MAK

Volltext: Monatszeitschrift II (1899 / Heft 8)

weiss wohl, dass die Kunst von jeher auch zur Tendenz benutzt 
worden ist und dass die Tendenz an sich ein sonst gutes Kunstwerk 
noch nicht zu einem schlechten macht. Aber sie weiss auch, dass 
diejenigen Kunstwerke am reinsten künstlerisch wirken, bei denen 
von jeder Tendenz abgesehen wird. jedenfalls leugnet sie, dass der 
Beruf der Kunst in der Tendenz bestehe. Der Inhalt wirkt nach ihr 
unbewusst, unabhängig von der Absicht des Künstlers, und zwar 
durch ein Naturgesetz, das Gesetz der Gefühlsergänzung. 
Bei Tolstoj finden wir eigenthümlicherweise vermöge seiner 
seltsamen künstlerisch-religiösen Doppelnatur beide Theorien neben- 
einander. Auf der einen Seite verlangt er, dass die Kunst nur die 
höchsten und besten Gefühle der Menschheit, das heisst diejenigen 
darstellen solle, die den Menschen dem religiösen oder socialen Ideal, 
der allgemeinen Menschenliebe, näher bringen können; auf der 
anderen Seite sagt er: „Die verschiedenartigsten Gefühle, sehr starke 
sowie sehr schwache, sehr bedeutende sowie sehr nichtige, sehr 
gute sowie sehr schlechte können den Gegenstand der Kunst bilden, 
wenn sie nur auf den Zuhörer, den Leser oder Zuschauer ansteckend 
wirken. Je stärker die Ansteckung ist, umso wahrer ist die Kunst, 
ganz unabhängig von dem Wert der Gefühle, die sie uns übermittelt." 
Die letztere Anschauung stimmt vollkommen mit derjenigen der 
Illusionsästhetik überein. Und da sie der ersteren geradezu wider- 
spricht, verwerfen wir diese und halten uns an jene. Wir appelliren 
von dem schlecht informirten Socialpolitiker Tolstoj an den gut- 
informirten Dichter. Und wenn wir fragen, wie die Indifferenz des 
Inhaltes zu begründen ist, so stehen wir eben hier vor dem Problem 
des Zweckes der Kunst. 
Die Illusionsästhetik verwirft zwar das I-Iineinziehen des Inhaltes 
in den eigentlichen Kunstgenuss, aber sie ist nicht so einseitig, die 
Bedeutung des Inhaltes überhaupt zu leugnen. Sie schiebt ihn nur 
zurück in die Regionen der höheren Kunstzwecke, die dem Künstler 
nicht bewusst sind, die vielmehr auf Grund eines biologischen Natur- 
gesetzes in Wirkung treten. Dieses biologische Naturgesetz aber lautet: 
Die Kunst dient der Erweiterung und Ergänzung des Gefühlslebens, 
sie ist entstanden aus dem Bedürfnisse der Gattung nach einer solchen 
Erweiterung und Ergänzung. Der Mensch als Individuum ist einseitig, 
er kann von den im Wesen der menschlichen Gattung liegenden 
Eigenschaften, Trieben, Gefühlen u. s. w. nur verhältnismässig wenige 
entwickeln. Dies ist die Schuld der eigenthümlichen Ausbildung 
unseres modernen Culturlebens, der weitgetriebenen Arbeitstheilung, 
der Verkümmerung des menschlichen Wesens durch körperliche und
	        
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