nimmt und mit der Milderung des Gegensatzes den Reiz des Individuellen tötet. So wollen
auch alle die kleinen Nebenformen der Rüschen aufgefaßt werden. Die weichen indivi-
duellen Blumenkronblätter entfalten sich aus den strengen schematischen Kelchblättem.
Vielleicht zeigt man später in dem Modemuseum neben einem solchen Rokokokleid das
Figürchen einer nackten Venus von Falconet oder einem anderen Künstler der Zeit, um
den „inneren Organismus" deutlich werden zu lassen. Wäre es nicht auch sehr wohl
denkbar, daß der Kleiderkünstler ein guter Aktzeichner sein könnte 7 müßte er es nicht
sogar sein? Ich weiß nicht, ob man das technisch in Paris kann; aber den Körper kennt
man, seine Bewegungen erlebt man. Das Verhältnis von Form und Farbe ist dann wohl der
zweite didaktische Wert, den eine solche historische Reihe lehren kann. Auch hier gibt es
nicht nur die Gegensatzbegriffe, wie in der Form, sondern was zu jeder organischen Einheit
gehört, und auf die jeder starke individuelle Ausdruck fußt, ist das Verhältnis beider zu-
einander. Nicht nur der Reiz des edlen Materials, nicht nur das {eingestreute leichte Blüten-
muster, sondern der oft pikante Gegensatz der Farbgegensätze von Kalt und Warm bringen
die vielgenannte harmonische Tonigkeit des Rokokokleides hervor.Wenn man einen Moment
von diesen Kleidern weg in dem „tonigen" Rokokoraum sich umsieht, entdeckt man, daß
der „Ton" der hellen Kehlen der Decke aus drei bis vier kalten hellgepuderten Farbtönen
besteht und seinen Gegensatz in dem warmen ockrigen Olanstrich der Wandbekleidung hat.
Die Ausstellung versucht in historisch von einander geschiedenen Gruppen eine sehr
starke Differenzierung der einzelnen Perioden. Der soeben geschilderten Gruppe von
1700 bis x78o schließt sich die von x78o bis 1800 an, die wir „Zopf" nennen und in der
neben der Umrißbindung auch die Farbenbindung sich schon bemerkbar macht, das
Material das „Spirituelle" verliert, die innere belebende Gegensätzlichkeit abnimmt und der
Besatz eine leicht selbständige Note annimmt, wie die Girlande auf dem Louis Seize-
Möbel. Die Umrißlinie entspannt sich, das Panier wird lockerer, die Lokalfarbe stärker.
Im ganzen keine besondere Eigenart wie die Zeit vor 1780. Erst der dritte Raum von
1800 bis 18x 5, die Empirezeit, bringt ein neues Körpergefühl und mithin einen neuen Stil.
Wie gerne hätte man hier auch eine Gruppe gesehen wie die im Rokokosaal. Mit einem
Schlage wäre einem klar geworden, daß das aristokratisch exklusive Rokoko ein viel
höheres individuelles Maß an Bewegungen gehabt haben muß, als das etwas schematisch
repräsentierende Empire. Man vergleiche nur einmal die Recamier von David mit der
„freien" Pose und eine „steife" Rokokodame mit den leichten individuellen Bewegungen.
Die Linie darf nicht zerstört werden, sie soll durchliießen, sie bedarf nicht des individuell
belebenden Gegensatzes. Entbehren kann sie zwar den Gegensatz nicht, doch ist er
schematisiert. Er tritt puritanisch auf, indem er den Organismus architektonisch ver-
deutlichen will. Dem langen, einheitlichen engen Rock tritt die horizontal abgetrennte,
Büste durch den hochgenommenen Gürtel entgegen und der einheitlichen Farbe, sei sie
einfarbig (viel weiß) oder streifig in gleicher Streifenbreite oder kleinblumig in geo-
metrischer Anordnung, tritt die Gürtelfarbe entgegen. So auch hier Farbe und Farm
proportional. Weniger einheitlich im Stil, wenn auch im Einzelfall viel individueller, reiht
sich im folgenden Zimmer das Biedermeier an, daß die gestelzte Würde der menschlichen
Figur wieder in das mädchenhaft Heitere zurückbiegt und Linien und Formen freier
gestaltet. Die Hüfte rundet sich wieder, der Rock beginnt zu „federn", die Linien werden
von kleinen Rüschen begleitet, von Schleifchen durchbrochen. Wenn hier manch unschein-
bares „HZ-ingerchen" auffällt, so rafft sich die Figur in der Zeit von 1825 bis 184a, der
der fünfte Raum gehört, wieder zu einer Würde auf, die aber deutlich schon die pompöse
selbstgefallige Note der Bourgeoisie zeigt. Der Besatz nimmt in liatschigen Formen und
grellen Farben zu und die Umrißlockerung sucht wieder in dem weiten Rock der
Krinoline Urnrißbindung. Die Figur steht beinahe fest. Die Taille, mit deutlicher Anlehnung
an das Rokoko, tritt als fester Gegensatz zu den drei Etagen der Krinoline. Die harten,
schrillen Formenbegegnungen sind auch in den Farben zu finden: große, bunte Blumen
aufWeiß. Man wird in den nächsten Räumen, die die Zeit von 1840 bis r87o zeigen, manch