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großen Ganzen in's Auge fassen, werden wir da noch zweifeln können,
dass es eben jene principiellen Gegensätze zu den früheren Renaissancen
sind, welche auch den gegensätzlichen Erfolg, d. h. eben den Nichterfolg
der modernen Kunst gegenüber den früheren Renaissancen verschuldet
haben? Die moderne Kunst hat von vornherein andere Wege einge-
schlagen, als jede andere bisherige Kunst, die sich zu verjüngen das Be-
streben hatte. lst es da zu verwundern, dass auch das Resultat ein anderes
geworden ist?
Fragen wir nun, wer trägt die Schuld daran, dass sich die moderne
Kunst in jenen Gegensatz zu aller früheren gesetzt hat? Nach dem Ge-
sagten kann die Antwort nur lauten: die Kunstgeschichte hat es ver"
schuldet. Die Kunstgeschichte ist es, die die Kunst von dem natürlichen,
stets aufwärts und vorwärts führenden Wege abdrängt und sie veranlasst
hat, ihren Blick nach rückwärts zu richten. In diesem Sinne dürfte man
in der That sagen: die Kunstgeschichte hat die Kunstentwicklung auf-
gehalten, überwuchert, erstickt. Dieser Schluss könnte als ein trostloser
erscheinen, und ebenso trostlos die Perspective wenigstens in die nächste
Zukunft, welche er eröffnet. Aber diese Trostlosigkeit werden wir nur
dann empfinden, wenn wir es in der That als die nächste und wichtigste
Aufgabe der modernen Kunst ansehen, einen neuen Kunststil zu erfinden.
Wenn wir jedes einzelne Kunstwerk, das heutzutage geschaffen wird,
lediglich von dem Gesichtspunkte aus betrachten, ob sich daran endlich
die ersten Spuren des ersehnten neuen Kunststils beobachten lassen, dann
werden wir uns den Genuss dieses Kunstwerkes gewiss von vornherein
vergällen. Gibt es aber nicht einen anderen Gesichtspunkt für die Kunst-
betrachtung, der in uns befriedigende Empfindungen hervorzurufen ge-
eignet wäre? '
Gewiss gibt es einen solchen Gesichtspunkt, einen Gesichtspunkt
sogar, der in früheren Zeiten der erste. ja der allein maßgebende gewesen
war: es gibt eine Betrachtung der Kunstwerke vorn Gesichtspunkte des
Schönen allein. Wir hätten uns Alle angesichts eines modernen Kunst-
werkes blos zu fragen, ob es unseren Anschauungen vorn Wesen des
Schönen entspricht? Aber da thut sich sofort eine neue Klippe auf: es
fehlt uns heuzutage an absoluten und allgemein giltigen Ueberzeugungen
vom Schönen an und für sich.
Auch in früheren Zeiten hat es in Dingen des Geschmackes allezeit
große Unterschiede gegeben. Dem Einen gefiel dies, dem Anderen jenes,
aber in principiellen Dingen stimmten jeweilig Alle überein. Der Renais-
sance-ltaliener des 15. Jahrhunderts liebte die schön und ebenmäßig stilisirte
Akanthusranke, und er verschmähte das spießige, magere, kriechende, gothi-
sche Laubwerk. Der ltaliener vom Ende des 17. Jahrhunderts dagegen ver-
achtete die geraden Linien der Renaissancemöbel und entschied sich aus-
schließlich nur für Möbel mit lebhaft bewegten und geschweiften Formen.