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Volltext: Monatszeitschrift XIX (1916 / Heft 3 und 4)

und es entstanden Tore und Gitter aus lauter aneinandergesetztem und 
verfiochtenem Muschelwerk; also aus zusammengeschweißten Blechstücken 
ohne das feste Stabgerüst. Hier vernichtet sich das Rocailleornament selber, 
das seinem Wesen nach eine Protuberanz der Materie ist, Wellenschaum, 
aber nicht Welle, und nun als selbständige Materie behandelt wird. Wie 
das Rollwerk nur als Flächenumrahmung gedacht ist und seinen Sinn 
verliert, wo man es zur Füllung benutzt, so verlangt auch die unfreie Art 
des Muschelwerks einen materiellen Stützpunkt (sei es eine Fläche, der es 
aufliegt, ein Sprungbrett, von dem aus es ins Wesenlose zerHattert) oder einen 
stofflichen Zweck (zum Beispiel als Rahmung in der Kartusche), um zu 
bestehen, immer aber hat es nur den Sinn anmutiger Zutat. Entzieht man 
ihm seine Basis und leimt seine Flocken zu Schnörkeln zusammen, so 
vernichtet man seine Schönheit, wie es stets geschieht, wenn das Verhältnis 
von Dienen und Herrschen verkehrt wird. 
An die Stelle des sichern tektonischen Stilgefiihls bei den Franzosen 
tritt in Deutschland - vornehmlich in Süddeutschland - ein feines 
Proportionsgefühl in der Fläche. Die deutsche Dekoration ist wesentlich 
Flächendekoration, aus Teilen zusammengesetzt, deren Beziehung auf- 
einander nicht aus dem Organismus des statischen Aufbaues mit seinen 
zwei Achsen folgt, sondern aus den Proportionen von Flächenabschnitten, 
mit einer Achse oder einem Zentrum. Das ist aber das Prinzip des Ornamen- 
tisten, nicht des Architekten; und im Kunstgewerbe war es den deutschen 
Meistern auch allezeit mehr um reiche Eriindung und Variation des Orna- 
ments zu tun als um Ergründung tektonischer Gesetze. Sobald sie archi- 
tektonisch empfinden sollen, springen sie in das plastische Gebiet und zur 
Raumillusion über. Die perspektivischen Täuschungsversuche der großen 
Kirchengitter setzen sich hartnäckig auch im XVIII. Jahrhundert fort, ja in 
den Kirchen zu Zwiefalten und Weingarten erscheinen sie mit großer Pracht- 
entfaltung als ganz einheitlich komponierte Ungeheuer. 
Nur dieser Geist der Flächendekoration vermag es zu erklären, warum 
man so zäh an dem wenig organisierten kalligraphischen Typ derRenaissance- 
gitter festhielt und weshalb das Muschelwerk mit so heftiger Begierde auf- 
gegriffen wurde. Auch seine plastische Natur kam ihm dabei zugute, denn 
innerhalb der Flächen wurde in Deutschland das Detail mit Vorliebe drei- 
dimensional gebildet. Das Rocaille trat gleichsam das Erbe des Knorpelstils 
an, dieses in hohem Maße verselbständigten Ornaments, dessen Aufsaugungs- 
kraft so groß war, daß es alle Dinge in seinem Bereich wiederum in knorpe- 
liges Ornament verwandelte, die menschliche Figur nicht ausgenommen. 
Daher beherrschte das Rocaille in Deutschland die Dekoration in ganz anderer 
Weise und dauernder als in Frankreich. Die Neigung zu diesem Schnörkel- 
wesen war so leidenschaftlich, daß dabei auch die Rücksicht auf das Material 
vergessen werden konnte und die reichen und wirkungsvollen Gitter entstanden, 
von denen die Rede war. Ja dieses Spiel mit Ornamenten griff auch - genau 
wie im XVI. und XVII. Jahrhundert - auf rein architektonisches Gebiet
	        
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