farchers oder zu den rassigen Wald-
menschen des Törringsteins. Da ist nirgends Schablone, nirgends etwas von
dieser geschwisterlichen Eintönigkeit der sechs Vitalisengel mit ihren
breiten Gesichtern, den formlosen Perücken und den vom Heiligen ent-
lehnten Schlitzaugen. Wie grundsätzlich verschieden sind überhaupt in dem
Schnitt und in der Modellierung die Augen, hier schmal und schlitzig,
dort groß und rund. Und miißte es nicht wundernehmen, daß der Meister,
der sonst an jedem bedeutenderen Werke seine Juwelierkunst eingesetzter
Augen zeigte, an einem so prunkvollen Werke wie dem Vitalisgrab auf
diesen Luxus sollte verzichtet haben. Wie äußerlich formt schließlich der
Meister des Vitalissteins die Hände, nirgends ist etwas von den feingliedrigen
" Leonhardt, a. a. 0., S. 15.