IE STUTTGARTER KUNST DER GEGENWART." Die 1913 erfolgte
Eröffnung des königlichen Kunstgebäudes in Stuttgart hat den Anstoß zu einer
prächtigen Publikation gegeben, die uns in Heliogravüren und Kunstdrucktafeln das Schaffen
der württembergischen Künstler der Gegenwart vor Augen führt und in einem zusammen-
fassenden Texte einen Überblick über das zeitgenössische Kunstschaffen im Lande gewährt.
Der Aufschwung, den die reizvolle Residenzstadt in den letzten vierzig Jahren auf allen
Gebieten des Kulturlebens genommen hat, zeigt sich auch auf dem Felde künstlerischer
Betätigung in einer höchst erfreulichen Weise. Wie im übrigen Deutschland mußte auch hier
die neue Richtung speziell auf dem Gebiete der Malerei und Plastik, die sich in der zweiten
Hälfte desvorigenJahrhunderts bemerkbar machte und zunächstdurcheine Reihetechnischer
Probleme und formeller Neuerungen eine Wendung in der allgemeinen Entwicklung herbei-
führte, die alten Traditionen zerstören. Mit jener rassenhaften Zähigkeit, die hier gleichsam
als eine Abart deutscher Treue auftritt, hielt man aber in Württemberg länger als im
übrigen Deutschland an den künstlerischen Glaubenslehren der Väter fest. Selbst als die
Freilichtmalerei in überzeugender Weise neue Seiten der Naturerscheinung offenbarte,
Stimmungswerke bisher unbekannter A11: hervorbrachte und in konsequenter Weiterführung
zum Impressionismus gelangte, der von Einzelheiten absehend den farbigen Natureindruck
als Ganzes erfaßt, zögerten noch die Stuttgarter Künstler, sich den Neuerern anzuschließen.
Der erste akademische Lehrer der neuen Richtung war Friedrich Keller, aber erst in Robert
Haug, der 1894 an die Akademie berufen wurde, fand sich die kraRvolle, zielbewußte
Persönlichkeit, die im Kunstleben Stuttgarts Wandel zu schaffen geeignet war. Durch seine
Initiative kamen Herterich und bald hernach Kalckreuth, Grethe und Pötzelberger nach
Stuttgart. Damit war die Sachlage mit einem Schlage gründlich geändert und namentlich
Grethe versäumte keine Gelegenheit, wirkungsvolle Neuerungen herbeizuführen und
schließlich auch die Idee eines neu zu errichtenden Kunstausstellungsgebäudes der
Verwirklichung zuzuführen. Theodor Fischer, der an der technischen Hochschule wirkte,
wurde gemeinsam mit Halmhuber mit der Ausführung dieses Baues beh-aut. Ebenso kam
rnit Beginn der achtziger Jahre auch in die Gemäldegalerie allmählich ein neuer, frischer
Zug, ganz besonders, nachdem mit dem längst als nachteilig erkannten System, Maler zu
Direktoren zu ernennen, gebrochen wurde und der Tübinger Professor der Kunstgeschichte
Konrad Lange 1897 die Verwaltung der Gemädegalerie übernahm. Die Einseitigkeit des
Gelehrtenstandpunktes bildete die Grundlage einer tief eingreifenden Reform, der gegen-
über die weit weniger schwierige Betonung ästhetischer Gesichtspunkte und wirkungs-
voller Repräsentation in den letzten Jahren durch das verständnisvolle Eingreifen zweier
in diesen Dingen wohlerfahrener Künstler erfolgte.
In gleicher Weise wie in der Gemäldegalerie trat auch in der reich dotierten könig-
lichen Kupferstichsammlung, deren Schätze vorzugsweise in hervorragend schönen Blättern
der Deutschen des XV. und XVI. Jahrhunderts, namentlich Dürers, ferner in vorzüglichen
Drucken der Holländer und Engländer des XVIII. Jahrhunderts bestanden, in neuerer Zeit
die Pflege der zeitgenössischen Graphik in den Vordergrund. Die ungemein vielseitige, in
hohem Grade wichtige und interessante Altertümersammlung hat in jüngster Zeit auf
einzelnen Gebieten in prächtig ausgestatteten Katalogen eine wissenschaftliche Behand-
lung erfahren, die in diesen Blättern wiederholt und eingehend gewürdigt wurde. Das
Wichtigste für diese Sammlung ist gegenwärtig ein Museumsneubau, dessen Beginn für
das Jahr 1916 in Aussicht genommen ist und für dessen Durchführung hoffentlich die
schlimmen Erfahrungen eine Warnung bilden werden, die man rnit dem Baue des
Landesgewerbemuseums zu sammeln in der Lage war. Dieses letztere ist aus einem
gewerblichen und kunstgewerblichen Musterlager allmählich emporgewachsen, das man im
XIX. Jahrhundert anzulegen begonnen hatte, und hat sich unter vielen Schwierigkeiten
und widerspruchsvollen Erscheinungen nach und nach zu einem Kunstgewerbemuseum
entwickelt, das auf zahlreichen Gebieten, namentlich auf solchen, die sich noch gegen-
3' Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart und Berlin 1913.