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Volltext: Monatszeitschrift XIX (1916 / Heft 8 und 9)

Einheit zusammenschweißen als die - relativ - vielheitliche klassische Kunst, die dem 
künstlerischen Einzelgebilde immer noch ein gewisses Maß von Sonderexistenz zubilligen 
zu müssen glaubt. 
Ob nun Wölfflin, wie er selbst in seiner Schlußbetrachtung dahingestellt sein lassen 
will, mit diesen fünf Kategorien all e Möglichkeiten der künstlerischenAnschauungsänderung 
charakterisiert hat, ist der Natur der Sache nach fraglich: es gibt keine zahlenmäßig 
bestimmte Beschränkung wissenschaftlicher Fragestellung der unerschöpflichen und unend- 
lichen Wirklichkeit gegenüber. Meiner persönlichen Meinung nach wäre vielleicht noch 
eine Gegenüberstellung des „Tektonischen" und des „Atektonischen" fruchtbar gewesen, 
vor allem für die in vorliegendem Buch im Verhältnis zu den Schwesterkünsten etwas 
zu kurz gekommene Architektur, über die gerade Wölfflin uns sonst soviel Tiefes und 
Feines und in letztem Sinn Aufschlußreiches zu sagen weiß. Gewiß ist aber auch dieser 
Gegensatz des Tektonischen und des Atektonischen schon in den übrigen Stilvergleichen, 
vor allem in dem Abschnitt über „Klarheit und Unklarheit", implizite erörtert, wenn ihm 
auch keine Sonderbetrachtung zuteil wurde. 
Wie alle Wölfflinschen Bücher besitzt auch dieses wieder seine hervorragende kunst- 
pädagogische Bedeutung, das will sagen, daß es in eminentem Sinn in das Wesen des 
Kunstwerks einführt. Dem Laien, der auch jetzt immer noch in den Bildkünsten nur die 
nämliche Nachahmung einer außerkünstlerischen Wirklichkeit sehen will, darüber aber 
ihre „dekorative", eigenste Wirkungsabsicht verkennt, sei nur der Satz auf Seite 237 vor- 
gehalten: „Der Inhalt der Welt kristallisiert sich für die Anschauung nicht in einer gleich- 
bleibenden Form. Die Anschauung ist eben nicht ein Spiegel, der immer derselbe bleibt, 
sondern eine lebendige Auffassungskraft, die ihre eigene innere Geschichte hat und durch 
viele Stufen durchgegangen ist.""' 
Es ist die Frage aufgeworfen worden, ob nicht die hier von Wöliflin mit soviel intel- 
lektueller Willenskraft aufgestellten „Grundformen der Kunstanschauung" dazu angetan 
wären, die konkrete Lebendigkeit der in reichem Entwicklungsstrom dahiniiießenden Kunst- 
geschichte doktrinär unwirklich zu schematisieren, besonders da die aus einem begrenzten 
Forschungsgebiet, der Renaissance und dem Barock, gewonnenen ästhetischen Gegensatz- 
paare in einer Art von Periodizität auch in andern Kunstperioden, wenn auch nicht mit 
dieser vorbildlichen Schärfe, neue Wirksamkeit gewinnen." Aber aus Wölfflins Außerungen 
selbst klingen deutlich warnende Stimmen vor einer mechanischen Übertragung der in 
Renaissance und Barock sich mit besonderer Klarheit ausprägenden Grundbegriffe; auch 
er sieht die historische Wirklichkeit als Komplex sich mannigfaltig verflechtender, generell 
überhaupt nicht von vornherein zu bestimmender Tendenzen allerverschiedenster Art, 
wie denn auch Wölfflin sich den fundamentalen Umschwung von der Renaissance zum 
Barock im XVI. Jahrhundert und dann wieder von dem Barock zu dem neuen Klassizismus 
um 1800 keineswegs rein ästhetisch als „Aktion" und „Reaktiorw zurechtlegt, sondern 
eine durchgreifende Änderung in der Gesinnung, in der Weltanschauung annimmt, die weit 
über den bloß künstlerischen Menschen hinausgreift. So ist wohl auch für Wölfflins große 
Schülerzahl zu hoffen, daß sie den lebendigen Reichtum kunstgeschichtlicher Erfahrungen 
nicht einem theoretischen Schema gedankenlos opfert, das in solchem Sinn der Meister 
sicher nicht gemeint hat, sondern vielmehr die bunte, stets neue Individualität künstlerischer 
f Vgl. den Schlußsatz des genannten Aufsatzes im „Logos": Wir stoßen hier auf die Zusammenhänge 
zwischen Schönheit und Weltanschauung, und für die Geschichtsphilosophie tut sich die Frage auf, wie weit 
das bestimmte dekorative Gefühl einer Zeit die Erkenntnis bedingt, und wie weit es von dern Inhalt der 
Erkenntnis bedingt wird: Nicht alles ist zu allen Zeiten möglich in den Künsten der Anschauung. Nicht alle 
Gedanken können zu allen Zeiten gedacht werden. 
au: VgL auch die Warnung bei Hans Tietze, Die Methode der Kunstgeschichte (Leipzig 1913), I. Kapitel: 
Begriff und Wesen der Kunstgeschichte, Seite 1B: Die Gefahr wächst ins Ungeheure, sobald der Versuch 
gemacht wird, die ganze Kunstgeschichte mit Rücksicht auf bestimmte Probleme durchzuwerten; jeder solche 
Versuch muß dem Reichtum des kunsthistorischen Tatsachenmaterials in harter Weise Gewalt antun und es in 
eine bloße Verkettung drahtgezogener Paradigmen umwandeln.
	        
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