Uberzeugungen der Gründerperiode der ameri-
konischen Demokratie zugrunde? Es ist dies die
Forderung nach Einfachheit und Natürlichkeit,
nach dem Walten der Vernunft - Vernunft so-
wohl als raison der französischen Enzyklopädi-
sten wie auch als common sense der angelsäch-
sischen Tradition - im Leben des einzelnen und
der Gemeinschaft, im Glauben und im politi-
schen Bewußtsein ebenso wie in der Wirtschafts-
form (Jeffersons Ideal der überschaubaren agra-
rischen Demokratie: ein freies Volk nahezu
autarker Landwirte) und im Erwerbsleben ganz
allgemein. Dieser amerikanische Wertekatalog
wird erst richtig verständlich, wenn man den
polemisch angegriffenen Gegner hinzudenkt:
den Feudalismus Alt-Europas mit seinen stän-
dischen und anderen Bindungen - und eben
nicht den im I9. Jahrhundert einsetzenden Indu-
striekapitalismus, den bezeichnenderweise die
USA bis heute verfassungsrechtlich nicht zu inte-
grieren vermodwt haben ".
Pioniere und Utopien
Erst wenn man sich den gesellschaftlichen Hin-
tergrund auf die eben beschriebene Weise klar-
macht, fällt es leichter, die gesellschaftlichen
Experimente der verschiedenen Sekten und Grup-
pierungen richtig zu verstehen. Daß die Formen
eines Alternative Lifestyle in der Frühzeit über-
wiegend von religiösen Gruppen getragen wur-
den, hängt einmal mit der, wie bereits festge-
stellt, damals noch viel stärkeren Verbindung von
Religion und Gesellschaftsmoral zusammen.
Zweitens ist die Überlebenschance religiös orga-
nisierter Dissidentengruppen in den USA aus
verfassungsrechtlichen Gründen größer, und
zwar bis heute, wie die gerichtliche Behandlung
von Gegnern der Wehr- oder Schulpflicht be-
weist".
Für alle „utopischen Gemeinschaften" in den
USA, auch für die heutigen, gilt ein wichtiger
Umstand; Konflikte zwischen der Gemeinschaft
und der Außenwelt werden, wenn eine friedliche
Beilegung nicht möglich ist, durch Abwandern in
noch unbesiedelte Landesteile gelöst". Manche
Gemeinschaften, wie die der bibelkommunisti-
schen Perfektionisten des John Hundlay Noyes
in Oneida, N. Y., scheiterten letztlich an ihrem
Unvermögen, entweder die Außenseiterrolle in-
nerhalb eines sich immer mehr verdichtenden
"T?
Lentrums nordamerikanischer Schwerindustrie
durchzuhalten oder noch einmal die gewadise-
nen Strukturen zu verlassen.
Shakertum - eine Ubererfüllung des American
way of life
Ann Lee, die „Mutter" der Shaking Quakers, kam
1774 nach New York, und schon 1776 kaufte die
entstehende Gemeinschaft Land im damals (und
außerhalb der Städte heute noch) dünnbesiedel-
ten Mittelteil des Staates New York. Wie auch
alle weiteren Siedlungen war die erste, Water-
vliet, auf Autarkie angelegt, wirtschaftliche Selb-
ständigkeit und - friedfertige, iedoch unüber-
sehbare - räumliche Trennung von der übrigen
Bevölkerung. So ausschließlich auf die Shaker
beschränkt sich aber zumindest der wirtschaft-
liche Aspekt nicht. Die Autarkie des einzelnen
Anwesens ist beispielsweise, wie zuvor erwähnt,
auch Jeffersons Ideal, sicher die bestmögliche
Wirtschaftsform bei der dünnen Besiedlung und
beim harten Leben der Pioniere. Um 1780 verlief
die Grenze zur Wildnis immerhin erst entlang
dem Gebirgszug der Appalachen.
Da zeigt sich bereits, daß die Shaker Ansichten
zur Maxime erhoben, die im amerikanischen
Selbstverständnis zumindest ansatzweise bereits
vorhanden waren; genauer wäre zu sagen: daß
die Shaker damit einer von zwei einander dialek-
tisch entgegengesetzten Linien amerikanischer
Tradition folgten. Ähnliches gilt von der hoch-
ratianalistischen Auffassung der Religion: Die
Shaker lehnten äußere Kultformen und beson-
deres Priestertum ab, ia selbst zum Bibellesen
wurde nicht ermuntert, sondern statt dessen nütz-
liche Arbeit empfohlen. Stärker kann man sich
die Tendenzen des Puritanismus gar nicht ver-
wirklicht denken. ln die Quäkertradition (Qua-
ker, wörtlich: Zitterer) gehören auch die gottes-
dienstlichen Versammlungen mit den ekstatischen
Schütteltänzen (Abb. 1), die den Shakern ihren
inoffiziellen Namen einbrachten". Selbst die
Lehre, daß iedes Mitglied mit dem Eintritt in die
Gemeinschaft in den Stand der Vollkommenheit
gelange, ist der puritanischen Rechttertigungs-
lehre (Erwählttieit) nicht fremd - der abge-
schwächte, popularisierte Ausdruck dafür ist die
keineswegs nur hedonistisch zu verstehende Be-
zeichnung der USA als God's own country. Be-
kanntlich haben die Shaker mit der Lehre von
lreppe des lrustees-Hauses in Pteasant
Kentucky, erbaut von Micaiah Burnett, 1839
Haus der Center Family in Pleasant Hill,
tucky, erbaut von Micaiah Burnett, 1824-183-
Rundstall in Hancock, 1826, Dachkonstruktio
Shakerhut auf „Shakerleiste", Sabbathday
Maine, um 1860
qvgiääimaschine. Plakat. West Gloucester, h
Ein Shaker. Fotografische Aufnahme um 187
wmxiosvizs
Anmerkungen 8-12
'Sehr einleuchtend wird das dargelegt in einem
unveröffentlichten Vortrag von Robert H. Bellah (l.
sify af California, Berkeley]. The American Tabi
Socialism, im. _
' In der Praxis des amerikanischen Obersten Gericht:
die verfassungsmäßig garantierte Freiheit der rellg
Überzeugung offenbar mehr respektiert als die
politisch abweichende Meinung. V
i" Vgl. die keineswegs freiwillige etappenweise Wanc
der Mormonen von Indiana und lllinois iizw. M1
nach Utah, heute die Ansiedlung der Hippies und
auts in dünnbesiedelten Staaten, wie New Mexico,C
oder den küstenfernen Teilen Kaliforniens. Auch dii
berufene Mobilität der amerikanischen yDurchschnittsl
fährlidl wechseln 40 Prozent der amerikanischen Fa
den Wohnsitz) wäre einmal in solchem Zusamme
zu sehen.
" Selbstbezeichnung: United Saciety of Believers in C
Secand Appeclring. _ _
H Vgl. die genauen BUU- und ßekortlflonsvcrsChrlfte
Ausstellungskatalag s. 12.