Sowohl dem Schriftbefund nach wie auch inhaltlich gliedert sich die
Inschrift des Cuspinian-Porträts in drei scharf getrennte Abschnitte. „Im
Monat Oktober des Jahres 1520," heißt es im ersten Absatz, „als unter
dem Pontifikat Leos X. Karl V., der Sohn des Königs Philipp von Castilien,
Leon und Granada, zu Aachen zum römischen König gekrönt und zum
römischen Kaiser designiert wurde, hat der edle Bemhardin Strigil (sie),
Maler und Bürger von Memmingen, der allein berufen war, den Kaiser
Maximilian zu malen - gleichwie einst nur Apelles Alexander den Großen
malen durfte H diese Porträts mit der linken Hand mit Hilfe des Spiegels zu
Wien im Alter von nahezu 60 Jahren gemalt." Der Zusatz: „quum Carolus
V . . . . Aquisgrani in regem Romanum crearetur . . " ermöglicht eine
ziemlich genaue Datierung, da Karl am 23. Oktober 1520 zu Aachen gekrönt
wurde. Natürlich wird das Bild nicht gerade an diesem Tage gemalt worden
sein, wohl aber wird man dadurch wenigstens in die zweite Hälfte des
Oktober 1520, in die Zeit um den 23., geführt. Der PassuS „qüi solus edicto
Caesarem Maximilianum ut olim Apelles Alexandrum pingere iussus" ist
gleichfalls nicht ganz wörtlich zu nehmen, denn wir wissen ja, daß der
Kaiser auch von einer ganzen Anzahl anderer Maler porträtiert worden ist,
man vergleiche nur Baldass' Arbeit über die Bildnisse Maximilians I. Aber
soviel ist immerhin richtig, daß sich der Kaiser am häufigsten von Bernhard
Strigel malen ließ, und in diesem Sinne konnte sich der Künstler schon einer
besonderen Bevorzugung durch den Monarchen rühmen. Vielleicht läßt
übrigens das „edicto . . pingere iussus" sogar einen Rückschluß auf die Bilder
von l5r5 zu: daß nämlich der Meister durch ein eigenes kaiserliches Dekret
an den Hof beordert worden sei, um jene Gemälde auszuführen, und nicht
bloß auf gut Glück zum Kongreß nach Wien gereist ist.
Die Bemerkung, daß Strigel die Bildnisse der Familie Cuspinian „per V
specula" gemalt habe, findet ihre Erklärung in der Tatsache, daß Strigel
Linkshänder war." Er hat seine Modelle, wenn er nach dem Leben zeichnete,
gewöhnlich nach rechts gewendet porträtiert, und wenn wir zum Beispiel
die bei Baldass reproduzierten Maximilian-Bildnisse von diesem Standpunkt
aus durchsehen, so werden wir diese Regel mit alleiniger Ausnahme der
ohnehin zweifelhaften Erlanger Zeichnung" durchaus bestätigt finden. Ver-
langte nun die Komposition eines Gemäldes die entgegengesetzte Haltung,
so wurde einfach das Spiegelbild der ursprünglichen Aufnahme auf die
Leinwand gebracht. In unserem Falle wären somit die Porträts der Gattin
und des ältesten Sohnes Cuspinians mit Hilfe des Spiegels gemalt worden.
Bei Cuspinian und seinem jüngeren Sohn bedurfte es dieses Hilfsmittels
nicht, da sie ohnedies beide nach rechts blicken.
'F Nikolaus Ellenbog berichtet 1513 von Bernhard Strigel, daß er „etiam leva pingit". Vgl. R. Vischer,
l. c., pag. 46. Das Wörtchen „etiam" sagt uns, daß der Meister den Pinsel auch ebensogut mit der Rechten zu
führen imstande war.
"" Die Echtheit der Erlanger Zeichnung (siehe Baldass. l. c., Figur r4) wird von der Forschung vielfach
bestritten. Daß sie den Kaiser nach links blickend zeigt. könnte mit Rücksicht auf das oben Gesagte als weiterer
Beweis dafür betrachtet werden. daß sie nicht von Strigel stammt.