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Volltext: Monatszeitschrift XVIII (1915 / Heft 5)

Schnitzaltäre üblich. Hans Wild schuf aber daraus die unerhörte, unentwirrbar 
scheinende Pracht des Volkamer-Fensters, das maßgebend ist für seine reife 
Art; ein sinnverwirrendes und doch so wohlgeordnetes System von Figuren 
und Szenen, durchwachsen von Astgeschlinge und übertürmt von phan- 
tastischen Baldachinbauten und Fialenwerk, das sich märchenhaft hinaufbaut 
in die höchsten Spitzen der ungeheuren schlanken Felder. Damit ist auch 
sein Verhältnis zur bildmäßigen Perspektive gegeben. Es entspricht etwa 
dem des Meisters der heiligen Sippe. Er geht der Versuchung, Architektur- 
linien oder Landschaft zu Illusionismen zu mißbrauchen, aus dem Wege und 
verwertet die Rundung des Körperlichen in dem gleichen Sinn wie das Ver- 
ästelte seines Ornamentes: um eine bestimmte knappe Raumschicht gleich- 
mäßig durch das ganze Fenster auszubreiten und damit zwar körperhaft, 
aber in dem Stil einer Reliefschicht zu wirken. Die Glut der Farben tut ein 
Übriges, dem Gegenständlichen entgegenzuwirken. Die beispiellose Kraft 
und das Durchdringende in der Erscheinung dieser Fenster beruht wohl 
darauf, daß Entwurf und Ausführung in einer Hand lagen und für einander 
arbeiteten. 
Im Chor der Marienkirche von Hanau finden sich Fenster, die eine 
Pietä mit einem lanzenhaltenden Ritter darstellen und künstlerisch wie 
kunsthistorisch von höchstem Range sind. Merkwürdig ist die Agraffe mit 
einem veritablen und sehr stattlichen Reiherbusch, die der Ritter an seiner 
Kappe trägt. Er entstammt zweifellos der Werkstatt des Hausbuch- 
meisters, dessen Scheiben die oberrheinischen Traditionen von Hans Wild, 
Schongauer und E. S. zusammenfassen. Was aber seinem Stil die Größe 
und malerische Gewalt verleiht, geht hier vielleicht auf die Rückwirkung von 
Mathias Grünewald zurück. Denn von ihm stammt der Karton, und wer 
weiß wie viel von der Ausführung, der ornamentgekrönten Pieta. Entstanden 
zwischen 1505 und 1508, vor dem Beginn des Isenheimer Altars, bereichert 
dieses Fenster unser karges Wissen von Grünewald mit einem Stück von 
erstem Rang. Noch stärker als in Isenheim drückt sich das Gotische in der 
Gesinnung des großen Malers aus. Man braucht dieses selbst im Deutschland 
der Spätgotik einzig dastehende Fenster nur zu betrachten, um den Eindruck 
des unbedingt Genialen zu erhalten; von einem Genie des Zuschnittes, wie 
es jenseits der Alpen nur bei Michelangelo, diesseits nur bei Grünewald zu 
finden ist. Das Ungewöhnliche ist nur, daß man das dominierende Groß- 
format der Gestalten und das Dämonische des tragischen Ausdrucks hier in 
einem Fenster suchen muß, an einem Orte, an dem man - trotz der Nähe 
Aschaffenburgs und Frankfurts - kaum etwas so Außerordentliches ver- 
muten würde. Der ungeheure Ausdruck von Qual und Schmerz in dieser 
Darstellung bedeutet denn wohl auch den Höhepunkt dessen, was das 
Glasfenster an seelisch Gehaltvollem zu leisten vermochte. Bedenkt man 
aber, daß schon den durchscheinenden Farben des Glases ein hohes Maß 
des Erregenden und Suggestiven innewohnt und daß der Ort, in dem sie 
sitzen, der Feierlichkeit und Steigerung aller Gefühle zum mindesten Vor-
	        
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