geistige Missbildung oder Vernachlässigung. Wie unendlich viele
Gefühle hat der Mensch unter normalen Verhältnissen niemals Gelegen-
heit zu erproben! Gefühle, wie Vaterlandsliebe, Todesverachtung, Auf-
opferung, Feindeshass, Nächstenliebe u. s. w. können oft in Zeiten
politischer oder socialer Stagnation Jahrzehnte hindurch brachliegen,
ohne dass das Leben auch nur die geringste Veranlassung böte, sie
zu entwickeln. Die Folgen davon würden ganz unberechenbar sein,
der einzelne Mensch würde verkümmern, das Menschengeschlecht
degeneriren - wenn nicht die Kunst einträte, um diese Lücken aus-
zufüllen, diese Mängel zu ergänzen. Kunst und Spiel sind die beiden
natürlichen, durch die Entwicklung entstandenen Mittel, dem Menschen
einen Ersatz für die Vorstellungen, Anschauungen und Gefühle zu
bieten, die das Leben ihm vorenthält. Was für die Jugend das Spiel,
das ist für das reifere Alter die Kunst. Dem, der in dem gleichmässigen
Trott seines Philisterberufes nichts erlebt, zaubert sie Erlebnisse vor,
die ihn abwechselnd in Freude und Hoffnung versetzen und in Angst
und Trauer stürzen. Dem, der seiner Natur nach temperamentlos
oder übertrieben weichlich ist, führt sie kräftige Leidenschaften,
Kampf und Hass und harte Schicksale vor, dem Rohen und Leiden-
schaftlichen theilt sie sanftere Empfindungen, eine mildere Denkungs-
art mit. Den, der in Leichtsinn und Üppigkeit dahinlebt, lässt sie einen
Blick in das Leben der Armen und Unterdrückten thun und dem, der
sich im Schweisse seines Angesichtes sein tägliches Brot verdienen
muss, gaukelt sie die Genüsse eines höheren und zufriedeneren
Daseins vor. Aber alles das ohne die directe Absicht einer Willens-
beeinflussung und in einer Form, die den versüssenden Reiz der
Illusion in sich birgt, so dass das Unlusterregende nicht unlusterregend
wirkt, das Lusterregende nicht dadurch, dass man den Mangel seiner
Realität empfindet, enttäuscht.
Danach ist es auch klar, dass die Forderung einer bestimmten
Tendenz, und mag diese sonst noch so gut sein, dem Wesen der Kunst
aufs schroffste widerspricht. Wenn es die Aufgabe der Kunst ist,
überall zu ergänzen, aus den Fragmenten der Menschen ganze
Menschen zu machen, so muss auch ihr Inhalt unendlich mannigfaltig
sein. Denn das Ergänzungsbedürfnis des Menschen ist unendlich gross,
ebenso gross wie die Zahl der Gefühle, die das Wesen der Menschheit
ausmachen. Da jedes Individuum in anderer Weise einseitig, also nach
einer anderen Seite seines Wesens ergänzungsbedürftig ist, so muss
auch der Inhalt der Kunst unendlich mannigfaltig sein. Jeder Mensch
müsste eigentlich, was den Inhalt betrifft, seine eigene Kunst haben.
Eine Ästhetik, die den Inhalt der Kunst einschränkt, ihr eine Tendenz